Zweiter Teil

Zweiter Teil

Die erste Zeit lebte ich bei Menni in der Fabrikstadt, deren Mittelpunkt und Basis das große chemische, sich tief unter der Erde erstreckende Laboratorium bildete. Der sich über der Erde befindende Teil der Stadt, der, zwischen Parken und Anlagen erbaut, etwa zehn Quadratkilometer einnahm, beherbergte etwa hundert Arbeiterhäuser, die von den Laboratoriumsarbeitern bewohnt wurden, sowie das große Versammlungshaus, das Konsumwarenhaus und die Verbindungsstation, die diese Stadt mit der ganzen umgrenzenden Welt verband. Hier war Menni der Leiter der Arbeit; er lebte in einem der Gemeinschaftsgebäude, nahe dem Abstieg zum Laboratorium.

Das erste, was mich bei der Natur des Mars verblüffte und woran ich mich nicht recht gewöhnen konnte, war die rote Farbe der Pflanzen. Dieser Farbstoff, seiner Substanz nach dem Chlorophyll der irdischen Pflanzen äußerst ähnlich, spielte auch hier in der Natur eine völlig analoge Rolle: er schuf das Gewebe der Pflanzen aus dem Sauerstoff der Luft und der Kraft des Sonnenlichtes.

Der vorsorgliche Netti schlug mir vor, Schutzbrillen zu tragen, um das Auge vor der ungewohnten Reizung zu bewahren. Ich weigerte mich, dies zu tun.

„Diese Farbe trägt auch unsere sozialistische Fahne“, sagte ich. „Ich muß daher mit Ihrer sozialistischen Natur vertraut werden.“

„Wenn dem so ist, so müssen Sie wissen“, warf Menni ein, „daß auch bei der Erdflora der Sozialismus besteht, freilich auf eine verborgene Art. Die Blätter der Erdpflanzenbesitzen eine rote Färbung, maskieren diese bloß durch eine starke grüne Farbe. Es genügt, Brillen anzulegen, die das grüne Licht verschlingen und das rote Licht abstoßen, damit auch Ihre Wälder und Felder, gleich den unseren, rot erscheinen.“

Ich darf nicht Zeit und Platz vergeuden, indem ich die eigenartigen Formen der Pflanzen und Tiere auf dem Mars beschreibe, noch die reine und durchsichtige Atmosphäre, die zwar äußerst dünn, aber dennoch voller Sauerstoff ist, noch den tiefen, dunklen, grünlichen Himmel, mit der mageren Sonne und den winzigen Monden, mit dem doppelt so hellen Abend- und Morgenstern – der Venus und der Erde. Alldies, damals seltsam und fremdartig, deucht mich heute, durch die Erinnerung verklärt, schön und teuer. Aber es stand mit der Aufgabe meiner Sendung nur in losem Zusammenhang. Die Menschen, die Verhältnisse, in denen sie lebten, dies war für mich wichtig, und sie waren selbst in dieser märchenhaften Umgebung das Allerphantastischste, das Allerrätselhafteste.

Menni wohnte in einem nicht sonderlich großen zweistöckigen Haus, das sich der Architektur nach nicht von den übrigen Gebäuden unterschied. Der originellste Zug dieser Architektur bestand in dem durchsichtigen, aus riesenhaften himmelblauen Platten gebildeten Dach. Unter diesem Dach befanden sich die Schlaf- und Wohnzimmer. Die Marsbewohner verbrachten ihre Mußestunden in dieser blauen Beleuchtung, schätzten deren beruhigenden Einfluß, und fanden die Farbe, die jenes Licht auf den Gesichtern hervorruft, keineswegs unangenehm, wie es bei uns der Fall gewesen wäre.

Die Arbeitszimmer, das Hauslaboratorium, sowie der Verbindungsraum lagen im unteren Stockwerk; große Fenster ließen gewaltige Wogen des beunruhigenden roten Lichtes, das von den Blättern der Parkbäume ausging, in die Räume fluten. Dieses Licht, das in der ersten Zeit bei mir eine unruhige und verwirrte Stimmung hervorrief, erregte bei den Marsbewohnern eine gewohnte, der Arbeit günstige Erregung.

In Mennis Arbeitszimmer befanden sich viele Bücher und die verschiedensten Schreibgeräte, angefangen vom einfachen Bleistift bis zum Druckphonographen. Dieser Apparat besaß einen äußerst komplizierten Mechanismus: jedes deutlich ausgesprochene Wort wurde sofort vermittels eines Hebels auf der Schreibmaschine wiedergegeben und von dieser, je nach Bedarf, auf die Setzmaschine gebracht.

Auf Mennis Schreibtisch stand das Porträt eines mittelgroßen Marsbewohners. Die Gesichtszüge erinnerten lebhaft an Menni, doch eignete ihnen ein Ausdruck strenger Energie und kalter Entschlossenheit, ja fast der Grausamkeit, die Menni fehlte, dessen Gesicht nur einen ruhigen, festen Willen ausdrückte. Menni erzählte mir die Geschichte dieses Mannes.

Er war ein Ahne Mennis, ein großer Ingenieur. Er lebte vor der sozialen Revolution, zur Zeit der großen Kanalbauten. Dieses grandiose Werk wurde nach seinen Plänen und unter seiner Leitung ausgeführt. Sein erster Gehilfe, der ihm den Ruhm und die Macht neidete, zettelte gegen ihn Intrigen an. Einer der Hauptkanäle, an dem einige hunderttausend Menschen arbeiteten, mußte in einer sumpfigen, ungesunden Gegend begonnen werden. Viele tausend Arbeiter starben und erkrankten, allgemeine Unzufriedenheit gärte. Zur gleichen Zeit, als der Oberingenieur mit der Zentralregierung des Mars Besprechungen pflog, um für die Familien der bei dem Bau verstorbenen Arbeiter und für jene, die durch Krankheit an weiterer Arbeit gehindert wurden, Pensionen durchzusetzen, agitierte der erste Gehilfe im Geheimen wider ihn, hetzte zum Streik für die Forderung, die Arbeit an einen anderen Ort zu verlegen, was bei dem jetzigen Stand der Arbeit unmöglich war, weil dadurch der ganze Plan des großen Werkes und des Ingenieurs zerstört worden wäre. Als der Ingenieur dies erfuhr, berief er den ersten Gehilfen zu sich, verlangte von ihm eine Aufklärung und tötete ihn auf der Stelle. Vor Gericht verschmähte der Ingenieur jegliche Verteidigung, beschränkte sich auf die Erklärung, daß er seine Handlung für völlig gerechtund notwendig halte. Er wurde zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt.

Doch stellte sich gar bald heraus, daß keiner seiner Nachfolger die Kraft besaß, die gigantische Organisation der Arbeit durchzuführen. Mißverständnisse entstanden, Raub und Betrug, gewaltige Verwirrung; der ganze Apparat des Werkes war nahe daran zugrunde zu gehen, die Ausgaben wuchsen in die Hunderte von Millionen, unter den Arbeitern gärte heftige Unzufriedenheit, die bereits fast zu Aufständen führte. Die Zentralregierung wandte sich in aller Eile an den früheren Ingenieur, bot ihm Begnadigung und Wiedereinsetzung ins Amt an. Er wies die Begnadigung zurück, willigte jedoch ein, vom Gefängnis aus die Arbeit zu leiten.

Durch die Berichte seiner Revisoren wurden die Vorgänge an der Arbeitsstelle rasch aufgeklärt. Hundert Ingenieure und Unternehmer wurden fortgejagt und vor Gericht gestellt. Der Arbeitslohn wurde erhöht, ein neues System für die Lieferung der Nahrung, Kleidung und Werkzeuge eingeführt, der Arbeitsplan revidiert und verbessert. Bald war die Ordnung wieder völlig hergestellt, der gewaltige Apparat arbeitete rasch und genau, wie ein gehorsames Werkzeug in der Hand des Meisters.

Aber dieser Meister leitete nicht bloß das ganze Werk, sondern arbeitete auch die Pläne für dessen Fortsetzung in den folgenden Jahren aus, bereitete gleichzeitig auch noch einen Stellvertreter vor, einen jungen, energischen, begabten, dem Arbeiterstand entstammenden Ingenieur. Da der Tag nahte, an dem er aus dem Gefängnis entlassen werden sollte, war alles so gut vorbereitet, daß der große Meister die Möglichkeit hatte, das Werk, ohne es zu gefährden, einer anderen Hand zu übergeben. Im Augenblick, als sich der erste Minister der Zentralregierung dem Gefängnis näherte, um den Gefangenen freizulassen, tötete dieser sich selbst.

Während Menni mir dies erzählte, veränderte sich sein Gesicht auf seltsame Art; es erschien darauf der gleiche unbeugsamstrenge Ausdruck, der seinem Ahnen eignete, und in diesem Augenblick glich er ihm. Ich fühlte, wie sehr er diesem Ahnen, der hundert Jahre vor seiner, Mennis, Geburt gestorben war, nahestand und wie gut er ihn begriff.

Das Verbindungsbureau nahm den mittleren Raum des unteren Stockwerkes ein. Hier befanden sich die Telephone und die optischen Apparate, die auf jede beliebige Entfernung hin das Bild all dessen wiedergaben, was sich vor ihrer Linse befand. Einer dieser optischen Apparate verband Mennis Wohnung mit der Verbindungsstation, und über diese mit allen Städten des Planeten. Ein anderer stellte die Verbindung mit dem unterirdischen Laboratorium her, das von Menni geleitet wurde. Dieser letztere arbeitete unaufhörlich: etliche dünne, gitterartige Platten zeigten verkleinert das Bild eines hellerleuchteten Saals, wo sich mächtige Metallmaschinen und gläserne Apparate befanden, an denen Tausende von Leuten arbeiteten. Ich wandte mich an Menni mit der Bitte, mich in das Laboratorium zu führen.

