Chapter 6

Wir setzten uns ans Fenster. In der Ferne glänzte die Erde wie eine ungeheuere Sichel, auf der bloß die Umrisse Westamerikas und des nordöstlichen Asiens als dunkle Flecke erkennbar waren; auch ein Teil des Stillen Ozeans war sichtbar, und ein heller Fleck: das Nördliche Eismeer. Der Atlantische Ozean und die alte Welt versanken in Nacht, konnten am verschwommenen Rand der Sichel bloß erraten werden, denn der unsichtbare Teil der Erde verbarg die Sterne im ungeheuren Raum. Unsere schiefe Bahn, sowie die Drehung der Erde um ihre Achse, verursachten dieses veränderte Bild.

Ich blickte hinab, und mir wurde schwer ums Herz, weil ich nicht mehr meine Heimat sah, wo so viel Leben, Kampf und Leiden herrschen, wo ich noch gestern in den Reihen der Genossen stand, und wo heute ein anderer meine Stelle einnimmt. Zweifel schlichen sich in meine Seele.

„Dort unten fließt Blut“, sprach ich. „Hier jedoch ist aus dem gestrigen Arbeiter ein beschaulicher Betrachter geworden.“

„Das Blut fließt um einer besseren Zukunft willen“, entgegnete Netti. „Und dieser Kampf fordert dasKenneneiner besseren Zukunft. Um diese Kenntnisse zu erwerben, sind Sie hier.“

Von unwillkürlicher Bewegung erfaßt, griff ich nach seiner kleinen, fast kindlichen Hand.

Die Erde entfernte sich immer mehr und verwandelte sich, gleichsam als zürnte sie ob dieser Trennung, in eine Mondsichel, die die winzige Sichel des wirklichen Mondes begleitete. Parallel damit waren wir, die Bewohner des Aetheroneff, gleich phantastischen Akrobaten, die ohne Flügel zu fliegen und nach Belieben im Raum jede Stellung einzunehmen vermögen, mit dem Kopf bald auf dem Fußboden, bald auf der Decke, bald auf den Wänden stehen ... darin fast keinenUnterschied sehen ... Allmählich näherte ich mich meinen neuen Gefährten und begann mich unter ihnen heimisch zu fühlen.

Schon am Tag nach unserer Abfahrt (wir hielten an dieser Zeitberechnung fest, obgleich es für uns natürlich weder wirkliche Tage, noch Nächte gab) legte ich, dem eigenen Wunsch zufolge, die Kleidung der Marsbewohner an, um weniger von den übrigen abzustechen. Freilich gefiel mir diese Kleidung auch an und für sich: sie war einfach, bequem, ohne nutzlose Einzelheiten wie Kragen und Manschetten, gestattete die größtmöglichste Freiheit der Bewegung. Die einzelnen Teile des Gewandes wurden durch Klammern verbunden, so daß das ganze Gewand zwar einheitlich, aber dennoch leicht an- und auszuziehen war; so vermochte man zum Beispiel den einen, oder beide Aermel, oder aber die ganze Bluse abzulegen. Und die Manieren meiner Mitreisenden glichen ihrem Gewand: sie waren einfach, ermangelten alles Ueberflüssigen, jeder Konventionalität. Sie begrüßten einander nicht, verabschiedeten sich nicht, dankten nicht, verlängerten nicht aus Höflichkeit ein Gespräch, wenn der Zweck desselben erreicht war. Zur gleichen Zeit jedoch gaben sie voller Geduld jedem die erwünschten Erklärungen, paßten sich genau der geistigen Einstellung des Fragenden an, nahmen Rücksicht auf dessen Psychologie, wenngleich diese auch nicht im geringsten der ihren glich.

Selbstverständlich ging ich gleich am ersten Tag an das Erlernen ihrer Sprache, und sie waren alle gerne bereit, mir als Lehrer zu dienen, vor allem aber Netti. Die Sprache war äußerst originell, und trotz der einfachen Grammatik und Regeln eigneten ihr Einzelheiten, an die ich mich schwer anzupassen vermochte. Die Regeln hatten keine Ausnahmen, es gab auch keine Unterschiede, kein männliches, weibliches oder sächliches Geschlecht. Hingegen besaßen die Namen der Gegenstände und die Eigennamen eine Biegung, die sich auf das Zeitliche bezog. Dies wollte mir nicht recht in den Kopf.

„Was für einen Sinn haben diese Formen?“ fragte ich Netti.

„Begreifen Sie es denn nicht? Wenn Sie in Ihrer Sprache einen Gegenstand benennen, so achten sie sorgsam darauf, ob er männlich oder weiblich ist, was bei leblosen Gegenständen äußerst unwichtig, bei lebendigen aber sehr merkwürdig erscheint. Es ist bei weitem wichtiger, zwischen jenen Gegenständen zu unterscheiden, die jetzt bestehen, und jenen, die waren oder erst sein werden. Bei Euch ist das Haus sächlich, der Kahn männlich, bei den Franzosen ist das Haus weiblichen Geschlechtes, das Ding an sich aber bleibt dasselbe. Wenn Ihr aber von einem Haus redet, das bereits abgebrannt oder das noch nicht erbaut ist, so verwendet Ihr das gleiche Wort und die gleiche Form, wie wenn Ihr von dem Hause sprecht, in dem Ihr lebt. Gibt es denn in der Natur einen größeren Unterschied als den zwischen einem lebenden und einem toten Menschen, zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist? Ihr braucht ganze Worte und Sätze, um diesen Unterschied auszudrücken – ist es nicht weit besser, dies durch das Hinzufügen eines Buchstabens zu tun?“

Netti war mit meinem Gedächtnis zufrieden; seine Lehrmethode schien äußerst gut, und ich kam rasch vorwärts. Dies half mir bei der Annäherung an meine Reisegefährten, ich begann der Reise auf dem Aetheroneff mit großem Vertrauen entgegenzusehen, begab mich in Kajüten und Laboratorien, befragte die Marsbewohner über alles, was mich beschäftigte.

