ACHTES KAPITEL

Er kommt zum Bruder des Grafen. Vor dem Spiegel brennen schon die Kerzen, und auf dem Tische liegen wieder zwei Pistolen und daneben Dukaten, abernicht zwei, sondern zehn, und die Pistolen sind diesmal mit tscherkessischen Kugeln geladen.

Der Bruder des Grafen sagt:

»Ich habe gar keinen Pudel, verlange von dir aber folgendes: richte mich so her, daß ich ein mutiges Aussehen bekomme. Du kriegst dafür zehn Dukaten; wenn du mich aber schneidest, bist du auf der Stelle tot.«

Arkadij überlegte sich die Sache und machte sich plötzlich daran, — Gott allein weiß, was über ihn gekommen war, — den Bruder des Grafen zu frisieren und zu rasieren. Im Nu war er mit seiner Arbeit fertig, steckte das Geld in seine Tasche und sagte:

»Leben Sie wohl.«

Jener antwortet:

»Geh! Ich möchte aber nur das eine wissen: wie hast du dich dazu entschließen können?«

Arkadij aber sagt:

»Warum ich mich dazu entschlossen habe, das weiß nur mein Herz in der Brust.«

»Oder bist du vielleicht kugelfest oder kennst irgend einen Zauber, so daß du selbst die Pistolen nicht fürchtest?«

»Die Pistolen sind das wenigste, an die habe ich gar nicht gedacht.«

»Was? Wagtest du denn zu denken, daß das Wort deines Grafen mehr gilt als das meinige und daß ich dich, wenn du mich schneidest, nicht erschieße? Wenn du nicht kugelfest bist, so wärest du auf der Stelle tot.«

AlsArkadij den Namen seines Herrn hörte, fuhr er zusammen und sagte wie aus dem Schlafe:

»Ich bin nicht kugelfest, Gott hat mir aber Vernunftverliehen: noch eh du die Hand nach der Pistole ausstrecktest, hätte ich dir mit dem Rasiermesser die Gurgeldurchschnitten.«

Mit diesen Worten stürzt er hinaus und kommt ins Theater noch gerade zur rechten Zeit, um mich herzurichten. Er zittert am ganzen Leibe, und wie er sich über mich beugt, um eine Locke zu wickeln, flüstert er mir zu:

»Hab nur keine Angst, ich werde dich entführen.«

Die Aufführung gelang vortrefflich, denn wir alle waren gut abgerichtet und alle Ängste und alle Marter gewohnt. Wir machten unsere Sache so gut, wie wenn wir aus Stein wären, so daß niemand sehen konnte, wie uns dabei zumute war.

Wir sahen von der Bühne aus den Grafen und seinen Bruder: sie waren einander sehr ähnlich. Selbst als sie hinter die Kulissen kamen, konnte man sie schwer voneinander unterscheiden. Der unsrige war aber auf einmal ganz still und sanft geworden. So war er immer vor seinen grausamsten Wutausbrüchen.

Wir zittern alle und bekreuzigen uns:

»Herr, errette uns und sei uns gnädig! Wen wird diesmal sein Zorn treffen?«

Wir wußten noch nichts von der verzweifelten Tat Arkaschas; er selbst aber wußte natürlich, daß er keine Gnade zu erwarten hatte und erbleichte, als der Bruder des Grafen ihn anblickte und unserm Grafen etwas zuflüsterte: Ich hatte aber scharfe Ohren und hörte, was er ihm sagte:

»Bruder, ich rate dir, nimm dich vor ihm in acht, wenn er dich rasiert.«

Der Unsrige lächelte nur leise.

Ich glaube, daß auch Arkadij etwas gehört hatte, denn er war außer sich vor Aufregung: als er mich für die letzte Rolle der Herzogin herrichtete, legte er mir, — was ihm sonst nie passierte, — so viel Puder an, daß der Franzose, der Garderobier, sagte:

»Trop beaucoup, trop beaucoup!« Und er nahm mit einem Bürstchen den überschüssigen Puder von mir ab.

Als aber die Vorstellung zu Ende war, zog man mir das Kleid der Herzogin von Bourblanc aus und kleidete mich als Cäcilie ein: es war ein einfaches, weißes Gewand ohne Ärmel, das an den Achseln nur von den Schleifen gehalten wurde. Wir konnten diese Tracht nicht ausstehen. Und nun kommt auch schon Arkadij, um mir die Frisur der heiligen Cäcilie zu machen, wie sie auf den Bildern dargestellt wird, und mir einen dünnen Reifen als Heiligenschein im Haare zu befestigen. Und er sieht, daß vor der Türe meiner Kammer sechs Mann stehen. Diese sollten ihn, sobald er mit mir fertig ist und aus meiner Kammer wieder herauskommt, ergreifen und zum Foltern schleppen. Es gab bei uns im Hause Foltern, die schlimmer als jeder Tod waren. Es gab da Wippen, Spannböcke und die fürchterlichsten Instrumente. Wer das einmal durchgemacht, hatte vor gerichtlichen Strafen gar keinen Respekt mehr. Unter dem ganzen Hause gab es geheimeVerliese, wo lebendige Menschen wie die Bärenan Ketten saßen. Wenn man vorbeikam, hörte man zuweilen die Ketten klirren und die Menschen stöhnen. Die Eingekerkerten wollten wohl, daß die Obrigkeit etwas davon erfahre; die Obrigkeit wagte aber nicht, für sie einzutreten. Viele Leute saßen hier lebenslänglich. Einer von ihnen verfaßte, nachdem er viele Jahre gesessen hatte, den Vers:

Es kommen die Schlangen und fressen die Augen,Und Skorpione das Blut aus den Adern saugen.

Es kommen die Schlangen und fressen die Augen,

Und Skorpione das Blut aus den Adern saugen.

Wenn man an den Kellern vorbeigeht, flüstert man den Vers vor sich hin und zittert am ganzen Leibe.

Manche waren aber neben lebendigen Bären so angekettet, daß diese sie gerade noch mit den Tatzen berühren konnten.

Es gelang ihnen aber nicht, Arkadij Iljitsch zum Foltern zu holen: als er zu mir in die Kammer trat, packte er im gleichen Augenblick den Tisch, schlug das Fenster ein, und was weiter geschah, weiß ich nicht mehr ...

Ich kam zum Bewußtsein, als ich Kälte in den Füßen fühlte. Ich will die Beine einziehen und merke, daß ich in einen Pelz aus Wolfs- und Bärenfell eingewickelt bin. Um mich herum ist es stockfinster, und ich rase auf einer Troika dahin ... Ich weiß gar nicht, wohin. Neben mir sitzen aber im breiten Schlitten zwei Männer: der eine — es ist Arkadij Iljitsch — hält mich fest, der andere aber treibt die Pferde an ... Der Schnee sprüht nur so unter den Hufen der Pferde empor, und der Schlitten schüttelt mächtig: wenn wir nicht auf dem Boden des Schlittens säßen und uns nicht mit den Händen festhielten, so wären wir längst hinausgeflogen.

Und ich höre sie ängstlich miteinander reden und verstehenur das eine: »Man setzt uns nach! Jage, was du jagen kannst!«

Wie Arkadij Iljitsch sieht, daß ich zum Bewußtsein gekommen bin, beugt er sich über mich und sagt:

»Ljuba, mein Täubchen! Man jagt uns nach, bist du bereit zu sterben, wenn sie uns einholen?«

Ich antworte, daß ich mit Freuden sterben werde.

Er hoffte, nach der türkischen Stadt Rustschuk zu entkommen, wohin schon viele von unseren Leuten vor dem Grafen Kamenskij geflohen waren.

Wir sausten plötzlich über eine Brücke, in der Ferne tauchte etwas wie eine menschliche Behausung auf, und wir hörten Hundegebell. Der Kutscher hieb tüchtig auf die Pferde ein, warf plötzlich den Schlitten um, Arkadij und ich fielen in den Schnee hinaus, der Schlitten, die Pferde und der Kutscher waren aber im Nu verschwunden.

Arkadij sagt:

»Fürchte nichts, so muß es sein, denn ich kenne den Kutscher, der uns gefahren hat, nicht, und er kennt uns nicht. Er hat es für drei Dukaten übernommen, dich zu entführen, und muß jetzt an die Rettung seiner eigenen Seele denken. Wir sind in Gottes Hand: da ist das Dorf Ssuchaja-Orliza, und hier wohnt ein kühner Pope, der die gewagtesten Ehen traut und der schon vielen von unseren Leutenzur Flucht verholfen hat. Wir geben ihm ein Geschenk, er wird uns die Nacht über bei sich behalten und morgen trauen; am Abend wird aber der gleiche Kutscher wieder kommen, und wir werden uns davonmachen.«

Wir klopfen an und treten in den Flur. Der Pope selbst läßt uns ein, — er ist ein kleiner, alter Mann, und vorne fehlt ihm ein Zahn. Seine alte Frau macht Licht. Wir stürzen ihnen zu Füßen:

»Rettet uns, laßt uns in die warme Stube ein und versteckt uns bis morgen Abend!«

Der Pope fragt:

»Habt ihr was gestohlen, oder seid ihr einfach durchgebrannt?«

»Nichts haben wir gestohlen; wir sind auf der Flucht vor dem grausamen Grafen Kamenskij und wollen nach der türkischen Stadt Rustschuk, wo nicht wenige von unsern Leuten wohnen. Man wird uns nicht finden, wir haben aber Geld bei uns und wollen Ihnen für das Übernachten einen goldenen Dukaten geben und für das Trauen — drei Dukaten. Wenn Sie es können, trauen Sie uns, sonst werden wir uns in Rustschuk trauen lassen.«

Und jener antwortet:

»Warum sollte ich es nicht können? Ich kann es sehr wohl. Was braucht ihr euer Geld nach Rustschuk zu schleppen? Gebt mir für alles zusammen fünf Dukaten, und ich werde euch gleich hier zusammenkoppeln.«

Arkadij gab ihm die fünf Dukaten, und ich nahm mir die Quamarin-Ohrringe ab und gab sie der Popenfrau.