„Dies geht nicht“, erwiderte er. „Dort wird mit der noch nicht stabilen Materie gearbeitet, und wie gering auch immer, dank unserer Vorsichtsmaßregeln, die Gefahr einer Explosion oder einer Vergiftung durch unsichtbare Strahlen ist, so besteht trotzdem noch eine gewisse Gefahr. Sie dürfen sich dieser nicht aussetzen, denn Sie sind hier einzigartig, und Sie zu ersetzen wäre unmöglich.“

In seinem Privatlaboratorium verwahrte Menni bloß jene Apparate und Materialien, die zu seinen früheren Experimenten und Untersuchungen in Beziehung standen.

Im Korridor des untersten Stockwerkes war an der Decke ein Luftschiff befestigt, mit dem man in jedem Augenblick dorthin fliegen konnte, wohin es einem beliebte.

„Wo lebt Netti?“ fragte ich Menni.

„In einer großen Stadt, auf zwei Luftschiffstunden entfernt. Dort befindet sich eine große Maschinenfabrik mit etlichen zehntausend Arbeitern, so daß Netti für seine Untersuchungenweit mehr Material besitzt, als hier. Wir haben einen anderen Arzt.“

„Ist mir auch nicht gestattet, die Maschinenfabrik zu besuchen?“ erkundigte ich mich.

„Nein; dort droht ja keine besondere Gefahr. Wenn es Ihnen recht ist, werden wir uns morgen zusammen hinbegeben.“

Wir beschlossen, dies zu tun.

Ungefähr fünfhundert Kilometer in zwei Stunden, – die Schnelligkeit eines Falkenflugs, die bisher nicht einmal von unseren elektrischen Eisenbahnen erreicht worden ist ... Unter uns kreiste in raschem Wechsel die unbekannte, fremdartige Landschaft, und noch rascher flogen seltsame, mir fremde Vögel an uns vorbei. Das Sonnenlicht warf blaue Farben auf die Dächer der Häuser und färbte mit dem mir gewohnten gelben Licht die ungeheuere Kuppel eines unbekannten großen Gebäudes. Flüsse und Kanäle schimmerten als Stahlbänder, mein Auge ruhte auf ihnen, weil sie denen der Erde glichen. In der Ferne ward eine gewaltige Stadt sichtbar, umsäumt von kleinen Seen und durchschnitten von Kanälen. Das Luftschiff verlangsamte seine Fahrt und senkte sich gleitend zu einem kleinen schönen Haus nieder, Nettis Wohnung.

Netti war daheim und begrüßte uns freudig. Er stieg in unser Luftschiff, und wir flogen weiter; die Fabrik befand sich noch etliche Kilometer entfernt, an dieser Seite des Sees.

Fünf riesenhafte Gebäude, kreuzförmig gelegen, vereinigten sich zu einem einzigen Bau; Kuppeln aus reinem Glas wurden von etlichen zehn dunklen Säulen getragen, bildeten einen Kreis oder eine verlängerte Ellipse. Die Glasplatten waren abwechselnd durchsichtig oder matt, bildeten zwischen den Säulen die Wände. Wir machten am Mittelbau Halt, vor demTor, das den ganzen Raum zwischen zwei Säulen, zehn Meter breit und zwölf Meter hoch, einnahm. Die Decke des ersten Stockwerks durchschnitt horizontal den Mittelraum des Tores; etliche Schienenpaare mündeten beim Tor, zogen sich durch den äußeren Korridor.

Wir glitten zur halben Höhe des Tores, und jählings stürzte sich das alles verschlingende Geräusch der Maschinen aus dem zweiten Stockwerk auf uns nieder. Uebrigens war dieses Stockwerk nicht im eigentlichen Sinne des Wortes ein eigenes, abgetrenntes Stockwerk; es war vielmehr ein Netz aus Luftbrücken, das über den gewaltigen, mir unbekannten Maschinen schwebte. Wenige Meter über den Maschinen befand sich ein ähnliches Netz, noch höher ein drittes, viertes, fünftes; diese Netze bestanden aus einem Glasparkett, das von vierkantigen Eisengittern eingefaßt war; alle waren durch Fallgatter und Stufen miteinander verbunden, und jedes Netz war kleiner, als das vorhergehende.

Weder Dunst, noch Ruß, noch Gestank, noch Staub. In der reinen, frischen Luft arbeiteten die Maschinen kraftvoll und gleichmäßig, das Licht war nicht schmerzlich grell, doch drang es überall hin. Die Maschinen schnitten, sägten, hobelten ungeheuere Eisenstücke, Aluminium, Nickel, Kupfer. Hebel, stählernen Riesenhänden ähnlich, bewegten sich gleichmäßig und glatt, große Plattformen glitten mit sorgfältig berechneter Genauigkeit hin und her; die Räder und Transmissionsriemen schienen hingegen unbeweglich. Hier herrschte nicht die rohe Gewalt des Feuers und Dampfes; die feine und dabei weit mächtigere Kraft der Elektrizität war die Seele dieses unheimlichen Mechanismus.

Sogar der Lärm der Maschinen schien, sobald man sich ein wenig daran gewöhnt hatte, schier melodisch, ausgenommen in jenen Augenblicken, da der gewaltige Hammer niederschlug, und von dem mächtigen Schlag alles ringsum erbebte.

Hunderte von Arbeitern gingen gelassen durch den Raum; in dem Meeresrauschen der Maschinen waren ihre Schritteund Stimmen nicht vernehmbar. Auf ihren Zügen lag keine angespannte Sorge, sondern bloß ruhige Aufmerksamkeit; sie glichen wißbegierigen, gelehrsamen Betrachtern; es interessierte sie nur, zu sehen, wie die ungeheueren Metallstücke auf den unter der durchsichtigen Kuppel gelegenen Schienenplattformen in die eiserne Umarmung der dunklen Ungeheuer stürzten, wie die Ungeheuer diese mit ihren starken Kinnbacken zermalmten, mit den schweren, harten Tatzen festhielten, mit den scharfen, glänzenden Krallen durchbohrten und schließlich, im grausamen Spiel innehaltend, sie auf die andere Seite zu den dort befindlichen elektrischen Eisenbahnwaggons beförderten, als prächtige Maschinenteile, deren Bestimmung rätselhaft war. Es erschien völlig natürlich, daß die stählernen Ungeheuer die kleinen großäugigen Betrachter nicht anrührten, die so vertrauensvoll zwischen ihnen dahinschritten. Diese Tatsache entsprang der Geringschätzung ihrer Schwäche, der Erkenntnis, daß diese kleinen Geschöpfe eine allzu unbedeutende Beute seien, unwürdig der ungeheueren Kraft der Giganten. Unmerkbar und unsichtbar waren jene Fäden, die das zarte Menschenhirn mit dem unzerstörbaren Organ des Mechanismus verbanden.

Als wir endlich den Bau verließen, fragte der uns führende Techniker, ob wir sofort die anderen Gebäude besichtigen, oder ob wir uns zur Erholung eine kleine Unterbrechung gönnen wollten? Ich war für eine Unterbrechung.

„Ich sah nun die Maschinen und die Arbeiter“, sprach ich. „Die Organisation der Arbeit jedoch vermag ich mir nicht vorzustellen. Und gerade darüber möchte ich Sie befragen.“

Statt einer Antwort führte uns der Techniker in einen kubisch gebauten, zwischen dem Mittel- und einem Eckgebäude gelegenen Bau. Aehnlicher Bauten gab es noch drei, die alle die analoge Lage hatten. Die schwarzen Mauern waren mit Reihen von glänzend weißen Zeichen bedeckt; dies waren die statistischen Arbeitstabellen. Auf der einen, mit Nummer eins bezeichneten, stand:

„Der Maschinen-Betrieb verfügt über einen Ueberschuß von 968757 täglichen Arbeitsstunden, davon 11325 Arbeitsstunden erfahrener Spezialisten.

Die Fabrik weist einen Ueberschuß von 753 Stunden auf, davon 29 Stunden erfahrener Spezialisten.

In den folgenden Zweigen herrscht kein Mangel an Arbeitskraft: in der Landwirtschaft, in den Bergwerken, bei den Erdarbeiten, in den chemischen Betrieben usw. (Die verschiedenen Arbeitszweige wurden in alphabetischer Reihenfolge aufgezählt.)“

Auf der Tabelle, die die Nummer zwei trug, war zu lesen:

„In den Konfektionsbetrieben ist ein Mangel von 392685 täglichen Arbeitsstunden, davon 21380 Arbeitsstunden erfahrener Mechaniker für Spezialmaschinen und 7852 Arbeitsstunden der Spezialisten für Organisation.“

„Die Schuhfabriken benötigen 79360 Arbeitsstunden, davon ...“ usw.

„Das Institut für Rechnungswesen benötigt 3078 Arbeitsstunden ...“

Der Inhalt der Tabellen Nummer drei und vier war ein ähnlicher. Auf den Listen der Arbeitszweige stand auch die Erziehung von kleinen, sowie von mittelgroßen Kindern, medizinische Hilfe für die Stadt, oder für Landbezirke usw.

„Weshalb ist der Ueberschuß an Arbeitskraft nur in der Maschinenfabrik so genau angegeben, der Mangel an Arbeitskräften jedoch überall so ausführlich vermerkt?“ fragte ich.

„Das ist leicht zu erklären“, entgegnete Menni. „Vermittels dieser Tabellen wird die Verteilung der Arbeit vorgenommen. Dazu ist nötig, daß ein jeder zu sehen vermöge, wo die Arbeitskräfte nicht ausreichen, in welchem Maße sie fehlen. Dann vermag der Mensch, der für zwei Beschäftigungen die gleiche oder verhältnismäßig gleiche Neigung besitzt, jene der beiden Beschäftigungen zu wählen, bei der es an Arbeitskraft gebricht. Den genauen Ueberschuß an Arbeitskraft zu kennen, ist jedoch nur dort vonnöten, wo dieser Ueberschußbesteht. Auf diese Art kann jeder Arbeiter selbst die Berechnung und das Maß des Ueberschusses feststellen, sowie seine Neigung, die Beschäftigung zu wechseln.“

Während wir so sprachen, bemerkte ich plötzlich, daß auf den Tabellen einige Zahlen verschwanden und durch andere, neue, ersetzt wurden. Ich fragte, was dies bedeute.