Der junge Astronom Enno, Sternis Gehilfe, ein lebhafter, heiterer Mensch, dem Wuchs nach fast noch ein Knabe, zeigte mir eine Menge interessanter Dinge, nicht bloß Berechnungen und Formeln – auf diesem Gebiet war er Meister – sondern auch die Schönheit dieser Beobachtungen. Mir war in der Gesellschaft des jungen Astronom-Dichters wohl zumute; der Trieb, mich über unsere Lage in der Natur genau zu orientieren, lenkte meine Schritte immer von neuem zu Enno und seinem Teleskop.

Einmal zeigte mir Enno durch das stärkste Vergrößerungsglas den winzigen Planeten Eros; ein Teil seiner Bahn lag zwischen Erde und Mars, der andere befand sich weiter als der Mars, im Gebiet der Asteroiden. Damals befand sich der Eros auf hundertfünfzig Millionen Kilometer von uns entfernt, aber die Photographie seiner kleinen Scheibe zeigte im mikroskopischen Maßstab die ganze Landkarte, die der des Mondes glich. Selbstverständlich war auch der Eros ein toter Stern, gleich dem Monde.

Ein anderes Mal photographierte Enno einen Schwarm Meteore, die etliche hundert Millionen Kilometer von uns entfernt waren. Auf diesem Bild waren natürlich nur verschwommene Nebel zu sehen. Bei dieser Gelegenheit erzählte mir Enno, daß eine der früheren Expeditionen zur gleichen Zeit zugrunde ging, als ein derartiger Schwarm Meteore niederschoß. Die Astronomen, die mit großen Teleskopen die Fahrt des Aetheroneff beobachteten, sahen, wie plötzlich das elektrische Licht erlosch – der Aetheroneff verschwand auf ewig im Raum.

Wahrscheinlich war der Aetheroneff mit einigen dieser winzigen Körper zusammengestoßen; bei der ungeheuerlichen Geschwindigkeit mochten diese die Wände durchbohrt haben. Die Luft drang in den Raum und die Kälte der zwischen den Planeten befindlichen Sphäre ließ die bereits toten Körper der Reisenden gefrieren. Nun fliegt der Aetheroneff dahin, folgt der Bahn der Kometen, entfernt sich auf immer von der Sonne. Niemand weiß, wo der Weg dieses schauerlichen, von Leichen bemannten Schiffes enden wird.

Bei diesen Worten schien eine eisige Leere in mein Herz zu dringen. Ich stellte mir lebhaft vor, wie unser winziges leuchtendes Schifflein im unendlichen toten Ozean des Raumes schwebt. Ohne Stützpunkt in der schwindelerregend schnellen Bewegung, und ringsum die schwarze Leere ... Enno erriet meine Stimmung.

„Menni ist ein vortrefflicher Steuermann ...“, sagte er. „Und Sterni irrt sich nicht ... Und der Tod ... Siehaben ihm sicherlich schon oft im Leben ins Auge geblickt ... Was uns droht ... ist der Tod, weiter nichts.“

Gar bald kam die Stunde, da wir im Kampf mit einem schweren Kummer gezwungen wurden, an diese Worte zu denken.

Der Chemiker Letta zog mich nicht nur durch seine sanfte Natur an, von der mir Netti bereits gesprochen hatte, sondern auch durch sein großes Wissen und sein Interesse für eine von mir viel studierte Frage: die Struktur der Materie. Außer ihm war in dieser Frage nur noch Menni kompetent, doch wandte ich mich so wenig wie möglich an Menni, verstehend, daß dessen Zeit äußerst wertvoll sei, sowohl im Interesse der Wissenschaft, als auch in dem der Expedition, und daß ich nicht das Recht habe, sie für mich in Anspruch zu nehmen. Der gutmütige alte Letta hingegen ließ sich mit derart unerschöpflicher Geduld zu meiner Unwissenheit herab, erklärte mir mit solcher Bereitwilligkeit, ja sogar mit offensichtlicher Freude das Alphabet dieser Wissenschaft, daß ich niemals das Gefühl hatte, ihn zu belästigen.

Letta hielt mir einen ganzen Kurs über die Struktur der Materie, illustrierte diesen durch verschiedene Experimente der Zerlegung der Elemente und durch deren Synthese. Viele dieser Experimente hatte er anscheinend allein ausführen und sich darauf beschränken müssen, bloß Schlagworte niederzuschreiben, insbesondere bei jenen, die einen stürmischen Verlauf nehmen; diese Elemente zersetzten sich in der Form einer Explosion, oder die Zersetzung konnte zumindest unter gegebenen Bedingungen diese Form annehmen.

