Dritter Teil

Dritter Teil

Diese Monate! ... Gedenke ich ihrer, so erfaßt gewaltiges Zittern meinen Leib, Nebel verdunkeln mein Auge, alles ringsum erscheint mir nichtig. Und es gibt keine Worte, um das vergangene Glück zu schildern.

Die neue Welt kam mir nahe, schien mir mit einem Mal völlig verständlich. Die erlittene Niederlage bekümmerte mich nicht. Jugend und Glaube kehrten zu mir zurück, um, wie ich glaubte, mich nie mehr zu verlassen. Ich besaß Hoffnung und einen starken Verbündeten; für die Schwäche war kein Raum. Die ganze Zukunft gehörte mir.

In die Vergangenheit schweiften meine Gedanken nur selten zurück, sie beschäftigten sich mit dem, was Netti und unsere Liebe anbelangte.

„Weshalb verbargen Sie mir Ihr Geschlecht?“ fragte ich bald nach jenem Abend.

„Anfangs ergab sich dies von selbst, zufällig. Dann aber unterstützte ich absichtlich Ihre Täuschung, entfernte sogar von meiner Kleidung alles, was Ihnen die Wahrheit hätte verraten können. Mich erschreckte die Schwere und Kompliziertheit Ihrer Aufgabe, ich fürchtete, diese noch verwickelter zu gestalten, besonders als ich später Ihre unbewußte Zuneigung zu mir wahrnahm. Auch verstand ich mich selbst nicht recht ... bis zu Ihrer Krankheit.“

„Diese also hat die Lösung herbeigeführt ... Wie segne ich meine lieben Halluzinationen!“

„Ja, als ich von Ihrer Erkrankung erfuhr, traf es mich wie ein Hammerschlag. Hätte ich nicht vermocht, Sie vollständig zu heilen, ich wäre vielleicht gestorben.“

Nach einigen Augenblicken des Schweigens fügte sie hinzu:

„Wissen Sie auch, daß sich unter Ihren Freunden noch eine Frau befindet, von der Sie dies gleichfalls nicht ahnten? Sie ist Ihnen sehr zugetan, freilich nicht so wie ich ...“

„Enno!“ erriet ich sofort.

„Selbstverständlich. Und auch Enno führte Sie absichtlich irre, befolgte dabei meinen Rat.“

„Ach, wie viel Trug und Feigheit gibt es doch in Eurer Welt!“ rief ich mit scherzhaftem Pathos. „Laßt nur, bitte, Menni einen Mann bleiben, denn verliebte ich mich in ihn, so wäre dies furchtbar.“

„Ja, dies ist furchtbar“, entgegnete Netti gedankenvoll, und ich verstand ihren seltsamen Ernst nicht.

Tage reihten sich an Tage, und beglückt nahm ich von der schönen neuen Welt Besitz.

Und dennoch kam ein Tag, kam der Tag, an den ich nicht ohne Verwünschungen zu denken vermag – der Tag, da sich zwischen Netti und mir der schwarze Schatten einer verhaßten und unvermeidlichen Trennung erhob.

Mit dem gleichen gelassenen, abgeklärten Gesichtsausdruck, der ihr eigen war, erklärte mir Netti unvermittelt, sie müsse sich im Verlauf eines Tages der Riesenexpedition nach der Venus anschließen, die von Menni geleitet wurde. Als sie sah, wie sehr mich diese Nachricht verstörte, sprach sie:

„Es ist ja nicht auf lange Zeit. Hat die Expedition Erfolg, und ich zweifle nicht daran, so wird ein Teil der Mitglieder baldigst zurückkehren, und auch ich werde diesem Teil angehören.“

Dann berichtete sie mir, worum es sich handle. Auf dem Mars waren die Vorräte der radiumausstrahlenden Materie, die für die Motoren der interplanetarischen Luftschiffe undfür die Zerlegung und Synthese aller Elemente unentbehrlich waren, erschöpft und konnten nicht erneuert werden. Auf der Venus hingegen, einem jungen Planeten, der fast viermal kürzere Zeit bestand als der Mars, gab es auf Grund untrüglicher Anzeichen ungeheure Lager dieser Materie, die sich fast an der Erdoberfläche befand und sich nicht selbständig zerlegen konnte. Auf einer Insel, die in dem gigantischen Ozean der Venus lag und von den Marsbewohnern die „Insel des glühenden Sturms“ genannt ward, gab es ein reiches Lager der radiumausstrahlenden Materie, und es war beschlossen worden, dieses Lager so rasch wie möglich auszubeuten. Doch war vorher nötig, äußerst hohe und dicke Mauern zu errichten, die die Arbeiter gegen den verderblichen glühenden Wind schützen sollten, der in seiner Wildheit und Grausamkeit die Sandstürme unserer Wüsten bei weitem übertraf. Diese Arbeit erforderte eine Expedition von zehn Aetheroneffs und von zweitausend Menschen, unter denen sich zwanzig Chemiker befanden; die übrigen sollten den Bau der Mauer übernehmen. Die besten wissenschaftlichen Kräfte sowie die erfahrensten Aerzte würden sich anschließen; die Gesundheit aller Expeditionsmitglieder war vom Klima gefährdet und auch von der mörderischen Glut, sowie von den Emanationen der radiumausstrahlenden Stoffe. Netti vermochte sich, den eigenen Worten zufolge, nicht von der Expedition zu drücken, doch hatte sie sich ausbedungen, daß, wenn die Arbeit gut von statten gehe, bereits nach drei Monaten ein Aetheroneff zurückkehre, um Nachrichten und die zutage geförderte Materie mitzubringen. Mit diesem Aetheroneff wollte dann auch Netti heimkommen, also etwa zehn bis elf Monate nach Ausfahrt der Expedition.

Ich vermochte nicht zu begreifen, weshalb Netti unbedingt an der Expedition teilnehmen müsse. Sie meinte, das Unternehmen sei ein derart ernstes, daß sie sich ihm nicht entziehen könne, außerdem sei es auch für meine Aufgabe von großer Bedeutung, denn der Erfolg würde die Möglichkeit einerengeren Verbindung mit der Erde schaffen. Uebrigens würde ein jeder Irrtum auf dem Gebiet der medizinischen Hilfe das Unternehmen von allem Anfang an zum Mißerfolg verurteilen. All dies klang überzeugend, ich wußte ja auch, daß Netti als der beste Arzt galt, besonders in Fällen, die nicht in den Rahmen der alten erfahrungsgemäßen Medizin paßten; dennoch schien mir irgendwie, daß dies nicht alles sei, als gäbe es noch etwas Unausgesprochenes.

An einem zweifelte ich nicht; an Netti selbst und ihrer Liebe. Wenn sie sagte, es sei unbedingt nötig, die Expedition mitzumachen, so war dies wirklich unvermeidlich, erklärte sie mir aber nicht, weshalb dies so sein mußte, so bedeutete es, daß ich sie nicht weiter befragen dürfe. Wenn sie sich von mir unbeobachtet glaubte, sah ich in ihren schönen Augen Angst und Schmerz.

„Enno wird dir ein guter und liebevoller Freund sein“, sprach sie mit wehmütigem Lächeln. „Und auch Nella wird dich nicht vergessen, sie liebt dich um meinetwillen, besitzt viel Verstand und Erfahrung; in den schweren Augenblicken des Lebens ist ihre Hilfe von hohem Wert. Wenn du an mich denkst, so denke immer nur das eine: daß ich zurückkehre, sobald dies irgendwie möglich ist.“

„Ich vertraue dir, Netti“, sprach ich, „und deshalb glaube ich auch an mich, an den Menschen, den du liebst.“

„Du hast recht, Lenni, und ich bin überzeugt, daß dich keinerlei Schicksalsschläge, keinerlei Prüfungen von deiner Aufgabe ablenken werden, daß du dir selbst ebenso treu und daß du ebenso stark und rein bleiben wirst wie bisher.“

Die Zukunft warf ihre Schatten auf unsere Abschiedsliebkosungen und erschütterte Netti bis zu Tränen.

In diesen kurzen Monaten war es mir dank Nettis Hilfe in hohem Maße gelungen, mich auf die Verwirklichung meines Hauptplanes vorzubereiten: ein nützlicher Arbeiter der Marsgesellschaft zu werden. Ich schlug wohlüberlegt alle Aufforderungen ab, über die Erde und deren Menschen Vorträge zu halten; es wäre sinnlos gewesen, dies zu meiner Spezialität zu machen, da es ja auf künstliche Art mein Bewußtsein an die Dinge der Vergangenheit gefesselt hätte und mir dadurch die Zukunft, für die es zu kämpfen galt, verloren gegangen wäre. Ich beschloß ganz einfach, in einen Betrieb zu gehen und wählte, nach verschiedenen Vergleichen und reiflicher Ueberlegung, als erste Arbeitsstelle die Kleiderfabrik.

Selbstverständlich wählte ich eine leichtere Arbeit. Dennoch forderte diese von mir eine nicht geringe und ernsthafte Vorbereitung. Vor allem galt es, mich mit der Ausarbeitung des wissenschaftlichen Prinzips der Fabrikorganisationen im allgemeinen bekannt zu machen, dann aber mit jener besonderen Organisation der von mir gewählten Fabrik, mit deren Architektur, deren Arbeitseinteilung, mit den Maschinen, an denen ich arbeiten würde, kurzum mit allen Einzelheiten. Zu diesem Vorbereitungsstudium mußte ich gewisse Gebiete der Mechanik, der Technik, ja sogar der mathematischen Analyse studieren. Die Hauptschwierigkeit bestand für mich nicht in den Gegenständen selbst, sondern in den Formeln. Die Lehrbücher und Anleitungen rechneten nicht mit der weit niedrigeren Erdenkultur. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind gequält wurde, indem man mir ein französisches Lehrbuch der Mathematik gab. Ich empfand für diesen Gegenstand eine ernsthafte Vorliebe, und anscheinend auch eine ungewöhnliche Begabung. Die Schwierigkeiten, die dem Anfänger meist so viel Kopfzerbrechen bereiten, die Idee des „Grenzwertes“ und der „Ableitung“ machten mir so wenigMühe, als wären sie mir immer bekannt gewesen. Doch fehlten mir jene logische Disziplin und das praktische Wissen, die von dem französischen Professor vorausgesetzt wurden; das ganze Lehrbuch war dem Ausdruck nach äußerst klar und genau, doch geizte es mit Erklärungen. Es gab hier keine jener logischen Brücken, die sich ein Mensch von höherer wissenschaftlicher Kultur selbst hinzudenken kann, die aber für den jungen Asiaten vonnöten sind. Bisweilen dachte ich ganze Stunden lang über irgendeine magische Reduktion nach, die auf die Worte folgte: „Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den vorangegangenen Vergleich richten, so kommen wir zu dem Ergebnis ...“ – Derart war es mir damals ergangen, und das gleiche empfand ich in noch verstärktem Maße beim Studium der wissenschaftlichen Bücher des Mars. Die Illusion, die mich zu Beginn meiner Krankheit irregeführt hatte, daß alles leicht und verständlich sei, verschwand spurlos. Aber Netti hatte mir mit ihrer geduldigen Hilfe stets zur Seite gestanden und mir den schweren Weg geebnet.

