Chapter 8

„Ja, sowie alle Mittel, die einen ruhigen schmerzlosen Tod bringen.“

„Und Sie legen ihnen kein einziges Hindernis in den Weg?“

„Wenn der Patient bei klarem Verstand ist und sein Entschluß feststeht, kann es doch gar kein Hindernis geben. Natürlich wird dem Kranken Gelegenheit gewährt, sich vorher mit dem Arzt zu beraten. Einige tun dies, – andere nicht.“

„Kommen bei Ihnen viele Selbstmorde vor?“

„Ja, besonders unter den alten Leuten. Wenn sich das Gefühl des Lebens abstumpft und schwächer wird, ziehen es viele vor, nicht das natürliche Ende abzuwarten.“

„Begehen auch junge, völlig gesunde und starke Menschen Selbstmord?“

„Auch dies kommt vor, aber äußerst selten. Seitdem ich im Krankenhaus arbeite, kann ich mich bloß an zwei Fälle erinnern, der dritte ließ von seinem Vorhaben ab.“

„Wer waren die beiden Unglücklichen und was trieb sie in den Tod?“

„Der erste war mein Lehrer, ein hervorragender Arzt, der der Wissenschaft viel Neues gegeben hat. Bei ihm war die Fähigkeit, die Leiden anderer mitzufühlen, in einem unglaublichhohen Maße entwickelt. Dies führte seinen Verstand und seine Energie zum Studium der Medizin, war aber auch sein Verderben. Er ertrug es nicht. Verbarg aber seine geistige Einstellung so gut vor allen Menschen, daß seine Tat völlig überraschend wirkte. Er beging diese nach einer schweren Epidemie, die als Folge der Trockenlegung einer Meeresbucht auftrat, als die toten Fische tonnenweise verwesend am Strand lagen. Die Krankheit war ebenso schmerzhaft wie bei Ihnen die Cholera, aber noch weit gefährlicher. Von zehn Erkrankungen nahmen neun einen tödlichen Verlauf. Da aber dennoch eine geringe Möglichkeit der Genesung bestand, konnten die Aerzte den Bitten der Kranken um einen raschen und schmerzlosen Tod nicht nachkommen; es war ja auch nicht möglich, von einem Menschen, den starkes Fieber und große Schmerzen peinigten, anzunehmen, daß er sich bei völlig klarem Bewußtsein befinde. Mein Lehrer arbeitete wie ein Wahnsinniger, und seine Forschungen trugen viel dazu bei, die Epidemie abzukürzen. Als diese völlig verschwunden war, beging er Selbstmord.“

„Wie alt war er damals?“

„Ihrer Berechnung nach ungefähr Fünfzig. Bei uns ist dies noch ein jugendliches Alter.“

„Und der zweite Fall?“

„Eine Frau, der am gleichen Tag Mann und Kind gestorben waren.“

„Und der dritte Fall?“

„Den kann Ihnen nur jener Genosse erzählen, der ihn selbst erlebte.“

„Das ist wahr“, meinte ich. „Erklären Sie mir aber nun etwas anderes: wie kommt es, daß sich die Marsbewohner so lange jung erhalten? Ist dies eine Eigenheit Ihrer Rasse oder hängt es von den günstigen Lebensbedingungen, oder aber noch von etwas anderem ab?“

„Mit der Rasse hat es nichts zu tun; noch vor zweihundert Jahren waren wir weit weniger langlebig. Die günstigerenLebensbedingungen? Ja, selbstverständlich spielen auch diese eine bedeutsame Rolle, die Hauptursache jedoch ist eine ganz andere: nämlich dieErneuerungdes Lebens.“