Der Pope nahm das Geld und sagte:

»Ach, meine Lieben, ich habe schon ganz andere Paare getraut, es ist aber nicht gut, daß ihr von des Grafen Leuten seid. Und wenn ich auch Pope bin, so habe ich doch Angst vor seiner Grausamkeit. Aber ich will es schonmachen, komme, was kommen mag. Gebt mir noch einen Dukaten, und wenn auch einen beschnittenen, dazu und versteckt euch.«

Arkadij gibt ihm den sechsten Dukaten, sogar einen guten, und er sagt zu seiner Popenfrau:

»Alte, was stehst du noch da? Gib der Entlaufenen irgendeinen Rock und eine Jacke, denn es isteine Schande, sie anzuschauen — sie ist ja nackt.« Dann wollte er uns in die Kirche führen und in den Kasten mit Kirchengewändern verstecken. Kaum hatte aber die Popenfrau begonnen, mich hinter dem Vorhang umzukleiden, als an die Türe geklopft wurde.

Uns beiden standen die Herzen still. Der Pope aber flüstert Arkadij zu:

»Mein Lieber, in den Kasten mit denKirchengewändern werdet ihr ja jetzt nicht mehr kommen können, schlüpfe aber unter das Federbett.«

Und zu mir spricht er:

»Und du, meine Liebe, komm einmal her.«

Er stellt mich ins Gehäuse der großen Standuhr, sperrte es zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Und dann geht er die Tür aufmachen. Ich höre, daß es viele Menschen sind. Die einen stehen in der Türe, und zweie schauen von außen durchs Fenster herein.

Sieben Mann von den Jägern des Grafen kommen in die Stube; alle haben Mordwaffen und Peitschen in der Hand und Stricke im Gürtel; der achte im langen Wolfspelz und hoher Mütze ist aber der Haushofmeister.

Das Uhrgehäuse, in dem ich stand, war vorne wie ein Gitter durchbrochen und mit altem Tüll bespannt. Durch diesen Tüll konnte ich alles sehen.

Der alte Pope merkt wohl, daß die Sache schlimm steht: er zittert vor dem Haushofmeister, bekreuzigt sich in einemfort und stammelt:

»Ach, meine Lieben, meine Lieben! Ich weiß wohl, was ihr hier sucht, ich stehe vor dem durchlauchtigsten Grafen unschuldig da! Ich bin unschuldig, bei Gott, unschuldig!«

Während er sich aber bekreuzigt, zeigt er immer mit den Fingern über die linke Schulter auf das Uhrgehäuse, in dem ich eingesperrt bin.

— Ich bin verloren! — denke ich mir, wie ich diesen Zauber sehe.

Auch der Haushofmeister verstand den Wink und sagte:

»Uns ist alles bekannt. Gib mal den Schlüssel von dieser Uhr her.«

Der Pope begann wieder mit den Händen zu fuchteln:

»Ach, meine Lieben! Verzeiht, straft mich nicht, ich habe vergessen, wo ich den Schlüssel habe, bei Gott, ich habe es vergessen!«

Und dabei fährt er sich immer mit der Hand über die Tasche.

Der Haushofmeister merkte auch diesen Zauber. Er nahm ihm den Schlüssel aus der Tasche und holte mich aus der Uhr heraus.

»Komm mal heraus, Täubchen,« sagt er mir, »der Täuberich wird sich schon von selbst melden.«

Arkascha meldet sich auch gleich: er wirft das Popenbett von sich und spricht:

»Es ist wohl nichts zu machen, ihr habt gewonnen. Nun könnt ihr mich wieder zurückbringen und den Folterknechten überliefern. Sie aber ist unschuldig: ich habe sie mit Gewalt entführt.«

Dann wendet er sich zum Popen um und spuckt ihm nur ins Gesicht.

Jener aber sagt:

»Meine Lieben, seht ihr, wie er mein Priesteramt und meine Treue beschimpft? Meldet es doch dem durchlauchtigsten Grafen!«

Der Haushofmeister antwortet:

»Hab nur keine Angst: alles wird ihm angerechnet werden!« Und er gibt seinen Leuten den Befehl, mich und Arkadij hinauszuführen.

Wir setzten uns in drei Schlitten: in den vorderen Schlitten kam der gebundene Arkadij mit den Jägern; mich setzte man unter der gleichen Bewachung in den letzten Schlitten, und die Übrigen fuhren in der Mitte.

Als das Volk uns so fahren sah, machte es Platz: alle glaubten, daß es ein Hochzeitszug sei.

Wir waren sehr bald wieder zu Hause. Als wir in den Hof einfuhren, war vom ersten Schlitten, auf dem man Arkadij gebracht hatte, nichts mehr zu sehen. Man sperrte mich in meine alte Kammer und nahm mich ins Verhör: wie lange ich mit Arkadij allein gewesen sei?

Ich sage ihnen:

»Auch nicht einen Augenblick!«

Das war mir wohl schon so vom Himmel beschieden, daß mich nicht der Geliebte, sondern der Verhaßte bekam. Diesem Schicksal entging ich nicht. Als ich in meine Kammer zurückkehrte und den Kopf in die Kissen vergrub, um mein Unglück zu beweinen, hörte ich von unten furchtbares Stöhnen.

Bei uns war das so eingerichtet: wir Mädchen wohnten im ersten Stock des hölzernen Hauses, unten war aber ein großes, hohes Zimmer, in dem wir singen und tanzen lernten. Oben konnte man alles, was unten vorging, hören. Und der Fürst der Hölle, Satanas, gab den Grausamen den Gedanken ein, Arkadij gerade unter meiner Kammer zu foltern.

Als ich hörte, wie man ihn peinigte ... stürzte ich zur Türe, um zu ihm zu laufen ... Die Türe war aber verschlossen ... Ich wußte selbst nicht, was ich tun wollte ... und ich fiel hin ... Auf dem Boden ist aber alles noch viel deutlicher zu hören ... Und ich habe keinen Nagel und kein Messer, ich habe gar nichts, um mich zu töten ... Und ich nahm meinen Zopf, und wickelte ihn mir um den Hals, und ich drehte ihn mir um den Hals, und ich drehte ihn immer fester zusammen ... Zuletzt hörte ich nur ein Klingen in den Ohren und sah Kreise vor den Augen, und alles erstarb in mir ... Und als ich zum Bewußtsein kam, sah ich mich an einem Ort, den ich gar nicht kannte, in einer großen hellen Stube ... Kälber waren um mich her, viele Kälber, mehr als zehn Stück ... So freundlich waren sie: das eine nach dem andern kam auf mich zu, schnupperte mit kalten Lippen an meiner Hand, glaubte wohl, das Euter der Mutter zu saugen ...Ich war auch darum erwacht, weil das so kitzelte ... Ich sehe mich um und frage mich: wo bin ich? Und ich sehe: eine ältere große Frau kommt herein, ist ganz in blaue Leinwand gekleidet, hat ein sauberes Tuch um den Kopf, und das Gesicht ist so freundlich und liebevoll.

Wie die Frau sieht, daß ich zum Bewußtsein gekommen bin, fängt sie freundlich zu sprechen an und erzählt mir, daß ich mich im Kälberstall am Grafenhause befinde ... Siehst du, dort stand dieser Stall — erklärteLjubow Onissimowna, mit der Hand auf den entferntesten Winkel des halbzerfallenen Bretterzaunes zeigend.

Man hatte sie auf den Viehhof gebracht, weil man glaubte, sie sei verrückt geworden. Geisteskranke Leibeigene, die zum Vieh herabgesunken waren, pflegte man »zwecks Prüfung« auf den Viehhof zu schaffen, denn die Viehwärter, lauter ältere und solide Leute, galten als berufen, Geisteskranke zu beobachten.

Die Frau in blauer Leinwand, bei der Ljubow Onissimowna zu sich kam, hieß Drossida und war sehr gutherzig.

Am Abend — fuhr die Kinderfrau fort — machte sie mir ein Lager aus frischem Haferstroh. Sie zerfaserte es, so daß es so weich wie Daunen war, und sagte mir: »Ich will dir alles eröffnen, Mädchen, komme was kommen mag. Ich bin aber ebenso wie du und habe nicht immer diese blaue Leinwand getragen. Auch ich habe schon ein anderes Leben gesehen. Ich mag daran gar nicht zurückdenken, dir will ich aber nur dieses sagen: gräme dich nicht, daß du auf den Viehhof verbannt worden bist, inder Verbannung ist es viel besser, nimm dich aber vor diesem schrecklichen Placon in acht ...«

Und sie holt aus dem Busentuch ein weißes Fläschchen und zeigt es mir.

Ich frage:

»Was ist das?«

Und sie antwortet:

»Trink es nicht: es ist Schnaps. Ich habe mich einmal nicht beherrschen können ... gute Menschen hatten es mir gegeben ... Jetzt kann ich ohne den Placon gar nicht leben ... Du aber enthalte dich, solange du kannst, und verurteile mich nicht, wenn ich ein wenig davon sauge, denn es ist mir gar zu weh ums Herz. Du sollst aber noch einen Trost im Leben erfahren: Gott hatihnschon von der Tyrannei erlöst ...«

Ich schrie auf: »Er ist tot!« und griff mich an die Haare. Ich erkenne meine Haare nicht: ganz weiß sind sie geworden ... Was ist das?

