Ich habe mehrmals erwähnt, daß Stepan Iwanowitsch sichtlich das bevorzugte, was nicht »von den Moskowitern« herkam, und muß jetzt den Leser aufklären, damit er nicht voreilig schließe, Wischnewskij sei Politiker gewesen, Separatist, oder, wie man es jetzt nennt, Ukrainophile. Man nahm damals das Kleinrussentum leicht, man wollte von ihm sogar nichts wissen. Hätte jemand in die Seele Wischnewskijs eindringen können, so hätteer auch bei der strengsten Prüfung nichts Politisches in ihm gefunden. Wahrscheinlicher hätte er sich darin wie in einem Schuppen gefühlt, in dem alles übereinandergeworfen ist, in dem vermutlich alles vorhanden ist, aber niemand etwas finden kann. Wischnewskij widersprach entschieden allen Menschen, mit Ausnahme seiner ersten Frau, der hier schon ziemlich eingehend geschilderten Stepanida Wassiljewna aus dem Twerschen Adelsgeschlecht der Schubinskijs. Wenn seinGesprächspartner Ukrainophile war und alles Kleinrussische rühmte, so begann Wischnewskij sogleich, die Fehler des kleinrussischen Charakters in den Vordergrund zu stellen und tat dies mit großem Geschick und treffenden und bissigen Vergleichen. Er lobte dann eifrig die Polen, besonders Batur und Sobieski, nannte Bogdan Chmjelnicki einen Trunkenbold und schloß den Streit mit der seiner Ansicht nach entscheidenden Formel, »Polen sei zusammengestürzt und habe uns erdrückt«. Aber äußerte sich jemand mit Bedauern über Polen, so wechselte Stepan Iwanowitsch sogleich die Front, und seine Rede bewegte sich nach großrussischen Motiven.
»Das ist wahr,« sagte er, »sie waren frei und ehrgeizig, aber weil sie alle Könige sein wollten, schmiedeten sie gegen die Könige Ränke. Und so gingen sie zugrunde und mußten zugrunde gehen, weil sie darüber vergaßen, was die Wohlfahrt des ganzen Landes erforderte, und jeder die unglückliche Freiheit nach Kräften auf seine Seite zog.«
Er winkte mit der Hand ab und schloß wegwerfend:
»Dreck!«
Jedoch war Wischnewskij durchaus kein Verteidigereiner hohen Achtung vor der Staatsgewalt, sondern im Gegenteil, wie schon oben erzählt, sehr oft, ja fast bei jeder Gelegenheit bereit, die Organe der gesetzlichen Macht herabzusetzen und zu beleidigen. Er war dabei weder Demokratnoch Nationalist in unserem jetzigen Sinne, so daß ihm sogar die bescheidene und anscheinend doch harmlose Einrichtung der Wahl der Stadthäupter lächerlich erschien; er wollte sie auch durchaus nicht »Häupter« nennen, sondern nannte sie anders. Mit einem Wort, Wischnewskij war nach dem kurzen, aber treffenden Ausdruck des einfachen Volkes »ein Pan, wie ein Auerochs aus dem Forste von Bjelowesch«, d. h. ein Herr, wie er sein muß, ganz wie ein Auerochs aus der Bielowescher Wildnis nichts mit einem gewöhnlichen Ochsen gemein hat, sondern in allem verwegener und stärker ist. Ohne unsere heutige Bildung besessen oder politische Betrachtungen, wie sie später von Toqueville und ähnlichen Leuten geschrieben wurden, gelesen zu haben, verstand Wischnewskij die kosmopolitischen Strömungen unserer heutigen Aristokratie, die auch der heutigen Demokratie eigen sind, sehr gut, da ihr gemeinsames Stimulans das Prinzip zu sein scheint, jede nationale Sympathie auf die Seite zu schieben. Wischnewskij liebte die Polen nicht, aber wenn die Rede auf berühmte Moskowiter kam, begann er gleich spöttische Grimassen zu schneiden, wartete, bis Stepanida Wassiljewna für einen Augenblick das Zimmer verließ, und sagte:
»Nun, was ist denn so Großes bei ihnen los! Ihre Großväter und Großmütter wurden noch alle mit Stöcken geschlagen.«
Von diesem Gesichtspunkt aus rühmte Wischnewskijden polnischen Adel und sogar die livländischen Barone; geriet er aber mit einem von ihnen in Streit über Rußland, so begann er mit allem Eifer sie zu bekämpfen, obwohl er sie im geheimen wegen ihres »reinen Blutes« beneidete. Aber er konnte ihren Hochmut und ihre Anmaßung nicht ertragen, die ihm widerwärtig erschienen, zumal er sich für einen einfachen, offenen Menschen hielt.
Wer kann sich wohl eine Vorstellung machen, was alles im Schädel dieses Psychopathen steckte! Stand er aber einmal zufällig vor einer außergewöhnlichen Frage oder Begebenheit, so war all der psychopathische »Unfug« verschwunden, und Stepan Iwanowitsch bewies eine geradezu erstaunliche, vielleicht sogar psychopathische Findigkeit. In schwierigen Umständen und Gefahren handelte er kühn und überlegt und befreite Menschen spielend aus Schwierigkeiten und großen Nöten, die sie zu erdrücken drohten.
Ein solcher Fall wird über die Offiziere eines Dragonerregiments berichtet, das entweder in Pirjatin im Poltawschen Gouvernement oder in Bjeschetzk im Twerschen Gouvernement gelegen hatte.
Die einen lassen diesen bemerkenswerten Vorfall im Twerschen Gebiet spielen, die anderen in Kleinrußland; was richtiger ist, läßt sich schwer entscheiden, es ist aber auch kaum der Mühe wert, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Der Fall liegt so, daß er sich mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in einem beliebigen Städtchen ereignen konnte, aber den Charakteren der beiden hier erwähnten »Herrchen« nach zu urteilen, entspricht er mehr den Sitten eines kleinrussischen Kreisgerichts.
Es handelt sich übrigens nicht darum, den Ort genauzu bestimmen, sondern ein Bild der Ereignisse zu entwerfen und den Anteil zu zeigen, den unser psychopathischer Held an ihnen hatte.
Die Dragoner lagen in Pirjatin, — nehmen wir an, es sei dort gewesen. Teile des Regiments waren in anderen Ortschaften untergebracht. Der Regimentskommandeur hatte vielleicht in Perejaslaw Quartier genommen.
Die Offiziere langweilten sich natürlich in dem winzigen Städtchen vor Nichtstun; sie unterhielten sich, so gut sie konnten, indem sie zu den Gutsbesitzern zu Gast fuhren. Blieb ihnen nichts anderes übrig, als einige Tage zu Hause zu sitzen, so zechten sie, spielten Karten oder tranken bei einem Weinhändler im kleinen Kellerlokal. Der Händler war ein Jude, der die Offiziere gern schröpfte und ihre Ausschweifungen unterstützte, sie aber gleichzeitig doch fürchtete. Er hatte deshalb, um den Übermut seiner Gäste etwas zu dämpfen, in dem Raum, in dem sie zechten, ein Porträt aufgehängt, das seiner Meinung nach die Besucher seines Ausschanks an die Gesetze der Wohlanständigkeit gemahnen sollte. Vielleicht war es ganz klug gedacht, aber es führte zu einer Geschichte.