„Was ist das?“

„Eine dem Wesen nach äußerst einfache Sache, Ihnen jedoch wird sie wahrscheinlich seltsam erscheinen, obgleich Ihre Wissenschaft bereits alle Daten für diese Methode kennt. Sie wissen, daß die Natur, um die Lebensfähigkeit der Zelle oder des Organismus zu steigern, das Einzelwesen durch ein anderes ergänzt. Um dieses Ziel zu erreichen, verschmilzt sich das Einzelwesen aus zweien zu einem, und auf diese Art erhält es die Lebens- und Vermehrungsfähigkeit, die „Unsterblichkeit“ des Protoplasma. Derselbe Gedanke beherrscht die Kreuzungen der höheren Pflanzen- und Tierarten; hier vereinigen sich lebendige Elemente zweier verschiedener Wesen, auf daß ein drittes geboren werde. Schließlich wissen Sie wohl auch um die Einimpfung des Blutes, von dem einen zum anderen Geschöpf, um diesem anderen eine stärkere Lebensfähigkeit zu verleihen, wie dies beim Serum gegen verschiedene Krankheiten der Fall ist. Wir gehen hierin noch weiter: verwenden dieTransfusion des Bluteszwischen zwei menschlichen Wesen, von denen jedes dem anderen eine gesteigerte Lebensfähigkeit zu geben vermag. Diese einmalige Transfusion des Blutes zwischen zwei Menschen wird durch einen die Blutgefäße der beiden verbindenden Apparat bewerkstelligt. Bei Beobachtung der nötigen Vorsichtsmaßregeln ist der Prozeß völlig ungefährlich. Das Blut des einen Menschen lebt weiter im Organismus des anderen, vermischt sich mit dem eigenen Blut und erneuert die Gewebe.“

„Auf diese Art vermögen Sie durch die Transfusion jungen Blutes den Alten die Jugend wiederzugeben?“

„Zum Teil; freilich nicht ganz. Denn das Blut ist im Organismus nicht alles, der Organismus verarbeitet es. Deshalb altert auch der junge Mensch nach der Transfusion alten Blutes nicht; alles, was in ihm Schwäche, Alter ist, verteiltsich rasch im jungen Organismus, und zur gleichen Zeit scheidet er aus dem Organismus all das aus, dessen er nicht bedarf; dadurch werden die Energie und Anpassungsfähigkeit seines ganzen Wesens gesteigert.“

„Wenn dies so einfach ist, weshalb hat bis heute unsere irdische Medizin das Mittel noch nicht angewandt? Die Transfusion des Blutes ist, wenn ich nicht irre, bereits seit etlichen hundert Jahren bekannt.“

„Ich weiß es nicht; vielleicht besteht irgendeine organische Eigenheit, die bei den Erdenmenschen diesem Mittel seine Wirksamkeit raubt. Vielleicht aber kommt dies auch von dem bei Ihnen herrschenden Individualismus, der so sehr den einen Menschen vom anderen trennt, daß der Gedanke an eine lebendige Verschmelzung Ihren Gelehrten schier als ein Ding der Unmöglichkeit erscheint. Außerdem gibt es bei Ihnen eine Unzahl das Blut vergiftender Krankheiten, Krankheiten, von denen die Befallenen oft gar nicht wissen, oder die sie verheimlichen. Die bei Ihnen äußerst selten vollzogene Transfusion des Blutes trägt irgendwie einen philanthropischen Charakter: jener, der viel Blut besitzt, gibt davon jenem, der dessen äußerst nötig bedarf, zum Beispiel in Fällen, wo durch Wunden ein großer Blutverlust entstanden ist. Freilich kommt dies auch bei uns vor; meist aber verhält es sich anders, entspricht unserer ganzen Ordnung: unser Leben ist nicht nur dem Geist nach ein kameradschaftliches, sondern sogar dem Körper nach.“

Die Eindrücke der ersten Tage, die wie ein stürmischer Wasserfall mein Bewußtsein überfluteten, ließen mich erkennen, was für eine ungeheuere Arbeit mir bevorstand. Vor allem galt es, diese Welt zubegreifen, diese unermeßlich reiche und in ihrer Ordnung so eigenartige Welt. Dann aber mußte ich mich ihrnähern, jedoch nicht wie einem interessantenMuseumsgegenstand, sondern wie ein Mensch den Menschen, ein Arbeiter den Arbeitern. Nur so vermochte ich meine Mission zu erfüllen, als wahrhaftes Band zwischen zwei Welten zu dienen, zwischen denen ich, der an der Grenze stehende Sozialist, einen unendlich winzigen Augenblick der Gegenwart bedeutete, der Vergangenheit und Zukunft verband.