Einmal betrat während einer mir erteilten Lektion Menni das Laboratorium. Letta beendete eben die Niederschrift eines äußerst interessanten Experimentes und schickte sich an, dasselbe anzustellen.

„Seien Sie vorsichtig“, sprach Menni. „Ich entsinne mich, daß dieses Experiment eines Tages für mich schlecht ausfiel; es genügt die kleinste Menge nebensächlicher Ingredienzienin der von Ihnen zu zerlegenden Materie, um bei der Erhitzung selbst durch den schwächsten elektrischen Strom eine Explosion herbeizuführen.“

Schon wollte Letta das geplante Experiment aufgeben, aber Menni, der mir gegenüber unveränderlich aufmerksam und liebenswürdig war, schlug vor, bei der genauen Vorbereitung für das Experiment zu helfen; das Experiment wurde ohne Unfall beendet.

Am folgenden Tag stellten wir mit dem gleichen Stoff neue Experimente an. Mir schien es, als entnähme Letta die Materie nicht demselben Glas wie am vorhergehenden Tag. Als er bereits die Retorte in das elektrische Bad stellte, dachte ich daran, ihn darüber zu befragen. Gelassen schritt er an den die Reagenten enthaltenden Schrank, stellte das Bad mit der Retorte auf das an der Wand stehende Tischchen; an die gläserne Außenwand des Aetheroneff. Ich folgte ihm.

Jählings erfolgte ein ohrenbetäubender Knall, und wir wurden beide mit ungeheurer Kraft gegen die Schranktür geschleudert. Ein furchtbar lauter Pfiff, entsetzlicher Lärm und metallisches Klirren. Ich fühlte, daß eine orkanartige, unbezwingliche Kraft mich nach rückwärts, an die Außenwand riß. Schier mechanisch gelang es mir, nach dem starken Riemen zu greifen, der horizontal befestigt am Schrank hing. In dieser Lage vermochte ich dem gewaltigen Luftstrom standzuhalten. Letta war meinem Beispiel gefolgt.

„Halten Sie sich fest“, schrie er mir zu; ich vermochte im Dröhnen des Orkans kaum seine Stimme zu vernehmen. Eine scharfe Kälte durchdrang meinen Körper.

Letta blickte sich rasch um. Seine Züge waren erschreckend in ihrer Blässe, doch verwandelte sich plötzlich der Ausdruck des Entsetzens in den klarer Vernunft und festen Entschlusses. Er sprach bloß zwei Worte, – ich vermochte sie nicht zu hören, erriet aber, daß sie ein Abschied auf ewig waren. Dann ließ er den Riemen los.

Ein dumpfer Schlag, und das Dröhnen des Orkans verebbte. Ich fühlte, daß ich nun den Riemen loslassen und um mich blicken könne. Vom Tischchen war nichts mehr zu sehen, an der Wand jedoch, dicht mit dem Rücken an sie gepreßt, stand unbeweglich Letta. Seine Augen waren geweitet, das ganze Gesicht schien gleichsam erstarrt. Ich vernahm an der Tür ein Geräusch und öffnete sie. Ein starker warmer Wind stieß mich zurück. Eine Sekunde nachher betrat Menni das Zimmer. Er eilte zu Letta hin.

Wenige Augenblicke später war der Raum voller Menschen. Netti stieß alle zur Seite, stürzte zu Letta. Die übrigen umringten uns in bewegtem Schweigen.

„Letta ist tot“, klang Mennis Stimme auf. „Die bei dem chemischen Experiment erfolgte Explosion zerschmetterte die Wand des Aetheroneff, und Letta verstopfte mit seinem Leib die Bresche. Der Luftdruck zerriß seine Lungen und lähmte sein Herz. Der Tod war ein augenblicklicher. Letta rettete unseren Gast, hätte er anders gehandelt, sie hätten beide unweigerlich den Tod gefunden.“

Netti brach in heftiges Schluchzen aus.

Die ersten Tage nach der Katastrophe blieb Netti in seinem Zimmer, und ich las in Sternis Augen einen fast mißgünstigen Ausdruck. Zweifellos ergab sich aus Lettas Tod eine Lehre, und Sternis mathematisch eingestelltes Gehirn konnte nicht umhin, einen Vergleich zwischen dem hohen Wert jenes Lebens zu ziehen, das geopfert, und jenes das bewahrt worden war. Menni blieb, wie immer, unverändert freundlich und gelassen, brachte mir sogar noch mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge entgegen; seinem Beispiel folgten auch Enno und die übrigen.

Ich lernte eifrig die Sprache der Marsbewohner; bei der ersten günstigen Gelegenheit wandte ich mich an Menni und bat ihn, mir irgendein Buch zu geben, das die Geschichte ihrer Menschheit behandle. Menni fand diesen Gedanken vortrefflich und brachte mir ein Werk, das die Marskinder in die allgemeine Weltgeschichte einführte.