Einmal, in der langweiligsten Sommerzeit kam ein Jongleur in die Stadt und zeigte, wo man ihn aufforderte, seine einfachen Kunststücke, von denen eines ganz dem Geschmack der Herren Offiziere entsprach: der Künstler setzte seine Tochter auf einen Stuhl, stellte ihn dicht mit dem Rücken an eine Wand, zog aus seiner Tasche einige Dolche und warf sie einen nach dem anderngegen die Wand, in der sie stecken blieben, das Gesicht des Mädchens von allen Seiten umrahmend, ohne es zu berühren.
Diese sichere und gewandte Handhabung der Waffe interessierte alle, die die Schwierigkeit dieses gewagten Kunststückes einsahen. Als die Offiziere wieder einmal im Kellerlokal, in dem sie zu trinken pflegten, zusammenkamen und ihren geriebenen Käse aßen, der wie verwitterte geschnittene Fingernägel aussah, sprachen sie über das Dolchwerfen, und als ihnen der Rausch in den Kopf stieg, kam es einem von ihnen in den Sinn, er könne es ebensogut.
Dolche hatten sie zwar nicht, aber auf dem Tische lagen Gabeln, die die Dolche bei diesem Versuch annähernd ersetzen konnten. Wenn es auch nicht so leicht war, mit ihnen nach einem Ziel zu werfen, so blieben sie doch immerhin in der Wand stecken.
Es fehlte nur das menschliche Gesicht, das man mit den Gabeln umstecken könnte. Von den Offizieren wollte sich natürlich keiner zu diesem Versuche hergeben. Man mußte eine Person niederen Ranges finden, am besten natürlich einen Juden, und die ausgelassenen Offiziere machten den ihnen aufwartenden Juden einen solchen Vorschlag, aber diese waren so feig und hingen so sehr am Leben, daß sie sich nicht nur weigerten, sich dazu herzugeben, sondern auch ihren Handel im Stich ließen, den ganzen Laden der Gewalt der Herren Offiziere überließen, davonliefen und sich versteckten. Natürlich beobachteten sie von ihren Verstecken aus, was jeder von ihnen nehmen und was die lärmende Gesellschaft weiter treiben würde.
Nun führte ein unglücklicher Zufall zwei junge Gerichtsschreiber, oder wie man sie am Orte nannte, »Gerichtsherrchen« her, die an diesem Tage wohl einen guten »Chabar« genommen, das heißt, einen guten Schnitt gemacht hatten und sich nun im Keller bei dem kalten Donschen, nach Wermut schmeckenden Wein gütlich tun wollten.
Den Offizieren kam der Gedanke, die beiden Herrchen zu ihrem Versuch zu verwenden; so luden sie die beiden zunächst ein, zusammen mit ihnen zu trinken, und dann drangen sie in sie, es möge sich einer von ihnen zu der Produktion hergeben.
Die Herrchen zeigten sich jetzt als sehr seltsame Leute, von ganz verschiedener Gemütsart: der eine war ein Heraklit, der andere ein Demokrit. Als sie aus der Hitze in den kalten Keller gekommen waren und dort den kalten Wein getrunken hatten, stieg er ihnen zu Kopf, und als dann die Offiziere anfingen, in sie zu dringen, rührten sie sich nicht von der Stelle, anstatt bescheiden fortzugehen. Sie glaubten sich, als Eingeborene, auf gleichem Fuße mit den Herren stehend und begannen ihren wahren Charakter zu zeigen. Der eine lachte über den ihm gemachten Vorschlag und riß über die geärgerten Offiziere kleinrussische Witze, der andere zog ein saures Gesicht, begann zu weinen und schrie in einem fort, obwohl ihn niemand anrührte:
»Rührt mich nicht an! Geht doch zum Teufel! Laßt mir meine heilige Ruhe!«
Die beiden Schreiber wurden schließlich den Offizieren so lästig, daß sie mit ihnen auf ihre Art verfuhren, d. h. ihnen mehrere Maulschellen verabreichten und sie dannunter den Tisch stießen, um sie dort »wie die Ferkel« zu halten, bis ihr Gelage zu Ende wäre. Das war ungefährlich und praktisch, da die Offiziere die Herrchen unter dem Tisch mit den Füßen festhielten und Mund und Hände frei hatten; zugleich war dadurch, daß man sich ihrer Personen versicherte, ein Skandal vermieden, der bei dem häßlichen Charakter, den die widerspenstigen Jungen zeigten, unausbleiblich schien. Der eine hätte sicher draußen auf dem Platz oder auf der Straße so geheult, daß man es in der ganzen Stadt hörte, und der andere hätte gar auf den Zaun klettern oder ans Fenster kommen und sie von dort aus verhöhnen können.
Dann müßte man ihm nachlaufen, ihn einholen und fangen, was einen Skandal gegeben und sicher einen Haufen Weiber und Juden herbeigelockt hätte. Mit einem Wort, es wäre ganz unvereinbar mit der Offiziersehre gewesen; so saßen aber die Jungen ganz friedlich unter dem Tisch, jammerten ein wenig und umfaßten einander in ihrem engen Raum, der noch durch die Sporenstiefel der Offiziere eingeengt wurde.
Alles ging vortrefflich, aber da mischte sich der Teufel ein und verdarb alles. Die Offiziere wurden so betrunken, daß sie anfingen, mit den Gabeln nach dem Porträt zu werfen, weil sie meinten, sie könnten es ebenso geschickt umrahmen, wie der Jongleur das Gesicht des lebendigen Menschen mit seinen Dolchen. Aber der Teufel war im Spiel: als der erste Offizier die Gabel warf, stieß ihn der Schwarze in den Ellenbogen, und die Gabel blieb mitten in dem einen Auge des Porträts stecken. Der zweite Offizier warf, und der Teufel führte die Gabel in das andere Auge. In der betrunkenen Gesellschaft entwickelte sichjetzt der Wetteifer, die Gabeln flogen eine nach der anderen und verstümmelten das Gesicht des Porträts gänzlich.
In ihrer Trunkenheit, die schon in einen Zustand geistiger Umnachtung überging, maßen die Offiziere diesem Vorfall keine besondere Bedeutung bei. Sie hatten eben ein Bild verdorben, — das war alles. Es wird nicht von Gott weiß was für einem Meister gewesen sein, kein Werk Raffaels, und keine ungeheure Summen gekostet haben. Sie würden morgen den jüdischen Wirt rufen, ihn fragen, was das Bild koste, tüchtig herunterhandeln, dann bezahlen, und damit wäre die Sache erledigt; dafür war man lustig gewesen und hatte bei jedem ungeschickten Versuch, die Gabel so sicher wie der Jongleur zu werfen, viel gelacht und gescherzt.
»Nein, der Schelm hat es besser gemacht. Wir können es nicht so. Und Gott sei Dank, daß kein Mensch vor uns sitzen wollte, sonst hätten wir dem Lebendigen die Augen ausgestochen, da hätte Bezahlen nichts geholfen.«
Die wackeren Helden waren sehr froh, daß die Sache so gut mit Lachen und Scherzen geendet hatte, und begaben sich, einander stützend, in ihre Quartiere. Beim Weggehen hatten sie die Schreiber schon ganz vergessen, die still unter dem Tische saßen und keinen Laut von sich gaben.
Aber die Sache war durchaus nicht so einfach und stand durchaus nicht so gut, wie es sich diese braven Kinder dachten, als sie sich zur Ruhe begaben.