Und sie sagt mir:

»Erschrecke nicht, deine Haare sind dort, als man dich aus deinem Zopf befreite, weiß geworden; er aber lebt und ist von der Tyrannei erlöst: der Graf hat ihm eine Gnade erwiesen, die noch niemand erlebt hat. Wenn die Nacht kommt, werde ich dir alles erzählen, jetzt will ich noch ein wenig an meinem Placon saugen ... Das Herz brennt mir so ...«

Und sie sog solange daran, bis sie einschlief.

Nachts aber, als alle schon schliefen, stand Tantchen Drossida wieder auf, ging, ohne Licht zu machen, ans Fenster, sog wieder am Placon, versteckte ihn und fragte mich leise:

»Schläft der Gram oder schläft er nicht?«

Und ich antwortete:

»Der Gram schläft nicht.«

Sie kam an mein Bett und erzählte mir, daß der Graf den Arkadij nach der Züchtigung zu sich berufen und ihm gesagt habe:

»Du mußtest alles durchmachen, was ich für dich festgesetzt hatte. Da du mein Favorit warst, werde ich dir meine Gnade erweisen: morgen stecke ich dich unter die Soldaten. Da du aber meinen Bruder, den durchlauchtigsten Grafen, trotz seiner Pistolen nicht gefürchtet hast, will ich dir den Weg der Ehre eröffnen, — ich will nicht, daß du tiefer als auf der Stufe stehst, auf die du dich selbst mit deinem edlen Geiste gestellt hast. Ich will einen Brief schreiben, daß man dich sofort in den Krieg schickt, und du wirst nicht als gewöhnlicher Soldat, sondern als Sergeant kämpfen. Zeige nun deinen Mut. Und du stehst jetzt nicht mehr unter meinem Willen, sondern unter dem Willen des Zaren.«

»Jetzt hat er es leichter,« sagte Tantchen Drossida, »und hat nichts zu fürchten: jetzt droht ihm nur eine Gefahr: in der Schlacht zu fallen; die Tyrannei des Grafen ist er aber los.«

Ich glaubte ihr jedes Wort und träumte drei Jahre lang jede Nacht von Arkadij Iljitsch, wie er kämpfte.

So vergingen die drei Jahre, und Gott war mir gnädig: man schickte mich nicht mehr ans Theater, sondern ließ mich bei der Tante Drossida im Kälberstall als ihre Gehilfin. Hier hatte ich es gut, und die Frau tat mir sehr leid. Wenn sie nicht allzuviel getrunken hatte, erzählte sie mir nachts Geschichten, und ich hörte ihr gerne zu. Sie konntesich noch erinnern, wie der alte Graf von seinen eigenen Leuten erstochen worden war. Sein Kammerdiener war der Haupttäter gewesen, — die Leute hatten seine Grausamkeit einfach nicht länger ertragen können. Ich trank aber noch immer nicht und tat mit großer Freude die Arbeit für Tantchen Drossida: die Kälbchen waren mir wie Kinder. Ich hatte sie so lieb, daß, wenn man eines aus dem Stalle nahm, um es für den gräflichen Tisch zu schlachten, ich es beim Abschied bekreuzigte und dann drei Tage lang beweinte. Fürs Theater taugte ich nicht mehr, denn ich konnte nicht mehr richtig die Beine bewegen. Einst hatte ich einen wunderschönen leichten Gang; auf der Flucht mit Arkadij Iljitsch hatte ich mir wohl die Füße erkältet und hatte nicht mehr die einstige Kraft in den Spitzen. Ich kleidete mich in die gleiche blaue Leinwand wie Drossida, und Gott allein weiß, wie ich mein Leben beschlossen hätte. Aber eines Abends bei Sonnenuntergang, wie ich in der Stube sitze und Garn aufwickele, fliegt zum Fenster ein Steinchen herein, und das Steinchen ist in ein Papier eingeschlagen.

Ich schaue hin, ich schaue her, blicke zum Fenster hinaus, — niemand ist da.

»Jemand hat wohl den Stein aus der freien Welt hereingeworfen,« denke ich mir, »hat aber aus Versehen unser Fenster getroffen.« Und ich frage mich: »Soll ich das Papier aufmachen oder nicht?« Es ist wohl besser, daß ich es aufmache, denn es ist sicher etwas darauf geschrieben. Vielleicht eine wichtige Nachricht. Ich kann dasGeheimnis für mich behalten und den Stein mit dem Zettel demjenigen zuwerfen, für den er bestimmt ist.

Ich mache das Papier auf, beginne zu lesen, und traue meinen Augen nicht ...

Und ich lese:

»Meine treue Ljuba! Ich war im Kriege, habe für meinen Kaiser gefochten, habe mehr als einmal mein Blut vergossen und bin dafür mit dem Offiziersrang und dem Adel belohnt worden. Jetzt habe ich Urlaub zur Heilung meiner Wunden bekommen und wohne im Gasthofe in der Kanonier-Vorstadt. Morgen lege ich alle meine Orden und Kreuze an, gehe zum Grafen, gebe ihm mein ganzes Geld, die fünfhundert Rubel, die man mir zur Heilung meiner Wunden gegeben hat, und bitte ihn, dich freizulassen, in der Hoffnung, daß wir uns nun vor dem Altar des Höchsten trauen lassen können.«

— Und weiter hieß es in dem Briefe, — fuhr Ljubow Onissimowna mit unterdrückter Erregung fort: »Was aber die Schmach betrifft, die Sie über sich ergehen lassen mußten, so halte ich sie für ein bloßes Unglück und rechne sie Ihnen nicht als Sünde und Schwäche an. Gott allein mag Sie richten, ich aber empfinde Ihnen gegenüber nur Achtung.« Und der Brief ist unterschrieben: »Arkadij Iljin.«

Ljubow Onissimowna verbrannte den Brief sofort im Ofen, sagte keinem Menschen etwas davon, selbst der Alten nicht, und betete die ganze Nacht zu Gott. Sie betete aber nicht für sich, sondern nur für ihn: er war zwarOffizier, mit Wunden und Ehrenzeichen bedeckt, sie konnte sich aber gar nicht denken, daß der Graf ihn anders behandeln würde, als früher.

Sie fürchtete einfach, daß man ihn schlagen würde.

Am nächsten Morgen führte Ljubow Onissimowna die Kälbchen in aller Frühe in die Sonne und gab ihnen Milch und eingeweichte Brotrinden. Plötzlich hörte sie draußen, hinter dem Zaune, »in der Freiheit« viele Menschen rennen und laut sprechen.

— Was sie sprachen, — erzählte sie, — hörte ich nicht, aber ihre Worte schnitten mich wie Messer ins Herz. Der Mistführer Philipp kam gerade in den Hof gefahren, und ich fragte ihn:

»Filjuschka, Väterchen, hast du nicht gehört, worüber die Leute draußen sprechen?«

Und er antwortet:

»Sie gehen in die Kanonier-Vorstadt, wo in dieser Nacht der Gastwirt einen schlafenden Offizier erstochen hat. Er hat ihm die Kehle durchschnitten und fünfhundert Rubel von ihm geraubt. Man hat ihn schon ergriffen, er war ganz blutig und hatte noch das ganze Geld bei sich.«

Und wie er mir das sagt, falle ich wie tot zu Boden ...

So war es auch: der Wirt hatte meinen Arkadij Iljitsch erstochen ... und man beerdigte ihn hier, in diesem selben Grabe, auf dem wir jetzt sitzen ... Er liegt jetzt unter uns, in dieser Erde ... Darum führe ich ja euch immer hierher spazieren ... Ich habe gar keine Lust, dorthin zu schauen(sie zeigte mit der Hand auf die morschen Ruinen des Grafenhauses), möchte nur hier in seiner Nähe sitzen und ... einen Tropfen zu seinem Gedächtnis trinken ...

Ljubow Onissimowna hielt inne — sie war wohl mit ihrer Erzählung zu Ende — und holte aus der Tasche das Fläschchen und sog daran. Ich aber fragte sie:

»Wer hat denn den berühmten Toupetkünstler hier beerdigt?«

»Der Gouverneur, mein Liebling, der Gouverneur war selbst bei der Beerdigung dabei. Wie denn sonst? Er war doch Offizier, und der Geistliche und der Diakon nannten ihn bei der Totenmesse ‚der Edle Arkadij‘. Und als man den Sarg ins Grab versenkte, gaben die Soldaten blinde Schüsse in die Luft ab. Der Gastwirt wurde aber übers Jahr auf dem Iljinka-Platze vom Henker mit der Knute bestraft. Dreiundvierzig Knutenhiebe bekam er wegen Arkadij Iljitsch, blieb aber am Leben und kam mit gebrandmarktem Gesicht nach Sibirien. Alle unsere Leute, die gerade frei hatten, liefen hin, um zuzuschauen, und die Alten, die sich noch erinnerten, wie man den Mörder des alten Grafen bestraft hatte, sagten, daß dreiundvierzig Schläge viel zu wenig waren: Arkascha war eben von einfacher Abstammung; für den Grafen hatte man aber hundertundeinen Schlag gegeben. Nach dem Gesetz darf man ja keine gerade Zahl von Schlägen geben, es muß immer eine ungerade Zahl sein. Damals hatte man sich einen Henker aus Tula kommen lassen und ihm vorher drei Glas Rum zu trinken gegeben. Er hatte die erstenhundert Schläge nur zur Peinigung gegeben, so daß der Verbrecher immer noch am Leben blieb; mit dem hundertersten Schlag zerschmetterte er ihm aber das Rückgrat. Als man ihn vom Brette aufhob, war er schon halbtot ... Man deckte ihn mit einer Bastdecke zu und wollte ihn ins Zuchthaus bringen ... Unterwegs gab er den Geist auf. Der Henker aus Tula schrie aber noch: ‚Gebt mir noch jemand her, alle Leute von Orjol will ich totschlagen!‘«

»Nun, waren Sie auch selbst bei der Beerdigung?«

»Gewiß, wir alle waren dabei: der Graf hatte befohlen, daß man alle Leute vom Theater hinführt, damit sie sehen, wie weit es einer von den unsrigen bringen kann.«

»Haben Sie ihn auch im Sarge liegen sehen?«

»Gewiß! Alle gingen zum Sarge und nahmen von ihm Abschied ... Auch ich ging hin ... Er war so verändert, daß ich ihn gar nicht wiedererkannt hätte. So blaß und mager war er, — die Leute sagten, er hätte sein ganzes Blut verloren, weil ihn der Mörder um Mitternacht erstochen hat ... So viel Blut hat er verloren ...«

Sie hielt inne und wurde nachdenklich.