Ich begann mit Nettis Hilfe dieses Buch zu lesen und zu übersetzen. Der Geschmack, mit dem der unbekannte Verfasser die auf den ersten Blick abstrakt, allgemein und schematisch wirkenden Dinge zu beleben, zu konkretisieren und zu illustrieren verstanden hatte, versetzte mich in Erstaunen. Dieser Geschmack gestattete ihm, ein geometrisch aufgebautes System mit derart folgerichtigen Schlüssen für Kinder zu erörtern, wie dies bei keinem unserer populär schreibenden irdischen Verfasser gelungen wäre.

Der erste Teil des Werkes hatte geradezu einen philosophischen Charakter und war der Idee des Weltalls als einheitliches Ganzes geweiht, das in sich alles einschließt und sich alles dienstbar macht. Dieser Teil erinnerte lebhaft an die Ausführungen jener Arbeiter-Denker, die auf naive und schlichte Art die erste proletarische Naturphilosophie schufen.

Im folgenden Teil wandte sich die Ausführung jener unermeßlich fernen Zeit zu, da im Weltall noch keine uns bekannten Formen bestanden hatten, im gewaltigen Raum das Chaos und die Unbestimmtheit die Herrschaft geführt. Der Verfasser berichtete über die Abtrennung der ersten formlosen, unmerklich feinen Materie, die chemisch nicht festzustellen ist. Diese Abtrennung bewirkte die Entstehung der gigantischen Sternenwelt, die als Sternnebel erscheint und zu der auch die Milchstraße mit zwanzig Millionen Sonnen gehört, unter denen unsere Sonne eine der kleinsten ist.

Weiterhin war die Rede von der Konzentrierung der Materie und dem Uebergang zu einer festeren Verbindung, die die Form chemischer Elemente annahm; zu diesen ersten formlosen Materien gehören auch die gasförmigen Sonnennebel,von denen wir mit Hilfe des Teleskops viele Tausend zu unterscheiden vermögen. Die Geschichte der Entwicklung dieser Nebel, die Herauskristallisierung der Sonnen und Planeten, ist bei uns nur in der Kant-Laplaceschen Entstehungstheorie zu finden, aber mit größerer Bestimmtheit und mehr Einzelheiten.

„Sagen Sie mir, Menni“, fragte ich, „halten Sie es wirklich für richtig, den Kindern gleich zu Anfang diese allgemeinen, fast abstrakten Ideen zu vermitteln, diese farblosen Weltbilder zu zeigen, die der ihnen naheliegenden konkreten Umgebung so fern sind? Bedeutet dies nicht, das kindliche Gehirn mit leeren, fast nur wörtlichen Bildern füllen?“

„Die Sache ist die“, erwiderte Menni, „daß bei uns der Unterricht niemals mit dem Buch beginnt. Das Kind schöpft seine Kenntnisse aus der lebendigen, von ihm beobachteten Natur, aus der lebendigen Verbindung mit anderen Menschen. Ehe es nach einem derartigen Buch greift, hat es bereits allerlei Reisen unternommen, verschiedene Bilder der Natur betrachtet, es kennt viele Pflanzen- und Tierarten, kennt das Teleskop, das Mikroskop, die Photographie, den Phonograph, hat von älteren Kindern und erwachsenen Freunden allerlei Erzählungen über Vergangenes und Fernes gehört. Das Buch erfüllt bloß die Aufgabe, all diese Kenntnisse zu verknüpfen und zu stärken, zufälliges Wissen zu vervollkommnen und den künftigen Bildungsweg zu weisen. Vor allem gilt es natürlich, ein genaues Wissen zu erzielen, das Kind vom Anfang bis zum Ende zu führen, auf daß es sich nicht in Einzelheiten verliere. Der vollkommene Mensch muß bereits im Kind geschaffen werden.“

All dies erschien mir äußerst ungewohnt, doch wollte ich Menni nicht weiter befragen; ich werde ja unmittelbar die Bekanntschaft der Marskinder machen, sowie des dort herrschenden Erziehungssystems. Ich kehrte zu meinem Buch zurück.

Der Gegenstand des folgenden Teils war die geologische Geschichte des Mars. Diese Ausführungen brachten trotzihrer Kürze zahllose Vergleiche mit der Geschichte der Erde und der Venus. Bei einem bedeutenden Parallelismus aller drei ergab sich als wichtigster Unterschied, daß der Mars doppelt so alt wie die Erde und viermal so alt wie die Venus war. Es wurde in Zahlen die Entwicklung der Planeten angegeben, ich entsinne mich ihrer noch genau, doch will ich sie hier nicht anführen, um den irdischen Gelehrten eine Erschütterung zu ersparen, denn diese Zahlen wären für sie etwas äußerst Unerwartetes.

Dieser Abhandlung folgte die Geschichte des Lebens von seinem Anbeginn. Es wurden hier geschildert jene ersten Verbindungen, die das Cyanradical enthielten und die noch keine lebendige Materie waren, obzwar sie viele ihrer Eigenheiten besaßen. Desgleichen wurden hier jene geologischen Bedingungen geschildert, unter denen sich die chemischen Verbindungen vollzogen. Die Ursachen wurden erklärt, vermittels derer sich die eine Materie im Gegensatz zu anderen, die zwar eine stärkere aber weniger schmiegsame Verbindung besaßen, bewahrte und anhäufte. Schritt für Schritt wurde hier die Entwicklung und Differenzierung dieser chemischen Ahnen jeglichen Lebens verfolgt, bis zur Bildung der ersten wahrhaft lebendigen Zelle, mit der die „Herrschaft der Einzeller“ anhebt.