Als ich das Krankenhaus verließ, sprach Netti zu mir: „Beeilen Sie sich nicht allzu sehr.“ Mir schien es, als habe er unrecht. Im Gegenteil: ich mußte mich beeilen, mußte alle Kräfte, alle Energie anspannen – denn meine Verantwortung war eine ungeheuer große.Welcher gewaltige Nutzen konnte unserer alten zerquälten Menschheit erwachsen, welche gigantische Beschleunigung ihrer Entwicklung durch den Einfluß dieser lebendigen, energischen, hohen Kultur, die so mächtig und harmonisch war! Und jeder Augenblick der Verzögerung in meiner Arbeit konnte ein Hinausschieben dieses Einflusses bedeuten ... Nein, ich durfte nicht erwarten, durfte nicht rasten. Und ich arbeitete viel. Lernte die Wissenschaft und die Technik der neuen Welt kennen, beobachtete genau ihr gesellschaftliches Leben, studierte ihre Literatur. Und dabei boten sich mir viele Schwierigkeiten.

Die wissenschaftlichen Methoden verblüfften mich völlig: ich prägte sie mir mechanisch ein, vermeinte anfangs, sie seien leicht, einfach, ohne Fehler; bald aber bemerkte ich, daß ich sie nicht verstand, daß ich nicht begriff, wieso sie zum Ziele führten, ihre Verbindung nicht fand und ihr Wesen nicht erfaßte. Ich glich einem alten Mathematiker des 17. Jahrhunderts, dessen begrenzter unbeweglicher Geist die lebendige Dynamik der unendlich kleinen Größen nicht zu erfassen vermag.

Die allgemein zugänglichen Versammlungen der Marsbewohner versetzten mich durch ihren rein sachlichen Charakter in großes Erstaunen. Ob sie nun wissenschaftlichen Fragen, oder aber der Organisation der Arbeit oder Kunstfragen galten, – stets waren die Ausführungen und Reden seltsam nüchtern und kurz, die Argumente genau, sachlich, niemandwiederholte sich und keiner wiederholte, was ein anderer gesagt hatte. Der Beschluß der Versammlung, der häufig ein einstimmiger war, wurde mit märchenhafter Geschwindigkeit durchgeführt. Beschloß die Versammlung der Lehrer, daß eine neue Lehranstalt gegründet werden müsse, oder die Versammlung der Arbeitsstatistiker, daß ein neues Unternehmen gegründet werden solle, oder die Versammlung der Stadtbewohner, daß irgendein Gebäude zu schmücken sei, – sofort erschienen auch schon die neuen Zahlen der erforderlichen Arbeitskraft, das Zentralbureau schaffte auf dem Luftweg Hunderte und Tausende von neuen Arbeitern herbei; nach einigen Tagen oder einer Woche war bereits alles beendet, und die neuen Arbeiter verschwanden; niemand wußte, wohin. All dies erweckte in mir schier den Eindruck der Magie, einer seltsamen, gelassenen, kalten, Beschwörungen und Mystik verachtenden Magie, die vielleicht eben deshalb durch ihre übermenschliche Macht besonders rätselhaft wirkte.

Auch die Literatur der neuen Welt, sogar die rein künstlerische, bedeutete für mich weder Erholung noch Beruhigung. Ihre Form erschien zwar klar und unkompliziert, aber der Inhalt mutete mich fremd an. Es verlangte mich, tiefer in sie einzudringen, sie zu begreifen, ihr näher zu kommen, doch führten meine Bemühungen zu einem völlig unerwarteten Ergebnis: die Formen wurden gespenstisch, von Nebel umhüllt.

Besuchte ich das Theater, so überkam mich ebenfalls das Gefühl der Verständnislosigkeit. Die Reden der Helden waren so zurückhaltend und gedämpft, ihre Gefühle so schwach betont, daß es fast schien, als wollten sie bei dem Zuschauer keinerlei Stimmung erregen, als wären sie nur abgeklärte Philosophen, freilich äußerst idealisierte. Nur die historischen, in der fernen Vergangenheit spielenden Dramen weckten in mir einen vertrauten Eindruck; hier war auch das Spiel der Darsteller bedeutend lebhafter, der Ausdruck persönlicher Gefühle um vieles unverhüllter, glich weit mehr dem, woran ich in unseren Theatern gewöhnt war.