»Und Sie,« fragte ich, »wie haben Sie es überstanden?«

Sie erwachte gleichsam aus ihren Träumen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Wie es mir anfangs zumute war, weiß ich nicht mehr, ich weiß auch nicht, wie ich nach Hause kam ... Ich ging ja mit allen zusammen vom Friedhof fort, also hat mich wohl jemand geführt ... Am Abend sagte mir aber Drossida Petrowna:

‚So geht es nicht, du schläfst nicht und liegst wie ein Stein da. Das ist nicht gut! Du mußt weinen, damit das Herz einen Ausfluß hat.‘

Ich sage ihr drauf:

‚Ich kann nicht weinen, Tantchen, — mein Herz brennt wie eine Kohle und hat keinen Ausfluß.‘

Und sie antwortet:

‚Also kannst du dem Placon nicht mehr entgehen.‘

Sie schenkte mir aus ihrem Fläschchen ein und sagte:

‚Bisher habe ich dich davon zurückgehalten und es dir abgeraten. Jetzt ist aber nichts mehr zu machen: sauge daran und lösche die Kohle.‘

Ich ihr drauf: ‚Ich habe keine Lust.‘

‚Närrchen,‘ sagt sie mir, ‚kein Mensch hat anfangs Lust dazu. Der Gram ist bitter, und das Gift ist noch bitterer. Wenn man die Kohle mit diesem Gift begießt, erlischt sie für eine Weile. Saug schnell daran!‘

Ich trank den ganzen Placon auf einmal aus. Es war mir widerlich, ich konnte aber anders nicht einschlafen. Und so war es auch in der nächsten Nacht ... Heute kann ich ohne ihn nicht mehr auskommen. Habe mir selbst einen Placon angeschafft und kaufe mir Schnaps ... Und du, liebes Kind, sag der Mama nichts davon: du sollst die einfachen Menschen niemals verraten, du sollst mit ihnen Mitleid haben, denn sie sind alle Dulder. Und wenn wir jetzt nach Hause gehen, werde ich gleich an der Ecke ans Fenster der Schenke klopfen ... Wir werden nicht hineingehen, ich werde nur den leeren Placon abgeben, und man wird mir einen neuen durchs Fenster reichen.«

Ich war gerührt und versprach ihr, keinem Menschen von ihrem Placon zu erzählen.

»Ich danke dir, Lieber, — sag es niemand: denn ich muß ihn haben.«

Ich sehe sie auch heute noch vor mir: jede Nacht, wenn alle im Hause schlafen, steht sie von ihrem Bette auf, so leise, daß kein Knöchelchen knackt, sie lauscht und schleicht auf ihren langen erkälteten Beinen zum Fenster ... Sie steht eine Weile da, sieht sich um und lauscht wieder, ob meine Mutter nicht aus dem Schlafzimmer kommt; dann höre ich den Hals des »Placons« gegen ihre Zähne klappern ... Sie nimmt einen Schluck, einen zweiten und einen dritten ... So hat sie die Kohle für eine Zeitlang gelöscht und eine Totenfeier für ihren Arkascha abgehalten. Und dann schlüpft sie wieder unter die Decke, und ich höre sie nur leise mit der Nase pfeifen. Sie schläft!

Eine schrecklichere und herzzerreißendere Totenfeier habe ich noch nicht erlebt.

(Aus dem Nachlaß)

»Jedes Mädchen steht moralisch höher, als der Mann, weil sie unvergleichlich reiner ist. Ein Mädchen, das geheiratet hat, steht immer höher, als ihr Mann. Sie steht höher als er, als Mädchen und auch als Frau in unserm Leben.«L. Tolstoi.

»Jedes Mädchen steht moralisch höher, als der Mann, weil sie unvergleichlich reiner ist. Ein Mädchen, das geheiratet hat, steht immer höher, als ihr Mann. Sie steht höher als er, als Mädchen und auch als Frau in unserm Leben.«L. Tolstoi.

»Jedes Mädchen steht moralisch höher, als der Mann, weil sie unvergleichlich reiner ist. Ein Mädchen, das geheiratet hat, steht immer höher, als ihr Mann. Sie steht höher als er, als Mädchen und auch als Frau in unserm Leben.«

L. Tolstoi.

Man begrub Fjodor Michailowitsch Dostojewskij. Das Wetter war rauh und trübe. Ich fühlte mich an diesem Tage krank und vermochte dem Sarge nur mit Mühe bis zum Tor des Newskij-Klosters zu folgen. Vor dem Tor herrschte ein großes Gedränge. In der Menge hörte man Stöhnen und Schreien. Auf einer Erhöhung erschien der Dramendichter Awerkijew und schrie irgendetwas. Er hatte eine laute Stimme, aber man konnte seine Worte nicht verstehen. Die einen sagten, er wolle Ordnung schaffen, und lobten ihn dafür, die anderen ärgerten sich über ihn. Ich war unter denen, die keinen Einlaß gefunden hatten, und da ich keinen Sinn sah, noch länger hier zu bleiben, ging ich nach Hause, trank heißen Tee und schlief ein. Von der Kälte und den verschiedenartigen Eindrücken fühlte ich mich sehr müde. Ich schlief lange und so fest, daß ich zum Mittagessen nicht aufstand. So kam ich an jenem Tage nicht dazu, zu Mittag zu essen, weil zu der Summe verschiedenartiger Eindrücke noch ein neuer, unerwarteter hinzu kam, der mich äußerst erregte.

In der späten Dämmerung weckte mich mein Mädchen und sagte, daß eine unbekannte Dame gekommen sei, die nicht weggehen wolle und beharrlich bitte, ich möge sie empfangen. Damenbesuche bei unsereinem, einem bejahrtenSchriftsteller sind eine ganz gewöhnliche Sache. Zahlreiche Damen und Mädchen kommen zu uns, um sich mit uns über ihre literarischen Versuche zu beraten oder uns um unsere Unterstützung beim Unterbringen ihrer Erzeugnisse bei ihnen unbekannten Redaktionen zu bitten. Deshalb kamen mir der Besuch der Dame und ihre Hartnäckigkeit durchaus nicht erstaunlich vor. Wenn das Leid groß ist und die Not nicht weichen will, ist es nicht verwunderlich, wenn man hartnäckig wird.

Ich sagte dem Mädchen, sie solle die Dame ins Arbeitszimmer bitten, und machte mich zurecht. Als ich mein Kabinett betrat, brannte auf dem großen Tische die Arbeitslampe. Ihr heller Schein beleuchtete nur ihn und ließ das Zimmer im Halbdunkel. Die unbekannte Dame, die mich diesmal besuchte, war mir in der Tat nicht bekannt.

Als ich sie genauer betrachtete und sie bitten wollte, im Sessel Platz zu nehmen, schien es mir, als wiche sie den erleuchteten Zimmerstellen aus und trachte danach, im Schatten zu bleiben. Das kam mir sonderbar vor. Auf solche Weise zieren und genieren sich manchmal schüchterne, ungewandte Leute, aber am sonderbarsten erschien mir die bevorzugte gesellschaftliche Stellung der Dame, die sich mir irgendwie fühlbar mitteilte. Sie war entzückend gekleidet, ganz einfach, aber alles an ihr war kostspielig und elegant: der reizende Plüschmantel, den sie nicht im Vorzimmer abgelegt hatte und während unseres ganzen Gespräches anbehielt; das elegante schwarze Hütchen, anscheinend kein russisches Erzeugnis, sondern Pariser Modell, der hinten geknotete schwarze Schleier, durch dessen doppeltes Netz ich nur das weiße, runde Kinn und manchmal das Aufleuchten der Augen sehen konnte. Stattmir ihren Namen und den Zweck ihres Besuches zu sagen, begann sie mit folgenden Worten:

»Darf ich darauf rechnen, daß Sie sich für meinen Namen nicht interessieren werden?«

Ich antwortete ihr, daß sie durchaus darauf rechnen dürfe. Darauf bat sie, ich möchte mich auf den Stuhl vor der Lampe setzen, und schob dann ungeniert den grünen Taftschirm an der Lampenglocke so zurecht, daß das ganze Licht auf mich fiel und ihr Gesicht im Schatten blieb. Dann setzte sie sich selbst an das andere Ende des Tisches und fragte von neuem:

»Sie haben keine Familie?«

Ich antwortete, sie irre sich nicht, ich sei alleinstehend.