Nun folgte das Bild der stufenweisen Entwicklung der lebendigen Wesen, ihrer allgemeinen Genealogie, vom Einzeller bis zu ihrer höchsten Entwicklung – dem Menschen einerseits, sowie andrerseits zu seinen verschiedenen Abarten. Im Vergleich mit der „irdischen“ Entwicklungslinie zeigte sich, daß auf dem Weg von der ersten Zelle bis zum Menschen die ersten Glieder der Kette fast gleich waren und auch bei den folgenden nur ein geringer Unterschied bemerkbar wurde; bei den mittleren Gliedern jedoch begann der Unterschied bedeutsam zu werden. Das erschien mir äußerst seltsam.

„Diese Frage“, sagte Netti, „ist, so viel ich weiß, noch nicht zum Spezialstudium geworden. Wußten wir doch vorzwanzig Jahren noch nicht, wie die höchst entwickelten Erdentiere beschaffen seien. Wir waren äußerst erstaunt, als wir sahen, wie sehr sie unserem Typus gleichen. Anscheinend ist die mögliche Zahl der höchsten, das vollkommenste Leben ausdrückenden Typen eine geringe, und auf den dem unseren gleichenden Planeten vermag bei den gleichartigen Bedingungen der Natur dieses Maximum des Lebens bloß eine Form hervorzubringen.“

„Außerdem“, bemerkte Menni, „ist der höchste Typus, der sich der Planeten bemächtigt hat, jener, der am stärksten der ganzen Summe der Lebensbedingungen Ausdruck verleiht, bei den Zwischenstufen hingegen, die sich nur einem Teil der Bedingungen anzupassen vermögen, bleibt mehr Raum für Verschiedenheit.“

Ich entsann mich, daß mir bereits in meinen Studentenjahren der Gedanke an die mögliche Zahl der höchsten Typen durch den Kopf gegangen war, aber freilich aus einer ganz anderen Ursache: bei den Achtfüßlern, den Kopffüßlern des Meeres, besitzt die höchstentwickelte Art Augen, die denen unserer Wirbeltiere seltsam ähnlich sind. Und doch ist die Entwicklung des Auges bei den Kopffüßlern eine ganz andere, insofern, als die entsprechenden Gewebe des Sehapparates bei ihnen in entgegengesetzter Ordnung angebracht sind.

Wie dem auch immer sei, eines stand fest: auf dem anderen Planeten lebten Menschen, die uns gleichen und es verlangte mich, mit ihrem Leben und ihrer Geschichte bekannt zu werden.

Was die prähistorische Zeit und die ersten Phasen des menschlichen Lebens auf dem Mars anbelangte, so bestand zwischen diesen und denen der Erde eine ungeheure Aehnlichkeit. Die gleichen Stammesverhältnisse hatten geherrscht, einzelne Stämme hatten bestanden, die untereinander durch Tauschhandel verbunden gewesen waren. Nachher jedoch zeigte sich ein Auseinandergehen, nicht in der Richtung derEntwicklung, sondern in der Schnelligkeit und der Art ihres Charakters.

Der Gang der Geschichte auf dem Mars war irgendwie glatter und einfacher, als der auf der Erde. Freilich gab es Kriege zwischen den Stämmen und Völkern, und es gab auch den Klassenkampf; doch spielten im historischen Leben die Kriege eine äußerst kleine Rolle und wurden verhältnismäßig früh aus der Welt geschafft; auch der Klassenkampf war geringer und weniger scharf, was die rohe Gewalt anbelangte. Dies ging selbstverständlich nicht alles aus dem Buch hervor, aber ich vermochte es dennoch zu erkennen.

Die Sklaverei hatten die Marsbewohner überhaupt nie gekannt; ihre Feudalzeit war im geringen Maßstab militaristisch gewesen, ihr Kapitalismus befreite sich frühzeitig vom nationalistisch-imperialistischen Charakter, und es gab nichts, was unserer zeitgenössischen Armee entsprach.

Die Erklärung für alle diese Tatsachen mußte ich selbst finden. Die Marsbewohner und selbst Menni begannen erst jetzt die Geschichte der Erdenmenschheit zu studieren, und es war ihnen noch nicht gelungen, aus unserer und ihrer Vergangenheit vergleichende Folgerungen zu ziehen.

Ich entsann mich eines früheren Gespräches mit Menni. Als ich mich anschickte, die von meinen Reisegefährten benützte Sprache zu lernen, interessierte es mich zu erfahren, ob diese von allen Marssprachen die verbreitetste sei. Menni erklärte mir, sie sei die einzige auf dem Mars geredete Sprache.