Bald nach Nettis Abfahrt faßte ich meinen Entschluß und trat in den Betrieb ein. Die Fabrik war ein riesenhaftes und äußerst kompliziertes Unternehmen; sie glich nicht im geringsten unserer üblichen Vorstellung von einer Kleiderfabrik. Hier waren Spinnerei, Weberei, das Zuschneiden, Nähen und Färben der Kleider vereinigt, das Material jedoch, das zur Verarbeitung gelangte, war weder Flachs, noch Baumwolle, noch Pflanzenfasern überhaupt, noch Wolle, noch Seide, sondern etwas ganz anderes.

In der ersten Zeit verfertigten die Marsbewohner ihre Gewänder aus den gleichen Stoffen wie wir; sie bauten jene Pflanzen an, deren Gewebe diesem Zweck diente, schoren die wolletragenden Tiere, zogen ihnen die Haut ab, züchteten eine besondere Art Spinnen, deren Gewebe die Eigenschaften der Seide besaß usw. Die wirtschaftlichen Veränderungen und die Vervollkommnung der Technik erforderten jedoch eine immer größere Getreideproduktion. Die Pflanzenfasern wurdendurch mineralische Fasern ersetzt. Später wandten die Gelehrten alle Aufmerksamkeit der Erforschung der Spinnengewebe zu, suchten nach einer Synthese neuer Stoffe mit analogen Eigenschaften. Als ihnen dies gelungen war, erfolgte auf diesem ganzen Gebiet eine gewaltige Umwälzung, und heute konnte man die Gewebe des alten Typus nur noch in historischen Museen sehen.

Unsere Fabrik war die wahrhafte Verkörperung dieser Umwälzung. Etliche Mal im Monat wurde aus der zunächstgelegenen chemischen Fabrik auf dem Schienenweg für die Spinnerei „Material“ geliefert, das heißt: eine durchsichtige Flüssigkeit in gewaltigen Zisternen. Aus diesen Zisternen wurde vermittels besonderer luftdichter Apparate das Material in ungeheure, hohe Metallreservoire geleitet, deren dichter Boden hunderttausend mikroskopisch kleine Oeffnungen besaß. Durch diese Oeffnungen gelangte die klebrige Flüssigkeit unter einen starken Luftdruck und verhärtete sich zu zähen Fasern. Zehntausend mechanische Spindeln erfaßten diese Fasern, spannen sie zu Fäden verschiedener Dicke, schafften das Gespinst in die Webeabteilung. Hier wurden die verschiedenen Stoffe gewebt, von den allerfeinsten, wie Musselin und Batist, bis zu den dicksten, wie Tuch und Filz. Die endlosen breiten Streifen gelangten nun weiter in die Zuschneidewerkstätte. Hier wurden sie von neuen Maschinen gepackt, sorgfältig gefaltet, geschichtet, zu genau ausgemessenen Stücken zerschnitten, zu Stücken, die die einzelnen Teile des Gewandes bildeten.

In der Schneiderwerkstatt wurden aus den zugeschnittenen Stücken fertige Kleider hergestellt, jedoch ohne daß dabei Nadel, Faden oder Nähmaschine angewandt worden wären. Durch einen chemischen Prozeß wurden die Ränder der Kleidungsstücke erweicht und abermals in ihren ersten flüssigen Zustand versetzt. Sobald die chemische Substanz verdunstete, waren die Kleider gleichsam zusammengelötet, fester, als es bei der besten Schneiderarbeit der Fall gewesen wäre. DieseLötung wurde gleichzeitig überall vollzogen, wo es nottat, so daß auf diese Art fertige Kleider hergestellt wurden, und zwar in einigen tausend Mustern, der Form und dem Maß nach verschieden.

Es gab für jede Größe einige hundert Muster, aus denen ein jeder fast immer das geeignete zu wählen vermochte, und dies umso mehr, als sich die Marsbewohner äußerst ungezwungen kleideten. War dennoch das Geeignete nicht vorhanden, wie etwa im Fall einer körperlichen Unnormalität, so kam das Stück abermals unter die Zuschneidemaschine; es wurde ein besonderer Anzug „genäht“, was etwa eine Stunde in Anspruch nahm.

Was die Farbe der Gewänder anbelangte, so trugen die Marsbewohner meist dunkle weiche Farben, die dem Material entsprachen. Wurde jedoch eine andere Farbe verlangt, so kam der Anzug in die Färbeabteilung und erhielt vermittels eines chemisch-elektrischen Prozesses die gewünschte Farbe, die ideal gleichmäßig und ideal dauerhaft war.

Aus den gleichen, nur viel dickeren Geweben wurden das Schuhwerk und die warmen Winterkleider hergestellt. Unsere Fabrik verfertigte diese nicht, doch gab es andere, noch größere Betriebe, in denen alles verfertigt wurde, was ein Mensch vom Kopf bis zu den Füßen an Bekleidung braucht.

Ich arbeitete der Reihe nach in allen Abteilungen des Betriebes, ließ mich anfangs völlig von meiner Arbeit hinreißen. Besonders interessant erschien mir die Zuschneidewerkstatt; hier mußte ich bei meiner Arbeit mir bisher unbekannte Hilfsmittel in Anspruch nehmen: die mathematische Analyse. Die Aufgabe bestand darin, aus einem gegebenen Stück bei dem geringstmöglichen Materialverlust alle Teile eines Anzugs zu gewinnen. Dies war natürlich eine äußerst prosaische, aber auch ernste Sache, denn selbst der geringste Irrtum, der sich im Verlauf der Arbeit viele Millionen Mal wiederholte, bedeutete einen ungeheuren Verlust. Einen erfolgreichen Entschluß zu fassen, gelang mir meist „nicht schlechter“ als andern.

Nicht „schlechter“ zu arbeiten als die anderen, das strebte ich aus allen Kräften an, und fast immer mit einem gewissen Erfolg. Doch mußte ich bemerken, daß dies für mich eine weit größere Anstrengung bedeutete als für meine Kameraden. Nach den gewöhnlichen vier bis sechs Arbeitsstunden – die Erdenberechnung als Grundlage genommen – fühlte ich heftige Erschöpfung und mußte sofort rasten, während die andern noch in Museen, Bibliotheken, Laboratorien gingen oder aber in andere Fabriken, um dort die Arbeit zu beobachten, bisweilen auch noch selbst mitzuarbeiten ...

Ich hoffte, mich allmählich an die neue Arbeit zu gewöhnen und meinen Genossen gleich zu werden. Doch geschah dies nicht. Ich überzeugte mich immer mehr davon, daß mir dieKultur der Aufmerksamkeitfehle. Körperliche Bewegungen wurden äußerst wenig erfordert, und was deren Schnelligkeit und Gewandtheit anbelangte, so stand ich nicht hinter den anderen zurück, ja, ich übertraf sie sogar. Aber die ununterbrochene aufmerksame Beobachtung der Maschine und des Materials fiel meinem Gehirn ungeheuer schwer: diese Fähigkeit vermag sich offensichtlich erst im Verlauf einiger Generationen zu jener Stufe zu entwickeln, die hier als Durchschnitt und völlig alltäglich erscheint.

Wenn mich, und dies war meist am Ende des Arbeitstages der Fall, Erschöpfung ankam und meine Aufmerksamkeit nachließ, ich Fehler beging oder auf eine Sekunde die Ausführung einer Arbeit unterließ, brachte die unermüdliche, unbeirrte Hand meines Nachbarn die Sache immer in Ordnung.

Die merkwürdige Fähigkeit dieser Menschen, alles ringsum zu beobachten, ohne dabei auch nur im geringsten die eigene Arbeit zu vernachlässigen, versetzte mich in Erstaunen und reizte mich sogar. Ihre Fürsorge störte mich nicht nur, nein, sie rief in mir auch Aerger und Ungeduld wach; erregte in mir das Gefühl, als ob alle ununterbrochen meine Tätigkeit verfolgten ... Diese Unruhe verstärkte noch meine Zerstreutheit und ließ mich schlechter arbeiten.

Heute, nach langer Zeit, da ich genau und leidenschaftslos an all dies zurückdenke, sehe ich ein, daß ich es damals falsch aufgefaßt habe. Mit der gleichen Fürsorge und auf dieselbe Art halfen meine Genossen in der Fabrik einander. Ich war keineswegs der Gegenstand irgendeiner ausschließlichen Aufsicht oder Kontrolle, wie es mich damals dünkte. Ich selbst, der Mensch aus einer individualistischen Welt, sonderte mich von den übrigen ab und verkannte auf krankhafte Art ihre Güte und ihre kameradschaftlichen Dienste, für die sie, die Menschen einer kameradschaftlichen Welt, von mir nicht gewürdigt werden konnten.

Der lange Herbst war vorüber, nun beherrschte bereits der schneearme, aber kalte Winter unsere Gegend, die nördliche Mitte der Halbkugel. Die kleine Sonne wärmte gar nicht mehr und leuchtete noch weniger als zuvor. Die Natur warf die hellen Farben ab, erschien fahl und streng. Die Kälte schlich sich ins Herz, der Zweifel in die Seele ein, und die Einsamkeit des Sprößlings aus einer anderen Welt wurde immer qualvoller.