Kaum waren die Offiziere auseinandergegangen und hatten den jüdischen Laden leer zurückgelassen, als die Gerichtsherrchen unter dem Tisch hervorkrochen, ihre von der langen Kniebeuge steif gewordenen Glieder streckten und sich ihre Lage besahen. Alles war still, — im Laden und in der Kammer war keine Seele; durch die dichte Wolke von Tabaksrauch war das verstümmelte Porträt mit den ausgestochenen Augen und den vielen Rissen an anderen Stellen kaum zu sehen.
Zum Glück für die einen und zum Unglück für die anderen, waren die Schreiber viel nüchterner als die Offiziere, die am Tische, von dem aus sie die Gabeln auf das Porträt warfen, sich immer mehr betrunken hatten, während die unter dem Tische eingeschlossenen Heraklit und Demokrit erheblich nüchterner geworden waren, wozu wohl die Angst, die Enthaltsamkeit und vor allem der Rachedurst, der in ihnen glühte, beitrugen. So hatten sie sich einen vortrefflichen Plan ausgedacht, um ihre Beleidiger zu strafen.
Die Schreiber überlegten nicht lange, nahmen das verwundete Porträt von der Wand, liefen damit auf das Freitreppchen des Ladens und schlugen Lärm:
»Kommt her, ihr guten Leute! Wer an Gott glaubt und die Älteren ehrt, seht euch das Wunder an ... Schaut, wie die Offiziere das Porträt einer solchen Person entehrt haben.«
Auf dieses Geschrei tauchte sofort, wie aus der Erde gewachsen, der Wirt auf, der sich während des Gelages versteckt hatte; die Marktweiber von ihren Ständen liefenherbei, die Juden begannen zu schreien, — und unsere Geschichte nahm ihren Lauf.
Der jüdische Wirt, der die größte Angst hatte und am meisten einen Skandal scheute, hielt sich mit seinen großen Fingern die Augen zu, wie es der Rabbiner beim Gebet tut, und schrie:
»Ich habe nichts gesehen und sehe auch jetzt nichts, wer dieser Militär-Pan ist, der da gemalt ist. Geb’ Gott, daß er ein guter Mann sei. Aber ich, — ich brauche jetzt das Bild nicht mehr ... Ich verschenke es, nehme es, wer es will ...«
Doch Demokrit rief:
»Aber wir wissen, wer diese Person ist, und wir protestieren. Schaut, ihr guten Leute, — die Augen sind ihm ausgestochen. Wir wollen das Porträt zum Stadtvorsteher tragen.«
Demokrit trug das verwundete Porträt durch die Straßen vor das Stadthaus, und Heraklit begleitete ihn, machte unter der warmen Sonne wieder sein saures Gesicht und weinte, und alle, die ihnen folgten, wiesen lobend auf ihn hin und sagten:
»Schaut nur, wie es ihn rührt!«
Aber die Offiziere schliefen und schliefen und ahnten nicht, daß man gegen sie »protestierte« und daß die Sache ihnen Unannehmlichkeiten bereiten würde, die sie nicht wüßten, wie loswerden.
Wie schwer auch ihr trunkener Schlaf gewesen war, auch ihr Erwachen am nächsten Morgen war nicht leicht.
In aller Frühe kam zu allen Zechgenossen des beschriebenen Gelages die Ordonnanz des schnurrbärtigen Majors oder Rittmeisters, der die Schwadron kommandierte undin seiner Person die oberste Befehlsgewalt am Standorte darstellte.
Natürlich war der Rittmeister nicht Gott weiß was für eine hohe Obrigkeit, beinahe so »ihr Bruder Hans«, und machte manchesmal auch einen »Tanz« mit ihnen, aber die Offiziere erschraken.
Das Schlimmste war, daß ihnen der Kopf noch brummte und sie sich durchaus nicht mehr daran erinnern konnten, was gestern im Keller beim jüdischen Wirt vorgegangen war. Sie erinnerten sich noch, daß sie wohl tüchtig getrunken hatten, aber sie konnten sich nicht mehr auf alles der Reihe nach besinnen,sondern ein Stück war abgerissen, und es schien ihnen, als sei das Dazwischenliegende gar nicht gewesen. Sie besannen sich, daß sie die Juden verjagt hatten, aber das wäre durchaus nicht wichtig gewesen, war schon öfter geschehen, auch wenn der Rittmeister dabei gewesen war. Das Verjagen ist kein Unglück, besonders bei Juden nicht, denn diese sind ein Volk, das die Vorsehung selbst zur »Verstreuung« vorbestimmt hat. Der Jude schreibt ein Übriges auf, berechnet als getrunken, was nicht getrunken, als beschädigt und zerschlagen, was nicht beschädigt wurde; sie würden mit ihm verrechnen, und dann würde wieder alles gut sein, bis zu einer neuen Geschichte. Der Jude selbst würde ihnen den ersten »Friedenstrunk« umsonst anbieten, sie würden sich aussöhnen und ihn in seinem Handel unterstützen ... Es war ja unmöglich, daß er, der Jude, mit ihnen streiten wollte und daß er die Ursache dieser plötzlichen frühen Einladung zu ihrem ältesten Offizier war. Vielleicht diese Schreiber ... Es dünkt ihnen, als seien dort zwei solche Schreiber dabei gewesen, ... »Gerichtsherrchen« ... Nun,das war auch keine besondere Sache! Die Soldaten haben sie noch überall gezaust! Sind auch nicht mehr wert, dieses bestechliche Unkraut! Wenn sie nur nicht einen von ihnen die Nase oder die Ohren abgehauen hatten! Das wäre garstig, was einmal abgehauen ist, kann man nicht wieder ansetzen ... Aber Gott ist gnädig, sie haben schon andere Dinge gemacht, so wird auch dies vorübergehen. Wozu braucht auch ein Schreiber eine Nase? — Doch nur um Tabak zu schnupfen und das Aktenpapier damit zu bestreuen. Der »Chabar« ist doch kein Braten, er wird ihn auch so, ohne Nase riechen. Man wird sich natürlich zusammentun müssen und bezahlen, aber allen zusammen wird es nicht schwer fallen ...
In solchen oder ungefähr ähnlichen Erwägungen zogen die Offiziere ziemlich unbekümmert zum Quartier ihres ältesten Kameraden und betraten guten Mutes das geräumige, aber niedrige Zimmer in dem kleinrussischen Häuschen. Aber jetzt merkten sie mit einem Male, daß die Sache durchaus nicht gut stand. Der Rittmeister kam ihnen nicht kameradschaftlich entgegen, in seinem gestreiften Morgenrock, mit der Pfeife in den Zähnen, sondern die Tür zu seinem Kabinett war geschlossen, — das heißt, er wollte warten, bis alle versammelt wären, dann würde er herauskommen und zu allen zusammen sprechen.
Diese offizielle Form versprach nichts Gutes, und die eingetretenen Offiziere schauten einander an, dämpften ihren Ton zu einem halben Flüstern, und einer fragte den andern:
»Nun, was ist denn das? Was haben wir denn gestern angestellt?«
Einer von ihnen hatte auf der Straße etwas von einem Porträt sprechen hören.
»Porträt, Porträt? ... Was für ein Porträt?«
Keiner konnte sich erinnern.