„Auch bei uns“, fügte Menni hinzu, „verstanden die Bewohner der verschiedenen Länder einander nicht, aber schon vor langer Zeit, etliche hundert Jahre vor dem sozialistischen Umsturz, wurden alle Dialekte zu einer einzigen Sprache verschmolzen. Dies vollzog sich auf freie, elementare Art – niemand bemühte sich darum oder schenkte der Angelegenheit besondere Aufmerksamkeit. Etliche örtliche Sprachgebräuche erhielten sich noch längere Zeit, doch waren diese allen verständlich. Und die Entwicklung der Literatur fegte auch diese hinweg.“

„Diese Tatsache vermag bloß auf eine Art erklärt zu werden“, meinte ich. „Offensichtlich ist auf Ihrem Planeten die Verbindung zwischen den Menschen weit besser, leichter und enger, als bei uns.“

„Dies stimmt“, erwiderte Menni. „Auf dem Mars gibt es weder Euere ungeheuren Ozeane, noch Euere unübersteigbaren Berggipfel. Unsere Meere sind klein, trennen nirgends die einzelnen Landteile in selbständige Kontinente, unsere Berge sind nicht hoch, abgesehen von einigen Gipfeln. Die ganze Oberfläche unseres Planeten ist viermal kleiner, als die der Erde. Außerdem ist bei uns die Schwerkraft zweieinhalbmal geringer, als bei Euch; dank der Leichtigkeit unseres Körpers vermögen wir uns auch ohne besondere Mittel rasch und leicht zu bewegen, wir laufen ohne zu ermüden ebenso schnell wie Ihr zu Pferde weiterkommt. Die Natur hat zwischen unseren Völkern weit weniger Mauern und Scheidewände aufgerichtet, als bei Euch.“

Dies war offensichtlich eine der Hauptursachen, die bei der Marsmenschheit die scharfe Trennung der Rassen und Nationen verhindert hatte, sowie das Emporkommen der Kriegerkaste, des Militarismus und des ganzen Systems des Massenmordens. Wahrscheinlich hatte auch hier der Kapitalismus mit seinen Widersprüchen zur Erschaffung all dieser, der höheren Kultur angehörenden Eigenheiten geführt, doch wurde die Entwicklung des Kapitalismus von der Nebenerscheinung begleitet, für die politische Vereinigung aller Völker und Nationen neue Bedingungen zu schaffen. Grund und Boden der Kleinbauern wurden frühzeitig vom Großgrundbesitz verschlungen, und bald darauf wurde der ganze Grund und Boden nationalisiert.

Die Ursache hierfür lag in der stetig stärker werdenden Trockenheit des Bodens, gegen welche die Kleinbauern nicht erfolgreich zu kämpfen vermochten. Die Erde des Planeten verschlang das Wasser und gab es nicht wieder zurück. Dies war die Fortsetzung jenes elementaren Prozesses, vermittelsdessen die einst auf dem Mars bestehenden Ozeane seichter geworden und sich in kleine Binnenmeere verwandelt hatten. Ein derartiger Prozeß geht auch auf unserer Erde vor sich, doch ist er noch nicht so weit gediehen; auf dem Mars hingegen, der doppelt so alt ist wie die Erde, wurde die Lage bereits vor tausend Jahren äußerst ernst. Die Verminderung der Meere führte zu einer Verminderung der Wolken und des Regens, zum Seichterwerden der Flüsse und zum Austrocknen der Quellen. An den meisten Orten mußte die künstliche Bewässerung eingeführt werden. Wie hätten sich unter diesen Bedingungen die unabhängigen Kleinbauern halten können?

In dem einen Fall gingen sie einfach zugrunde und ihr Boden fiel in die Hände der benachbarten Großgrundbesitzer, die über genügend Kapital verfügten, um die künstliche Bewässerung durchführen zu können. Im anderen Fall schlossen sich die Bauern zusammen, vereinigten ihre Kräfte für das gemeinsame Werk. Doch gingen diesen Genossenschaften früher oder später die Mittel aus; anfangs dünkte sie dies ein vorübergehendes Uebel, sie machten bei den großen Kapitalisten die ersten Anleihen. Trotzdem ging es mit ihnen immer rascher bergab, die Prozente der Anleihe vergrößerten ihre Ausgaben, führten unweigerlich zu neuen Anleihen usw. Die bäuerlichen Genossenschaften unterlagen der wirtschaftlichen Macht ihrer Gläubiger und gingen zugrunde, rissen ihre Mitglieder, bisweilen hundert oder tausend Bauern, auf einmal mit sich.

Derart gelangte die urbar gemachte Erde in den Besitz etlicher tausend großer Bodenkapitalisten; aber der innere Teil des Landes blieb eine Wüste; hierher gelangte kein Wasser, und die einzelnen Kapitalisten besaßen nicht genügend Mittel, um diese Landstriche zu bewässern. Als die Staatsgewalt, die damals schon völlig demokratisch war, sich gezwungen sah, diese Sache in die Hand zu nehmen, um das allzu zahlreich werdende Proletariat zu beschäftigen und der sterbenden Bauernschaft zu Hilfe zu kommen, verfügte selbst sie nicht über die zum Bau der gigantischen Kanäle nötigenMittel. Kapitalistische Syndikate wollten die Sache übernehmen, – doch war das ganze Volk dagegen, wohl wissend, das dies eine Stärkung der Syndikate und deren Herrschaft bedeuten würde. Nach langem Kampf und verzweifeltem Widerstand von seiten der Bodenkapitalisten wurde eine große progressive Einkommensteuer auf landwirtschaftliche Erzeugnisse eingeführt. Die durch diese Steuer erzielten Summen wurden zum Fonds der ungeheuren Arbeit: des Baues der Kanäle. Die Macht der Gutsbesitzer war gebrochen, und der Uebergang zur Nationalisierung von Grund und Boden vollzog sich rasch. Damit verschwanden auch die letzten Reste der Kleinbauern, da die Regierung im eigenen Interesse ausschließlich den Großkapitalisten Land überlassen hatte, so daß die landwirtschaftlichen Unternehmungen noch größer geworden waren als zuvor. Nun wurden die hauptsächlichsten Kanäle geschaffen, was zu einer mächtigen wirtschaftlichen Entwicklung führte und die politische Vereinigung der Menschheit näher brachte. Dies lesend, konnte ich nicht umhin, Menni meine Verwunderung darüber auszudrücken, daß Menschenhände vermocht hatten, solche riesenhaften Wasserwege zu erbauen, die selbst mit unseren mangelhaften Teleskopen von der Erde aus gesehen werden konnten.