„Die Zahlen ändern sich stündlich“, erklärte Menni. „Im Verlauf einer Stunde melden einige tausend Arbeiter ihren Wunsch, zu einer anderen Arbeit überzugehen. Dies wird vom zentralen statistischen Apparat vermerkt, und die Mitteilung wird auf elektrischem Wege stündlich weitergeleitet.“

„Auf welche Art vermag der zentrale statistische Apparat die Zahlen des Ueberschusses und des Mangels festzustellen?“

„Unser Institut für Rechnungswesen besitzt überall seine Agenturen; diese verfolgen genau die Bewegung in der Produktion, die Warenmengen der einzelnen Betriebe, die Zahl der dort schaffenden Arbeiter. Auf diesem Weg wird genau ersichtlich, wieviel Arbeitsstunden erforderlich sind. Das Institut berechnet, welcher Unterschied zwischen den tatsächlichen und den erforderlichen Arbeitsstunden in den einzelnen Betrieben besteht, und gibt dies überall bekannt. Die Flut der Freiwilligen verteilt sich auf gleichmäßige Art.“

„Ist das Anrecht auf Produkte in keiner Weise eingeschränkt?“

„Nein; jeder nimmt das, was er braucht, nimmt soviel, wie er will.“

„Und wird niemals etwas unserem Gelde entsprechendes verlangt? Ein Beweis für die Menge der geleisteten Arbeit, oder der Verpflichtung, diese zu leisten?“

„Keineswegs. Bei uns ist die Arbeit frei, es herrscht an nichts Mangel. Der erwachsene soziale Mensch fordert nur eines: Arbeit. Wir brauchen ihn weder auf verhüllte noch auf offene Art zur Arbeit zu zwingen.“

„Wenn aber die Forderungen durch nichts begrenzt werden, ergibt sich daraus nicht die Möglichkeit scharfer Schwankungen,die alle Berechnungen des Instituts über den Haufen werfen?“

„Selbstverständlich nicht. Der einzelne Mensch kann für einen oder zwei Menschen essen, ja auch die für drei Leute bestimmte Menge von Nahrungsmitteln verzehren, oder aber er kann in zehn Tagen zehn Anzüge tragen; bei einer Gesellschaft von dreitausend Millionen Menschen hingegen gibt es keine derartigen Schwankungen. Bei so großen Zahlen bedeuten die Schwankungen nach der einen oder anderen Seite hin nichts, verteilen sich gleichmäßig; der Durchschnitt verändert sich äußerst langsam, in strenger, gesetzmäßiger Kontinuität.“

„Dann arbeitet also Ihre Statistik völlig automatisch, ist weiter nichts, als eine Berechnung?“

„Das will ich nicht sagen. Es gibt dabei auch große Schwierigkeiten. Das Institut für Rechnungswesen muß scharfsichtig alle neuen Erfindungen verfolgen, sowie die durch diese im Betrieb hervorgerufenen Veränderungen, damit es diese richtig einzuschätzen vermag. Erscheint eine neue Maschine, so fordert dies nicht nur eine Veränderung der Arbeit in jenen Betrieben, wo sie benützt wird, sondern auch in den Maschinenfabriken, und bisweilen in den Betrieben für Rohmaterial bei ganz anderen Zweigen. Wird eine Erzgrube erschöpft, oder werden neue mineralische Reichtümer entdeckt, so bedeutet das abermals eine völlige Veränderung der Arbeit in einer ganzen Reihe von Betrieben, – in den Bergwerken, dem Bau der Eisenbahnstrecken usw. All dies muß von allem Anfang an berechnet werden, wenn auch nicht ganz genau, so doch annähernd, und das ist keineswegs leicht, solange nicht die Daten von Augenzeugen erbracht werden können.“

„Bei derartigen Schwierigkeiten“, bemerkte ich, „ist es offensichtlich nötig, stets über einen Vorrat an überschüssigen Arbeitskräften zu verfügen?“

„Ja, gerade dies ist der Stützpunkt unseres Systems. Vor zweihundert Jahren, als die kollektive Arbeit nur gerade genügte,um die Forderungen der Gesellschaft zu befriedigen, war eine völlige Genauigkeit der Berechnung unentbehrlich, und die Verteilung der Arbeit konnte nicht ganz frei sein. Es gab Pflicht-Arbeitstage, und die Verteilung derselben fand nicht immer die Zustimmung unserer Genossen. Doch brachte jede Erfindung, wenngleich sie zuerst vorübergehende statistische Schwierigkeiten bedeutete, eine gewaltige Erleichterung der Aufgabe. Zuerst wurden die Arbeitstage gekürzt, dann, als sich allerorts ein Ueberschuß an Arbeitskraft zeigte, wurde die Verpflichtung zur Arbeit endgültig aufgehoben. Beobachten Sie, wie unbedeutend die Zahlen sind, die sich auf den Mangel an Arbeitsstunden beziehen: tausend, zehn-, hunderttausend Arbeitsstunden, nicht mehr, – und dies bei Millionen und zehn Millionen von Arbeitsstunden, die in den Betrieben unnötig verbracht werden.“

„Dennoch besteht ein Mangel an Arbeitsstunden“, warf ich ein. „Freilich dürfte er durch den darauffolgenden Ueberschuß gedeckt werden.“

„Nicht bloß durch diesen Ueberschuß. Bei den lebenswichtigen Betrieben wird derart gearbeitet, daß die Grundziffern noch überboten werden. In den für die Gesellschaft wichtigsten Industriezweigen – den Betrieben für Lebensmittel, Kleidung, Maschinen, Bauten – erreicht dieses Ueberangebot die Höhe von 6 Prozent, bei den weniger wichtigen 1 bis 2 Prozent. Auf diese Art drücken die den Mangel bezeichnenden Zahlen, allgemein gesprochen, nur den relativen, aber nicht den absoluten Mangel aus. Selbst wenn auf den Tabellen ein Mangel von zehn- und hunderttausend Arbeitsstunden vermerkt ist, so bedeutet dies noch nicht, daß die Gesellschaft unter einem wirklichen Mangel leidet.“

„Wieviel Stunden werden täglich vom Einzelnen, zum Beispiel in dieser Fabrik, gearbeitet?“

„Die meisten arbeiten zwei, anderthalb und zweieinhalb Stunden“, erwiderte der Techniker. „Doch gibt es auch welche, die länger oder kürzer arbeiten. Jener Genosse dort,der den großen Hammer handhabt, läßt sich derart von seiner Arbeit fortreißen, daß er niemandem gestattet, ihn abzulösen, ehe nicht die volle Arbeitszeit, sechs Stunden, vorüber ist.“

Ich übertrug im Gedanken die Marszahlen auf irdische Zahlen: ihr Tag bestand, da ihre Stunden etwas länger waren aus zehn Stunden. Demzufolge war ein Arbeitstag von vier, fünf, sechs Stunden ungefähr unserem Arbeitstag von fünfzehn Stunden gleich, – einer Arbeitszeit, die nur bei den ausbeuterischsten Unternehmen vorkam.

„Ist es denn für den Genossen am großen Hammer nicht schädlich, so lange zu arbeiten?“ fragte ich.

„Bisher noch nicht“, entgegnete Netti. „Er wird sich diesen Luxus noch ein halbes Jahr lang gestatten können. Ich habe ihn selbstverständlich auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die ihm von seiner Leidenschaft drohen. Eine derselben ist die Möglichkeit eines krampfartigen psychischen Anfalls, der ihn mit unwiderstehlicher Kraft unter den Hammer reißen würde. Im Vorfahr ereignete sich in dieser Fabrik ein derartiger Fall mit einem jungen Mechaniker, der ebenfalls die starken Empfindungen liebte. Dank eines glücklichen Zufalls gelang es, den Hammer aufzuhalten, und der unfreiwillige Selbstmord mißlang. Die Gier nach starken Empfindungen ist an und für sich noch keine Krankheit, doch kann sie sich leicht in eine verwandeln, falls das Nervensystem durch Erschöpfung, seelische Kämpfe oder eine zufällige Krankheit erschüttert ist. Selbstverständlich verliere ich niemals jene Genossen aus dem Auge, die sich hemmungslos der gleichen Arbeit hingeben.“

„Sollte aber nicht jener Genosse, von dem die Rede ist, seine Arbeitszeit auch schon deshalb abkürzen, weil in der Maschinenfabrik ein Ueberschuß an Arbeitsstunden besteht?“

„Selbstverständlich nicht“, lachte Menni. „Weshalb sollte gerade er das Gleichgewicht herstellen? Die Statistik verpflichtet keinen. Jeder nimmt sie zur Kenntnis, doch kann er sich nicht einzig und allein von ihr leiten lassen. Wenn esSie danach verlangte, baldigst in dieser Fabrik zu arbeiten, so würden Sie höchstwahrscheinlich eine Anstellung finden, und die statistische Zahl des Ueberschusses würde sich auf ein bis zwei Stunden vergrößern. Der Einfluß der Statistik macht sich bei derMassen-Umstellung der Arbeit ununterbrochen bemerkbar, doch ist jeder Einzelne frei.“

Wir hatten uns nun zur Genüge ausgeruht und gingen daran, die Besichtigung der Fabrik fortzusetzen. Nur Menni begab sich heim, denn er war ins Laboratorium gerufen worden.

Am Abend beschloß ich, bei Netti zu bleiben; er versprach, mir am folgenden Tag das „Haus der Kinder“ zu zeigen, wo seine Mutter eine der Erzieherinnen war.

Das „Haus der Kinder“ nahm den wichtigsten und schönsten Teil einer Stadt von fünfzehn- bis zwanzigtausend Einwohnern ein. Diese Einwohner bestanden freilich hauptsächlich aus Kindern und deren Erziehern. Es gab in allen größeren Städten auf dem Planeten derartige Anstalten, in vielen Fällen bildeten sie sogar selbständige Städte; bloß an kleineren Orten, wie etwa in Mennis „Chemischer Stadt“, fehlten sie bisweilen.