»Kann ich ganz offen mit Ihnen sprechen?«

Ich antwortete, daß, wenn sie Vertrauen zu mir habe, ich keinen Grund sähe, der sie hindern könnte, zu sprechen, wie es ihr beliebe.

»Wir sind hier allein?«

»Ganz allein!«

Die Dame stand auf und machte zwei Schritte in der Richtung gegen das anstoßende Zimmer, in dem sich meine Bibliothek befand und hinter dem mein Schlafzimmer lag. In der Bibliothek brannte eine matte Lampe, bei deren Schein man das ganze Zimmer überschauen konnte. Ich rührte mich nicht von der Stelle, sagte aber zur Beruhigung der Dame, sie sähe doch selbst, daß bei mir niemand sei, außer der Bedienung und einer kleinen Waise, die bei ihren Erwägungen keinerlei Rolle spielen könnten. Hierauf setzte sie sich von neuem auf ihren Platz, rückte wieder an dem grünen Schirm und sagte:

»Sie entschuldigen mich, ich bin in großer Erregung ...,und mein Benehmen mag sonderbar erscheinen, aber haben Sie Mitleid mit mir!«

Ihre Hand, die sie wieder zu dem Taftschirm der Lampe erhoben hatte, stak in einem schwarzen Glacéhandschuh und zitterte heftig. Statt zu antworten, bot ich ihr Wasser an. Sie hielt mich zurück und sagte:

»Es ist nicht nötig, ich bin nicht so nervös, ich bin zu Ihnen gekommen, weil dieses Begräbnis, diese Menschenketten ..., dieser Mensch, der auf mich einen so außergewöhnlich starken, zwingenden Eindruck gemacht hat, dieses Gesicht und die Erinnerung an all das, was ich zweimal im Leben erzählen mußte, alle meine Gedanken verwirrt haben. Wundern Sie sich nicht, daß ich zu Ihnen gekommen bin. Ich werde Ihnen erzählen, warum ich es getan habe; es macht nichts, daß wir einander nicht kennen: ich habe viel von Ihnen gelesen, und vieles war mir so sympathisch, so verwandt, daß ich es mir nicht versagen kann, mit Ihnen zu sprechen. Vielleicht ist das, was ich vorhabe, eine ganz große Dummheit. Ich will Sie vorher fragen, und Sie müssen mir aufrichtig antworten. Was Sie mir raten, das werde ich tun.«

Ihre tiefe Altstimme bebte, und ihre Hände, für die sie keinen Platz fand, zitterten.

Besuche und Anliegen dieser Art waren im Laufe meines literarischen Lebens, wenn auch nicht gerade häufig, kamen aber doch vor.

Am häufigsten waren es Menschen mit politischem Temperament, die ziemlich schwer zu beruhigen sindund denen zu helfen doppelt riskant und unangenehm ist, um so mehr, als man in solchen Fällen fast nie weiß, mit wem man es zu tun hat. Auch diesmal ging mir zuerst durch den Kopf, die Dame möge von politischen Leidenschaften umstürmt sein und habe irgendetwas vor, was sie unglücklicherweise mir anvertrauen wolle. Die Einleitung klang ganz danach, und darum sagte ich unangenehm berührt:

»Ich weiß nicht, worüber Sie sprechen werden. Ich wage nicht, Ihnen etwas zu versprechen, aber wenn Ihre eigenen Gefühle Sie hergeführt haben, in dem Vertrauen, das Ihnen mein Leben und mein Ruf einflößen, so werde ich keinenfalls Mißbrauch davon machen, was Sie mir anscheinend als Geheimnis anvertrauen wollen.«

»Ja,« sagte sie, »als Geheimnis, als absolutes Geheimnis, und ich bin überzeugt, daß Sie es für sich behalten werden. Ich brauche Ihnen nicht zu wiederholen, warum es geheim bleiben muß. Ich weiß, daß Sie es fühlen, ich kann mich nicht täuschen; Ihr Gesicht sagt es mir deutlicher als alle Worte, und zudem habe ich keine andere Wahl. Ich wiederhole Ihnen, daß ich bereit bin, eine Handlung zu begehen, die mir in diesem Augenblick ehrenhaft erscheint, und doch gleich wieder als eine Taktlosigkeit: die Wahl muß sofort getroffen werden, in diesem Augenblick, sie hängt von Ihnen ab.«

Ich zweifelte nicht, daß hierauf ein politisches Geständnis folgen würde, und sagte unwillig:

»Ich höre zu.«

Trotz des doppelten Schleiers fühlte ich den aufmerksamen Blick meines Gastes auf mir ruhen, sie sah mich unverwandt an und sagte fest:

»Ich bin eine ungetreue Frau! Ich betrüge meinen Mann.«

Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß mir bei diesem Geständnis eine schwere Last vom Herzen fiel; von Politik war anscheinend kein Gedanke.

»Ich betrüge meinen prächtigen, gütigen Mann. Und das sind nun sechs, ... nein, mehr! ..., ich muß die Wahrheit sagen, sonst lohnt es sich nicht, zu sprechen ... es sind jetzt acht Jahre her ... und dauert noch an ... Es begann im dritten Monat meiner Ehe. Etwas schmählicheres gibt es in der Welt nicht. Ich bin nicht alt, aber ich habe Kinder, verstehen Sie?«

Ich nickte zustimmend mit dem Kopfe.

»Sie verstehen, was das heißt. Zweimal in meinem Leben kam ich, wie zu Ihnen, zu ihm, den wir heute begraben haben und dessen Tod mich ganz durchwühlt, und gestand ihm, was mich bewegte. Einmal behandelte er mich barsch, das andere Mal zart, wie ein Freund. Wenn ich jetzt auch nicht mehr in der Verfassung bin, in der ich zu ihm kam, so bitte ich Sie schließlich doch, mir den Rat zu geben, den ich brauche. Das schlimmste im Leben ist der Betrug, und ich glaube zu fühlen, daß es besser ist, seine Niedrigkeit zu bekennen, die Strafe zu tragen, demütig und zerknirscht auf die Straße geworfen zu sein, — ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird, — aber ich fühle das unbezwingbare Verlangen, hinzugehen und meinem Manne alles zu erzählen. Ich fühle dieses Bedürfnis seit sechs Jahren. Nach dem Beginn meines Verbrechens waren zwei Jahre vergangen, wo ich ihn nicht sah. Dann begann es von neuem, wie früher. Sechs Jahre habe ich den Vorsatz, es zu sagen, und habe es doch nichtgesagt, aber heute, als ich dem Sarge Dostojewskijs folgte, beschloß ich ein Ende zu machen und zwar so, wie Sie mir raten werden.«

Da ich die Geschichte nicht verstanden hatte, schwieg ich und konnte ihr durchaus keinen Rat erteilen. Sie sah es an meinem Gesichtsausdruck.

»Sie müssen natürlich mehr wissen. Ich bin nicht gekommen, um Rätsel aufzugeben, sondern um zu sprechen, um alles auszusprechen. Ich müßte schamlos lügen, wenn ich mich rechtfertigen wollte. — Ich habe niemals Not gekannt, ich bin im Wohlstand geboren und lebe im Wohlstand. Die Natur hat mir meinen Anteil Verstand nicht versagt. Man gab mir eine gute Bildung, und ich hatte die Freiheit, meinen Ehegenossen selbst zu wählen, — ich brauche darüber keine Worte zu verlieren. Ich heiratete einen Mann, der bis zur Stunde seinen guten Ruf mehr als bewahrt hat. Meine Lage war vortrefflich, als dieser Mensch, das heißt, ich wollte sagen, mein legitimer Gatte, mir seinen Antrag machte. Mir schien es, als gefalle er mir, und ich glaubte, daß ich ihn lieben könne; keinenfalls dachte ich, daß ich ihn betrügen würde, ihn auf die niedrigste Weise betrügen, dabei aber den Ruf einer ehrenhaften Frau und guten Mutter genießen würde, während ich keine anständige, ja vielleicht eine niederträchtige Mutter bin. Zu dem Betrug hat mich der Teufel selbst gebracht: wenn Sie wollen, glaube ich an den Teufel ... Im Leben hängt so viel von den Umständen ab. Man sagt, in den Städten sei viel Schmutz, auf dem Lande dagegen Reinheit: aber es war auf dem Lande geschehen, wo ich mit diesem Menschen, mit diesem verfluchten Menschen allein zusammen war, den mein Mann selbstzu mir gebracht und meiner Sorge überlassen hatte. Wenn Reue nicht nutzlos wäre, so müßte ich bereuen, müßte endlos diese Tat bereuen, die ich meinem Manne zu verdanken habe. Aber die Sache trug sich so zu, daß ich mich nicht an den Augenblick erinnere, ich erinnere mich nur an ein Gewitter, an eines der schrecklichen Gewitter, die ich seit meiner Kindheit immer gefürchtet habe. Ich liebte ihn damals nicht, ich hatte einfach Angst, und als uns in dem großen Saale ein Blitz erhellte, ergriff ich seine Hand ... Später, ich habe keine Erinnerung daran, ging es weiter. Dann machte er eine Weltreise, kehrte zurück, und es begann von neuem: aber jetzt will ich, daß es ein Ende nehme, und diesmal für immer. Ich wollte es schon mehrmals, aber nie reichte mein Wille aus, es zu ertragen. Die Entschlüsse, die ich gefaßt hatte, verflogen immer eine Stunde nach seinem Erscheinen, und das Schlimmste ist, — ich will nichts verheimlichen, — daß nicht er, sondern ich die Ursache war: ich selbst sagte und erreichte es und ärgerte mich, wenn es mir schwer fiel, es zu erreichen, — und wenn ich dies weiter fortsetze, so wird der Betrug, meine Erniedrigung niemals ein Ende haben ...«

»Was wollen Sie nun tun?« fragte ich.