Ich suchte Enno auf, die ich seit langer Zeit nicht gesehen hatte. Sie empfing mich wie einen ihr nahestehenden lieben Menschen; mir war, als durchbreche das strahlende Licht der nahegelegenen Vergangenheit die Winterkälte und die Nacht der Sorgen. Dann aber bemerkte ich, daß auch sie blaß und von Kummer erschöpft zu sein schien. In ihrem Verhalten und ihren Worten lag verborgener Gram. Wir hatten einander viel zu sagen, und einige Stunden vergingen für mich angenehm und gut, wie dies seit Nettis Abfahrt nicht mehr gewesen war.

Als ich mich erhob, um heimzukehren, wurde uns beiden schwer ums Herz.

„Wenn Ihre Arbeit Sie nicht hier festhält, so kommen Sie mit mir“, sagte ich.

Enno ging sofort auf meinen Vorschlag ein. Sie nahm ihre Arbeit mit. Zu jener Zeit hatte sie nichts im Observatorium zu tun, trug einen ungeheuren Vorrat von Berechnungen zusammen, und wir begaben uns in die chemische Stadt, wo ich Mennis Wohnung allein bewohnte. Allmorgendlich fuhr ich in meine Fabrik, die sich hundert Kilometer, also eine halbe Wegstunde, entfernt befand. Die langen Winterabende verbrachte ich von nun an mit Enno; wir beschäftigten uns mit wissenschaftlichen Arbeiten, plauderten oder unternahmen Spaziergänge in die Umgebung.

Enno erzählte mir ihre Geschichte. Sie liebte Menni und war dessen Frau gewesen. Es verlangte sie sehnlichst danach, von ihm ein Kind zu haben, aber Jahr um Jahr verstrich, ohne daß ihr Wunsch in Erfüllung ging. Sie wandte sich an Netti um Rat. Diese erforschte alle Umstände und gelangte zu dem kategorischen Ausspruch, daß Enno von Menni niemals ein Kind haben werde. Menni hatte sich allzu spät vom Knaben zum Mann entwickelt und allzu früh das anstrengende Leben eines Gelehrten und Denkers zu führen begonnen. Die übertriebene Tätigkeit seines Gehirnes und dessen außerordentliche Entwicklung hatten von allem Anfang an die lebendigen Elemente der Vermehrung zerstört und erdrückt; dies war nicht mehr gut zu machen.

Nettis Urteil bedeutete einen furchtbaren Schlag für Enno, bei der die Liebe zu dem genialen Menschen und der starke Mutterinstinkt zu einem Streben verschmolzen waren, das sich nun als hoffnungslos erwies.

Doch war dies noch nicht alles: Nettis Untersuchungen führten auch zu einem zweiten Ergebnis. Es zeigte sich, daß für Mennis gigantische geistige Arbeit, für die Entwicklung seiner genialen Fähigkeiten die größte Enthaltsamkeit vonnöten sei, daß er sich so wenig wie möglich den Liebkosungen der Liebe hingeben dürfe. Enno fühlte sich verpflichtet, NettisRat zu befolgen und konnte sich bald von dessen Richtigkeit überzeugen. Menni war wie neubelebt, er arbeitete mit größerer Energie als je zuvor, neue Pläne entstanden mit außergewöhnlicher Schnelligkeit in seinem Kopfe, er führte sie mit Erfolg durch und schien offensichtlich nichts zu entbehren. Enno, der ihre Liebe teuerer war als das Leben, die aber das Genie des geliebten Menschen noch höher wertete als ihre Liebe, zog die Folgen dieser Erkenntnis.

Sie trennte sich von Menni. Dieser war im Anfang äußerst erzürnt, fand sich jedoch bald mit der Tatsache ab. Der wahre Grund des Bruches war ihm vielleicht unbekannt. Enno und Netti hielten ihn geheim, doch konnte man freilich nicht sicher wissen, ob nicht Mennis durchdringender Verstand die Ursache erraten habe. Für Enno aber war nun das Leben so unsäglich leer, das Unterdrücken ihrer Gefühle quälte sie derart, daß die junge Frau schon nach kurzer Zeit beschloß, Selbstmord zu begehen.

Netti, an die sich Enno gewandt hatte, schob die Tat, die sie verhindern wollte, unter verschiedenen Vorwänden immer wieder hinaus und benachrichtigte schließlich Menni. Dieser organisierte damals gerade die Expedition nach der Erde und sandte sofort eine Aufforderung an Enno, sie möge sich diesem bedeutsamen und gefährlichen Unternehmen anschließen. Es war schwer, dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten; Enno nahm sie an. Eine Unmenge neuer Eindrücke halfen ihr, den Seelenschmerz zu überwinden, und zur Zeit der Rückkehr auf den Mars vermochte sie sich bereits so weit zu beherrschen, um als der heitere, junge Dichter zu erscheinen, den ich auf dem Aetheroneff kennen gelernt hatte.

An der neuen Expedition hatte Enno nicht teilgenommen, weil sie fürchtete, sich allzu sehr an Mennis Gegenwart zu gewöhnen. Aber die Angst um dessen Schicksal folterte sie in ihrer Einsamkeit, denn sie kannte genau die große Gefahr des Unternehmens. An den langen Winterabenden kreisten unsere Gedanken und Worte beständig um den einen Punkt desWeltalls: um jenen, wo unter der Glut der gigantischen Sonne, unter dem sengenden Hauch des Windes, die beiden uns liebsten Wesen mit fieberhafter Energie ihre titanisch kühne Arbeit verrichteten. Dieser gemeinsame Gedanke und die gleichartige Stimmung brachte uns einander sehr nahe. Enno war mir mehr als eine Schwester.

Schier selbstverständlich, ohne Kampf und ohne Erschütterungen führte unsere Freundschaft zu einem Liebesverhältnis. Die unbeirrbar ehrliche und gütige Enno wich dieser Entwicklung nicht aus, wenngleich sie sie nicht angestrebt hatte. Sie beschloß nur, von mir kein Kind zu haben ... Der Schatten einer leisen Trauer verdunkelte ihre Liebkosungen, – die Liebkosungen einer zärtlichen Freundschaft, die alles gestattet ...

Der Winter breitete seine kalten weißen Flügel über uns, – der lange Marswinter, ohne Tau, ohne Winde und Schneestürme, ruhig, starr wie der Tod. Wir beide fühlten kein Verlangen, nach dem Süden zu fliegen, wo um diese Zeit die Sonne glühte und die Natur ihr leuchtendes Gewand angelegt hatte. Enno sehnte sich nicht nach einer derartigen Natur, die so schlecht mit ihrer Stimmung harmoniert hätte, und ich floh fast vor neuen Menschen und neuen Umgebungen, denn die Gewöhnung an diese würde neue nutzlose Arbeit gefordert, neue Erschöpfung verursacht haben; ich näherte mich ohnehin nur gar langsam meinem Ziel. Unserer Freundschaft eignete etwas seltsam Gespenstisches – Liebe, die Herrschaft des Winters, Sorgen und angstvolle Erwartung ...

Enno war seit ihrer frühesten Jugend mit Netti befreundet gewesen und wußte mir über sie viel zu erzählen. Während eines unserer Gespräche wurden Nettis und Sternis Namen in einer gewissen Verbindung genannt, die mir merkwürdig erschien. Als ich darauf eine direkte Frage stellte, überlegte Enno eine Weile, wurde schier verwirrt und erwiderte schließlich:

„Netti war früher Sternis Frau. Wenn sie Ihnen dies nicht gesagt hat, so steht mir kein Recht zu, darüber zu reden. Ich beging offensichtlich einen Irrtum und Sie dürfen mich nicht weiter befragen.“

Das Vernommene erschütterte mich seltsam ... Eigentlich war es ja nichts Neues, Unerwartetes ... Ich hatte niemals angenommen, daß ich Nettis erster Mann sei. Es wäre Torheit gewesen, zu glauben, daß eine lebensvolle, gesunde Frau mit schönem Leib und schöner Seele, das Kind einer freien, hochkultivierten Rasse, bis zu unserer Begegnung ohne Liebe gelebt habe. Weshalb also meine unbegreifliche Verblüffung? Ich vermochte keine Erklärung dafür zu finden, kannte bloß ein Gefühl: ich müsse alles erfahren, alles genau und klar wissen. Enno zu befragen, ging offensichtlich nicht an. Ich erinnerte mich an Nella.

Netti hatte vor ihrer Abfahrt zu mir gesprochen: „Vergiß Nella nicht; suche sie auf in deinen schweren Augenblicken.“ Ich hatte schon mehr als einmal daran gedacht, zu Nella zu gehen, war aber zum Teil durch meine Arbeit, zum Teil durch die unklare Angst vor den Hunderten von neugierigen Kinderaugen zurückgehalten worden. Jetzt jedoch schwand jegliche Unentschlossenheit; noch am gleichen Tag begab ich mich nach dem Haus der Kinder, in die große Maschinenstadt.

Nella ließ sogleich ihre Arbeit liegen, bat eine der Erzieherinnen, sie zu vertreten und führte mich in ihre Stube, wo uns die Kinder nicht stören würden.

Ich beschloß, ihr nicht sofort den Zweck meines Besuches zu bekennen, umsomehr, als mir dieser Zweck auch selbst nicht recht vernünftig und ganz richtig erschien. Es war ja vollkommen natürlich, daß ich das Gespräch auf jenes Wesen lenkte, das uns beiden das teuerste war, und dann den günstigsten Augenblick für meine Frage abwartete. Nella erzählte voller Eifer von Netti, deren Kindheit und Jugend.

Ihre ersten Lebensjahre hatte Netti bei der Mutter verbracht, wie dies auf dem Mars allgemein üblich war. Als dann die Zeit kam, da Netti ins Haus der Kinder gebracht werden mußte, damit sie nicht den erzieherischen Einfluß des Umgangs mit anderen Kindern entbehre, brachte es Nella nicht übers Herz, sich schon von ihr zu trennen und lebte mit ihr zusammen in dieser Anstalt, wo sie dann schließlich als Erzieherin blieb. Das ergab sich zum Teil aus ihrem Spezialstudium: sie hatte sich vornehmlich mit Psychologie befaßt.