Das große zweistöckige Haus mit dem üblichen blauen Dach lag in von Bächen durchzogenen Gärten; hier gab es auch Teiche, Spiel- und Turnplätze, Gemüsegärten, Blumen und nützliche Gräser, Häuschen für zahme Tiere und Vögel ... Eine Menge kleiner Ungeheuer spielten dort, man vermochte, dank der für Mädchen und Knaben gleichen Bekleidung, nicht zu unterscheiden, welchem Geschlecht sie angehörten ... Es war ja auch bei den erwachsenen Marsbewohnern schwierig, der Kleidung nach die Männer von den Frauen zu unterscheiden, – die Grundzüge der Gewänder waren die gleichen, nurbei kleinen Einzelheiten bestand ein Unterschied: die engeren Gewänder der Männer paßten sich genauer an den Körper an, während bei den Frauen dieser mehr verhüllt wurde. Jedenfalls aber war die ältliche Person, die uns beim Verlassen der Gondel an der Tür eines der großen Häuser begrüßte, eine Frau, denn Netti umarmte sie und nannte sie „Mama“. Im weiteren Gespräch jedoch redete er sie, gleich den anderen Genossen, nur mit dem Namen: „Nella“ an.

Nella hatte bereits gewußt, daß wir kommen würden und führte uns sofort in das „Haus der Kinder“, zeigte uns alle Abteilungen, bei der von ihr geleiteten für die Allerkleinsten beginnend, bis zu jener, die für die ans Knaben- und Mädchenalter grenzenden Kinder bestimmt war. Unterwegs schlossen sich uns die kleinen Ungeheuer an, betrachteten mit ihren riesigen Augen den Menschen, der von einem anderen Planeten stammte; sie wußten genau, wer ich sei, und als wir die letzte Abteilung erreichten, begleitete uns bereits eine ganze Schar, wenngleich die meisten Kinder seit dem Morgen im Garten spielten.

Im Haus der Kinder lebten etwa dreihundert Kinder verschiedenen Alters. Ich fragte Nella, weshalb die verschiedenaltrigen Kinder zusammen, und nicht in einzelnen Häusern untergebracht waren, was doch sicherlich die Arbeit der Erzieher erleichtern und vereinfachen würde.

„Weil es auf diese Art keine wirkliche Erziehung geben könnte“, erwiderte Nella. „Um für die Gesellschaft erzogen zu werden, muß das Kind ein gesellschaftliches Leben führen. Jede lebendige Erfahrung, jedes lebendige Wissen verbindet die Kinder miteinander. Wollten wir das eine Alter vom anderen isolieren, so gäben wir den Kindern dadurch ein einseitiges und enges Milieu, in dem die Entwicklung der zukünftigen Menschen nur langsam, träge und einseitig vor sich ginge. Die verschiedenen Alter hingegen lassen der Aktivität weit mehr Spielraum. Die älteren Kinder sind unsere besten Gehilfen beim Erziehen der Kleinen. Doch bringen wir nichtnur deshalb absichtlich die Kinder der verschiedenen Altersstufen zusammen, sondern die Erzieher in jedem Kinderhaus bemühen sich auch, die verschiedenen Alter und verschiedenen praktischen Eigenheiten gleichsam zu sammeln.“

„Dennoch sind in diesem Haus der Kinder die Kleinen dem Alter nach in den verschiedenen Abteilungen untergebracht“, warf ich ein. „Dies widerspricht Ihren Worten.“

„Die Kinder begeben sich nur in die verschiedenen Abteilungen, um dort zu schlafen und zu speisen; hierbei muß man selbstverständlich die einzelnen Altersstufen trennen. Beim Spiel und der Beschäftigung jedoch gruppieren sich die Kinder, wie es ihnen beliebt. Auch wenn irgend welche belletristischen oder wissenschaftlichen Vorträge gehalten werden, finden sich unter den Zuhörern stets auch Kinder aus anderen Abteilungen ein. Die Kinder wählen sich selbst ihren Umgang, und lieben es, mit den andersaltrigen Kameraden, vor allem aber mit den Erwachsenen zu verkehren.“

„Nella“, rief aus der Menge hervorspringend ein kleiner Junge. „Esta hat das Schiff, das ich selbst verfertigt, fortgenommen. Nimm es ihr wieder und gib es mir.“

„Wo ist sie?“ fragte Nella.

„Sie lief zum Teich, um das Schiff auf dem Wasser schwimmen zu lassen“, erklärte das Kind.

„Ich habe jetzt keine Zeit, um dorthin zu gehen; eines von den älteren Kindern soll mit dir gehen und Esta sagen, sie möge dich nicht kränken. Am besten aber wäre es, du gingest allein hin und hülfest ihr, das Schiff schwimmen zu lassen. Es ist gar nicht erstaunlich, daß ihr das Schiff gefällt, wenn du es schön gemacht hast.“

Das Kind lief fort und Nella wandte sich an die Uebrigen.

„Hört Kinder, es wäre gut, wenn Ihr uns allein ließet. Dem Fremden kann es nicht angenehm sein, von hundert Kinderaugen angestarrt zu werden. Stelle dir einmal vor, Elwi, daß dich eine ganze Schar Fremder anstarrte. Was tätest du?“

„Ich liefe fort“, entgegnete tapfer das uns zunächst stehende Kind, an das sich Nella gewandt hatte. Und schon im gleichen Augenblick rannten alle Kinder lachend von dannen.

„Da sehen Sie selbst, wie mächtig die Vergangenheit ist“, meinte lächelnd die Erzieherin. „Man könnte glauben, bei uns herrsche vollkommener Kommunismus, von dem die Kinder fast nie abweichen, – woher stammt das Gefühl des Privateigentums? Da kommt nun ein Kind und sagt „mein“ Schiff, das „ich selbst“ verfertigt habe. Und derartiges ereignet sich häufig, führt manchmal bis zu Prügeleien. Dagegen läßt sich nichts tun – ein allgemeines Lebensgesetz lautet: die Entwicklung des Organismus gibt im verkleinerten Maßstab die Entwicklung des Aeußeren wieder, und die Entwicklung des Einzelnen wiederholt auf gleiche Art die Entwicklung der Gesellschaft. Der Selbstbestimmung der Kinder mittleren und reiferen Alters eignet in vielen Fällen dieser unklar individualistische Charakter. Und diese Färbung wird mit der Reife stärker. Nur bei der jüngsten Generation besiegt das sozialistische Milieu endgültig die Reste der Vergangenheit.“

„Machen Sie die Kinder mit dieser Vergangenheit bekannt?“ fragte ich.

„Selbstverständlich. Sie lieben sehr die Gespräche und Erzählungen über vergangene Zeiten. Zuerst erscheinen diese ihnen als Märchen, als schöne, ein wenig seltsame Märchen von einer anderen Welt, die mit ihren aufregenden Bildern des Krieges und der Gewalt in den atavistischen Tiefen des Kinderinstinktes einen Widerhall finden. Die unbesieglichen lebendigen Ueberreste der Vergangenheit, die es in der eigenen Seele findet, ermöglichen dem Kinde genau den Zusammenhang der Zeiten zu erkennen, die Märchen und Bilder verwandeln sich in wahrhafte Weltgeschichte, – in die lebendigen Glieder einer unzerreißbaren Kette.“

Wir durchwanderten die Alleen eines weiten Gartens, begegneten von Zeit zu Zeit Kindergruppen, mit Spielen beschäftigt,Graben auswerfend, mit Werkzeugen arbeitend, in ernste Gespräche vertieft, oder lebhaft plaudernd. Alle wandten sich mir mit Aufmerksamkeit zu, doch folgte uns niemand; anscheinend waren sie bereits von den andern benachrichtigt worden. Die meisten Gruppen bestanden aus Kindern verschiedenen Alters; in vielen gab es auch ein bis zwei Erwachsene.

„In diesem Hause sind viele Erzieher“, bemerkte ich.

„Ja, besonders wenn wir, was nur gerecht ist, die größeren Kinder dazu rechnen. Wirkliche Erziehungsspezialisten gibt es hier nur drei; die übrigen Erwachsenen, die Sie sehen, sind zum großen Teil Väter und Mütter, die auf kurze Zeit bei ihren Kindern leben, oder junge Leute, die sich für den Erzieherberuf vorbereiten wollen.“

„Wie, es ist den Eltern gestattet, hier mit ihren Kindern zu leben?“ „Natürlich. Einige der Mütter leben etliche Jahre hier. Die meisten jedoch kommen von Zeit zu Zeit her, verbringen hier eine Woche, zwei Wochen, einen Monat. Die Väter leben selten hier. In unserem Haus gibt es sechzig Einzelzimmer für die Eltern, oder für jene Kinder, die den Wunsch nach Einsamkeit verspüren. Ich entsinne mich nicht, daß diese Zimmer je unbenützt blieben.“

„Es kommt demnach auch vor, daß Kinder nicht in den allgemeinen Räumen leben?“

„Ja; die älteren Kinder verlangt es häufig danach, abgesondert zu leben. Dies ist zum Teil ein Ueberrest jenes unbesieglichen Individualismus, von dem ich bereits sprach, zum Teil das bei Kindern häufige Verlangen, sich in die Studien zu vertiefen, der Wunsch, all das zu verbannen, was die Aufmerksamkeit ablenkt und zerstreut. Gibt es doch bei uns auch Erwachsene, die einsam zu leben wünschen, insbesondere jene, die sich mit wissenschaftlichen Forschungen, oder aber mit Kunst beschäftigen.“

In diesem Augenblick sahen wir vor uns auf einer kleinen Wiese ein Kind, – es mochte sechs oder sieben Jahre zählen– das, mit einem Stock in der Hand, ein Tier verfolgte. Wir beschleunigten unsere Schritte; das Kind beachtete uns nicht. Als wir an es herantraten, hatte es eben seine Beute erreicht – diese schien eine Art großer Frosch zu sein. Das Kind schlug heftig auf die Pfote des Tieres los. Dann schleppte sich das Tier mit gebrochener Pfote langsam über den Rasen.