»Ich will meinem Manne alles bekennen, ich will es unbedingt noch heute tun, wenn ich von Ihnen nach Hause komme.«

Ich fragte sie, wie ihr Mann sei und was für einen Charakter er habe.

»Mein Mann,« antwortete die Dame, »genießt den besten Ruf, hat einen guten Posten und ist ziemlich bemittelt; alle halten ihn für einen ehrenwerten und edlen Menschen.«

»Und Sie teilen diese Meinung?« fragte ich.

»Nicht ganz, man schreibt ihm zu viel zu. Er ist allzu verständig und ordentlich, aber er hat wenig von dem, was man Herz nennt, so ungeschickt diese Bezeichnung auch ist, die an die sogenannte Seelenharmonie erinnert, aber ich kann es nicht anders sagen. Seine Herzensregungen sind abgezirkelt, geregelt, korrekt und eintönig.«

»Und jener, den Sie lieben?«

»Was wollen Sie über ihn wissen?«

»Flößt er Ihnen Achtung ein?«

»Oh!« rief die Dame und machte eine Bewegung mit der Hand.

»Ich verstehe nicht ganz, was ich von dieser Bewegung denken soll?«

»Sie sollen denken, daß er der herzloseste, elendeste Egoist ist, der niemand irgendwelche Achtung einflößt, sich nicht einmal die Mühe gibt, es zu tun.«

»Sie lieben ihn?«

Sie zuckte die Achseln und sagte:

»Ich liebe ihn. Wissen Sie, es ist ein seltsames Wort, das auf aller Lippen ist und das nur sehr wenige verstehen. Lieben ist dasselbe, wie zur Poesie bestimmt sein, oder zur Rechtschaffenheit. Nur sehr wenige sind zu diesem Gefühle befähigt. Unsere Bäuerinnen gebrauchen an Stelle des Wortes lieben das Wort bemitleiden, und sagen nicht: er liebt mich, sondern: er bemitleidet mich. Dies ist, meiner Ansicht nach, eine viel bessere und auch viel einfachere Erklärung. Das Wort lieben-bemitleiden heißt eben lieben im alltäglichen Sinne. Und dann gibt es noch: sich sehnen. Man sagt: mein Ersehnter, mein lieber Ersehnter ... verstehen Sie, — sich sehnen ...«

Sie hielt inne und atmete schwer. Ich reichte ihr ein Glas Wasser, das sie diesmal aus meinen Händen nahm und sich dabei nicht fortwandte, aber sie war anscheinend dankbar, daß ich sie nicht genauer anblickte.

Wir schwiegen beide. Ich wußte nicht, was zu sagen, und in ihr war anscheinend der Strom der Aufrichtigkeit versiegt. Sichtlich hatte sie alles Wesentliche gesagt, es konnten nur mehr Details folgen. Sie erriet meinen Gedanken genau und sagte mit leiser Stimme:

»Nun denn, wenn Sie mir raten, daß ich es meinem Manne gestehen soll, so werde ich es tun, aber vielleicht können Sie mir etwas anderes sagen? Abgesehen von dem, was mir an Ihnen Sympathie und Vertrauen einflößt, haben Sie auch Erfahrung, ich bin Ihre aufmerksame Leserin. Wir Frauen fühlen auch das, was die berufsmäßigen Kritiker nicht fühlen. Sie können, wenn Sie wollen, Ihre aufrichtige Meinung sagen: soll oder soll ich nicht zu meinem Manne gehen und ihm meine schmachvolle, langjährige Sünde gestehen?«

Wie interessant diese Geschichte auch war, ich fühlte doch meine schwierige Lage. Wenn es auch viel leichter wäre, eine solche Antwort zu geben, wie sie mein Gast forderte, als einen politisch Tätigen zu beruhigen, oder ihm einen gewünschten Dienst zu erweisen, so fühlte ich doch mein Gewissen hier zu einer sehr ernsten Entscheidung berufen. Ich hatte lange genug gelebt und genug Frauen gesehen, die ihre Sünden dieser Art kunstvoll zu verbergen wußten, oder, wenn sie sie nicht verbargen,sie doch nicht eingestanden. Ich habe auch zwei oder drei aufrichtige Frauen gekannt und entsinne mich, daß sie mir weniger wahrheitsliebend, als grausam und affektiert erschienen. Ich fand dabei immer, daß die Frau mit ihrer ganzen Aufrichtigkeit voreilig sei und daß sie sich es ordentlich überlegen solle, bevor sie ihr Verbrechen dem mitteilt, dem sie damit vielleicht schweres Leid zufügt. Ich kümmerte mich niemals darum, wie sich die Welt zu dem Innenleben des Einzelnen verhält. Nicht die Welt, sondern der Mensch selbst ist mir teuer, und wenn ein Leid nicht unbedingt verursacht werden muß, warum es dann tun? Wenn die Frau eben solch ein Mensch ist, wie der Mann, ein gleichberechtigtes Glied der Gemeinschaft, und ihr dieselben Empfindungen zugänglich sind, dasselbe menschliche Gefühl wie dem Manne, was auch Christus sagt und was die Besten meines Jahrhunderts gesagt haben, was jetzt auch Leo Tolstoi sagt und worin ich eine unumstößliche Wahrheit fühle, — weshalb kann dann die Frau nicht dasselbe tun, wie der Mann, der dasGelübde der Keuschheit der Frau gegenüber, der er durch Treue verbunden ist, bricht und schweigt, schweigt, obwohl er sein Vergehen fühlt und dadurch manchmal die ganze Unwürdigkeit seiner Verfehlungen fast ungeschehen macht? Ich bin überzeugt, daß die Frau es ebenso tun kann. Zweifellos übersteigt die Zahl der Männer, die ihren Frauen untreu sind, die Zahl der untreuen Frauen, und die Frauen wissen es. Es gibt nicht eine, oder kaum eine Frau, die nach einer mehr oder weniger langen Trennung von ihrem Manne die Überzeugung hätte, daß der Mann ihr während dieser Trennung treu geblieben sei. Dessen ungeachtet vergibt sie ihmnach seiner Rückkehr großmütig. Die Vergebung drückt sich darin aus, daß sie gar nicht danach fragt, und seine Aufrichtigkeit würde für sie keinen Dienst, sondern eine Kränkung bedeuten. Es wäre eine Handlung, durch die etwas an den Tag gebracht wird, was sie gar nicht wissen will. In der Ungewißheit findet sie die Kraft, ihre Beziehungen fortzusetzen, als seien sie nur versehentlich unterbrochen gewesen. Ich sehe ein, daß in meinen Betrachtungen mehr praktischer Sinn steckt, als abstrakte Philosophie oder hohe Moral, aber ich bin trotzdem geneigt, so zu denken, wie ich eben denke.

In dieser Richtung setzte ich also die Unterhaltung mit meinem Gaste fort und fragte:

»Die schlechten Eigenschaften des Menschen, den sie lieben, flößen Ihnen doch Verachtung ein?«

»Eine sehr starke und beständige.«

»Aber Sie geben sich doch die Mühe, ihn manchmal zu rechtfertigen?«

»Zu meinem Bedauern ist das unmöglich: es gibt für ihn keine Rechtfertigung.«

»Dann erlaube ich mir die Frage: wie steht es mit Ihrer Entrüstung über ihn? Bleibt sie stets gleich, oder nimmt sie manchmal ab und manchmal zu?«

»Sie wird immer stärker.«

»Nun will ich Sie fragen, — Sie erlauben doch, daß ich Sie frage?«

»Bitte sehr.«

»Wo befindet sich jetzt Ihr Mann, während Sie bei mir sitzen?«

»Zu Hause.«

»Was tut er?«

»Er schläft in seinem Zimmer.«

»Und dann, wenn er aufsteht?«

»Er steht um acht Uhr auf.«

»Und was tut er dann?«

Mein Gast lächelte.

»Er wird sich waschen, sich anziehen, zu den Kindern gehen und mit ihnen eine halbe Stunde spielen, dann bringt man den Samowar, aus dem ich ihm ein Glas Tee einschenke.«

»So,« sagte ich, »ein Glas Tee, der Samowar, die Hauslampe, das sind prächtige Dinge, bei denen wir bleiben wollen.«

»Gut gesagt.«

»Und das verläuft mehr oder weniger — angenehm?«

»Für ihn schon, glaube ich.«

»Verzeihen Sie, in dieser Angelegenheit, die Sie die Liebenswürdigkeit hatten, mir aufzudecken, hat er allein Recht auf Rücksicht, — nicht die Kinder, die niemals etwas erfahren sollen, und schließlich auch nicht Sie. Nein, auch Sie nicht, da Sie ihm das Leid zugefügt haben, während er der leidende Teil ist. Deshalb muß man an ihn denken, daß er nicht leide; nun stellen Sie sich vor, daß er, statt seiner Gewohnheit gemäß, Tee zu trinken und vielleicht respektvoll Ihre Hand zu küssen ...«

»Nun?«

»... Und dann an seine Geschäfte zu gehen, zu Abend zu essen und Ihnen eine gute Nacht zu wünschen, — stellen Sie sich vor, wenn er statt dessen Ihr Geständnis hört, aus dem er erfährt, daß sein ganzes Leben vom ersten Monat an, oder vielleicht sogar vom ersten Tag der Ehe an in einen derartig sinnlosen Rahmen gestellt war?Sagen Sie, erweisen Sie ihm damit einen guten oder schlechten Dienst?«

»Ich weiß es nicht. Wenn ich das wüßte, wenn ich diese Entscheidung treffen könnte, so wäre ich nicht hier und würde nicht darüber sprechen. Ich frage Sie um Rat, was ich tun soll.«

»Einen Rat kann ich Ihnen nicht geben, aber ich kann Ihnen die Meinung sagen, die ich mir gebildet habe. Aber damit sie in meinen Augen eine bestimmte Form annimmt, erlaube ich mir an Sie eine Frage zu richten: ... Die Gefühle bleiben im Menschen nie in ein und der selben Stärke ... Vermindert sich ihre Abneigung gegen jenen?«

»Nein, sie verschärft sich.«

Sie schrie es förmlich aus ihrem wehen Herzen, ja, sie schien aufspringen zu wollen, um etwas aus dem Wege zu gehen, was ich in meiner Vorstellung sah. Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, fühlte ich, daß sie entsetzlich litt und daß ihr Schmerz einen Grad erreicht hatte, dem eine Entspannung folgen mußte.