Netti war ein lebhaftes, energisches, wildes Kind mit großem Wissens- und Tatendurst. Am meisten interessierte und zog sie die geheimnisvolle astronomische Welt jenseits des Planeten an. Die Erde, die zu erreichen damals noch nicht gelungen war, und deren unbekannte Menschheit waren Nettis Lieblingstraum, das Hauptthema ihrer Gespräche mit den anderen Kindern und den Erwachsenen.

Als der Bericht über Mennis erste erfolgreiche Expedition nach der Erde veröffentlicht wurde, verlor das kleine Mädchen vor Freude und Entzücken fast den Verstand. Die kleine Netti kannte Mennis Bericht Wort für Wort auswendig und quälte die Mutter sowie die Erzieherinnen ewig mit Fragen über dieihr unverständlichen technischen Ausdrücke, die in dem Bericht vorkamen. Netti verliebte sich in Menni, ohne ihn zu kennen, schrieb ihm einen begeisterten Brief, flehte ihn unter anderem an, er möge sie zu den Erdenkindern bringen, denen keine Erziehung zu Teil werde, sie übernehme es, diese auf vortreffliche Art zu erziehen. Sie schmückte ihr Zimmer mit Erdenbildern und den Porträts der Erdenmenschenund stürzte sich auf das Studium der Erdensprachen, sobald die dazu nötigen Bücher erschienen waren. Sie entrüstete sich über die Gewalt, mit der Menni und dessen Gefährten dem ersten Erdenmenschen begegnet waren: sie hatten ihn gefangen genommen, damit er ihnen beim Erlernen der Erdensprachen behilflich sei; zur gleichen Zeit jedoch bedauerte sie heftig, daß Menni und die seinen bei der Rückkehr in die Heimat den Erdenmenschen freigelassen und nicht nach dem Mars mitgenommen hatten. Sie faßte den festen Entschluß, eines Tages nach der Erde zu fliegen, und auf die Scherze der Mutter, sie würde sich dort sicher mit einem Erdenmenschen verheiraten, entgegnete sie sinnend: „Das ist sehr möglich.“

All diese Dinge hatte mir Netti niemals erzählt; in ihren Gesprächen schien sie vielmehr der Vergangenheit auszuweichen. Selbstverständlich konnte niemand, nicht einmal sie selbst, jene Dinge besser berichten, als Nella. Bisweilen vergaß ich völlig meine Person, sah vor mir das reizende kleine Mädchen mit den großen funkelnden Augen und der rätselhaften Sehnsucht nach der fernen, fernen Welt ... Doch verging diese Stimmung rasch, das Bewußtsein meiner Umgebung kehrte zurück und damit auch die Erinnerung an den Zweck unseres Gesprächs; von neuem drang eisige Kälte in meine Seele.

Als sich das Gespräch den letzten Jahren aus Nettis Leben zuwandte, beschloß ich, meine Frage zu stellen, mich so ruhig und ungezwungen wie nur möglich nach Nettis und Sternis Verhältnis zu erkundigen. Nella dachte einen Augenblick lang nach.

„Also deshalb suchten Sie mich auf! ... Weshalb sagten Sie es nicht gerade heraus?“

Unerbittliche Strenge klang aus ihrer Stimme. Ich schwieg.

„Selbstverständlich kann ich es Ihnen erzählen“, fuhr sie fort. „Es ist eine ganz einfache Geschichte. Sterni war einer von Nettis Lehrern. Er hielt den Jüngeren Vorträgeüber Mathematik und Astronomie. Als er von seiner ersten Expedition nach der Erde zurückkehrte, – ich glaube, dies war Mennis zweite Expedition, – hielt er eine Reihe Vorträge über diesen Planeten und dessen Bewohner. Netti zählte zu seinen ständigen Hörern. Die Geduld und Aufmerksamkeit, mit der er ihren ewigen Fragen begegnete, brachte die beiden einander näher. Schließlich führte all dies zu ihrer Verbindung. Beide waren grundverschiedene Charaktere. Das Ergebnis der Verschiedenheit zeigte sich bald auch in ihrem Privatleben, führte zur Entfremdung und schließlich zum Bruch. Das ist alles.“

„Sagen Sie mir, wann kam es zum Bruch?“

„Zum endgültigen Bruch kam es nach Lettas Tode. Die innige Freundschaft zwischen Netti und Letta gab dazu den ersten Anstoß. Netti litt unter Sternis analytisch kaltem Verstand; er zerstörte allzu systematisch und hartnäckig alle Luftschlösser, alle Phantasien des Geistes und des Gefühls, die für sie einen Teil des Lebens bedeuten. Unwillkürlich suchte sie nach einem Menschen, der sich diesen Dingen gegenüber anders verhielt. Und dem alten Letta eigneten ein selten teilnahmsvolles Herz sowie ein schier kindlicher Enthusiasmus. Netti suchte in ihm jenen Gefährten, dessen sie bedurfte: Letta hatte mit ihren Phantasien nicht nur Geduld, sondern ließ sich auch häufig selbst von ihnen fortreißen. Bei ihm konnte sie von der strengen selbstzerfleischenden Kritik Sternis Erholung finden. Letta liebte gleich ihr die Erdenträume und Phantasien, glaubte an die künftige Verbindung der beiden Welten, die eine herrliche Blüte und eine gewaltige Lebenspoesie zur Folge haben würde. Als dann Netti erfuhr, daß ein Mensch, in dessen Seele derartige Gefühle verborgen lagen, niemals Frauenliebe und Zärtlichkeit kennen gelernt habe, konnte sie sich damit nicht abfinden. Auf diese Art kam Nettis zweiter Bund zustande.“

„Einen Augenblick“, unterbrach ich sie. „Verstehe ich Sie recht, Sie sagten, Netti sei Lettas Frau gewesen?“

„Ja“, erwiderte Nella.

„Sie sagten aber doch, daß der endgültige Bruch mit Sterni erst nach Lettas Tode erfolgte.“

„Ja; erscheint Ihnen dies unbegreiflich?“

„Nein, ich verstehe Sie, wußte bloß nicht darum.“

In diesem Augenblick wurde unser Gespräch unterbrochen. Eines der Kinder hatte einen nervösen Anfall erlitten und einer der Schüler rief Nella. Ich blieb eine Zeitlang allein. Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf; mir war so seltsam zumute, daß ich dies in Worten nicht auszudrücken vermag. Weshalb eigentlich? Es war doch nichts Besonderes vorgefallen. Netti war ein freier Mensch, hatte als freier Mensch gehandelt. Letta ist ihr Mann gewesen? Ich hatte ihn stets verehrt, für ihn warme Zuneigung empfunden, hätte ihn selbst dann geliebt, wenn er sich nicht für mich geopfert haben würde. Netti war also gleichzeitig mit zwei Genossen verheiratet gewesen? Ich hatte immer gefunden, daß die Monogamie in unserer Welt ausschließlich den wirtschaftlichen Bedingungen entspringe, die den Menschen bei jedem Schritt begrenzen und hemmen. Hier existierten diese Bedingungen nicht, auf dem Mars herrschten andere Verhältnisse, die dem persönlichen Gefühl und den persönlichen Verbindungen keine Fesseln anlegten. Woher kam aber meine Erregung und der unbegreifliche Schmerz, über den ich aufschreien, dann aber wieder lachen hätte mögen? Konnte ich das, was ichdachte, nicht auchfühlen? Anscheinend nicht. Und mein eigenes Verhältnis zu Enno? Wo blieb da meine Logik? Und was bin ich eigentlich? Welch törichte Stimmung!

Ach ja, und auch dies berührte mich peinlich: weshalb hatte Netti nicht mit mir darüber gesprochen? Wie viele Geheimnisse, wie viel Betrug umgeben mich noch? Wie viele harren meiner in der Zukunft? Aber nein, auch dies stimmt nicht! Geheimnisse, ja, aber kein Betrug. Ist aber nicht auch schon das Geheimnis ein Betrug?

Derartige Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, als sich die Tür öffnete und Nella zurückkam. Sie las augenscheinlich von meinen Zügen ab, wie schwer mir ums Herz war, denn der Ton, mit dem sie sich an mich wandte, war frei von Strenge und Kälte.

„Es ist natürlich schwer“, meinte sie, „sich an die völlig fremden Lebensbedingungen und an die Sitten einer anderen Welt zu gewöhnen, mit der Sie keine Blutsverwandtschaft verbindet. Sie haben bereits in dieser Beziehung manchen Sieg errungen, finden Sie sich nun auch in diese Dinge. Netti glaubt an Sie, und mir scheint, daß sie recht hat. Ist etwa Ihr Vertrauen zu Netti, Ihr Glaube an sie schwankend geworden?“

„Weshalb verbarg sie diese Tatsache vor mir? Wo blieb da ihr Glaube? Ich begreife sie nicht.“

„Ich weiß nicht, weshalb sie so handelte. Doch bin ich davon überzeugt, daß sie hierfür gewichtige und edle Gründe hatte, es keineswegs aus kleinlichen Motiven tat. Vielleicht vermag Sie dieser Brief aufzuklären. Sie ließ ihn mir für den Fall zurück, daß wir ein derartiges Gespräch führen sollten, wie wir es heute taten.“

Der Brief war in meiner Muttersprache geschrieben, die Netti so gut beherrschte. Ich las folgendes:

„Mein Lenni! Ich sprach niemals mit Dir über meine früheren persönlichen Verhältnisse, doch geschah es keineswegs deshalb, weil ich Dir irgendetwas aus meinem Leben verheimlichen wollte. Ich vertraue fest auf Deinen klaren Kopf und Dein edles Herz; zweifle gar nicht daran, daß Du, wie auch immer fremd und ungewohnt unsere Sitten für Dich sein mögen, sie zu verstehen und richtig zu werten vermagst.

Eines jedoch fürchtete ich ... Nach der Krankheit kehrte Deine Arbeitskraft rasch zurück, jenes seelische Gleichgewicht hingegen, von dem in jeder Minute die Selbstbeherrschung in Wort und Tat abhängt, hast Du noch nicht völlig wiedererlangt. Würdest Du Dich, beeinflußt vom Augenblick undvon der elementaren Gewalt, die in der Tiefe jeder Menschenseele verborgen liegt, mir gegenüber wie gegen eine schlechte Frau verhalten, die sich aus der Vergewaltigung und Sklaverei der alten Welt befreit hat – Du würdest es Dir selbst niemals verzeihen. Ja, Teuerster, ich weiß es, Du bist gegen Dich selbst streng, bisweilen sogar grausam – diesen Zug brachtest Du aus Eurer harten Schule mit, aus den jahrhundertealten Kämpfen der Erdenwelt – eine einzige Sekunde böser, schmerzlicher Entzweiung würde genügen, um in Deinem Herzen auf unsere Liebe für immer einen dunklen Schatten zu werfen.