„Weshalb tatest du dies, Aldo?“ fragte Nella in aller Ruhe.

„Ich konnte es nicht fangen, es lief immer fort“, erklärte der Knabe.

„Weißt du auch, was du tatest? Du hast dem Frosch weh getan und ihm die Pfote gebrochen. Gib den Stock her, ich werde es dir erklären.“

Das Kind gab Nella den Stock, und diese schlug ihm mit rascher Bewegung kräftig auf die Hand. Der Knabe schrie auf.

„Tut es weh, Aldo?“, fragte die Erzieherin gelassen.

„Sehr weh; böse Nella!“, entgegnete das Kind.

„Ich verletzte dir nur leicht die Hand, du aber hast den Frosch noch viel stärker geschlagen. Hast ihm die Pfote gebrochen. Er hat nicht nur viel größere Schmerzen, als du, sondern kann auch nicht mehr laufen und springen, kann sich nicht mehr seine Nahrung suchen, wird vor Hunger sterben, oder von einem bösen Tier, dem er jetzt nicht entfliehen kann, verschlungen werden. Was denkst du darüber, Aldo?“

Das Kind schwieg; in seinen Augen standen Tränen des Schmerzes, es hielt die verletzte Hand mit der anderen fest. Dann sagte es: „Man muß ihm die Pfote flicken.“

„Das ist richtig“, erwiderte Netti. „Komm, ich werde dir zeigen, wie man es macht.“

Sie begaben sich zu dem verwundeten Tier, das sich nur auf wenige Schritte hatte entfernen können. Netti nahm sein Taschentuch hervor, zerriß es in Streifen, gebot Aldo, einige dünne Zweiglein zu bringen. Mit dem tiefen Ernst echter Kinder, die einer äußerst wichtigen Beschäftigung obliegen, legten sie beide dem Frosch einen festen Verband an.

Bald darauf schickten Netti und ich uns an, heimzukehren.

„Ach ja“, erinnerte sich Nella. „Heute Abend können Sie bei uns Ihren alten Freund Enno antreffen. Er wird den älteren Kindern eine Vorlesung über den Planeten Venus halten.“

„Wohnt er denn in dieser Stadt?“ erkundigte ich mich.

„Nein, das Observatorium, in dem er arbeitet, liegt auf drei Stunden von hier. Aber er liebt die Kinder sehr und vergißt auch mich, seine alte Erzieherin, nicht. Deshalb kommt er häufig her und erzählt den Kindern jedesmal etwas interessantes.“

Am Abend fanden wir uns selbstverständlich zur festgesetzten Stunde abermals im „Hause der Kinder“ ein. Alle Kinder, mit Ausnahme der allerkleinsten, hatten sich bereits versammelt; unter ihnen befanden sich auch einige Erwachsene. Enno begrüßte mich freudig.

„Ich wählte Ihnen zuliebe dieses Thema“, meinte er scherzend. „Sie sind betrübt über die Rückständigkeit Ihres Planeten und die schlechten Sitten der dort lebenden Menschheit. Ich werde von einem Planeten erzählen, wo die höchsten Vertreter des Lebens – Dinosaurier und fliegende Eidechsen sind, bei denen ärgere Sitten und Gebräuche herrschen, als bei Ihrer Bourgeoisie. Dort brennen Euere Steinkohlen nicht im Herde des Kapitalismus, sondern befinden sich noch im Pflanzenzustand, als gewaltige Wälder. Wollen wir uns dorthin begeben und zusammen auf die Ichthyosaurusjagd gehen? Diese Tiere stellen die dortigen Rothschilds und Rockefellers vor; freilich sind sie gemäßigter und gelinder als die Ihren, dafür aber besitzen sie weniger Kultur. Dort finden wir das Reich der ersten Kapitalsanhäufung in ihren Uranfängen, die im „Kapitalismus“ Ihres Marx vergessen wurde ... Aber Nella runzelt schon die Stirne über mein leichtfertiges Geschwätz. Ich beginne sofort.“

Mit hinreißender Beredsamkeit schilderte er den fernen Planeten mit den tiefen, sturmgepeitschten Ozeanen, den furchtbarhohen Bergen, der brennenden Sonne, den dichten, weißen Wolken, den schauerlichen Orkanen und Gewittern, den unförmigen Ungeheuern und der üppigen, riesenhaften Vegetation. Seine Erzählung illustrierte er durch die Vorführung lebendig wirkender Photographien, die auf der über die eine Wand des Saales gespannten Leinwand dahinzogen. Einzig und allein Ennos Stimme durchtönte die Dunkelheit; tiefes, aufmerksames Schweigen herrschte im ganzen Raum. Als er das Schicksal der ersten Reisenden in jener Welt schilderte und berichtete, wie einer derselben mit einer Handgranate eine Rieseneidechse tötete, spielte sich eine seltsame, von den meisten Zuhörern nicht bemerkte, kleine Szene ab. Aldo, der sich in Nellas Nähe hielt, brach plötzlich in leises Weinen aus.

„Was fehlt dir?“ fragte Nella, sich zu ihm niederbeugend.

„Das Ungeheuer tut mir leid. Man hat ihm weh getan und dann mußte es sterben“, flüsterte der Knabe.

Nella schlang den Arm um den Kleinen und versuchte ihn zu beschwichtigen, doch dauerte es lange Zeit, bis er sich beruhigte.

Enno berichtete von den zahllosen einzigartigen Reichtümern dieses herrlichen Planeten, von den gewaltigen, viele Millionen Pferdekräfte besitzenden Wasserfällen, von den Edelmetallen, die sich auf den Gipfeln der Berge befinden, von den reichen Radiumlagern, die schon bei einer Tiefe von etlichen hundert Metern zutage gefördert werden könnten, von dem Vorrat an Energie für hunderttausend Jahre. Ich beherrschte die Sprache noch nicht genügend, um die ganze Schönheit des Vortrags zu empfinden, die Bilder aber fesselten meine Aufmerksamkeit im gleichen Maße, wie die der Kinder. Als Enno endete und der Saal erhellt ward, wurde mir schier ein wenig traurig zumute, wie mochten da wohl erst die Kinder das Ende des schönen Märchens bedauern.

Als der Vortrag zu Ende war, begannen die Zuhörer Fragen zu stellen, ihre Bemerkungen zu machen. Die Fragen waren verschiedenartig, wie es ja auch die Zuhörer waren; siebetrafen die Genauigkeit der Photographien, die Mittel, die im Kampf gegen die Natur angewendet wurden. Es wurde auch die Frage aufgeworfen, wann sich auf der Venus von selbst Menschen entwickeln würden und wie deren Körper beschaffen sein werde?

Die Bemerkungen waren meist naiv, häufig jedoch scharfsinnig; sie wandten sich vor allem gegen Ennos Behauptung, daß zu unserer Zeit die Venus für die Menschen ein äußerst nutzloser Planet sei und daß es kaum möglich sein würde, ihre gewaltigen Reichtümer bald auszubeuten. Gegen diese Ansichten lieferten die jungen Optimisten einen erbitterten Kampf, dem sich die meisten anschlossen. Enno bewies ihnen, daß die Sonnenglut und die feuchte Luft eine Unmenge Bazillen hervorbringe, die für die Menschen äußerst gefährlich seien, sie mit vielen Krankheiten bedrohten; dies erfuhren alle Reisenden auf der Venus am eigenen Leibe, sowie auch, daß die Orkane und gewaltigen Gewitter jegliche Arbeit erschwerten, das Leben der Menschen gefährdeten, und dergleichen mehr. Die Kinder jedoch fanden, es sei merkwürdig, sich von derartigen Hindernissen abschrecken zu lassen, wenn es um die Eroberung eines so herrlichen Planeten gehe. Zur Bekämpfung der Bakterien und Krankheiten müßte man so rasch wie möglich Tausende von Aerzten auf die Venus senden, und auch den Orkanen und Gewittern könnte Trotz geboten werden, indem man hunderttausend Bauarbeiter hinschickt, die überall dort, wo es nötig ist, hohe Mauern errichten und Blitzableiter anbringen. „Mögen neun, zehn und mehr Menschen umkommen!“ rief ein entflammter zwölfjähriger Knabe. „Dort gibt es Dinge, um derentwillen es sich zu sterben lohnt, es kommt ja nur darauf an, den Sieg zu erringen.“ Und seine glühenden Augen verrieten, daß er sich nicht weigern würde, zu jenen zehn Menschen zu gehören.

Sanft und gelassen warf Enno diese Kartenhäuser über den Haufen; doch war ihm anzumerken, daß er in der Tiefe seiner Seele das gleiche empfinde wie die Kinder, und daßseine junge lodernde Phantasie entschlossene Pläne verberge, die zwar bedachter und ausgeklügelter waren, aber ebenso hartnäckig. Er selbst war noch nicht auf der Venus gewesen, und seine Begeisterung bewies klar, wie sehr ihn deren Schönheit und Gefahren anzogen.

Als der Gedankenaustausch beendet war, verließ Enno mit mir und Netti den Saal. Er beschloß, noch einige Tage in dieser Stadt zu verweilen und schlug mir vor, am folgenden Tag das Kunstmuseum zu besichtigen. Netti würde beschäftigt sein; er war in eine andere Stadt zu einem großen Aerztekonsilium gerufen worden.