Ein Umstand zog mich trotz allem immer wieder ins Theater unserer kleinen Stadt: nämlich der, daß es hier keine Schauspieler gab. Die hier aufgeführten Stücke wurden uns durch optische und akustische Apparate vermittelt, die sich in anderen großen Städten befanden, oder aber, und dies kam noch häufiger vor, es wurden Stücke aufgeführt, die so alt waren, daß die meisten der darin auftretenden Schauspieler nicht mehr unter den Lebenden weilten. Die Marsbewohner kannten die Momentaufnahmen in natürlichen Farben, benützten sie, um Leben und Bewegung wiederzugeben, wie dies in unseren Kinos geschieht. Aber sie vereinigten nicht nur den Kinematograph mit dem Phonograph, wie das bereits, wenn auch ohne rechten Erfolg, auf der Erde getan wurde, sondern sie wandten auch das Stereogramm an und verliehen dadurch den Kinobildern Relief. Auf der Leinwand erschienen gleichzeitig zwei Abbildungen, – zwei halbe Stereogramme; vor jedem Sitz war ein entsprechendes stereoskopisches Glas befestigt, das die beiden flachen Abbildungen zu einer vereinigte. Es schien seltsam, klar und genau lebendige Menschen zu sehen, die sich bewegten, handelten, ihren Gefühlen in Worten Ausdruck verliehen, und gleichzeitig zu wissen, daß von all dem nichts existierte, als die Mattscheibe, der Phonograph und das elektrische Licht mit dem Uhrwerk. Ja, dies war fast mystisch seltsam, und erweckte unklare Zweifel an aller Wirklichkeit.

Selbstverständlich wurde durch all diese Tatsachen meine Aufgabe, das Verstehen der fremden Welt, in hohem Maße erschwert. Ich hätte entschieden fremder Hilfe bedurft. Doch wandte ich mich nur sehr selten an Menni mit der Bitte um Erklärungen. Ich wollte ihn nicht in Anspruch nehmen, denn er war eben mit seinen Forschungen über die Gewinnung der „Minus-Materie“ beschäftigt. Er arbeitete unermüdlich, schlief oft nächtelang nicht, und ich wollte ihn nicht stören und ablenken. Seine Arbeitsfreudigkeit war für mich ein lebendiges Beispiel, das mich unwillkürlich dazu verleitete, meine Anstrengungen fortzusetzen.

Die übrigen Freunde waren von meinem Horizont verschwunden. Netti verreiste auf etliche hundert Kilometer, um den Bau und die Organisation eines riesenhaften neuen Krankenhauses auf der anderen Halbkugel des Planeten zu leiten. Enno, Sternis Gehilfe, war ebenfalls viel beschäftigt; in seinem Observatorium wurden Messungen und Berechnungen für neue Expeditionen nach der Venus und der Erde angestellt, sowie für Expeditionen nach dem Mond und dem Merkur; letztere sollten photographiert und von den Mineralien sollten Proben zurückgebracht werden. Mit den anderen Marsbewohnern war ich nicht näher bekannt, beschränkte meine Gespräche mit ihnen auf praktische Fragen; es fiel mir schwer, mich diesen so fremden und hoch über mir stehenden Wesen zu nähern.

Allmählich begann ich zu finden, daß, allgemein gesprochen, meine Arbeit gute Fortschritte machte. Ich bedurfte immer weniger der Rast, ja sogar des Schlafes. Alles, was ich fast mechanisch leicht und frei erlernte, brachte ich bequem in meinem Kopf unter, und dies rief irgendwie das Gefühl hervor, als sei mein Kopf völlig leer und könne noch viel, sehr viel beherbergen. Freilich, wenn ich nach alter Gewohnheit versuchte, für mich selbst genau zu formulieren, was ich wußte, so mißlang das fast immer; doch deuchte mich, es sei nicht wichtig, Einzelheiten und Teile klar definieren zu können. Vor allem gelte es einen Allgemeinbegriff zu haben, und den besaß ich.