Mein Lenni, ich will und kann Dich beruhigen. Möge in Deiner Seele ewig schlummern und niemals erwachen jenes böse Gefühl, das in die Liebe zu einem Menschen die Unruhe und Sorge um ein lebendiges Eigentum mischt. Ich werdekeine persönlichenVerhältnisse mehr haben. Das vermag ich Dir leicht und mit Bestimmtheit zu versprechen, weil im Vergleich zu meiner Liebe für Dich, zu dem leidenschaftlichen Wunsch, Dir bei Deiner großen lebendigen Aufgabe zu helfen, alles andere gering und nichtig erscheint. Ich liebe Dich nicht nur wie eine Gattin, sondern auch wie eine Mutter, die ihr Kind in ein neues und ihm fremdes Leben einführt, das voller Gefahren und Mühen ist. Diese Liebe aber ist stärker und tiefer, als irgendeine andere Liebe zwischen Mensch und Mensch. Deshalb bedeutet auch mein Versprechen kein Opfer.

Auf Wiedersehen, mein teueres, geliebtes Kind,Deine Netti.“

Als ich den Brief zu Ende gelesen hatte, blickte mich Nella fragend an.

„Sie hatten Recht“, sprach ich und küßte ihr die Hand.

Der oben geschilderte Vorfall ließ in meiner Seele das Gefühl tiefster Demütigung zurück. Noch weit schmerzlicher als früher empfand ich die Ueberlegenheit meiner Umgebung, in der Fabrik und überall. Zweifellos übertrieb ich diese Ueberlegenheit sowie das Gefühl der eigenen Schwäche. Ich begann in der mich umgebenden Dienstbereitschaft und Fürsorge eine leichte Färbung halb verächtlicher Herablassung zu sehen, in der vorsichtigen Zurückhaltung meiner Arbeitsgefährten eine heimliche Abneigung gegen das niedrigere Wesen. In einer derartigen Stimmung verlor ich die Fähigkeit genauer Beobachtung und richtiger Wertung.

In allen anderen Beziehungen blieben meine Gedanken klar, arbeiteten nun vor allem an dem Problem, das sich auf Nettis Abreise bezog. Ich fühlte immer stärker die Ueberzeugung, daß es für Nettis Teilnahme an der Expedition ein mir noch unbekanntes Motiv gab, eines, das stärker und gewichtiger war, als jene, die sie mir gegenüber vorgebracht hatte. Der neue Beweis von Nettis Liebe und von der ungeheueren Bedeutung, die sie meiner Mission, die zwei Welten einander nahe zu bringen, beilegte, bestärkte mich in der Annahme, daß sie sich ohne zwingende Gründe nicht entschlossen haben würde, mich für lange Zeit auf dem tiefen, durchSandbänke und Klippen gefahrvollen Meer des fremden Lebens allein zu lassen, mußte doch ihr heller und scharfer Verstand besser als jeder andere begreifen, welche Gefahren mich hier bedrohten. Es gabetwas, um das ich nicht wußte, doch war ich fest überzeugt, dieses Etwas stehe in enger Verbindung mit mir, und es sei nötig, um jeden Preis zu erfahren, worum es sich handle.

Ich beschloß, systematisch Nachforschungen anzustellen. Es fielen mir Beobachtungen ein, zu denen mich einige zufällige und unwillkürliche Andeutungen Nettis veranlaßt hatten: der beunruhigte Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag undmich in Erstaunen versetzte, sobald die Rede auf die Kolonialexpeditionen kam; ich begann zu ahnen, daß Netti sich zu unserer Trennung nicht erst damals entschlossen hatte, als sie mir davon sprach, sondern bereits weit früher, schon in den ersten Tagen unserer Vereinigung. Demnach mußte der Grund aus jener Zeit stammen. Wo aber war er zu suchen?

Er konnte eine rein persönliche Angelegenheit Nettis sein, konnte aber auch mit der besonderen Bedeutung der Expedition zusammenhängen. Die erste Annahme erschien mir, nachdem ich Nettis Brief gelesen hatte, unwahrscheinlich. Vor allem galt es also, die Einzelheiten zu erforschen, mit jenen zu beginnen, die die Geschichte dieser Expeditionen zu erklären vermochten.

Es verstand sich von selbst, daß die Expedition auf den Beschluß der „Kolonialgruppe“ zurückzuführen war. – Diesen Namen trug die Vereinigung jener Arbeiter, die aktive Teilnehmer der interplanetarischen Reisen waren, zusammen mit dem Vorsitzenden des Zentralen statistischen Bureaus und jener Fabriken, die die Aetheroneffs herstellten, sowie alle für die Expedition unentbehrlichen Mittel. Ich wußte, daß die letzte Sitzung der „Kolonialgruppe“ während meiner Krankheit stattgefunden hatte. Menni und Netti hatten an ihr teilgenommen. Damals befand ich mich bereits auf dem Wege der Genesung, langweilte mich ohne Netti und verlangte, ebenfalls der Sitzung beizuwohnen. Netti jedoch erwiderte, dies wäre gefährlich für meine Gesundheit. Hing diese „Gefahr“ vielleicht von etwas ab, das ich nicht wissen durfte? Ich mußte demnach das Protokoll der Sitzung lesen, dort alles suchen, was mit dieser Frage in Zusammenhang stehen konnte.

Doch stieß ich bereits hier auf Schwierigkeiten. In der Kolonialbibliothek wurde mir nur die auf der Sitzung gefaßte Resolution vorgelegt. In dieser Resolution wurde bis in alle Einzelheiten die ganze Organisation des grandiosen Unternehmens geschildert, doch fand ich nirgends das, was mich imAugenblick interessierte. Ich erhielt auf meine Fragen keine Antwort. Die Resolution wurde ohne jedes Motiv wiedergegeben, ohne irgendeinen Hinweis auf die Ausführungen, die ihr vorangegangen waren. Als ich dem Bibliothekar erklärte, ich wolle das Protokoll, erwiderte er, das Protokoll werde nicht veröffentlicht, außerdem würden detaillierte Protokolle überhaupt nicht geführt, wie dies auch bei den technischen Sitzungen der Fall sei.

Auf den ersten Blick erschien mir dies richtig. Die Marsbewohner veröffentlichten meist nur die „Beschlüsse“ dieser Sitzungen, sie nahmen an, daß jede dort geäußerte verständige und nützliche Ansicht, sowie gegenteilige Meinungen und Auffassungen besser in Artikeln, Broschüren, Büchern usw. verfochten werden konnten, als in einer kurzen Rede. Ueberhaupt behagte es den Marsbewohnern nicht, die „Literatur“ übermäßig zu vermehren und man suchte bei ihnen vergeblich etwas, das unserer „Arbeitskommission“ gleichkam; sie bemühten sich, alles so wenig umfangreich wie möglich zu gestalten. Im gegebenen Fall jedoch schenkte ich den Worten des Bibliothekars keinen Glauben. Auf dieser Sitzung hatte es sich um große und gewichtige Dinge gehandelt, als daß man sie der öffentlichen Beurteilung hätte entziehen können, wie das bei den gewöhnlichen technischen Fragen der Fall war.

Ich versuchte selbstverständlich mein Mißtrauen zu verbergen, um keinerlei Verdacht zu erregen, vertiefte mich ergeben in das mir gewährte Material und entwickelte unterdessen den Plan meines weiteren Vorgehens.

Es war offensichtlich, daß ich von den Büchern der Bibliothek nicht jene erhalten würde, deren ich bedurfte; entweder gab es über diese Angelegenheit gar kein Protokoll, oder aber der Bibliothekar war auf meine Fragen vorbereitet gewesen und versteckte es vor mir. Doch blieb noch die Phonographen-Abteilung der Bibliothek übrig.

Dort konnten auch jene Protokolle, die nicht zur Veröffentlichung freigegeben wurden, gefunden werden. Der Phonographersetzte bei den Marsbewohnern häufig die Stenographie, und in den Archiven wurden viele phonographische Platten der verschiedenen wichtigen Versammlungen aufbewahrt.

Ich benützte den Augenblick, da der Bibliothekar in seine Arbeit vertieft war und verfügte mich unbemerkt in die Phonographen-Abteilung. Dort erbat ich von dem diensthabenden Genossen den Katalog der Platten. Er gab ihn mir.

Aus dem Katalog ersah ich gar bald die Nummer der Platte der mich interessierenden Sitzung und ich begab mich unter dem Vorwand, daß ich den Genossen nicht belästigen wolle, selbst auf die Suche. Auch hier errang ich einen Erfolg.

Es gab von dieser Sitzung fünfzehn Phonogramme. An jeder der Platten war entsprechend dem hier üblichen Brauch ein Inhaltsverzeichnis befestigt. Ich studierte rasch diese Verzeichnisse.

Die fünf ersten waren den Berichten über die Expedition gewidmet, stammten noch aus einer früheren Sitzung und beschäftigten sich mit technischen, den Aetheroneff betreffenden Fragen.

Die Ueberschrift der vierten Platte lautete:

„Vorschlag des Zentralen statistischen Bureaus für den Uebergang zur Massenkolonisation. Wahl der Planeten – Erde oder Venus. Reden und Vorschläge Sternis, Nettis, Mennis und anderer. Beschluß zu Gunsten der Venus.“

Ich fühlte, dies sei, was ich suche und steckte die Platte in den Apparat. Was ich nun vernahm, schnitt mir für ewige Zeiten in die Seele. Es war Folgendes.

Menni eröffnete die Sitzung als Vorsitzender des Kongresses. Als erster ergriff der Vorsitzende des Zentralen statistischen Bureaus das Wort.