„Sie befinden sich in einem kleinen Irrtum“, erwiderte Menni. „Zwar sind diese Kanäle tatsächlich ungeheuer groß, aber sie müßten noch um etliche zehn Kilometer breiter sein, um von Eueren Astronomen unterschieden werden zu können. Was diese sehen, sind die gewaltigen Waldstreifen, die wir längs der Kanäle pflanzten, damit eine gleichmäßige Verdunstung der Feuchtigkeit erzielt und das allzurasche Austrocknen des Wassers verhindert werde.

Die Zeit der Kanalbauten brachte einen ungeheueren wirtschaftlichen Aufschwung; die Industrie blühte und der Klassenkampf ebbte ab. Es gab eine große Nachfrage nach Arbeitskräften, die Arbeitslosigkeit verschwand völlig. Als jedoch das große Werk beendet war, und zusammen mit ihm auchdie kapitalistische Kolonisierung der wüsten Gegenden, kam es bald zu einer wirtschaftlichen Krise, und die „soziale Welt“ wurde durchschaut. Die soziale Revolution brach aus. Und abermals spielte sich alles verhältnismäßig friedlich ab; die Hauptwaffe der Arbeiter war der Streik, und nur in seltenen Fällen und an einigen Orten, fast ausschließlich in ländlichen Bezirken, kam es zu Aufständen. Schritt für Schritt unterlagen die Grundbesitzer dem Unvermeidlichen; selbst als die Regierungsgewalt schon in den Händen der Arbeiterpartei lag, versuchten die Sieger nicht, ihre Sache mit Gewalt zu fördern.

Es gab, nachdem die Produktionsmittel sozialisiert worden waren, keine Entschädigung im wahren Sinne des Wortes, doch wurden die Kapitalisten pensioniert. Später spielten viele von ihnen bei der Organisation kooperativer Unternehmungen eine große Rolle. Zuerst fiel es schwer, der Schwierigkeit bei der Verteilung der Arbeit im Sinne der Arbeiter zu begegnen. Ungefähr hundert Jahre bestand für alle, ausgenommen die pensionierten Kapitalisten, die allgemeine Arbeitspflicht; zuerst der Sechsstundentag; später wurde die Arbeitszeit verkürzt. Der Fortschritt der Technik sowie die genaue Berechnung der freien Arbeit gestatteten, bei dieser die letzten Ueberreste des alten Systems auszumerzen.“

Das ganze Bild war schön und harmonisch, nicht wie bei uns von Blut und Pulverrauch befleckt; ich empfand unwillkürlich ein Gefühl des Neides und sprach darüber mit Netti, da wir zusammen das Buch lasen.

„Ich weiß nicht“, meinte der Jüngling, „mir scheint, daß Sie unrecht haben. Es ist wahr, daß auf der Erde die Gegensätze weit stärker sind, und daß die Natur der Erde weit freigebiger Schläge und Tod verteilt, als unser Mars. Doch ist dies vielleicht darauf zurückzuführen, daß der Reichtum der Erde von allem Anfang an unvergleichlich größer war, als der unsere; die bedeutend größere Sonne gibt ihr die lebendige Kraft. Bedenken Sie, um wie viele Millionen Jahre unser Planet älter ist, als der Euere; unsere Menschheitjedoch entstand bloß einige zehntausend Jahre vor der Eueren, und ist letzterer heute vielleicht nur um zwei, höchstens drei Jahrhunderte voraus. Ich stelle mir diese beiden Menschheiten als zwei Brüder vor. Der ältere besitzt einen ruhigen, gleichmäßigen Charakter, der Jüngere ist stürmisch und explosiv. Der jüngere Bruder versteht es schlechter, seine Kräfte zu verwerten, vergeudet sie, begeht mancherlei Fehler; seine Kindheit war voller Krankheiten und unruhig. Jetzt, da er ins Jünglingsalter kommt, leidet er unter qualvollen krampfartigen Anfällen. Wird er aber nicht zu einem schaffenden Künstler werden, der weit größer und stärker ist, als der ältere Bruder, wird er nicht dann unsere alte Natur weit schöner und reicher gestalten? Ich weiß es nicht, doch scheint mir, daß dem so sein wird.“

Geführt von Mennis klarem Kopf, setzte der Aetheroneff ohne weitere Unfälle den Weg nach dem fernen Ziel fort. Schon war es mir gelungen, mich den ungewohnten Lebensbedingungen anzupassen und auch mit den größten Schwierigkeiten der Marssprache fertig zu werden, als Menni uns eines Tages mitteilte, die Hälfte des Weges sei zurückgelegt, die höchste Geschwindigkeit erreicht worden, von nun an werde sich diese vermindern.