Eine besonders lebhafte Befriedigung fand ich in meiner Arbeit nicht; es gab nichts, das in mir das frühere Gefühl unmittelbaren Interesses wachgerufen hätte, doch erschien mir dies selbstverständlich: nach all dem, was ich gesehen und erfahren hatte, fiel es mir schwer, noch über irgendetwas zu staunen. Es kam ja auch gar nicht darauf an, ob mir etwas angenehm sei, sondern vielmehr darauf, daß ich alles begreife und mir zu eigen mache.

Eines nur war peinlich: es wurde mir täglich schwerer, meine Aufmerksamkeit völlig auf einen Gegenstand zu konzentrieren.Die Gedanken schweiften von einer Sache, von einer Seite zur anderen; klare, gänzlich unerwartete Erinnerungen fluteten bisweilen über mein Bewußtsein hinweg, ließen mich meine Umgebung vergessen, raubten mir die kostbaren Minuten. Ich bemerkte dies, zwang mich mit neuer Energie zur Arbeit, aber nach kurzer Zeit suchten abermals flüchtige Bilder und Phantasien der Vergangenheit mein Gehirn heim, und es galt von neuem, ihrer Gewalt zu widerstehen.

Immer häufiger überkam mich ein bebendes, seltsam beunruhigendes Gefühl; bekannte Gesichter tauchten vor mir auf, alte Geschehnisse. Eine übermächtige Flut riß mich zurück, in ferne Zeiten, in die Jugend und früheste Kindheit, dort verlor sich mein Bewußtsein in Unklarheit und Wirrnis. Nach solchen Stunden vermochte ich die andauernde Zerstreutheit nicht zu bewältigen.

In meinem Inneren entstand ein heftiger Widerstand, der mich hinderte, einer Sache lange Zeit zu widmen; ich hastete von Gegenstand zu Gegenstand, schleppte in meine Stube einen Haufen Bücher, die früher am rechten Ort aufbewahrt waren, Tabellen, Karten, Stereogramme, Phonographen usw. Auf diese Art hoffte ich, den Zeitverlust wieder einzubringen, aber die furchtbare Zerstreutheit übermannte mich stets von neuem, und häufig ertappte ich mich dabei, daß ich lange reglos auf einen Punkt starrte, nichts begriff, nichts tat.

Lag ich auf meinem Bett und blickte durch das Glasdach zum düsteren Nachthimmel empor, so begannen meine Gedanken eigenwillig mit erstaunlicher Lebhaftigkeit und Energie zu arbeiten. Vor meinem Geiste erschienen ganze Zahlenreihen und Formeln, sie waren von einer derartigen Klarheit, daß ich sie, Zeile um Zeile, abzulesen vermochte. Doch verblaßten diese Erscheinungen gar bald, machten anderen Platz, mein Bewußtsein kehrte zum Panorama eines unglaublich lebendigen und klar umrissenen Bildes zurück, das nichts mit meiner Beschäftigung und meinen Sorgen zu tun hatte. Ich schauteirdische Landschaften, theatralische Szenen, Bilder aus Kindermärchen, sah sie wie in einem Spiegel. Sie durchdrangen meine Seele, verschwammen, vermischten sich, erweckten keinerlei Aufregung, sondern bloß ein leichtes Interesse, eine gewisse Neugierde, der eine schwache Befriedigung eignete. Dieser Vorgang vollzog sich in meinem Bewußtsein, vermengte sich nicht mit der äußeren Umgebung; später jedoch griff er auch auf sie über. Ich versank in Schlummer, in Träume, die voll lebendiger und komplizierter Erscheinungen waren; der Schlummer war ein leichter und gab mir nicht, wonach mich so sehr verlangte – das Gefühl der Rast und Erholung.

Schon längere Zeit störte mich Ohrensausen, jetzt wurde dieses immer unaufhörlicher und stärker, hinderte mich bisweilen sogar daran, die Töne des Phonographen zu vernehmen. Des Nachts raubte es mir den Schlaf. Immer wieder vermeinte ich dazwischen Menschenstimmen zu hören, bekannte und unbekannte, bisweilen glaubte ich, mein Name würde gerufen, oder aber ich vernähme Gespräche, deren Worte ich wegen des Sausens nicht zu verstehen vermochte. Ich sah ein, daß ich nicht völlig gesund sei, daß mich Verwirrung und Zerstreutheit überwältigten, vermochte ich doch nicht einmal einige Zeilen im Zusammenhang zu lesen.