Er bewies auf Grund genauer Zahlen, daß bei der gegebenen Vermehrung der Bevölkerung und der Steigerung ihrer Bedürfnisse selbst für den Fall, daß die Marsbewohner die Ausbeutung ihres Planeten einschränkten, in etwa dreißig Jahren ein Mangel an Lebensmitteln eintreten müsse. DieserGefahr vermöchte freilich die Entdeckung der Synthese des Eiweiß aus unorganischen Stoffen zu begegnen, doch könne niemand dafür bürgen, daß diese Entdeckung in den nächsten dreißig Jahren gemacht würde. Deshalb sei es unbedingt nötig, daß die Kolonialgruppe von den rein wissenschaftlichen Expeditionen nach anderen Planeten zur Organisation einer Massenauswanderung der Marsbewohner übergehe. In Frage kämen zwei vom Mars aus erreichbare Planeten, beide reich an Naturschätzen. Es müsse schleunigst beschlossen werden, welcher der beiden als Zentrum der Kolonisation zu wählen sei, damit dann sofort an die Ausarbeitung des Planes gegangen werden könne.

Menni stellte die Frage, ob jemand gegen den Antrag des Redners oder gegen dessen Motivierung etwas einzuwenden habe. Doch verlangte niemand das Wort.

Dann warf Menni die Frage auf, welcher Planet als erster für die Massenkolonisation gewählt werden solle.

Sterni ergriff das Wort.

„Die erste, von dem Vorsitzenden des Zentralen statistischen Bureaus gestellte Frage“, hub Sterni in seinem üblichen, mathematisch nüchternen Ton an, „bezieht sich auf die Wahl des zu kolonisierenden Planeten. Meiner Ansicht nach bedarf es hier gar keiner Entscheidung, denn die Wahl wurde schon längst von der Wirklichkeit getroffen. Es hat gar keinen Sinn, zwischen den zwei Planeten wählen zu wollen, denn von den beiden uns erreichbaren ist für die Massenkolonisation bloß der eine geeignet: und zwar die Erde. Wir besitzen über die Venus eine ausführliche Literatur, mit der Sie alle selbstverständlich gut bekannt sind. Das Ergebnis aller unserer Versammlungen und Beratungen war stets das gleiche: es ist uns unmöglich, in diesem Augenblick von der Venus Besitzzu ergreifen. Ihre versengende Sonne erschöpft und schwächt unsere Kolonisten, ihre furchtbaren Stürme und Gewitter zerstören unsere Bauten, schleudern unsere Aeroplane in den Raum, zerschmettern sie an den riesenhaften Bergen. Mit ihren Ungeheuern vermöchten wir, freilich um den Preis nicht geringer Opfer, fertig zu werden; aber ihre unglaublich reiche Bakterienwelt, mit der wir noch ungenügend bekannt sind – wie viele neue Krankheiten vermag diese in sich zu bergen? Ihre Vulkane befinden sich noch in Tätigkeit; wie viele unerwartete Erdbeben, Lavaströme, Sturzfluten würden uns dort bedrohen? Der Versuch, die Venus zu kolonisieren, würde unzählige und völlig nutzlose Opfer fordern, Opfer, nicht der Wissenschaft und dem Glück der Allgemeinheit gebracht, sondern der Unvernunft und Phantasterei. Diese Frage erscheint mir völlig klar, und der Bericht über die letzte Expedition nach der Venus zerstört endgültig alle Zweifel.

Wenn es sich also um eine Massenauswanderung handelt, so kommt dafür nur die Erde in Betracht. Dort sind die durch die Natur bedingten Hindernisse gering, der Reichtum der Natur ist grenzenlos, übertrifft den unseres Planeten um das achtfache. Die Kolonisation selbst ist bereits durch die auf der Erde lebenden Wesen gut vorbereitet, wenngleich diesen Erdengeschöpfen eine höhere Kultur mangelt. All dies ist dem Zentralen statistischen Bureau wohlbekannt. Wenn es uns daher vorschlägt, die Wahl des Planeten zu treffen und wir es auch selbst für nötig halten, so besteht dafür ein einziger Grund, nämlich, daß sich uns auf der Erde ein äußerst ernstes Hindernis entgegenstellt: ihre Menschheit.

Die Erdenmenschen bewohnen die ganze Erde, werden auf keinen Fall bereit sein, sie gutwillig, und sei es auch nur einen Teil, an uns abzutreten. Das hängt mit dem ganzen Charakter ihrer Kultur zusammen, deren Basis der Besitz und die organisierte Gewalt sind. Wenngleich selbst die zivilisiertesten Völker der Erde bloß einen geringen Teil der ihnen erreichbaren Schätze der Natur ausbeuten, so verlangt es sie dennochimmer nach der Eroberung weiterer Territorien, und diese Gier schwächt sich niemals ab. Der systematisch betriebene Raub der Länder und des Besitzes der weniger zivilisierten Völker trägt bei ihnen die Bezeichnung Kolonialpolitik und wird als eine der Hauptaufgaben des staatlichen Lebens betrachtet. Man kann sich demnach vorstellen, wie sich die Erdenmenschen unserem ganz natürlichen und vernünftigen Vorschlag gegenüber verhalten würden: uns einen Teil ihres Gebietes abzutreten, wofür wir sie lehren und ihnen behilflich sein würden, den ihnen gebliebenen Teil in unvergleichlich höherem Maße auszunützen ... Für sie ist die Kolonisation eine Frage der rohen Kraft und der Vergewaltigung und wir wären, ob wir nun wollen oder nicht, gezwungen, ihnen gegenüber ebenfalls diesen Standpunkt einzunehmen.

Handelte es sich hier ausschließlich darum, ihnen ein einziges Mal unsere größere Kraft zu beweisen, so wäre dies sehr einfach und würde nicht mehr Opfer kosten, als die bei ihnen so beliebten unsinnigen, nutzlosen Kriege. Es existiert bei ihnen eine gewaltige Herde für den Mord dressierter Leute, die mit dem Wort Armee bezeichnet wird. Freilich vermöchten wir vom Aetheroneff aus vermittels der verderblichen, durch die beschleunigte Spaltung des Radiums erzeugten Lichtfluten in wenigen Augenblicken ein oder zwei dieser Herden zu vernichten, und dies wäre für die Zivilisation der Erde weit mehr nützlich als schädlich. Leider jedoch ist das, was nachher käme, lange nicht so einfach, die wahren Schwierigkeiten würden erst mit diesem Augenblick beginnen.

In dem jahrhundertealten Kampf der Erdenvölker gegen einander entwickelte sich bei ihnen eine psychologische Eigenheit, die Patriotismus heißt. Dieses unbestimmbare, aber starke und tiefe Gefühl enthält ebensowohl boshaftes Mißtrauen gegen alle Völker und Rassen, als auch eine schier elementare Anhänglichkeit für die Sitten und Gebräuche der eigenen Umgebung. Besonders ist dies in jenen Ländern der Fall, wo die Erdenvölker gleich Schildkröten mit ihrer Umgebungverwachsen sind; oft aber ist dieser Patriotismus nichts anderes, als die Gier nach Zerstörung, Vergewaltigung und Raub. Die patriotische Einstellung wird besonders stark nach kriegerischen Niederlagen; nehmen die Sieger den Besiegten einen Teil ihres Landes fort, dann nimmt der Patriotismus dieser Besiegten den Charakter eines hartnäckigen und grausamen Hasses gegen die Sieger an, und die Rache wird zum Lebensideal des ganzen Volkes, nicht nur der schlechteren Elemente, der „oberen“, der reaktionären Klassen, sondern auch der besten, der Arbeitermassen.

Wenn wir uns nun eines Teiles der Erdoberfläche durch Gewalt bemächtigten, so würde dies zweifellos zu einer Vereinigung aller Erdenmenschen in einem einzigen Gefühl des Erdenpatriotismus führen, zu einem unbarmherzigen Rassenhaß, zu wilder Wut gegen unsere Kolonisten; die Ausrottung der Eindringlinge, gleichviel mit welchen Mitteln, bis zum gemeinsten Verrat, würde als heilige und edle Sache gelten, die unsterblichen Ruhm verleiht. Unseren Kolonisten würde das Leben unerträglich gemacht werden. Sie wissen, daß die Vernichtung des Lebens selbst bei einer niederen Kulturstufe etwas äußerst einfaches ist. Im offenen Kampf sind wir unvergleichlich stärker als die Erdenmenschen, dennoch vermöchten sie durch unerwartete Ueberfälle uns ebenso zu töten, wie sie dies untereinander zu tun pflegen. Außerdem darf nicht außer acht gelassen werden, daß bei ihnen die Kunst der Zerstörung weit stärker entwickelt ist, als irgendetwas anderes in ihrer Kultur.

Unter diesen Umständen wäre das Leben auf der Erde geradezu unmöglich; es würde auf ihrer Seite Verschwörungen und Terror, auf der unserer Genossen beständige Gefahr und unzählige Opfer bedeuten. Diese müßten sich zu zehn oder vielleicht sogar hundert Millionen ansiedeln. Bei dem auf der Erde herrschenden gesellschaftlichen System, das keine gegenseitige Hilfe kennt, bei den dort herrschenden sozialen Verhältnissen, Dienste und Hilfe mit Geld zu entlohnen, beider unzulänglichen und verschwenderischen Art der Produktion, die sich nicht rasch genug auf die gewaltige Vermehrung der Bewohner einzustellen vermöchte, würden Millionen der von uns Vertriebenen größtenteils zu einem schmerzlichen Hungertod verdammt sein. Die Minderheit des kolonisierten Teiles würde gegen uns bei der übrigen Erdenmenschheit eine grausam fanatische Agitation betreiben.

Wir müßten also den Kampf fortsetzen. Unser ganzer Erdenteil müßte sich in ein uneinnehmbares, festes Kriegslager verwandeln. Die Angst vor künftigen Eroberungen unsererseits, sowie der starke Rassenhaß würden alle Erdenvölker dazu vereinigen, sich auf einen Krieg gegen uns vorzubereiten. Sind schon heute ihre Waffen weit vollkommener als ihre Arbeitswerkzeuge, so würde in diesem Fall die technische Vervollkommnung der Mordinstrumente mit rasender Schnelligkeit vor sich gehen. Zu gleicher Zeit würden sie absichtlich eine Ursache für den Beginn des gewaltigen Krieges herbeiführen und erzwingen, eines Krieges, der für uns, selbst im Falle eines Sieges, ungeheure Verluste bedeutete. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ihnen auch die Aneignung und Verwertung unserer besten Mittel gelingen könnte. Sie kennen bereits die radiumausstrahlenden Stoffe; die Methode der beschleunigten Spaltung vermöchten sie vielleicht irgendwie durch uns erfahren, oder aber ihre Gelehrten könnten diese selbst entdecken. Es ist Ihnen allen bekannt, daß bei Anwendung dieser Waffen jener, der auch nur um wenige Minuten früher angreift als der Feind, diesen unweigerlich vernichtet; in diesem Fall erfolgt das Zerstören des höchsten Lebens ebenso leicht, wie durch ein Elementarereignis.