»Folglich«, sagte ich, »verurteilen Sie ihn immer strenger ...«

»Ja, immer mehr und mehr.«

»Schön«, sagte ich, »jetzt erlaube ich mir Ihnen zu sagen, daß ich es für das Verständigste hielte, wenn Sie sich, nach Hause zurückgekehrt, an Ihren Samowar setzen würden, wie bisher.«

Sie hörte schweigend zu. Ihre Augen waren auf mich gerichtet, ich sah sie durch den Schleier glänzen und hörte ihr Herz laut und schnell schlagen.

»Sie raten mir, mein Schweigen fortzusetzen?«

»Ich rate Ihnen nicht, aber ich denke, daß es für Sie, für ihn und für Ihre Kinder das Beste wäre.«

»Aber warum das Beste? Das heißt doch, es endlos in die Länge ziehen?«

»Darum das Beste, weil durch die Offenheit alles nur schlimmer werden würde, und diese Endlosigkeit würde noch trauriger sein, als jene, von der Sie sprachen.«

»Meine Seele würde durch das Leiden geläutert werden.«

Mir schien, als sähe ich ihre Seele: sie war lebendig und triebhaft, aber keine von jenen, die vom Leide geläutert werden. Deshalb sagte ich nichts mehr über ihre Seele, sondern erwähnte wieder die Kinder.

Sie rang die Hände, daß die Finger knackten, und senkte langsam den Kopf.

»Und was wird das Ende dieses Liedes sein?«

»Ein gutes Ende.«

»Auf was hoffen Sie?«

»Darauf, daß Ihnen dieser Mensch, den Sie lieben, oder, Ihren Worten nach, nicht lieben, aber an den Sie sich gewöhnt haben, von Tag zu Tag verhaßter werden wird.«

»Ach, er ist mir schon so verhaßt.«

»Er wird es noch mehr werden, und dann ...«

»Ich verstehe Sie.«

»Ich bin sehr froh darüber.«

»Sie wollen, daß ich ihn schweigend fallen lasse?«

»Ich glaube, daß dies der glücklichste Ausweg aus Ihrem Leid wäre.«

»Und dann ...«

»Und dann werden Sie alles wieder gut machen ...«

»Wieder gut machen ... Das ist unmöglich.«

»Verzeihen Sie, ich wollte damit sagen, Sie werden ihre Sorgfalt für Ihren Mann und Ihre Kinder verdoppeln. Das wird Ihnen die Kraft geben, die Vergangenheit nicht zu vergessen, sondern die Erinnerung an das Vergangene zu bewahren und darüber genügend Anlaß zu finden, für andere zu leben.«

Sie stand auf, stand unerwartet auf, zog ihren Schleier noch tiefer, streckte mir die Hand entgegen und sagte:

»Ich danke Ihnen, ich bin froh, daß ich meinem inneren Gefühl gefolgt habe, das mir riet, zu Ihnen zu gehen, nachdem mich der schreckliche Eindruck der Beerdigung so erregt hatte. Ich kam von ihr wie eine Verrückte nach Hause, und wie gut ist es, daß ich nichts von all dem getan habe, was ich tun wollte. Leben Sie wohl.« Sie gab mir wieder die Hand und drückte sie so fest, als wolle sie mich auf dem Platze zurückhalten, auf dem wir standen. Dann verneigte sie sich und ging.

Ich wiederhole, daß ich das Gesicht dieser Frau nicht gesehen habe; nur nach dem Kinn und dem durch den Schleier, wie durch eine Maske verhüllten Gesicht zu urteilen war schwierig, aber von ihrer Gestalt hatte ich, trotz des Plüschmantels und des Hütchens, den Eindruck von etwas Graziösem. Es war eine elegante, leichte Gestalt, die einen ungewöhnlich lebhaften und starken Eindruck in meinem Gedächtnis hinterließ.

Ich hatte diese Dame bisher noch nirgends getroffen, und auch der Stimme nach war sie mir unbekannt. Siesprach mit ihrer unverstellten Stimme, einem klangvollen, tiefen, sehr angenehmen Alt. Ihre Bewegungen waren elegant, man konnte annehmen, daß sie den hohen Gesellschaftskreisen angehörte, ja, noch genauer, dem höchsten Beamtenkreis, daß sie die Frau eines Direktors oder Vize-Direktors eines Departements war, oder etwas in dieser Art. Mit einem Wort, die Dame war und blieb mir unbekannt.

Seit dem BegräbnisDostojewskijs und der von mir erzählten Begebenheit waren drei Jahre vergangen. In diesem Winter war ich erkrankt und im Frühjahr darauf reiste ich in ein ausländisches Bad. Ein Freund und eine meiner Verwandten begleiteten mich zum Bahnhof. Wir fuhren in einem Wagen, ich hatte mein Gepäck bei mir. An der Kreuzung einer der in den Newskij-Prospekt mündenden Straßen vor der Auffahrt eines großen staatlichen Gebäudes erblickte ich eine Dame. Trotz meiner Kurzsichtigkeit erkannte ich in ihr meine Unbekannte. Ich war ganz unvorbereitet, dachte gar nicht an sie, und deshalb frappierte mich diese auffallende Ähnlichkeit. Mich durchzuckte der ungeschickte Gedanke, aufzustehen, an sie heranzutreten, sie etwas zu fragen, aber da fremde Leute dabei waren, tat ich es zum Glück nicht und rief nur aus:

»Bei Gott, das ist sie!« und gab damit meinen Begleitern Anlaß zur Heiterkeit. Sie war es in der Tat gewesen.

Nach der Gewohnheit aller Russen, oder wenigstens der meisten Russen machte ich eine Rundreise. Zunächst fuhr ich nach Paris, im Juli trank ich Heilquellen, und erst später im August, erschien ich dort, wo ich im Juni hätte sein sollen. Ich lernte bald die übrigen dort zur Kurweilenden Russen kennen und kannte schließlich fast alle, so daß mir die Ankunft neuer Landsleute auffiel. Als ich eines Tages auf einer Parkbank saß, an der die Straße zum Bahnhof vorüberführte, erblickte ich eine Kalesche, in der ein Herr in hellem Überzieher und Hut, eine Dame mit Schleier und ihnen gegenüber ein neunjähriger Knabe saßen.

Und wieder geschah mir dasselbe, wie bei meiner Abreise aus Petersburg:

»Mein Gott, das ist sie!«

Sie war es in der Tat.

Am anderen Tage im Parkhotel sah ich beim Kaffee ihren wohlanständig, aber etwas abgelebt aussehenden Mann und ihr ungewöhnlich schönes Kind. Der Knabe hatte etwas Zigeunerhaftes, er war gebräunt, hatte schwarze Locken und große, himmelblaue Augen.

Ich erlaubte mir eine kleine Keckheit und bestach den Kellner, damit er mir einen Tisch in ihrer Nähe gäbe. Ich wollte ihr Gesicht näher betrachten. Sie war hübsch und hatte weiche, angenehme Züge, die aber einen etwas unbedeutenden Ausdruck zeigten. Sie erkannte mich zweifelsohne und gab sich zwei, dreimal Mühe, sich so zu setzen, daß ich sie nicht beobachten könne. Später stand sie auf und blieb neben einer mir bekannten Dame stehen, sprach mit ihr und ging darauf zu ihrem Manne zurück.

Abends, nach dem Nachtischkaffee, sagte mir meine Bekannte, an die die Dame herangetreten war, daß sie mich Frau N. vorstellen wolle, welche eben an uns vorüberging, was sie auch gleich tat. Ich sagte ihr eine herkömmliche Phrase, die sie mit ebenso herkömmlichenWorten beantwortete, aber an diesen Worten, an dieser Stimme, an ihren Bewegungen erkannte ich sie wieder. Sie war eszweifellos, und sie war klug genug, zu begreifen, daß ich sie erkannt hatte; trotzdem entschloß sie sich, meine Bekanntschaft zu machen. Sie konnte mit meiner Anständigkeit rechnen und auf das Versprechen, das ich ihr damals gegeben hatte, bauen.

Seit der Zeit trafen wir uns und unternahmen sogar einige gemeinsame Ausflüge mit bekannten Damen und mit ihrem Sohne. Ihr Mann liebte diese Unternehmungen nicht, er hatte Schmerzen im Knie und hinkte leicht. Ich hatte keine Vorstellung davon, was mit ihm vorging: entweder war ihm seine Frau lästig, oder er wollte frei sein und sich einer, vielleicht mehr als einer der zugereisten Damen zweifelhaften Rufes widmen.