„Das ist selbstverständlich nur Uebermüdung“, sprach ich zu mir. „Ich muß mehr rasten, habe tatsächlich zu viel gearbeitet. Doch brauche ich Menni davon nichts zu sagen, denn was jetzt mit mir vorgeht, erweckt gar sehr den Eindruck, als machte ich bereits zu Anfang meiner Arbeit Bankrott.“

Wenn mich Menni in meiner Stube aufsuchte, dies kam freilich zu jener Zeit selten vor, gab ich mir den Anschein, äußerst beschäftigt zu sein. Er warnte mich: ich arbeite zu viel, setze mich der Gefahr der Erschöpfung aus.

„Heute sehen Sie besonders schlecht aus“, sagte er. „Schauen Sie in den Spiegel, wie Ihre Augen glänzen, wie blaß Sie sind. Sie müssen sich ausruhen, das wird später Früchte tragen.“

Mich verlangte ja selbst nach Ruhe, doch vermochte ich keine zu finden. Zwar tat ich fast nichts, aber alles ermüdete mich, sogar die geringste Anstrengung. Die stürmische Flut lebendiger Bilder, Erinnerungen und Phantasien ebbte weder bei Tag noch bei Nacht ab. In ihr verblaßte meine Umgebung, verlor sich, nahm etwas Gespenstisches an.

Schließlich mußte ich mich ergeben; ich sah, daß Schlaffheit und Apathie immer stärker meinen Willen schwächten, daß ich immer weniger gegen sie anzukämpfen vermochte. Eines Abends, als ich zu Bette lag, wurde es mir plötzlich schwarz vor den Augen. Doch verging dies rasch, und ich trat ans Fenster, um auf die Bäume des Parkes zu blicken. Jählings fühlte ich, daß mich jemand anstarre. Ich wandte mich um – vor mir stand Anna Nikolajewna Ihr Antlitz war blaß und traurig, aus ihren Blicken sprach Vorwurf. Ich wurde erregt, dachte gar nicht an das Seltsame ihrer Erscheinung, tat einen Schritt vor, um ihr entgegenzugehen und etwas zu sagen. Sie aber verschwand, als habe sie sich in Luft aufgelöst.

Und in diesem Augenblick begann der Gespensterreigen. An vieles erinnere ich mich nicht; mein Bewußtsein war verdunkelt, ich befand mich in einer Art Traum. Es kamen und gingen, erschienen vor mir allerlei Menschen, denen ich in meinem früheren Leben begegnet war, aber auch Unbekannte. Merkwürdigerweise befanden sich unter ihnen keine Marsbewohner, es waren lauter Erdenmenschen. Die Bekannten gehörten meist zu jenen, die ich seit langem nicht gesehen hatte, alte Schulkameraden, mein junger Bruder, der noch als Kind gestorben war. Durchs Fenster erblickte ich einen berüchtigten Spion, der mich mit bösem Lachen aus seinen listigen, unsteten Augen anblickte. Die Gespenster redeten nicht mit mir; in der Nacht jedoch, da alles still war, vernahm ich halluzinierende Töne, hörte unzusammenhängende, sinnlose Gespräche, geführt von den Unbekannten: ein Fahrgast, der mit einem Droschkenkutscher stritt, ein Kommis überredete einen Kunden,die Ware zu kaufen, der Lärm eines Universitätsauditoriums tobte, der Pedell versuchte Ruhe zu schaffen, verkündete, daß der Herr Professor gleich kommen würde. Die Gesichtshalluzinationen waren weit interessanter und störten mich viel weniger und seltener.

Nach der Erscheinung Anna Nikolajewnas sprach ich selbstverständlich mit Menni über meinen Zustand. Er schickte mich sofort ins Bett, berief den Arzt und telephonierte den sechstausend Kilometer entfernten Netti an. Der Arzt erklärte, er könne sich nicht entschließen, etwas zu tun, da er den Organismus der Erdenmenschen zu wenig kenne; jedenfalls bedürfe ich vor allem der Ruhe und Erholung. Befolgte ich diesen Rat, so sei es nicht gefährlich, einige Tage zu warten, bis Netti zurückkäme.