„Ich hätte nie gedacht, daß auch bei Euch ein eigenes Museum für Kunstgegenstände existiere“, meinte ich, mit Enno dem Museum zustrebend. „Glaubte, daß Bildergalerien und Skulpturausstellungen eine Eigenheit des Kapitalismus mit seinem prunkhaften Luxus und grob zur Schau getragenen Reichtum seien. In der sozialistischen Gesellschaft erwartete ich die Kunst überall im Leben zu finden, als Schmuck dieses Lebens.“

„Darin irren Sie auch nicht“, antwortete Enno. „Der größte Teil der Kunstgegenstände ist bei uns für die Gemeinschaftsgebäude bestimmt, für jene, wo wir unsere allgemeinen Angelegenheiten regeln, wo wir studieren und Forschungen anstellen oder der Ruhe pflegen. Fabriken und Betriebe werden weit weniger geschmückt, die Aesthetik der gewaltigen Maschinen und deren Bewegung ist an und für sich ein schöner Anblick, und es gibt nur wenig Kunstgegenstände, die völlig mit den Maschinen harmonieren, in deren Gegenwart nicht einen abgeschwächten, verminderten Eindruck machten. Am wenigsten aber schmücken wir unsere Häuser, wo wir uns ja auch äußerst selten aufhalten. Unser Kunstmuseum jedoch isteine ästhetisch-wissenschaftliche Anstalt, eine Schule, in der man die Entwicklung der Kunst zu verfolgen vermag, oder, richtiger gesagt, die Entwicklung der Menschheit in ihrer künstlerischen Tätigkeit.“

Das Museum befand sich auf einer kleinen Insel inmitten eines Sees, durch eine schmale Brücke mit dem Ufer verbunden. Das viereckige Gebäude war von einem Garten umgeben, in dem hohe Springbrunnen plätscherten und unzählige blaue, weiße, schwarze und gelbe Blumen prunkten; außen war es herrlich geschmückt, innen hell von Licht überflutet.

Hier gab es wahrlich nicht jene unsinnige Anhäufung von Gemälden und Statuen wie in den großen Museen der Erde. Vor mir erläuterten einige hundert Abbildungen die Entwicklung der plastischen Kunst, angefangen von den groben, ersten Gegenständen der prähistorischen Zeit bis zu den technisch-idealen Erzeugnissen des letzten Jahrhunderts. Und vom Anfang bis zum Ende war überall der Stempel jener innerlichen Vollkommenheit fühlbar, die wir „Genie“ nennen. Offensichtlich gehörte alles hier ausgestellte zu den besten Erzeugnissen jeder Epoche.

Um die Schönheit einer anderen Welt klar zu erfassen, gilt es, deren Leben genau zu kennen, aber um anderen das Verständnis für diese Schönheit zu übermitteln, dazu muß man selbst deren teilhaftig sein. Deshalb vermag ich auch nicht zuschildern, was ich dort sah; ich vermag nur Andeutungen zu geben, kann bloß ausdrücken, was mich am meisten in Staunen versetzte.

Das Hauptmotiv der Skulptur war bei den Marsbewohnern ebenso wie bei uns der schöne menschliche Körper. Die körperliche Beschaffenheit der Marsbewohner unterscheidet sich nur wenig von jener der Erdenmenschen, abgesehen von der Verschiedenheit der Augen, die zum Teil durch die Schädelformation bedingt ist, doch übersteigt auch diese Verschiedenheit nicht jene, die bei den einzelnen irdischen Rassen vorkommt. Ich kann diesen Unterschied nicht genau erklären,verstehe mich schlecht auf Anatomie; jedenfalls aber gewöhnte sich mein Auge bald an die Marsbewohner, sah in ihnen keineswegs Mißgeburten, sondern vielmehr etwas Originelles.

Ich bemerkte, daß der männliche und weibliche Körperbau weit ähnlicher war, als bei den Erdenrassen; die Breite der Frauenschultern entsprach häufig der der Männer, und das gleiche galt von der Muskulatur. Dies zeigte sich besonders in den Abbildungen aus der letzten Zeit, der Zeit der freien menschlichen Entwicklung; bei den Werken aus der kapitalistischen Periode trat der Unterschied zwischen dem männlichen und weiblichen Körper weit stärker zutage. Anscheinend hatte die häusliche Sklaverei der Frau und das Schuften des Mannes die Körper nach verschiedenen Richtungen hin beeinflußt.

Ich verlor auf keinen Augenblick die bald klare, bald verschwommene Erkenntnis, daß ich vor mir die Bilder einer fremden Welt sehe; sie trugen für mich den Stempel des Seltsamen, Gespenstischen. Sogar die herrlichen Frauenkörper dieser Statuen und Bilder erweckten in mir ein unverständliches Gefühl, das mit dem mir bekannten aesthetisch verliebten Entzücken nichts gemein hatte, sondern vielmehr den unklaren Ahnungen und Empfindungen glich, die mich vor langer Zeit, an der Grenze zwischen Kindheit und Jünglingsalter, heimgesucht hatten.

Die Statuen der frühesten Epochen waren, wie dies auch bei uns der Fall ist, einfarbig. Die späteren jedoch besaßen die Farben der Natur. Dies wunderte mich keineswegs; ich fand stets, daß das Verwerfen der Wirklichkeit nicht ein unentbehrliches Element der Kunst sein könne, ja, daß es sogar unkünstlerisch wirke, insbesondere, wenn es die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung vermindert, wie dies bei einfarbigen Skulpturen der Fall zu sein pflegt. In solchen Fällen wird die künstlerische Idealisierung des konzentrierten Lebens gestört.

Bei den Statuen und Bildern der alten Zeiten herrschte ebenso wie bei unseren antiken Kunstgegenständen große Ruheund Gelassenheit vor; diese waren voller Harmonie, frei von jeglicher Anspannung. In den folgenden Uebergangsepochen zeigte sich ein anderer Charakter: Leidenschaft, Aufregung, bisweilen gemildert zu irren Träumen, Träumen erotischer oder religiöser Natur, mitunter den schmerzhaften Widerspruch zwischen seelischer und körperlicher Kraft scharf betonend. In der sozialistischen Epoche veränderte sich abermals der Grundcharakter: hier überwogen harmonische Bewegung, gelassen vertrauensvolle Entfaltung der Kräfte, fremd jeder schmerzlichen Vergewaltigung, ein freies Streben, eine lebendige Tätigkeit, das konzentrierte Bewußtsein der Einheitlichkeit des Körpers und der unbesieglichen Vernunft.

Wenn die ideale Frauenschönheit der antiken Zeiten die Möglichkeit grenzenloser Liebe, die der Renaissance den Durst nach mystischer und gefühlicher Liebe ausdrückte, so verkörperte jene, die sich nun meinen Augen zeigte, die Liebe selbst in ihrem ganzen ruhigen und stolzen Selbstbewußtsein – klar, leuchtend, alles besiegend ...

Den späteren sowie den frühesten künstlerischen Schöpfungen eignete ein äußerst einfacher Charakter; sie behandelten ein einziges Motiv. Ihre Aufgabe bestand darin, ein kompliziertes menschliches Wesen wiederzugeben, dessen Leben reich und ausgefüllt war; deshalb wählten sie jenen Augenblick des Lebens, in dem sich irgend ein Gefühl oder ein Streben konzentriert hatte ... Bei den neuesten Künstlern schienen beliebte Themen: die Extase des schöpferischen Gedankens, die Extase der Liebe, die Extase des Naturgenusses, der ruhige freiwillige Tod – lauter Themen, die charakteristisch waren für eine große Rasse, eine Rasse, die intensiv und vollkommen zu leben und bewußt und würdig zu sterben verstand.

Die Abteilung für Gemälde und Skulptur nahm die eine Hälfte des Museums ein; die andere war der Architektur gewidmet. Unter Architektur verstanden die Marsbewohner nicht nur die Aesthetik der Bauten und der großentechnischen Konstruktionen, sondern auch die der Möbel, der Werkzeuge, der Maschinen, überhaupt die Aesthetik alles materiell Nützlichen. Welche gewaltige Rolle in ihrem Leben gerade diese Kunst spielte, ließ sich aus dem Reichtum und der Vollständigkeit dieser Sammlung ersehen. Von den ersten Höhlenwohnungen mit den primitiven Geräten bis zu den luxuriösen Gemeinschaftshäusern aus Glas und Aluminium, bis zu den gigantischen Fabriken mit den schauerlich schönen Maschinen, bis zu den gewaltigen Kanälen mit den mächtigen Ufern und Schwebebrücken – war hier alles in der typischen Form dargestellt, in Bildern, Plänen, Modellen, besonders aber in großen Stereoskopen, die eine Illusion der Wirklichkeit gaben. Eine besondere Stelle nahm die Aesthetik der Gärten, der Felder und Parke ein; und wie ungewohnt auch immer mir die Natur dieses Planeten war, so vermochte ich dennoch die Schönheit der Blumen- und Formenkombinationen zu erkennen, die das Kollektivgenie dieses großäugigen Volkes der Natur verliehen hatte.

In den Uebergangsepochen kam es, wie auch bei uns, häufig vor, daß die Pracht die Nützlichkeit beeinträchtigte, der äußere Schmuck hinderlich für die Dauerhaftigkeit wurde; die Kunst vergewaltigte die Gegenstände. Hier jedoch, in den Erzeugnissen der neuen Epoche, schauten meine Augen nichts derartiges, weder bei den Möbeln, noch bei den Geräten oder Konstruktionen. Ich fragte Enno, ob die zeitgenössische Architektur jemals die Neigung zeige, um der Schönheit willen die praktische Vollkommenheit zu vernachlässigen.

„Niemals“, entgegnete er. „Diese wäre eine falsche Schönheit, wäre etwas Gekünsteltes, aber keine Kunst.“

Bis zur sozialistischen Zeit ward das Andenken der großen Männer durch Denkmäler geehrt; jetzt jedoch wurden Denkmäler nur mehr zur Erinnerung an große Ereignisse errichtet: wie etwa der erste Versuch, die Erde zu erreichen, der mit dem Tode aller Mitglieder der Expedition endete, oder aber die völlige Ausrottung einer tödlichen Infektionskrankheit, oder dieEntdeckung und Synthese der Spaltung aller chemischen Elemente. Im Stereogramm sah man zusammen mit den Denkmälern Grabmäler und Kirchen. (Früher hatte es bei den Marsbewohnern auch eine Religion gegeben.) Eines der letzten Denkmäler großer Männer war das jenes Ingenieurs, von dem mir Menni erzählt hatte. Es war dem Künstler trefflich gelungen, die ganze Seelenstärke dieses Mannes wiederzugeben, der die Armee der Arbeit siegreich in den Kampf wider die Natur geführt und stolz das feige Urteil der Sitten über seine Tat zurückgewiesen hatte. Als ich in unwillkürlicher Versonnenheit vor dem Panorama dieses Denkmals verweilte, sprach Enno leise einige Verse, in denen der seelischen Verfassung des Helden Ausdruck verliehen wurde.