Aber bei allen unseren Begegnungen und Gesprächen machte sie nie eine Andeutung, daß wir uns schon früher gesehen hätten. Doch ich fühlte wohl, wie wir es beide für zweifellos hielten, daß wir einander verstünden. In dieser Situation trat mit einem Male ein ganz unvorhergesehener Fall ein.

An einem prächtigen Morgen war sie nicht erschienen, um ihren Mann zum Brunnen zu begleiten. Er war auch beim Kaffee allein und erzählte, daß ihr Anatol erkrankt sei und daß seine Frau vor Kummer außer sich wäre.

Um acht Uhr abends brachte mir mein Portier die erschreckende Nachricht, daß in einem der Hotels ein Kind an Diphtherie gestorben sei. Es war natürlich der Sohn meiner Unbekannten.

Ich gehöre nicht zu den überängstlichen Menschen, nahm daher gleich meinen Hut und ging in das Hotel.Mir schien aus irgendeinem Grunde, daß sich ihr Gemahl allzu teilnahmslos verhalte, und dachte, wenn das kranke Kind ihr Sohn sei, könne ihr vielleicht meine Hilfe oder mein Beistand dienlich sein.

Ich kam in ihr Hotel. Niemals werde ich vergessen, was ich dort sah. Sie hatte dort zwei Zimmer. In dem ersten, dem Empfangszimmer mit den roten Plüschmöbeln stand mit aufgelöstem Haar und starren Augen meine Unbekannte. Sie streckte ihre beiden Hände mit gespreizten Fingern vor sich hin und verteidigte mit ihrem Körper den Diwan, auf dem etwas mit einem weißen Laken Bedecktes lag. Aus dem Laken sah ein kleiner, blau angelaufener Fuß hervor, das war er, — der tote Anatol. An der Türe standen zwei mir unbekannte Männer in grauen Mänteln, vor ihnen eine Kiste, kein Sarg, sondern eine Kiste von etwa zwei Arschin Tiefe, die bis zur Hälfte mit etwas Weißem angefüllt war, das ich erst für Milch oder Stärke hielt. Vor ihr standen ein Polizeikommissar und ein Bürger mit irgendeinem Abzeichen. Alle sprachen laut. Der Gatte der Dame war nicht zu Hause, sie war allein, stritt, leistete Widerstand und rief, als sie mich sah:

»Mein Gott! Schützen Sie mich! Helfen Sie mir! Sie wollen mir das Kind nehmen, sie wollen es nicht beerdigen lassen. Es ist eben gestorben.«

Ich wollte für sie eintreten, aber es wäre ganz zwecklos gewesen, auch wenn wir die vier Menschen hätten überwältigen können, die sie nun ohne alle Umstände und ziemlich grob in das andere Zimmer stießen und die Türe abschlossen, gegen die sie dann vergeblich unter entsetzlichem Stöhnen mit den Fäusten schlug. Indessen nahmendie Männer das Kind, das noch eben so blühend gewesen war, versenkten es in die Kalklauge und gingen eilig mit der Kiste fort.

In den kleinen Badeorten und Städtchen sind Todesfälle äußerst unbeliebt. Die Inhaber der Hotels und möblierten Zimmer suchen nach Kräften solche Mieter zu meiden, deren Gesundheitszustand sie einen baldigen Tod befürchten läßt.

In keinem dieser Städtchen sind Beerdigungsprozessionen gestattet, und wenn ein Todesfall eintritt, so wird er vor allen Unbeteiligten verheimlicht, und der Tote wird ohne jede Beerdigungsfeier mit der Bahn fortgebracht.

Ansteckende Krankheiten mit tödlichem Ausgange kommen nur sehr selten vor, und in dem Ort, wo der Sohn meiner Bekannten gestorben war, geschah es zum erstenmal. Die Nachricht darüber verbreitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit unter dem Publikum und rief, besonders unter den Damen, panischen Schrecken hervor.

Die Ärzte des Ortes, die an einem solchen Platze stets den führenden Stand ausmachen, gaben sich alle Mühe, die aufgeregten Gemüter zu beruhigen, überboten einander an Eifer, verzankten sich und bildeten zwei Lager. Die einen, zu denen die beiden Ärzte gehörten, die das Kind behandelt hatten, gaben zu, daß die Todesursache tatsächlich Diphtherie gewesen sei, erklärten aber, daß gegen die Ansteckungsgefahr alle notwendigen Maßnahmen getroffen worden wären, daß sie in besonderenKleidern zu dem Kind gegangen seien und daß sie sich nachher sorgfältig desinfiziert hätten. Zwei von ihnen ließen sich sogar die Bärte abnehmen, um zu beweisen, wie ernst sie die Sache nähmen. Die anderen aber, die überwiegende Mehrzahl, behaupteten, der Fall sei ziemlich zweifelhaft gewesen, führten sogar Gegenbeweise an und beschuldigten ihre Kollegen, die Krankheit des Kindes bedachterweise übertrieben zu haben. Daraus entstand eine große, nutzlose Unruhe, die die Kranken um ihre Ruhe brachte und mehr als alles andere die wirtschaftlichen Interessen der Einwohner bedrohte. Diese zweite medizinische Fraktion mißbilligte das rücksichtslose und schroffe Vorgehen der Stadtverwaltung gegen Frau N., der man das Kind mit räuberischer Gewalt entrissen hätte, fast noch im Augenblick des Todes, ja vielleicht noch früher, noch bevor die letzten Lebensfunken erloschen waren. Mit dem Hinweis auf diese Rücksichtslosigkeit wollten die Ärzte die Aufmerksamkeit des Publikums von sich auf die anderen ablenken, deren Benehmen in der Tat ungewöhnlich roh gewesen war. Aber das gelang ihnen nicht. Der menschliche Egoismus pflegt in Augenblicken der Gefahr besonders widerwärtig zu werden. Unter dem Publikum fand sich niemand, der der traurigen Lage der unglücklichen Mutter auch nur ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätte. — War es tatsächlich Diphtherie gewesen, so waren keine Umstände am Platze, und je entschlossener und fester die Beamten gehandelt haben, um so besser war es. Man darf doch nicht die anderen der Gefahr aussetzen! Man interessierte sich nur für das Eine: wohin man die Kiste mit dem gefährlichen Toten gebracht hatte. Aber die Nachricht darüber war beruhigend. Manhatte die Kiste in den schwarzen Sumpf gebracht, aus dem man früher den Heilschlamm für die Bäder holte. Sie war an einer der tiefen Stellen des Sumpfes versenkt, diese mit Steinen überschüttet und nochmals mit Kalklauge übergossen worden. Sorgfältiger und energischer konnte man wohl mit einer solchen Leiche kaum verfahren. Nun begann aber die Vergeltung an dem Hotel, aus dem fast die gesamten Insassen geflüchtet waren, mit Ausnahme der Ärmeren, die sich den Luxus nicht leisten konnten, das für den Monat vorausbezahlte Zimmer aufzugeben. Das ganze Hotel mußte desinfiziert werden, jedenfalls die Zimmer, die die Familie N. bewohnt hatte, sowie die anstoßenden Räume. Ebenso mußte der Korridor desinfiziert werden, durch den der Knabe gelaufen war, und die Ecke des Speisesaales, in der die Familie N. ihre Mahlzeiten eingenommen hatte. Das alles machte eine sehr bedeutende Rechnung, wenn ich nicht irre, über dreihundert Gulden, weil man es auch für notwendig hielt, die Polstermöbel der drei Appartements zu verbrennen und in den anderen Räumen die Gardinen, Teppiche und Portieren durch neue zu ersetzen. Aus diesem Anlaß wurden an Herrn N. vom Hotelinhaber Geldforderungen gestellt. Die Stadtvertreter unterstützten die Rechte des Besitzers und behaupteten, daß er trotz der geforderten Entschädigung einen Verlust erleiden werde, da viele Räume während der ganzen Saison leer stehen würden. Auch für die Zukunft riskiere der Wirt einen großen Teil seiner Gäste zu verlieren, da die meisten Besucher, die erfahren hätten, daß in dem Hause ein Diphtheriefall vorgekommen sei, das Hotel meiden würden.

Forderungen dieser Art waren für die Kurgäste neu,und alle interessierten sich für den Ausgang dieser Angelegenheit. Die einen fanden die Forderung schikanös, die anderen gerecht, jedoch viel zu hoch. Überall sprach man darüber, und Herr N. wurde zu einer interessanten Persönlichkeit. Es war erstaunlich, daß man ihn nicht fürchtete. Aber man sprach mit ihm, weil man wußte, daß er als kranker Mann sofort nach der Erkrankung seines Sohnes sein Zimmer verlassen hatte und bis zu dessen Tode nicht zurückgekehrt war. Nach seiner Frau erkundigte sich niemand, und sie war während einiger Tage nicht zu sehen. Man nahm an, daß sie abgereist oder krank sei. Für die Leute, die sich für die Sitten des Auslandes interessierten, stellte Herr N. eine sehr interessante Persönlichkeit dar. Jeden Tag berichtete er, welche Forderungen an ihn gestellt wurden und was er auf sie geantwortet hätte. Er stellte nicht in Abrede, daß der Hotelinhaber Verluste erlitten habe und daß der Tod des Knaben tatsächlich die Ursache dieser Verluste sei, aber er bestritt das Recht einer willkürlichen Zahlungsforderung an ihn, die er nicht ohne Gerichtsbeschluß begleichen wolle.


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