Welch ein Leben müßten unsere Genossen führen, umgeben von diesen Gefahren, gefoltert von der ewigen Erwartung ähnlicher Ueberfälle? Nicht nur alle Lebensfreude würde ihnen vergällt, nein, sogar ihr Typus würde sich verändern, verschlechtern. Allmählich schlichen sich in sie Argwohn, Mißtrauen ein, der egoistische Trieb der Selbsterhaltung unddie von ihm unzertrennliche Grausamkeit. Die Kolonie würde aufhören,unsereKolonie zu sein, würde sich in eine kriegerische Republik inmitten der geschlagenen, von Feindseligkeit erfüllten Völker verwandeln. Die sich wiederholenden blutige Opfer fordernden Ueberfälle würden immer mehr das Gefühl der Rache und der Feindschaft vergrößern, das uns teure Bild des Menschen entstellen und unsere Leute wären, objektiv gesprochen, aus Notwehr gezwungen, die grausamsten Mittel anzuwenden. Schließlich, nach langem Schwanken und einer qualvollen Kräftevergeudung, müßten wir unvermeidlich zu jener Lösung der Frage gelangen, die wir bereits von allem Anfang an hätten anerkennen müssen:die Kolonisierung der Erde fordert die völlige Ausrottung der Erdenmenschen.“

(Unter den hundert Zuhörern entstand ein Gemurmel des Entsetzens, aus dem sich Nettis mißbilligender Protest laut abhob. Als die Ruhe wieder hergestellt war, fuhr Sterni gelassen fort:)

„Das Unvermeidliche mußbegriffen, und, wie hart auch immer es erscheint, es muß ihm ins Auge gesehen werden. Es gibt für uns zwei Möglichkeiten: entweder eine Stagnation in der Entwicklung unseres Lebens oder die Vernichtung des uns fremden Lebens auf der Erde. Ein drittes gibt es nicht. (Nettis Stimme durchklang den Raum: „Das ist nicht wahr!“) Ich weiß, woran Netti denkt, wenn sie gegen meine Worte protestiert und gehe auch schon zu der dritten Möglichkeit über, die sie im Auge hat.

Diese aber ist – der sofortige Versuch einer sozialistischen Erziehung der Erdenmenschheit, ein Plan, den wir alle noch unlängst befürwortet haben, der aber, meiner Ansicht nach, unbedingt aufgegeben werden muß. Wir kennen die Erdenmenschheit nun schon zur Genüge, um einzusehen, daß diese Idee völlig sinnlos sei.

Die Kulturstufe der führenden Erdenvölker ist etwa die gleiche, wie die unserer Vorfahren zur Zeit der großen Kanalbautengewesen ist. Auf der Erde herrscht das Kapital, und es gibt ein Proletariat, das für den Sozialismus kämpft. Deshalb könnte man glauben, daß der Augenblick jener Umwälzung nicht mehr ferne sei, die die organisierte Gewalt vernichtet und die Möglichkeit einer freien und raschen Entwicklung des Lebens gibt. Doch besitzt der Erdenkapitalismus eine wichtige Eigenheit, die die Sache völlig verändert.

Einerseits ist die ganze Erdenwelt in politische und nationale Teile gespalten, so daß der Kampf um den Sozialismus nicht als einheitlicher vollkommener Prozeß einer Riesengesellschaft vor sich geht, sondern eine ganze Reihe selbständiger, eigenartiger Prozesse darstellt, geführt in den verschiedenen Staaten der Gesellschaft, die durch ihre staatliche Organisation, durch die Sprache und die Rasse getrennt sind. Andrerseits ist auf der Erde die Form des Klassenkampfes weit gröber und mechanischer, als dies bei uns der Fall gewesen ist, und die gleichsam materielle Kraft, verkörpert durch das stehende Heer und die bewaffneten Aufstände, spielt dabei eine große Rolle.

Aus allen diesen Umständen ergibt sich, daß die Frage der sozialen Revolution eine unbestimmbare ist: voraussichtlich wird es nicht eine, sondern verschiedene soziale Revolutionen geben, in den verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten. Ja, diese Revolutionen werden sogar einen verschiedenen Charakter haben, sowie einen unsicheren, nicht festzustellenden Ausgang. Die herrschenden Klassen verfügen über die Armee und eine hochentwickelte Kriegstechnik und vermögen daher in gewissen Fällen dem aufständischen Proletariat eine vernichtende Niederlage beizubringen, die in den großen Reichen den Kampf für den Sozialismus auf zehn Jahre zurückwirft. Derartige Fälle finden wir bereits in den Schriften der Erde erwähnt. Außerdem wird die Lage jener Länder, in denen der Sozialismus triumphiert hat, die einer Insel sein, umgeben von ihr feindlichen kapitalistischen Staaten, zum Teil sogar von Staaten, die noch nicht diePhase des Kapitalismus erreicht haben. Um ihre Herrschaft bangend, werden die besitzenden Klassen der nicht sozialistischen Länder alle Anstrengungen machen, um diese Insel zu zerstören, sie werden unaufhörlich kriegerische Ueberfälle gegen sie organisieren und sogar bei den sozialistischen Nationen genügend Verbündete finden, die, den früheren besitzenden Klassen angehörend, zu jedem Verrat bereit sind. Das Ergebnis dieser Kämpfe ist schwer vorauszusagen. Aber selbst dort, wo sich der Sozialismus kräftigt und wo er siegreich vordringt, wird sein Charakter auf viele Jahre hinaus getrübt werden, durch Terror, Kampf, sowie durch einen unvermeidlichen barbarischen Patriotismus. Dieser Sozialismus steht dem unseren äußerst fern.

Unsere Pflicht wäre demnach, falls wir an dem ersten Plan festhalten, ausschließlich für den beschleunigten Sieg des Sozialismus zu wirken. Welche Mittel stehen uns hierfür zur Verfügung? Wir vermögen den Erdenmenschen unsere Technik zu geben, unsere Wissenschaft, unser Wissen um die Beherrschung der Natur, sowie unsere Kultur, die mit den wirtschaftlichen und politischen Formen der Erde im schroffsten Widerspruch steht. Wir können auch das sozialistische Proletariat bei seinem revolutionären Umsturz unterstützen und ihm helfen, den Widerstand der übrigen Klassen zu brechen. Ueber andere Mittel verfügen wir nicht. Werden aber diese beiden zum Ziel führen? Wir wissen heute bereits genug von der Erde, um diese Frage mit einem endgültigen Nein beantworten zu können.

Was würden die Erdenmenschen mit unserem technischen Wissen und unseren Methoden anfangen?

Vor allem würden sich deren diebesitzendenKlassen aller Länder bemächtigen. Dies wäre unvermeidlich, weil sich ja in ihren Händen alle Produktionsmittel befinden und weil ihnen neunzig- bis hunderttausend Gelehrte und Ingenieure zu Diensten stehen; das aber bedeutete, daß ihnen alleMöglichkeitender neuen Industrie gehörten. Siejedoch würden diese nur insofern ausnützen, als es für sie vorteilhaft wäre und ihre Macht über die Massen stärkt. Noch eines: jene gewaltigen neuen Zerstörungsmittel, die ihnen auf diese Art in die Hände fielen, würden sie zur Erdrosselung des sozialistischen Proletariats verwenden. Sie würden es verfolgen, würden eine Provokation in grandiosem Maßstab organisieren, um das Proletariat so rasch wie möglich zum offenen Kampf zu zwingen und in diesem Ringen dessen beste und klügste Kräfte zu morden, falls es diesem nicht gelänge, seinerseits bessere Kampfmethoden zu finden. Derart würde unsere Einmischung in die Angelegenheiten der Erde bloß der Reaktion von oben einen Antrieb geben und ihr zu gleicher Zeit Waffen von ungeheurer Gewalt in die Hände spielen. Das aber würde zumindest auf zehn Jahre den Fortschritt des Sozialismus hemmen.

Und was würden wir erreichen, wenn wir das sozialistische Proletariat gegen seine Feinde unterstützten?

Angenommen, und dies ist keineswegs gewiß, daß es sich mit uns verbündet. Die ersten Siege würden leicht errungen werden. Aber dann? Die unvermeidliche Entwicklung des Patriotismus bei den anderen Klassen würde sich gegen uns und gegen die Sozialisten der Erde wenden ... Das Proletariat aber stellt noch in den meisten Ländern der Erde die Minderheit dar, die Mehrheit hingegen besteht aus den in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Kleinbürgern, aus dunklen, unwissenden Menschen. Diese gegen das Proletariat zu verhetzen, wird den Großkapitalisten und deren Söldlingen, den Beamten und Lehrern, nur allzu leicht fallen. Umsomehr, als diese Massen, die dem Wesen nach konservativ, häufig sogar reaktionär sind, eine krankhafte Angst vor dem raschen Fortschritt empfinden. Das Proletariat sieht sich also auf allen Seiten von erbosten, erbarmungslosen Feinden umgeben, die größere Entwicklung des Proletariats verstärkt nur noch diese Feindseligkeit, es befindet sich in der gleichen furchtbaren Lage, in der sich unsereKolonisten zwischen den Völkern der Erde befinden würden. Es wird zu zahllosen verräterischen Ueberfällen kommen, die Stellung des Proletariats in der Gesellschaft wird um so schwieriger sein, als es die Erneuerung der Gesellschaft durchführen muß. Und auch in diesem Falle wird unsere Einmischung die soziale Umwälzung verzögern, statt sie zu beschleunigen.