„Von wem sind diese Verse?“ fragte ich.

„Von mir“, erwiderte Enno. „Ich schrieb sie für Menni.“

Ich vermochte nicht völlig die innere Schönheit dieser mir noch immer fremden Sprache zu beurteilen, aber die Gedanken waren zweifellos klar, der Reim war stark, der Rhythmus klingend und mächtig. Dies lenkte meine Gedanken in eine neue Richtung.

„Euere Dichtung hat also noch strenge Reime und Rhythmus?“

„Selbstverständlich“, entgegnete Enno erstaunt. „Finden Sie das etwa nicht schön?“

„Doch“, erklärte ich, „bei uns hingegen war die Ansicht verbreitet, daß diese Form dem Geschmack der herrschenden Klassen unserer Gesellschaft entspringe, der Ausdruck ihrer Laune und ihrer Leidenschaft für Begrenztes sei, eine Fessel für die freie künstlerische Rede bedeute. Wir glaubten, die Poesie der Zukunft, die Dichtung der sozialistischen Epoche werde diese engen Gesetze abschütteln und vergessen.“

„Das ist völlig falsch“, meinte Enno. „Die reinen Reime erscheinen uns schön, aber keineswegs aus Leidenschaft für das Begrenzte, sondern weil sie zutiefst mit dem rhythmischen Prozeß unseres Lebens und unseres Bewußtseins harmonieren.Und der Rhythmus, der das Vielförmige zu einem einzigen Schlußakkord vereint, hat nicht auch er seinen tiefgründigen Ursprung in der lebendigen Verbindung der Menschen, die das Mannigfache des Aeußern mit der Lust der einheitlichen Liebe krönt? Der Arbeit mit dem einheitlichen Ziel, der Einheitlichkeit der Stimmung in der Kunst? Ohne Reim und Rhythmus gibt es überhaupt keine künstlerische Form. Wo der Rhythmus der Töne fehlt, muß er durch den umso strengeren Rhythmus der Bilder oder Ideen ersetzt werden ... Und wenn Reim und Rhythmus tatsächlich feudalen Ursprungs sind, so läßt sich dies ja auch von vielen anderen guten und schönen Dingen sagen.“

„Aber der Reim an und für sich beschränkt und erschwert den poetischen Ausdruck der Idee.“

„Was hat das zu bedeuten? Diese Begrenzung entspringt dem vom Künstler frei gewählten Ziel. Sie erschwert nicht nur, sondern vervollkommnet auch den Ausdruck der dichterischen Idee, verfolgt ausschließlich diesen Zweck. Je komplizierter das Ziel, desto schwerer der dazu führende Weg und desto größer der Zwang, den sich der Künstler auferlegen muß. Wenn Sie einen schönen Bau errichten wollen, wie viel richtiger Technik und Harmonie bedürfen Sie dabei, das heißt: wie viel „Zwang“ müssen Sie sich auferlegen! Bei der Wahl des Zieles sind Sie frei. Dies ist die einzige menschliche Freiheit. Wenn Sie aber nach dem Ziel verlangen, so verlangen Sie gleichzeitig auch nach den Mitteln, durch die es zu erreichen ist.“

Wir schlenderten in den Garten hinaus, um uns von den zahlreichen Eindrücken zu erholen. Der Abend war bereits niedergesunken, ein klarer milder Frühlingsabend. Die Blumen zogen Kelche und Blätter ein, um sie für die Nacht zu schließen; dies war eine Eigenheit der Marspflanzen, verursacht von den kalten Nächten. Ich wandte mich abermals an meinen Gefährten:

„Sagen Sie mir, welche Art der Belletristik ist heutzutage bei Ihnen die vorherrschende?“

„Im Drama die Tragödie, in der Dichtung die Naturschilderung“, antwortete Enno.

„Was ist der Inhalt der Tragödien? Wo finden Sie bei Ihrem glücklichen friedlichen Dasein den Stoff für Tragödien?“

„Glücklich? Friedlich? Woher nehmen Sie das? Es ist ja wahr, daß bei uns zwischen den Menschen Frieden herrscht, aber keineswegs herrscht Frieden zwischen uns und den Kräften der Natur, das wäre ja auch unmöglich. Diese ist ein Feind, bei dem selbst jeder Sieg eine neue drohende Gefahr bedeutet. In der letzten Epoche der Geschichte haben wir die Ausbeutung unseres Planeten um das zehnfache erhöht, unsere Bevölkerung wächst an und noch weit mehr steigern sich unsere Bedürfnisse. Schon mehr als einmal bedrohte uns auf dem einen oder anderen Arbeitsfeld die Erschöpfung der Naturkräfte und Mittel. Bis heute gelang es uns noch immer, diese Gefahr zu besiegen, ohne zu der hassenswerten Verkürzung des Lebens greifen zu müssen, der Verkürzung des Lebens bei uns selbst und unseren Nachkommen. Aber gerade jetzt nimmt der Kampf abermals einen besonders ernsthaften Charakter an.“

„Ich hätte niemals gedacht, daß bei Ihrer technischen und wissenschaftlichen Vollkommenheit eine derartige Gefahr bestehen könnte. Sie sagten, dies habe sich auf dem Mars bereits ereignet?“

„Ja, vor siebzig Jahren; als unsere Steinkohlenvorräte versiegten und der Uebergang zur Wasser- und Elektrizitätskraft noch lange nicht bewerkstelligt war; damals mußten wir, um die gewaltigen Maschinen herstellen zu können, einen bedeutenden Teil unserer Wälder abholzen, was auf Jahre hinaus unseren Planeten verunstaltete und das Klima verschlechtert hat. Als dann diese Krise überwunden war, zeigte es sich, vor etwa zwanzig Jahren, daß die Eisenerzlager erschöpft waren. Nun galt es, in aller Eile die richtige dauerhafte Legierung des Aluminiums herzustellen, und ein großer Teilunserer technischen Kraft wurde auf die elektrische Gewinnung des Aluminiums aus der Erde verwandt. Heute, da sich, wie auch aus der Statistik ersichtlich ist, die Bevölkerung äußerst rasch vermehrt, wissen wir bereits, daß uns in dreißig Jahren ein furchtbarer Mangel an Lebensmitteln bedrohen wird, falls es uns bis dorthin nicht gelingen sollte, die Synthese des Eiweiß aus den Elementen zu entdecken.“

„Aber die anderen Planeten“, warf ich ein, „könnten Sie nicht auf denen das Fehlende finden?“

„Wo? Die Venus ist anscheinend noch unzugänglich. Und die Erde? Die besitzt ihre eigene Menschheit, und es ist bis heute noch nicht klar ersichtlich, inwieweit wir deren Kräfte ausnützen können. Jede Fahrt nach der Erde verschlingt große Vorräte an radiumausstrahlenden Stoffen; dies weiß ich von Menni, der mir unlängst über seine letzte Expedition berichtete, und unser Vorrat an diesen Stoffen ist ziemlich gering. Nein, die sich uns überall entgegenstellenden Schwierigkeiten sind keineswegs zu unterschätzen, und je enger sich unsere Menschheit im Kampfe gegen die Natur zusammenschließt, desto enger schließen sich auch die Elemente zusammen.“

„Aber es würde doch genügen, die Vermehrung zu beschränken?“

„Die Vermehrung beschränken! Das bedeutete den Sieg der Natur. Bedeutete den Verzicht auf das unbegrenzte Anwachsen des Lebens, bedeutete das Stehenbleiben auf der gleichen Stufe. Wir siegen, weil wir in gewaltigen Massen gegen die Natur vorgehen. Wenn wir aber auf das Anwachsen unseres Heeres verzichten, dann sind wir von allen Seiten durch die Elementargewalten belagert. Dann würde auch der Glaube an unsere Kollektivkraft geschwächt werden, an unser großes Gemeinschaftsleben. Und zusammen mit diesem Glauben ginge auch für jeden Einzelnen der Sinn des Lebens verloren, weil ja doch in jedem von uns die kleine Zelle des großen Organismus lebt, vollständig lebt, und jeder wieder in dieser Zelle sein Dasein hat. Nein, eine Beschränkung derVermehrung, – das wäre das allerletzte, wozu wir uns entschließen könnten, und wenn dies gegen unseren Willen geschähe, so würde es den Anfang vom Ende bedeuten.“

„Nun begreife ich, daß auch bei Ihnen stets Tragödienstoffe vorhanden sind, zumindest als drohende Möglichkeit. Solange jedoch der Sieg noch auf Seiten der Menschheit ist, sieht sich der Einzelne zur Genüge vor dieser Tragödie der Gemeinschaft bewahrt; ja selbst wenn die Gefahr in unmittelbare Nähe rückt, so verteilen sich die gigantische Anstrengung und die Leiden des Kampfes so gleichmäßig unter den zahllosen Einzelwesen, daß deren ruhiges Glück kaum gestört werden kann. Und zu diesem Glück fehlt anscheinend bei Ihnen nichts.“

„Ruhiges Glück! Ist es denn möglich, daß der Einzelne nicht zutiefst die Erschütterung eines ganzen Lebens, in dem sein Anfang und sein Ende liegt, empfinde? Und zeigen sich nicht auch die tiefen Widersprüche des Lebens in der Begrenztheit des Einzelwesens verglichen mit dessen Ziel, in seiner Ohnmacht, mit diesem Ziel zu verschmelzen, es völlig mit seinem Bewußtsein zu umfassen und sein Bewußtsein selbst aus dem Ziel zu schöpfen? Begreifen Sie diese Widersprüche nicht? Das kommt daher, weil sie in Euerer Welt von anderen, näherliegenden und gröberen Dingen verdunkelt werden. Der Kampf der Klassen, der Gruppen, der Einzelwesen raubt Euch die Idee des Zieles, und zugleich damit das Glück sowie das Leid, die darin enthalten sind. Ich sah Ihre Welt; und ich vermag auch nicht den zehnten Teil des Wahnsinns zu erfassen, in dem Ihre Brüder leben. Eben deshalb vermag ich nicht zu beurteilen, wer von uns dem ruhigen Glück näher ist: je stärker und harmonischer das Leben, desto quälender und unvermeidlicher wirken die Dissonanzen.“