Aber jetzt öffnete sich plötzlich die Tür, und aus dem Kabinett trat der Rittmeister, in Uniform mit Epauletten, mit fest geschlossenem Mund. Er begrüßte sie nicht und begann seine Rede mit Worten, wie sie Gogol viel später seinem Skwosnik-Dmuchanowskij in den Mund gelegt hat:
»Ich habe Sie hieher gerufen, meine Herren, um Ihnen eine unangenehme Mitteilung zu machen: gegen Sie ist bei der Zivilbehörde Klage eingereicht worden, und ich wurde vom Stadtamt davon benachrichtigt; ich muß Siearrestieren. Geben Sie mir bitte Ihre Säbel, und wollen Sie mir sofort aufrichtig erklären: was haben Sie gestern abend in dem Laden getan?«
Die Offiziere nahmen widerspruchslos ihre Säbel ab und übergaben sie dem Schwadronschef, aber bezüglich der »aufrichtigen Erklärung« antworteten sie, sie wären selber froh, wenn sie wüßten, was sie eigentlich getan hätten, aber sie könnten sich dessen nicht mehr entsinnen.
Der Rittmeister zog die Brauen zusammen und entgegnete noch schärfer:
»Ich bitte Sie nicht zu scherzen, ich spreche mit Ihnen dienstlich, als Ihr Ältester!«
»Das ist kein Scherz«, erwiderte einer der Angeklagten, »wir erinnern uns, bei Gott, nicht mehr.«
»Aber erlauben Sie!«
»Der Tag war gestern heiß, wir gingen zufällig hinein, ... und tranken dort im Kühlen Wermutwein ... hatten dann irgendeinen Streit mit den Juden ... haben aber nichts Böses im Sinn gehabt ... Es waren sogar noch zwei Schreiber dort, die alles sehen konnten ...«
»Das ist es ... die zwei Schreiber! Darum handelt es sich auch. Diese beiden Schreiber konnten in der Tat alles sehen, und haben es auch gesehen. Wie werden Sie sich ihnen gegenüber rechtfertigen? Eine solche Schande für unseren Stand!«
»Aber worin rechtfertigen? ... Sagen Sie es uns bitte!« erwiderten die Offiziere.
»Ja, Sie haben sich ihnen gegenüber zu rechtfertigen«, rief der Rittmeister, zog aus seiner Tasche ein vierfach zusammengefaltetes Blatt Papier und begann die ihm von der Stadtverwaltung amtlich zugestellte Kopie des Berichtes der Schreiber zu verlesen, in dem stand, wie die Herren Offiziere das Porträt durch das Werfen von Gabeln beschädigt hatten, während die am Orte des Vergehens anwesenden Gerichtsschreiber, »die in ihren Herzen Gottesfurcht und Liebe zum Allerhöchsten hatten«, die ganze Zeit auf den Knien lagen, so daß sie sich auf dem Fußboden ihre einzigen Hosen durchscheuerten, weshalb sie jetzt der Möglichkeit beraubt seien, ihren dienstlichen Obliegenheiten nachzugehen. Sie protestierten daher amtlich gegen den ganzen beschriebenen Unfug der Offiziere und bäten, für die Beschädigung der Hosen von den Angeklagten für jeden von ihnen zwanzig Rubel in Assignaten zu erheben.
Der Rittmeister hatte zu Ende gelesen, pfiff der Ordonnanz und befahl, das Porträt aus seinem Schlafzimmerherzubringen, damit die Offiziere mit eigenen Augen die Spuren ihres gestrigen Zeitvertreibes sehen könnten. Nun wurden sie starr.
Inzwischen hatte der Rittmeister seinen Waffenrock ausgezogen und nur die Halsbinde anbehalten, setzte sich an den Tisch, steckte die Hände in die Hosenträger aus Kamelgarn und sagte in verändertem Ton:
»Meine Herren, die Sache steht schlecht. Sie sieht sehr häßlich aus, weil man aus ihr weiß der Teufel was alles machen kann. Diese elenden Federfuchser, diese dreckigen Gerichtsschreiber wagen es, gegen Offiziere aufzutreten. Ich habe mit Ihnen soeben als Ihr Dienstältester gesprochen, aber jetzt spreche ich als Kamerad. Der Sache ihren Lauf zu lassen ist unmöglich, man muß ihr durch Schnelligkeit und militärisch aufrichtige Offenheit zuvorkommen, wie es sich für Edelleute geziemt. Ob es hilft oder nicht, jedenfalls muß man offen und ehrenhaft handeln. Setzen Sie sich bitte, rauchen Sie eine Pfeife, und lassen Sie uns nachdenken. Meine Meinung ist die: das Unheil ist einmal geschehen, daran läßt sich nichts ändern. Man muß den Umstand ausnützen, daß die Post nach Perejaslaw gestern abgegangen ist und erst in drei Tagen wieder geht. Das ist Ihr Glück. Ich habe Ihnen Ihre Säbel abgenommen; wählen Sie nun zwei Kameraden, die möglichst schnell zum Oberst reiten und ihm alles aufrichtig erzählen. Er ist mit dem Gouverneur gut bekannt und kann Ihnen helfen.«
Einen besseren Plan vermochten sie gar nicht auszudenken, und zwei Stunden später sprengten zwei Offiziere aus Pirjatin nach Perejaslaw; auf dem Wege lag Farbowanaja. Nach der Hitze und Schwüle war ein Gewitterlosgebrochen, und es schüttete vom Himmel wie mit Kübeln, als auf einmal vor den Offizieren in den Strömen Wassers, wie eine Blase aus dem Boden ein Kleinrusse auftauchte.
»Was fahren da für Leute mit Schellen und was wollt ihr?«
»Wir sind Offiziere und reisen in eigenen Angelegenheiten.«
»Wenn ihr in eigenen Angelegenheiten reist, so kommt zu unserem Pan Wischnewskij.«
Die Offiziere wollten nicht, aber der Kleinrusse redete ihnen zu:
»Es ist einmal so ... So ist der Brauch!«
Sie fuhren hin, um den Regen und das Gewitter abzuwarten, und Stepan Iwanowitsch empfing sie erfreut, bewirtete sie mit Essen und Trinken und fragte:
»Eilen Sie, meine Herrn, wohl oder übel, oder zu Ihrem Vergnügen bei diesem Wetter weiter?«
Die Offiziere antworteten im Stile der Märchen, daß sie wohl oder übel reisten, und auch zu ihrem Vergnügen.
»Nun, was ist es für eine Sache? Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein, so daß Ihre Reise nicht mehr notwendig ist.«
Sie seufzten und sagten:
»Nein, unsere Angelegenheit ist so schwerwiegend, daß vielleicht nur noch der Oberst beim Gouverneur Fürbitte einlegen kann.«
»Nun, wenn schon, — was hat der Gouverneur zu sagen? Ich frage doch nicht aus leerer Neugier.«
Die Offiziere erzählten ihm alles.