Die Zeit der Umwälzung ist demnach nicht zu bestimmen, und es hängt nicht von uns ab, sie früher herbeizuführen. Jedenfalls können wir nicht so lange warten. Im Verlauf von dreißig Jahren zeigt sich bei uns eine Vermehrung der Einwohner um fünfzehn bis zwanzig Millionen, die sich in jedem folgenden Jahr auf zwanzig bis fünfundzwanzig Millionen steigern wird. Es gilt daher,schon früherdie Kolonisation zu organisieren, denn sonst werden uns die Kräfte und Mittel hierzu mangeln und wir werden unser Unternehmen nicht im richtigen Maßstab durchführen können.

Uebrigens ist es auch äußerst ungewiß, ob wir uns mit den sozialistischen Staaten der Erde, falls sich solche unerwartet bilden sollten, zu verständigen vermögen. Wie bereits gesagt: ihr Sozialismus ist noch lange nichtunser Sozialismus.

Die Jahrhunderte nationaler Unterdrückung, verstärkt durch die für uns unbegreiflich rohen und blutigen Kriege, können nicht spurlos vorübergehen, – sie werden ihre psychologischen Spuren bei den Erdbewohnern auf lange Zeit hinterlassen. Und wir wissen gar nicht, wie viel Barbarei und Wildheit die Erdensozialisten mit sich in die neue Gesellschaft hinübernehmen werden.

Wir haben vor Augen ein Beispiel, das uns klar ersichtlich beweist, wie fern selbst die Psychologie des besten Vertreters der Erdenmenschheit der unseren steht. Von unserer letzten Expedition brachten wir einen Erdensozialisten mit, einen Mann, der sich in seiner Umgebung durch Geisteskraft und körperliche Gesundheit auszeichnete. Und was ereignete sich?Unser ganzes Leben erschien ihm dermaßen fremd, stand so sehr im Widerspruch zu seinem Organismus, daß er in kürzester Zeit von einer schweren psychischen Krankheit befallen wurde.

Dies ereignete sich bei einem der Besten, den Menni selbst ausgewählt hatte; was können wir da von den übrigen erwarten?

Derart geraten wir in ein Dilemma: entweder wir müssen auf unserem Planeten die Vermehrung beschränken, was mit einer Schwächung unserer ganzen Lebensentwicklung gleichbedeutend wäre, oder aber wir müssen die Erde kolonisieren, was die Ausrottung der ganzen Erdenmenschheit bedingt.

Ich rede von der Ausrottung der ganzen Erdenmenschheit, weil wir auch bei deren sozialistischen Avantgarde keine Ausnahmen gelten lassen dürfen. Wir verfügen ja auch nicht über die technische Möglichkeit, diese Avantgarde aus der übrigen Masse auszuscheiden, deren unbedeutenden Teil sie darstellt. Aber selbst wenn es uns gelänge, die Sozialisten zu schonen, so würden diese gegen uns einen unerbittlich grausamen Krieg beginnen, sich selbst zur völligen Vernichtung aufopfern, weil sie sich niemals mit dem Töten von hundert Millionen Menschen abfinden könnten, die ihnen gleichen, und die mit ihnen durch viele, häufig äußerst enge lebendige Bande verknüpft waren. Beim Zusammenprall der beiden Welten gibt es kein Kompromiß.

Wir müssen die Wahl treffen. Und ich sage: wir haben bloß eine Wahl.

Das höhere Leben darf nicht dem niedern geopfert werden. Unter den Erdenmenschen gibt es kaum etliche Millionen, die bewußte Stufen zu dem wahrhaft menschlichen Leben sind. Um dieser Zellenwesen willen dürfen wir nicht auf die Geburt von zehn, ja vielleicht von hundert Millionen Wesen unserer Welt verzichten, Wesen, die in unvergleichlich höherem Sinn des Wortes Menschen sind. Unser Vorgehen wird keineswegs grausam sein, denn wir vermögen die Ausrottungder Erdenmenschen auf eine weit weniger schmerzliche Art zu bewerkstelligen, als sie dies untereinander zu tun gewohnt sind.

Das Weltenleben ist einheitlich. Es bedeutet daher keinen Verlust, wenn sich auf der Erde anstelle des noch fernen, halb barbarischen Sozialismus schon heuteunserSozialismus verwirklicht, das unvergleichlich harmonischere Leben mit seiner ununterbrochenen, unbesieglichen Entwicklung.“

(Sternis Rede folgte tiefe Stille. Schließlich wurde sie von Menni durchbrochen, der Anhänger einer anderen Ansicht aufforderte, sich zu äußern. Netti ergriff das Wort.)

„Das Weltenleben ist einheitlich, sprach Sterni. Und was schlug er uns vor?

Einen einzigartigen Typus dieses Lebens auf ewig zu vernichten, auszurotten, einen Typus, den wir niemals wiederbeleben, noch ersetzen können.

Hundert Millionen Jahre lebte der schöne Planet, lebte sein besonderes eigenes Leben, war anders als die übrigen ... Aus den mächtigen Elementen ging das Bewußtsein hervor, erhob sich im grausamen und harten Kampf von den niedersten Stufen zu den höchsten, bis zu der uns nahen, verwandtenmenschlichen Form. Diese Form ist nichtdie gleichewie die unsere, wurde beeinflußt von der Geschichte einer anderen Natur, eines anderen Kampfes; sie birgt in sich andere Gewalten, andere Widersprüche, andere Entwicklungsmöglichkeiten. Nun brach die Epoche an, da sich die Möglichkeit einer Vereinigung der beiden großen Lebenslinien ergibt. Welche Mannigfaltigkeit, welche erhabene Harmonie könnte sich aus dieser Vereinigung entfalten! Und nun wird uns gesagt: das Weltenleben ist einheitlich, deshalb sollen wir es nicht vereinigen – sondern zerstören.

Als Sterni bewies, wie sehr sich die Erdenmenschen, deren Geschichte und Sitten, sowie deren Psychologie von der unseren unterscheiden, widerlegte er selbst seine Ideen weit mehr, als ich dies zu tun vermag. Glichen die Erdenmenschen uns in allem, ausgenommen in ihrer Entwicklungsstufe, wären sie das, was unsere Vorfahren zur Zeit unseres Kapitalismus gewesen sind, dann könnte ich Sterni zustimmen: die niederen Stufen müssen den höheren, die Schwachen den Starken geopfert werden. Aber die Erdenmenschen sind etwas anderes; sie sind nicht nur von niedrigerer Kultur und schwächer als wir, sie sind auch anders als wir. Wollten wir sie beseitigen, so würden wir sie nicht in der Entwicklung der Welt ersetzen, sondern bloß auf mechanische Art jene Leere ausfüllen, die wir in der herrschenden Form des Lebens verursacht hätten.

Der grundlegende Unterschied zwischen den Erdenmenschen und uns liegt nicht in der grausamen und barbarischen Kultur der Erde. Barbarei und Grausamkeit sind nur vorübergehende Erscheinungen jener allgemeinenVerschwendungim Entwicklungsprozeß, durch die sich das ganze Erdenleben kennzeichnet. Dort erscheint der Kampf ums Dasein energischer und mühevoller, das Ringen mit der Natur nimmt vielartigere Formen an und die Entwicklung fordert weit mehr Opfer. Und dies kann auch gar nicht anders sein; denn die Erde erhält vom Quell alles Lebens, der Sonne, achtmal mehr Lichtenergien als unser Planet. Deshalb entwickeln und verbreiten sich dort so viele Leben, eine so große Verschiedenheit der Formen, aus denen sich gewaltige Widersprüche ergeben, so viele schmerzliche Hemmungen, deren Schlichtung gar oft scheitert. Im Pflanzen- und Tierreich herrschte erbitterter Kampf, das Leben und der Tod dieser Arten aber ergaben neue, vollendetere und harmonischere, synthetischere Typen. Dies ist auch im Reich der Menschen der Fall.

Wenn wir unsere Geschichte mit jener der Erdenmenschen vergleichen, so erscheint erstere erstaunlich einfach, frei von Irrtümern, und fast schematisch richtig. Der ruhige, friedlicheUebergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, das Verschwinden der Kleinbürger, das stufenweise sich entwickelnde Proletariat, all dies geschah ohne Schwanken und Zusammenstöße auf dem ganzen Planeten, der zu einer politischen Einheit verbunden war. Freilich wurde gekämpft, doch verstand ein Mensch den anderen, das Proletariat blickte nicht allzuweit voraus, die Bourgeoisie war in ihrer Reaktion nicht utopisch, die verschiedenen Epochen und gesellschaftlichen Formen vermischten sich nicht derart stark wie auf der Erde, wo in einem hoch kapitalistischen Land bisweilen das Einsetzen einer feudalen Reaktion möglich ist, und wo eine zahlreiche Bauernschaft, die sich kulturell in einer ganz anderen historischen Periode befindet, häufig den oberen Klassen als Werkzeug zur Abwürgung des Proletariats dient. Wir gingen einen ebenen, glatten Weg, erreichten vor einigen Generationen jenen Aufbau, der alle Kräfte der sozialistischen Entwicklung entbindet und vereinigt.

Unsere Erdenbrüder hingegen mußten einen anderen Weg gehen, einen dornenvollen Weg voller Krümmungen und Klüfte. Wenigen von uns ist bekannt, und keiner von uns vermag sich klar vorzustellen, bis zu welcher Stufe die Kunst des Menschenschindens selbst bei den kultiviertesten Völkern der Erde gediehen war, keiner von uns kennt genau die politisch organisierte Herrschaft der oberen Klassen, ausgedrückt in Kirche und Staat. Und was ist das Ergebnis? Eine Verlangsamung der Entwicklung? Nein, wir haben keinen Grund, dies zu behaupten, denn von den ersten Stadien des Kapitalismus entwickelte sich im Wirrsal und in den grausamen Kämpfen der verschiedensten Arten das proletarische Bewußtsein nicht langsamer, sondern schneller als bei uns, – wo die Wandlung stufenweise und ruhiger vor sich ging. Die Härte und Erbarmungslosigkeit des Kampfes aber erzeugte in den Kämpfern eine derartige Fülle an Energie und Leidenschaft, einen solchen Heldenmut und eine so gewaltige Leidenskraft, wie sie der aussichtsreichere und weit weniger tragischeKampf unserer Vorfahren gar nicht kennt. Bei diesem Typus des Erdenlebens sind die Menschen nicht niedriger, sondern höher als wir, wenngleich wir, deren Kultur älter ist, auf einer viel höheren Stufe stehen.


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