„Sagen Sie, Enno, sind Sie zum Beispiel nicht glücklich? Sie besitzen Jugend, Wissen, Poesie und sicher auch Liebe ... Was können Sie Schweres erfahren haben, daß Sie so glühend von der Tragödie des Lebens sprechen?“

„Das ist prächtig“, lachte Enno, und sein Lachen klang seltsam. „Sie wissen nicht, daß der heitere Enno bereits einmal zu sterben beschlossen hatte. Und wenn Menni nur einen einzigen Tag später sechs Worte geschrieben hätte, in denen unsäglich viel lag: „Wollen Sie auf die Erde mitkommen?“ so würde Ihnen Ihr heiterer Reisegefährte gefehlt haben. Doch kann ich Ihnen augenblicklich nichts Näheres verraten. Sie werden ja selbst sehen, daß, wenn es bei uns ein Glück gibt, dieses keineswegs das friedliche und ruhige Glück ist, von dem Sie sprechen.“

Ich konnte mich nicht entschließen, weitere Fragen zu stellen. Aber ich konnte auch nicht länger systematisch die Kunstsammlung besichtigen. Meine Aufmerksamkeit war abgelenkt, meine Gedanken schweiften umher. In der Abteilung für Skulptur verharrte ich vor einer der neuesten Statuen, die einen schönen Jüngling darstellte. Seine Gesichtszüge erinnerten an Netti; mich erschütterte das Talent, mit dem der Künstler in dem leblosen Stoff, in unvollendeten Zügen, in den glühenden Augen des Knaben die Geburt des Genies wiedergegeben hatte. Lange verweilte ich reglos vor dieser Statue, und die ganze Umgebung entschwand meinem Bewußtsein; Ennos Stimme durchbrach meine Gedanken:

„Das seid Ihr“, sprach er, auf den Jüngling weisend. „Dies ist Ihre Welt. Sie wird eine wundervolle Welt sein; heute befindet sie sich noch in ihrer Kindheit, beachten Sie, was für dunkle Träume, was für bebende Bilder noch ihr Bewußtsein erregen ... Noch liegt sie im Halbschlaf, doch wird sie erwachen; ich fühle es, glaube zutiefst daran!“

In das freudige Gefühl, das diese Worte in mir erweckten, mischte sich ein seltsames Bedauern:

„Weshalb war es nicht Netti, der diese Worte sprach?“

Ich kehrte äußerst ermüdet heim; nach zwei schlaflosen Nächten und einem qualvollen Tag, da ich zu keiner Arbeit fähig war, beschloß ich, mich an Netti zu wenden. Ich wollte den mir unbekannten Arzt der chemischen Stadt nicht zu Rate ziehen. Netti arbeitete seit dem Morgen im Krankenhaus, dort fand ich ihn in der Vorhalle, mit der Aufnahme der eben eingetroffenen Kranken beschäftigt.

Als Netti mich im Vorraum erblickte, eilte er sofort auf mich zu, betrachtete aufmerksam mein Gesicht, nahm mich bei der Hand und führte mich in ein kleines Zimmer. Hier herrschte weiches blaues Licht, ein leichter angenehmer, mir unbekannter Duft erfüllte den Raum, dessen Stille durch nichts gestört wurde. Netti drückte mich in einen bequemen Lehnstuhl und sprach:

„Denken Sie an nichts, machen Sie sich über nichts Sorgen. Für heute nehme ich alles auf mich. Rasten Sie; später komme ich wieder.“

Er verließ das Zimmer, und ich dachte an nichts, machte mir über nichts Sorgen, als habe er tatsächlich alle meine Gedanken und Sorgen auf sich genommen. Dies war äußerst angenehm, und nach wenigen Minuten schlief ich ein. Als ich erwachte, stand Netti vor mir, blickte mich lächelnd an.

„Fühlen Sie sich besser?“ fragte er.

„Ich bin vollkommen gesund, Sie aber sind ein genialer Arzt“, erwiderte ich. „Gehen Sie zu Ihren Kranken und beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht.“

„Meine Arbeit ist schon beendet. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen unser Krankenhaus zeigen“, schlug Netti vor.

Ich empfand dafür lebhaftes Interesse, und wir schickten uns an, das ganze schöne Gebäude zu besichtigen.

Chirurgische Fälle und Nervenkrankheiten schienen hier vorzuherrschen. Die meisten chirurgischen Fälle waren durch Maschinen verursachte Verletzungen.

„Es ist doch nicht möglich, daß es in Eueren Betrieben an Schutzvorrichtungen fehlt?“ fragte ich Netti.

„Vollkommene Schutzvorrichtungen, die jeden Unglücksfall ausschließen, gibt es überhaupt nicht. Aber Sie sehen hier die Verletzten aus einem Gebiet mit zwei Millionen Einwohnern – bei einem derartigen Gebiet sind etliche zehn Verwundete gar nicht so viel. Meist handelt es sich hier um Neulinge, die sich noch nicht recht auf die Maschinen verstehen, an denen sie arbeiten. Bei uns behagt es den Leuten, von dem einen Arbeitszweig zum anderen überzugehen. Die Erziehungs- und Kunstspezialisten sind am häufigsten die Opfer ihrer Zerstreutheit; ihre Aufmerksamkeit schweift oft ab, sie versinken in Gedanken und Betrachtungen.“

„Die Nervenkrankheiten werden wohl meistens durch Erschöpfung verursacht?“

„Ja, dieser Fälle gibt es viele. Doch werden derartige Krankheiten auch ebenso oft durch eine Krise im Geschlechtsleben oder aber eine andere seelische Erschütterung hervorgerufen, wie etwa der Tod geliebter Menschen.“

„Werden hier auch Geisteskranke mit verdunkeltem oder verwirrtem Bewußtsein aufgenommen?“

„Nein. Für diese gibt es ein eigenes Krankenhaus. Bei ihnen bedarf es besonderer Vorrichtungen, damit sie in gewissen Fällen weder sich, noch anderen Schaden zufügen können.“

„Und wird bei Euch in solchen Fällen gegen die Kranken Gewalt angewandt?“

„Bisweilen; selbstverständlich aber nur dann, wenn es sich als unumgänglich nötig erweist.“

„Nun begegne ich in Ihrer Welt bereits zum zweiten Mal der Gewalt! Das erste Mal geschah dies im „Haus der Kinder“. Sagen Sie mir, es gelingt also auch auf dem Mars nicht, dieses Element völlig aus dem Leben zu verbannen? Sie sind gezwungen, es mit Bewußtsein anzunehmen.“

„Ja; ebenso wie wir gezwungen sind, Krankheit und Tod hinzunehmen, oder etwa eine bittere Medizin zu schlucken.Welches vernünftige Wesen würde zum Beispiel im Fall der Selbstverteidigung auf die Gewalt verzichten?“

„Wissen Sie, daß diese Tatsache mir die Kluft zwischen Ihrer und unserer Welt weit weniger groß erscheinen läßt?“

„Der Unterschied besteht nicht darin, daß bei Ihnen notgedrungenerweise viel, bei uns aber wenig Gewalt angewandt wird, sondern vielmehr darin, daß sich bei Ihnen die Gewalt als Gesetz verkleidet, sei es nun als äußeres oder inneres, daß sie als sittliche und rechtliche Norm auftritt, die die Menschen beherrscht und belastet. Bei uns hingegen tritt die Gewalt entweder als Krankheitserscheinung auf, oder aber als vernünftige Handlung eines vernunftbegabten Wesens. In keinem dieser Fälle bedeutet sie irgendein gesellschaftliches Gesetz, oder eine gesellschaftliche Norm, ist weder persönliches noch unpersönliches Gebot.“

„Gibt es denn keine Regel, nach der Sie die Freiheit der Geisteskranken oder der Kinder einschränken?“

„Ja, eine Art wissenschaftliche, der Medizin oder Pädagogik entstammende Regel. Freilich sind in dieser technischen Regel nicht alle jene Fälle vorausgesehen, in denen die Gewalt angewandt werden muß, noch aber die Mittel bei ihrer Anwendung, die Stufen – alldies hängt selbstverständlich von der Gesamtheit der Vorbedingungen ab.“

„Wird dadurch der Willkür der Erzieher oder Krankenpfleger nicht völlig freier Lauf gelassen?“

„Was bedeutet das Wort „Willkür“? Wenn es unnötige, überflüssige Anwendung der Gewalt bedeutet, so kann es nur in bezug auf einen Kranken angewandt werden, der sich im Krankenhaus befindet. Ein vernünftiger, bewußt handelnder Mensch ist der Willkür nicht fähig.“

Wir durchschritten die Krankensäle, die Operationsräume, die Zimmer, in denen die Medizinen aufbewahrt wurden, die Stuben der Pfleger. Im obersten Stockwerk betraten wir einen geräumigen, schönen Saal, dessen durchsichtige Wände den Ausblick auf den See, den Wald und die fernen Bergegestatteten. Der Raum war mit Statuen und Gemälden von hohem künstlerischem Wert geschmückt, die Möbel waren prächtig und luxuriös.

„Dies ist das Zimmer der Sterbenden“, sprach Netti.

„Bringen Sie alle Sterbenden hierher?“ fragte ich.

„Ja, oder sie begeben sich selbst in diesen Saal“, lautete die Antwort.

„Können denn bei Ihnen die Sterbenden noch selbst gehen?“ staunte ich.

„Jene, die körperlich gesund sind, vermögen es selbstverständlich.“

Ich begriff, daß es sich hier um Selbstmörder handle.

„Sie überlassen diesen Saal den Selbstmördern zur Ausführung ihres Vorhabens?“


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