Im gleichen Augenblick, da Menni diese Worte sprach, drehte sich rasch und gleitend der Aetheroneff. Die Erde, die sich schon seit langer Zeit aus einer großen, leuchtenden Sichel in eine kleine, und aus der kleinen Sichel in einen grünschimmernden, nahe der Sonnenscheibe schwebenden Stern verwandelt hatte, glitt nun aus dem unteren Teil des schwarzen Himmelsgewölbes in die obere Halbkugel, und der rote Stern, der Mars, der hell über uns gefunkelt hatte, sank zu unseren Füßen nieder.

Noch einige hundert Stunden, und der Mars verwandelte sich in eine kleine helle Scheibe, und gar bald unterschieden wir auch zwei kleine Sternchen, seine Weggenossen, – Deimos und Phobos, unschuldige, winzige Planeten, die ihre furchtbaren Namen wirklich nicht verdienten. Diese Namen bedeuten auf griechisch „Schrecken“ und „Grauen“. Die ernsten Marsbewohner wurden lebhafter, begaben sich immer häufiger in Ennos Observatorium, um ihre Heimat zu betrachten. Auch ich tat dies, doch verstand ich, trotz Ennos geduldigen Erklärungen, gar schlecht, was ich vor mir sah; freilich gab es da viel, was mir völlig fremd war.

Die roten Flecken erwiesen sich als Wälder und Wiesen, und die dunkleren als erntebereite Felder. Die Städte erschienen als bläuliche Flecken, – und einzig und allein Wasser und Schnee hatten eine mir verständliche Farbe. Der muntere Enno ließ mich bisweilen erraten, was es sei, das ich auf der Linse des Apparates erblickte, und meine naiven Irrtümer reizten ihn und Netti zum Lachen; ich rächte mich, indem ich über ihre Ordnung scherzte, ihren Planeten das Königreich der gelehrten Eulen und der verwirrten Farben nannte.

Der Umfang der roten Scheibe wuchs immer mehr an. Schon übertraf sie an Größe die merklich kleiner werdende Sonnenscheibe und glich einer astronomischen Karte ohne Aufschriften. Auch die Schwerkraft begann sich zu steigern, was mich sehr angenehm berührte. Deimos und Phobos verwandelten sich aus leuchtenden Pünktchen in winzige, aber klar umrissene Scheiben.

Noch fünfzehn bis zwanzig Stunden – und schon umkreiste uns der Mars als Planiglob und ich vermochte mit freiem Auge mehr zu sehen, als auf allen astronomischen Karten unserer Gelehrten vermerkt ist. Die Scheibe des Deimos glitt über diese runde Landkarte dahin, Phobos jedoch war nicht zu sehen, – befand sich nun auf der anderen Seite des Planeten.

Freude herrschte ringsum, nur ich allein vermochte nicht eine zitternde, quälende Erwartung zu überwinden.

Näher und näher ... Keiner von uns brachte es über sich, etwas zu tun, – alle blickten unentwegt abwärts, dorthin, wo eine andere Welt kreiste, – eine Welt, die für sie die Heimat, für mich aber ein Ort des Geheimnisses und der Rätsel war. Nur Menni befand sich nicht unter uns, er stand im Maschinenraum: die letzten Wegstunden waren die allergefährlichsten, es galt, die Entfernung festzustellen und die Schnelligkeit zu regulieren.

Wie kam es eigentlich, daß ich, ein unfreiwilliger Kolumbus dieser Welt, weder Freude, noch Stolz, ja nicht einmal Beruhigung fühlte, jetzt, da wir ans feste Land gelangen sollten?

Künftige Ereignisse werfen ihre Schatten voraus ...

Noch etwa zwei Stunden! Rasch überschritten wir die atmosphärische Grenze. Mein Herz begann schmerzhaft zu pochen, ich vermochte nichts mehr zu sehen, eilte in meine Stube. Netti folgte mir.

Er begann mit mir zu plaudern, – nicht über die Gegenwart, sondern über die Vergangenheit, die ferne Erde, die dort oben lag.

„Sie werden noch dorthin zurückkehren, wenn Sie Ihre Aufgabe erfüllt haben“, sprach er, und seine Worte klangen mir wie eine zarte Aufforderung, mich mannhaft zu halten.

Wir redeten über diese Aufgabe, über ihre unbedingte Notwendigkeit und Schwere. Unmerklich verging die Zeit.

Netti blickte auf den Chronometer. „Wir sind angekommen“, sagte er. „Gehen wir zu ihnen!“

Der Aetheroneff stand still, schaukelte die breiten ungeheueren Metallplatten; von außen drang frische Luft herein. Ueber unseren Häuptern leuchtete klar der grünlich blaue Himmel, – eine Menschenschar umdrängte uns.

Menni und Sterni gingen als erste an Land; sie trugen den durchsichtigen Sarg, in dem der tote Kamerad Letta lag.

Ihnen folgten die anderen. Ich und Netti kamen als letzte; Hand in Hand verließen wir den Aetheroneff, schritten hinein in die Menschenmenge, die völlig Netti glich ...


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