Netti stellte sich am dritten Tag ein. Als er sah, in was für einem Zustand ich mich befand, blickte er Menni mit traurigem Vorwurf an.

Trotz der Behandlung durch einen so ausgezeichneten Arzt wie Netti währte meine Krankheit einige Wochen. Ich lag zu Bett, ruhig und apathisch, betrachtete mit der gleichen Seelenruhe die Wirklichkeit und die Gespenster. Nettis stete Gegenwart erweckte in mir ein kaum merkliches, leichtes Gefühl der Zufriedenheit.

Heute erscheint mir in der Erinnerung mein damaliges Verhältnis zu den Halluzinationen sehr merkwürdig; obgleich ich mich an die hundert Mal von ihrer Unwirklichkeit überzeugte, so vergaß ich dies, sobald sie erschienen; selbst wenn sich mein Bewußtsein nicht verdunkelte und verwirrte, hielt ich die Erscheinungen für wirkliche Gesichter und Dinge. Bloß wenn sie bereits verschwunden waren, oder im Augenblick vor ihrem Verschwinden, erkannte ich ihre Gespensterhaftigkeit.

Nettis Hauptbestreben ging dahin, mir Schlaf und Ruhe zu verschaffen. Er konnte sich nicht dazu entschließen, mir irgendeine Medizin zu verabreichen, fürchtete, diese könnte auf den irdischen Organismus als Gift wirken. Etliche Tage vermochte er mich mit den gewöhnlichen Mitteln nicht zum Schlafen zu bringen; die Halluzinationen verhinderten dies. Endlich aber gelang es ihm dennoch, und als ich nach zwei- bis dreistündigem Schlaf erwachte, sprach er:

„Nun zweifle ich nicht mehr an Ihrer Genesung, wenngleich die Krankheit noch lange währen dürfte.“

Und die Krankheit nahm ihren Verlauf. Die Halluzinationen wurden seltener, doch waren sie um nichts weniger lebhaft und klar, wurden sogar etwas komplizierter; bisweilen ließen sich die gespenstischen Gäste mit mir in ein Gespräch ein.

Von diesen Gesprächen hatte nur ein einziges für mich Sinn und Bedeutung; es war schon gegen Ende meiner Krankheit, als es geführt wurde.

Eines Morgens erwachend, sah ich Netti wie gewöhnlich in meiner Nähe; vor seinem Lehnstuhl aber stand mein alter Revolutionskamerad, der lebhafte, boshaft spöttische Agitator Ibrahim. Er schien etwas zu erwarten. Als sich Netti ins anstoßende Zimmer begab, um das Bad vorzubereiten, sprach Ibrahim grob und entschlossen zu mir:

„Du Dummkopf! Was hältst du Maulaffen feil? Siehst du denn etwa nicht, wer dein Arzt ist?“

Ich wunderte mich weder über die in seinen Worten enthaltene Andeutung, noch über den zynischen Ton, ich kannte ja seine Art. Doch entsann ich mich des eisernen Griffs, mit dem Nettis kleine Hände zupackten und glaubte Ibrahim nicht.

„Umso ärger für dich!“ meinte er mit verächtlichem Lachen und verschwand.

Netti betrat das Zimmer. Bei seinem Anblick empfand ich ein seltsames Unbehagen. Er schaute mich scharf an.

„Nun“, sprach er, „Ihre Genesung macht rasche Fortschritte.“

Den ganzen Tag über war Netti schweigsam und versonnen. Am folgenden Tag, überzeugt davon, daß ich mich wohl fühle und die Halluzinationen sich nicht wiederholen würden, ging er seiner Arbeit nach und kehrte erst gegen Abend heim, ließ sich durch einen anderen Arzt vertreten. Etliche Tage kam er nur des Abends zu mir, um mich einzuschläfern. Erst nun wurde es mir klar, wie wichtig und angenehm mir seine Anwesenheit sei. Zusammen mit der Erregung der Genesung, die irgendwie aus der ganzen Natur in meinen Organismus einzudringen schien, verfolgte mich immer häufiger Ibrahims Andeutung. Ich schwankte, versicherte mir selbst, das ganze sei Unsinn, der Gedanke entspringe meiner Krankheit; weshalb hätten Netti und die übrigen Freunde mich in dieser Beziehung irreführen sollen? Nichtsdestoweniger blieb ein unklarer Zweifel zurück, der etwas Angenehmes besaß.