Wischnewskij fuhr sich mit gespreizten Fingern über den Scheitel, räusperte sich und sagte:
»Der Gouverneur hat mit der Sache gar nichts zu tun, und Sie brauchen deshalb nicht nach Perejaslaw. Niemand kann Ihnen helfen, wenn man der Sache nicht eine richtige Wendung gibt.«
»Aber wie kann man ihr eine richtige Wendung geben?«
Stepan Iwanowitsch fuhr sich wieder mit den Fingern über den Scheitel, räusperte sich und sagte:
»Ja, ich sehe, daß Sie zwar alle Moskowiter sind und eine Lektion verdienen, aber Sie haben die Sache unrichtig angefangen und können sie ganz verderben, wenn Sie zu Ihrem Vorgesetzten reisen. Sie nützen sich selbst durch Ihre Offenheit nichts und machen Ihrer Obrigkeit nur Schwierigkeiten; deshalb verhafte ich Sie bis morgen. Ich habe das Recht, Sie zu verhaften, da Sie mir selbst gestanden haben, daß Sie entflohen sind und auch keine Säbel haben. Ich bitte Sie, sich in den Flügel zu begeben, dort ist alles für Sie bereit, und schlafen Sie gut. Morgen früh werden wir dann Ihrer Angelegenheit die richtige Wendung geben, die sie braucht.«
Die Offiziere sagten zu, dachten, es sei kein großes Unglück bis zum Morgen zu warten, und fügten sich ihrem eigenwilligen Gastgeber. Sie gingen in den Flügel, aber der Pan von Farbowanaja rief den Haiduken Prokop, befahl ihm, sich in den Wagen zu setzen und nach Pirjatin zu fahren, dort die beiden Gerichtsherrchenaufzufinden und sie um jeden Preis am Morgen nach Farbowanaja zu bringen.
Der Haiduk eilte davon, suchte die Schreiber auf und sagte:
»Mit meinem Pan Wischnewskij steht es schlecht. Es geht ihm so elend, daß ich nicht weiß, ob er den Abend noch erlebt. Jetzt will er sein Testament machen und hat mich hergeschickt, um euch zu bitten, daß ihr gleich euer Schreibzeug nehmt und mit mir fahrt, um als Zeugen zu unterschreiben. Ihr bekommt ein gutes Chabar dafür.«
Die Schreiber wußten, daß Wischnewskij noch nie krank war, aber wenn solche Leute krank werden, so geht es auf den Tod.
Sie dachten: »Sicher stirbt er, und wir verschreiben uns etwas im Testament. Er ist so krank, daß er es nicht merkt.«
So nahmen sie mit Freuden ihre Sachen und fuhren ab. Als Stepan Iwanowitsch eben erwachte, standen sie schon auf seiner Freitreppe.
Stepan Iwanowitsch machte für diese Gäste eine kleine Abweichung von seiner Empfangsetikette. Ins Haus ließ er sie natürlich nicht ein, aber er befahl, ihnen ein kleines Tischchen und für die beiden nur einen Stuhl hinauszubringen, damit sie nicht wagen sollten, vor ihm zu sitzen.
Dann ging er in einer Mütze mit großem Schirm zu ihnen hinaus und begann die Unterhandlung.
»Mein Haiduk,« sagte er, »hat euch vorgemacht, daß ich sterbe. Aber, so Gott will, hat es damit noch Zeit, und dann werde ich mir für mein Testament andere, ehrlichere Zeugen als euch holen. Ich habe euch aber zu eurem eignen Wohl herbringen lassen ...«
Sie machten große Augen.
»Was habt ihr, Verfluchte, vorgestern beim Juden im Keller getrieben? He?«
Das Staunen der Schreiber wuchs.
»Erlauben Sie, wer hat es Ihnen erzählt? ... Wir haben nichts getrieben, sondern die Offiziere ...«
»Ja, ja, ich weiß alles. Darum tut ihr mir auch leid: Ihr Dummköpfe habt euch ausgedacht, eure Schuld auf die Offiziere abzuwälzen, als wenn euch das etwas nützen würde. Ihr habt nur das eine nicht bedacht, daß die Offiziere sieben Leute sind, die bezeugen, daß ihr das Porträt beschädigt habt, und daß ihr gegen sie nur zwei seid ... Wer wird euch da Glauben schenken?«
»Erlauben Sie, aber wir ...«
»Nichts, keine Dummheiten reden ...« unterbrach sie Wischnewskij, »ich weiß alles, — ich bin über alles unterrichtet. Ihr habt euch ausgeheckt, eine Anzeige zu schreiben, und während eure Denunziation noch unterwegs ist, sind die Offiziere schon nach Perejaslaw, nach Poltawa und Kiew geritten. Ich habe sie, Gott sei Dank, abgefangen und bei mir festgehalten. Sie sind ihrer sieben Mann, und alle haben gesehen, wie ihr die Gabeln geworfen habt.«
»Aber erlauben Sie, wann haben wir die Gabeln geworfen?«
»Nichts da«, schnitt ihnen Wischnewskij das Wort ab. »Ihr seid zwei, und sie sind sieben, und ihr könnt euch nicht herauswinden. Zudem sind sie angesehenere Leute als ihr, sind hochgeborne Adelige, und was seid ihr? — Dahergelaufene Schreiber, Unkraut.«
»Aber wir sind doch im Recht ...«
»Tja, was heißt das, Recht haben gegen Moskowiter! Sie sind ihrer sieben, und ihr seid zwei. Und wißt ihr vielleicht nicht, daß bei uns die ganze hohe Obrigkeit moskowitisch ist? Zudem werden die Teufelsjuden sie bestimmt unterstützen und sagen, sie hätten gesehen, wie ihr die Messer geworfen habt.«
»Aber bedenken Sie doch, Pan, die Juden sind ja Schelme.«
»Wer sagt denn, sie seien keine Schelme? Aber sie werden gegen euch aussagen. Und deshalb ist es mir auch um euch leid, daß ihr in solche Drangsal geraten seid.«
Die Schreiber, die in den Formen der Rechtsprechung bewandert waren, sahen, daß ihre Sache, hol’s der Teufel, in der Tat schlecht stand, daß sie durchaus keine Chancen für sich hatten, ja daß vielleicht sogar die ganze Schuld auf sie fallen könne.
»Sie sind sieben ... und wir sind zwei ...«
»Ja, und dazu die Juden ... es kann wohl sein ...«
»Was sollen wir nun tun, Euer Gnaden?«
»Was ich euch lehren werde. Setze sich einer von euch her und schreibe, was ich ihm sage.«
Stepan Iwanowitsch diktierte, und das Schreiben begann:
»Da wir von Natur aus unverständig sind, und unser Gewissen durch die Schmiergelder verfinstert ist ...«
Der Schreibende hielt inne, aber Wischnewskij fuhr ihn an:
»Schreibe, schreibe! Das ist notwendig so.«
... »Verfinstert ist, gingen wir Gerichtskopisten in den Keller bei dem jüdischen Laden, betranken uns bis zur Bewußtlosigkeit und fingen an, uns über die Verteilungder Schmiergelder zu streiten. Wir warfen aufeinander mit Gabeln, aber weil wir sehr betrunken waren, fuhren sie aus Unvorsichtigkeit in das Porträt ...«
Der Schreibende zögerte wieder, aber Stepan Iwanowitsch gab ihm einen Stoß in den Rücken. Jener fuhr sogleich fort und schrieb den ganzen Akt zu Ende, in dem er seine unfreiwillige Schuld bekannte und gestand, sie hätten aus Furcht beschlossen, ihre Schuld auf die Offiziere zu schieben, in der Annahme, daß ihnen als Kriegsleuten nichts geschehen werde. Aber jetzt, im Gefühl ihrer Versündigung und im Gedanken an ihre dereinstige Todesstunde, bereuten sie es und bäten die Offiziere, ihnen zu verzeihen und von der Anzeige Abstand zu nehmen. Aber für ihre in betrunkenem Zustande begangene Verfehlung, bäten sie selbst den Pan Wischnewskij, sie auf seinem Gute Farbowanaja väterlich mit Ruten züchtigen lassen zu wollen, worauf dann Wischnewskij die Güte haben werde, sich zu verwenden, daß die Sache keine weiteren Folgen habe.
»Aber wofür, Euer Gnaden, wofür uns züchtigen?«
»Das steht nur so auf dem Papier.«
Sie unterschrieben es, dann unterschrieb Wischnewskij und ließ die Offiziere rufen.
»Und Sie, meine Herren,« sagte er, »unterschreiben Sie es auch, daß Sie einverstanden sind, ihnen, auch im Namen Ihrer Kameraden, zu verzeihen und daß Sie als Soldaten großmütig sein wollen und die Angelegenheit nicht weiter verfolgen werden.«
Die Offiziere unterschrieben.
»Jetzt ist alles erledigt,« sagte Stepan Iwanowitsch und steckte das Papier in die Tasche. »Und nun,« fügte er,sich an seine Leute wendend, hinzu, »führt diese Herrchen in den Pferdestall und gebt ihnen dort eine tüchtige Portion Ruten.«
»Erlauben Sie, was heißt denn das?«
»Was das heißt? Das heißt, daß es hier geschrieben ist. Ihr wollt jetzt schon das Geschriebene anfechten? Ehe! Feine Herrchen. Gebt ihnen ihre Ruten, Jungens!«
Und man züchtigte sie mit Ruten.
Es wird erzählt, daß man diese Schreiber später noch lange fragte, wie es ihnen zumute war, als sie in Farbowanaja »gefarbowalkt« wurden.
Der Kommandeur kam selbst zu Stepan Iwanowitsch nach Farbowanaja gefahren, und wenn er es auch nicht aussprach, so drückte er doch indirekt seine Anerkennung für diese Findigkeit und »die richtige Wendung der Angelegenheit« aus.
Auch in seinen eigenen Angelegenheiten war Stepan Iwanowitsch weitblickend und verfiel nur dann in Fehler, wenn die Liebesleidenschaft seinen Blick trübte. Die größte Torheit beging er in einem Fall, der mit jener schlanken, zierlichen Gapka Petrunenko zusammenhing, zu deren Füßen wir ihn verlassen haben.
In der Zeit, als Wischnewskij dieses Mädchen liebte, stand der Kirche im Dorfe Farbowanaja ein Priester namens Platon vor. Er hatte die den Russen ziemlich gemeinsame Schwäche, daß er zwar im nüchternen Zustande »zu allem wohlweislich schwieg«, betrunken jedoch gern plauderte und sogar die ungeschminkte Wahrheit sagte.
Als sich Wischnewskij am nächsten Morgen vom Teppich erhoben hatte, teilte er voller Freude Stepanida Wassiljewna eine wichtige Neuigkeit mit.
Gapka spürte in sich ein neues Leben pochen.
»Und was sie gebiert, soll nicht mehr leibeigen, sondern frei sein«, sagte Wischnewskij.
Dies war ein ungewöhnliches Liebesgeschenk seitens Stepan Iwanowitschs, denn die große Menge seiner Kinder war sämtlich unter seine »leibeigenen Seelen« eingetragen worden und arbeitete rechtschaffen auf den Feldern seines Herrengutes.
Auch Gapka freute sich darüber.
Eine Stunde später ging sie aus, um Himbeeren zu pflücken. Am Gartenzaun begegnete ihr der Priester P. Platon, der gerade in seiner aufrichtigen Stimmung war. Als er das Mädchen erblickte, sagte er ihr in priesterlichem Tone:
»Was bist du so froh, Mädel? Bist froh und vergnügt, pflückst süße Himbeerchen, aber wenn du dein Kindchen geboren hast, kriegst du auch deinen Stoß in den Rücken.«
»Warum denn?« Gapka sah ihn von der Seite an und wurde mit einem Male verwirrt und traurig, weil sie Wischnewskij, wie viele Frauen, die anfangs nur widerstrebend seine Geliebten geworden waren, liebgewonnen hatte. Gapka fragte, warum man sie denn so ganz bestimmt absetzen werde, wenn sie das Kind geboren haben würde.
»Darum,« antwortete der Geistliche, »weil man auf dem Herrenhof ein Kühlein nicht bis zum zweiten Kalb behält.«
Das war die einzige Begründung des P. Platon, aberGapotschka wurde traurig, besonders infolge des neuen ungewohnten Zustandes ihres Organismus, und begann bitterlich zu weinen. Aber als verschlossene Kleinrussin wollte sie um nichts in der Welt sagen, warum sie weine. Stepan Iwanowitsch brachte es schließlich selbst heraus: Leute hatten gesehen, wie der Geistliche mit Gapka sprach, und hinterbrachten es dem Pan, der sogleich seinen geistlichen Vater zur Beichte vor sich rufen ließ und ihn fragte:
»Was hast du Gapka gesagt?«
Der Geistliche konnte sich nicht entschließen, zu wiederholen, was er zu dem Mädchen gesprochen hatte, und sagte:
»Ich erinnere mich nicht mehr.«
Wischnewskij wurde wütend und schrie ihn an:
»Aha, jetzt kenne ich dich: du hast dich an sie herangemacht ... Hast geglaubt, sie werde mich mit dir vertauschen?«
»Was denken Sie, Euer Gnaden ...«
»Nichts ‚Euer Gnaden‘, meine Gnaden sind dir nur so weit gnädig, daß ich, als dein geistlicher Sohn, dich nicht prügeln lasse. Aber du sollst fort von hier, und ich lasse dich durchs Dorf führen, damit die Leute wissen, was für ein Taugenichts du bist.«
Man packte den Unglücklichen, zog ihn aus, steckte ihn in einen alten Getreidesack, aus dessen Schlitz nur der Kopf herausschaute,schüttete ihm Flaumfedern über den Kopf und führte ihn in diesem Aufzug durch das ganze Dorf.
Der Geistliche fuhr in die Stadt, reichte eine Klage ein und bat um seine Versetzung, die er auch erhielt. FürStepan Iwanowitsch blieb dieser Vorfall im übrigen ohne alle unangenehmen Folgen.
Eine gewisse Vergeltung übte der beleidigte Geistliche selbst, aber seine Rache war lächerlich und kam sehr spät. Sie wurde erst viele Jahre später offenbar, als Stepan Iwanowitsch eine seiner Töchter verheiraten wollte. Er forderte damals einen Auszug aus dem Taufregister, wo man unerwarteterweise die dumme und ganz sinnlos hineinkorrigierte Eintragung fand, daß dem Stepan Iwanowitsch und seinerehelichenGattin eineunehelicheTochter geboren wurde.
Es war sinnlos und konnte Stepan Iwanowitsch keinen ernstlichen Schaden verursachen, aber es brachte ihn schrecklich auf. Wie durfte man sich mit ihm einen solchen Scherz erlauben! Und wer? — Der Pope! Zudem konnte er es nicht mehr heimzahlen, weil der Pope P. Platon nach Gottes Ratschluß schon früher gestorben war.
Sonst hätte ihn Stepan Iwanowitsch auch in einem anderen Kirchspiel zu finden gewußt ...