Einmal fragte ich Netti, mit was für einer Arbeit er eben beschäftigt sei. Er erwiderte, es gebe jetzt viele Beratungen, auf denen über eine neue Expedition nach den anderen Planeten verhandelt werde, er sei als Experte zugezogen. Menni leite die Beratungen, doch dächte weder er noch Netti daran, die Expedition in nächster Zeit zu unternehmen, was mich mit großer Freude erfüllte.

„Aber Sie selbst, beabsichtigten Sie nicht heimzukehren?“ fragte Netti, und aus seinem Ton klang leise Unruhe.

„Es gelang mir doch noch nicht, irgendetwas zu tun“, entgegnete ich. Nettis Gesicht strahlte.

„Sie irren, Sie haben bereits viel getan, ... schon diese Antwort allein ...“, erwiderte er.

Ich ahnte in dieser Andeutung etwas, das ich nicht wußte, das mich aber betraf.

„Kann ich Sie nicht zu einer dieser Beratungen begleiten?“ erkundigte ich mich.

„Auf keinen Fall. Abgesehen davon, daß Sie noch der Erholung bedürfen, müssen Sie noch einige Monate allesvermeiden, was mit dem Beginn Ihrer Krankheit im Zusammenhang steht.“

Ich wollte nicht streiten. Es war so angenehm, sich zu erholen; die Pflicht der Menschheit gegenüber schien in weite Ferne gerückt. Jetzt beunruhigten mich nur mehr, und zwar in immer stärkerem Maße, die Gedanken über Netti.

Eines Abends stand ich am Fenster und blickte durch die Dämmerung in die geheimnisvolle Schönheit des Parkes; dieser dünkte mich herrlich, und nichts an ihm war meinem Herzen fremd. Ein leises Klopfen an der Tür wurde vernehmbar, und ich fühlte mit einem Mal – dies sei Netti. Er näherte sich mit seinen leichten raschen Schritten, streckte mir lächelnd die Hand hin: der alte Erdengruß, der ihm gefiel. Freudig griff ich nach seiner Hand, drückte sie so heftig, daß es sogar seine festen Finger schmerzte.

„Ich sehe, daß meine Rolle als Arzt zu Ende ist“, lächelte er. „Doch muß ich noch einige Fragen an Sie richten, um meiner Sache ganz gewiß zu sein.“

Er richtete Fragen an mich, ich gab Antwort, erfaßt von unverständlicher Verwirrung, und las in der Tiefe seiner großen, großen Augen heimliches Lachen. Schließlich vermochte ich mich nicht länger zu beherrschen.

„Erklären Sie mir, weshalb ich mich so stark zu Ihnen hingezogen fühle? Weshalb freut es mich so ungemein, Sie zu sehen?“

„Hauptsächlich wohl aus dem Grunde, weil ich Sie behandelt habe und Sie unbewußt die Freude der Genesung auf mich übertragen. Vielleicht aber auch ... deshalb, weil ich ... eine Frau bin ...“

Dunkle Punkte kreisten vor meinen Augen, alles ringsum versank in Nacht, das Herz hörte schier zu schlagen auf ... Einen Augenblick lang hielt ich wie ein Wahnsinniger Netti in meiner Umarmung fest, küßte ihre Hände, ihr Gesicht, ihre großen tiefen Augen, die grünlich blau leuchteten, wie der Himmel ihres Planeten ...

Schlicht und großherzig überließ sich Netti meiner Umarmung ... Als ich meine sinnlose Freude beherrschte und von neuem ihre Hände und ihr Gesicht küßte, die Augen voller Freudentränen, die selbstverständlich von der durch die Krankheit verursachten Schwäche herrührten, sprach Netti mit ihrem lieben Lächeln:

„Es schien mir, als fühlte ich in Ihrer Umarmung Ihre ganze junge Welt, deren Despotismus, deren verzweifeltes Glücksverlangen – all dies lag in Ihrer Liebkosung. Ihre Liebe gleicht dem Mord ... Aber ... ich liebe Sie, Lenni ...“

Dies war Glück.


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