Dergestalt waren die wilden Taten dieses Originals, die jetzt in unserer vielgescholtenen Zeit unmöglich wären, oder die man heute bestimmt seiner Psychopathie zugeschrieben hätte. Selbst Wischnewskijs Geschmack und seine Gefühle spiegelten seine seelische Anormalität wieder. So hatte er z. B. für die Schönheit der Natur nichts übrig und liebte ausschließlich die Nacht und die Effekte der Gewitter. In der Tierwelt liebte er nur Tauben und Pferde. Die Tauben liebte er, weil sie sich »küssen«, unddie Pferde, weil sie Schnelligkeit und eine Stimme haben ... ja, so außerordentlich liebte er die »Pferdestimme«, d. h. ihr Wiehern. Um sich das erstere seiner Vergnügen zu verschaffen, hielt er sich vor seinen Fenstern einen großen Taubenschlag und ergötzte sich oft ganze Stunden daran, zuzusehen, »wie sie sich küßten«. Dann rief er Stepanida Wassiljewna zu diesem Schauspiel herbei.
»Schau, — sie küssen sich!«
Des Wieherns halber ritt Stepan Iwanowitsch stets Hengste und blieb ganz gleichmütig, wenn sie ein Gespann in Unordnung brachten. Daran lag ihm nicht viel, wo er aber Pferde wiehern hörte, auf der Straße oder aus einem Hause, blieb er sogleich stehen, hielt den Finger vor sich und erstarrte ... Kein Musiknarr hat vielleicht so leidenschaftlich der Calzolari, Tamberlik oder der Patti gelauscht.
Der Lieblingsanblick Wischnewskijs war seine prachtvolle Pferdeherde, unter der ein mächtiger, schöner Hengst einhergaloppierte. Hörte Stepan Iwanowitsch sein Wiehern selbst aus der Ferne, so hielt er an, und sein Gesicht drückte den Ausdruck vollsten Glückes aus. Es schien, als ob seine Augen, ungeachtet der räumlichen Entfernung, sahen, wie sich das Pferd aufbäumte, die Luft durch Nüstern und Zähne einzog und in Leidenschaft glühend dahinstürmte.
»Hörst du es, Stepanida Wassiljewna?«
»Ja, mein Freund, ich höre.«
Alles, was ihren Mann erfreute, machte auch sie glücklich, und so zeigte sie auch hier Freude, ... und Stepan Iwanowitsch wußte es zu schätzen.
Er war sechzig Jahre alt, als Stepanida Wassiljewnastarb. Er beweinte sie sehr, ging dann aber, trotz seines schon vorgerückten Alters eine zweite Ehe mit einem hübschen achtzehnjährigen kleinrussischen Mädchen aus der Familie Gordienko ein. Auch mit dieser Gemahlin lebte er glücklich, aber ... er gedachte immer Stepanida Wassiljewnas. Trotz ihrer vielen Vorzüge, verstand es seine zweite junge Gemahlin nicht, auf all seine Schwächen und Sonderlichkeiten einzugehen. Stepan Iwanowitsch zeigte ihr die küssenden Tauben nicht und wollte sie auch nicht fragen, ob sie es höre, wie der Sultan der Herde seine schmetternde Stimme verschwenderisch ertönen ließ, sie in Triller auflöste und sie dann um eine Oktave senkte ...
Wischnewskij hatte einmal versucht, die Aufmerksamkeit seiner neuen Frau darauf zu lenken, aber sie hatte sich gefühllos gezeigt, — war nicht einmal aufgestanden und hatte nicht gelächelt, sondern nur kalt gesagt:
»Ja, ich höre, da hat ein Pferd irgendwo gewiehert.« Und damit nahm sie ruhig wieder ihre Arbeit auf ...
Stepan Iwanowitsch sah ein, daß seiner neuen Frau das mangelte, was der ersten eigen gewesen war, und zog sie nie mehr in den Kreis von Begriffen hinein, die ihr unzugänglich waren.
In Augenblicken seelischer Wallungen seufzte er nur auf, suchte mit den Augen das Bildnis Stepanida Wassiljewnas und lächelte ihr zu.
Mit seiner zweiten Gemahlin lebte Wischnewskij noch rund zwanzig Jahre, im Genusse unveränderlicher Gesundheit, und starb zu Beginn seines neunten Jahrzehntes.Im ganzen war er zweiundachtzig Jahre alt geworden. Hinfälliges Greisentum, oder ein langsames, allmähliches Dahinsterben blieben ihm erspart. Als seine Stunde gekommen war, ging er ganz plötzlich dahin, wie eine überreife Himbeere vom Stiele fällt.
An einem Morgen seines dreiundachtzigsten Jahres, im Frühling, wenn in Kleinrußland verschwenderisch der Flieder blüht, ritt Stepan Iwanowitsch eine wilde nogaïsche Stute zu, die sonst niemanden im Sattel duldete.
Mit Hilfe seiner ungewöhnlichen Kraft und seiner ungewöhnlichen Schwere brachte er die wilde Stute zur Erschöpfung. Vom Sattel steigend, übergab er die Zügel den Pferdeknechten, trat auf den Balkon und blieb plötzlich stehen ...
Es schien Wischnewskij, als »falle sein Herz«. Er sei lange geritten, hätte sich im Sattel geschüttelt, und nun sei das Herz abgerissen ... So ganz ohne Schmerz, ohne Beschädigung, wie eine überreife Beere fällt. Um ihn war es leer, und plötzlich begann sich alles zu verschieben, wie Uhrgewichte, deren Seil vom Rad geglitten ist.
Wischnewskij setzte sich schnell in einen Sessel und wollte etwas sagen, aber über seine Lippen kam kein Laut. Alles war so schön, ringsum Blüten und Duft. Er sieht und hört alles, und begreift ... Da haben eben die Pferdeknechte der schweißigen Stute den Sattel abgenommen und führen sie längs der schattigen Mauer. Sie ruht aus, schüttelt sich, und von dem weißen Schaum, der sie bedeckt, fliegen leichte Flocken durch die Luft. Hinter der Mauer des Pferdestalls hallt das Stampfen kräftiger Vorderhufe auf den Fliesen wider, und es tönt laut und wohlklingend wie ein Fagott: I-ha-ha!
Stepan Iwanowitsch ließ die Augen nach rechts und links schweifen ... Sie suchten das Bildnis Stepanida Wassiljewnas, aber dann blieben sie an einem blühenden Fliederstrauche haften, und er lächelte ...
Es ist anzunehmen, daß er dort Stepanida Wassiljewna selbst mit ihrem länglichen Schubinskij-Gesicht sah, — er fiel vom Stuhl zu ihren Füßen nieder, — als Toter. In jenem anderen Leben haben sich die beiden wohl wiedererkannt.
Viele glauben bei uns, daß der Titel »Künstler« nur den Malern und Bildhauern zukommt, und auch nur solchen unter ihnen, die ihn von einer Akademie verliehen bekommen haben. Unsere berühmten Silberschmiede Ssasikow undOwtschinnikow werden von vielen für einfache Handwerker gehalten. In anderen Ländern ist es sicher nicht so. Heine erzählt von einem Schneider, der ein »Künstler« war und »eigene Ideen« hatte, und die Damenkleider aus dem Atelier von Worth gelten heute als Kunstwerke. Über einen solchen Künstler schrieben neulich die Zeitungen, daß er in seinem Schnitt »eine ungewöhnliche künstlerische Phantasie« zeige.
In Amerika wird das Gebiet des künstlerischen Schaffens noch viel weiter aufgefaßt. Der berühmte amerikanische SchriftstellerBret Harte erzählt von einem Künstler, dessen Objekt Leichen waren: er verlieh den Gesichtern der Verstorbenen einen »Ausdruck des Trostes«, der von dem mehr oder weniger glückseligen Zustande der entschwebten Seele zeugen sollte.
Dieser Ausdruck hatte mehrere Abstufungen; ich kann mich nur an drei erinnern: 1. »Ruhe«; 2. »erhabene Beschaulichkeit« und 3. »Seligkeit des unmittelbaren Verkehrs mit dem Herrn«. Die Berühmtheit des Künstlers entsprach durchaus der hohen Vollkommenheit seinerArbeit: sie war ganz kolossal. Leider fiel der Künstler als Opfer der rohen Menge, die für die Freiheit des künstlerischen Schaffens wenig Verständnis hatte. Er wurde gesteinigt, weil er den Ausdruck des »seligen Verkehrs mit dem Herrn« dem Gesicht eines verstorbenen Bankiers verliehen, der die ganze Stadt ausgeraubt hatte. Die glücklichen Erben des Schwindlers hatten dem Verstorbenen auf diese Weise ihren Dank bezeugen wollen, dem Künstler kostete es aber das Leben ...
Auch bei uns in Rußland gab es einen Meister auf diesem nicht ganz gewöhnlichen Gebiete der Kunst.
Die Kinderfrau meines jüngsten Bruders war eine lange, ausgetrocknete, doch recht proportioniert gebaute Alte, namens Ljubow Onissimowna. Sie war in ihrer Jugend leibeigene Schauspielerin am Haustheater des Grafen Kamenskij zu Orjol gewesen, und alles, was ich hiererzähle, hat sich zu Orjol in den Tagen meiner Kindheit abgespielt.
Mein Bruder war um sieben Jahre jünger als ich: als er zwei Jahre alt war und von Ljubow Onissimowna gepflegt wurde, war ich schon über neun und konnte die Geschichten, die sie mir erzählte, gut verstehen.
Ljubow Onissimowna war damals noch nicht sehr alt, hatte aber schon schneeweißes Haar; ihre Gesichtszüge waren fein und zart, die schlanke Figur ungewöhnlich gut gebaut und graziös, wie bei einem jungen Mädchen.
Meine Mutter und Tante sagten, wenn sie sie ansahen, daß sie in ihrer Jugend wohl wunderschön gewesen sei.
Sie war von einer grenzenlosen Ehrlichkeit, Sanftheit und Empfindsamkeit; sie liebte im Leben alles Tragische, trank sich aber zuweilen einen Rausch an.
Sie führte uns meistens auf den Friedhof bei der Dreifaltigkeitskirche spazieren. Sie setzte sich immer auf das gleiche armselige, mit einem einfachen Holzkreuz geschmückte Grab und erzählte mir oft Geschichten.
So hörte ich hier von ihr einmal die Geschichte vom »Toupetkünstler«.
Er war Kollege unserer Kinderfrau am Theater; der Unterschied lag nur darin, daß sie »auf der Bühne Vorstellungen gab und Tänze aufführte«, während er nur ein »Toupetkünstler«, d. h. Friseur und Schminkmeister war und alle leibeigenen Schauspielerinnen des Grafen »anzumalen und zu frisieren« hatte. Er war aber kein alltäglicher Meister mit dem Frisierkamm hinter dem Ohr und der Büchse mit der Fettschminke in der Hand, sondern ein Mann mit eigenenIdeen, mit einem Worte einKünstler.
Ljubow Onissimowna behauptete, daß niemand so gut wie er einem Gesicht »einen Ausdruck« zu verleihen verstand.
Ich kann heute nicht mehr genau sagen, unter welchem von den Grafen Kamenskij diese beiden Künstler gewirkt haben. Es sind drei Grafen dieses Namens bekannt, und alle drei galten in Orjol als »grausame Tyrannen«. Der Feldmarschall Michailo Fedotowisch wurde im Jahre 1809 von seinen eigenen Bauern wegen seiner Grausamkeit erschlagen;dieser hatte zwei Söhne: Nikolai und Ssergej, von denen der erste im Jahre 1811 und der zweite im Jahre 1835 gestorben war.
Als Kind, in den vierziger Jahren, ging ich oft an einem riesengroßen, hölzernen Gebäude vorbei, auf dessen Fassade mit schwarzer und brauner Farbe falsche Fenster gemalt waren und das von einem langen, halb eingefallenen Bretterzaun umgeben war. Es war das verrufene Herrenhaus des Grafen Kamenskij; gleich daneben befand sich auch das Theater. Das letztere stand so, daß man es vom Friedhofe an der Dreifaltigkeitskirche aus gut sehen konnte, und Ljubow Onissimowna leitete alle ihre Erzählungen mit den Worten ein:
»Schau mal hinüber, mein Lieber ... Siehst du das schreckliche Gebäude?«
»Ja, es ist schrecklich, Kinderfrau!«
»Nun will ich dir etwas noch Schrecklicheres erzählen.«
Eine ihrer Erzählungen vom Toupetkünstler Arkadij, einem empfindsamen und kühnen jungen Mann, der ihrem Herzen nahe stand, will ich hier wiedergeben.
Arkadij hatte nur die Schauspielerinnen allein »anzumalen und zu frisieren«. Für die männlichen Schauspieler gab es einen eigenen Friseur, und Arkadij betrat nur in jenen seltenen Fällen die Männergarderobe, wenn er vom Grafen selbst den Auftrag hatte, jemand »in edelster Form anzumalen«. Seine künstlerische Kraft lag darin, daß er einem jeden Gesicht die feinsten und verschiedenartigsten Ausdrücke zu verleihen verstand.
»Man läßt ihn kommen,« berichtete Ljubow Onissimowna, »und sagt ihm: ‚Dieses Gesicht da soll den und den Ausdruck bekommen‘. Arkadij tritt etwas zurück, läßt den Schauspieler oder die Schauspielerin sich vor ihn hinsetzen oder hinstellen, kreuzt die Arme auf der Brust und denkt eine Weile nach. In solchen Augenblicken war er schöner als der schönste Mann, denn er war zwar von mittlerem Wuchs, aber so schlank, wie ich es gar nicht beschreiben kann, hatte eine feine und stolze Nase, Augen voller Engelsgüte und einen dichten Haarschopf, der ihm von der Stirne auf die Augen fiel, so daß er zuweilen wie durch eineNebelwolke hindurch blickte.«
Der Toupetkünstler war, mit einem Wort, ein hübscher Mann und »gefiel allen.« Der »Graf selbst« liebte ihn, zeichnete ihn vor allen anderen aus, ließ ihm schöne Kleider machen, »hielt ihn aber sehr streng«. Er wollte es nicht haben, daß Arkadij außer ihm noch irgendeinen Menschen rasiere oder frisiere. Arkadij mußte sich daher immer im gräflichen Ankleidezimmer aufhalten, außer wenn er am Theater beschäftigt war.
Man ließ ihn sogar nicht in die Kirche zur Beichte und zum Abendmahl gehen, denn der Graf selbst glaubte nicht an Gott und konnte die Geistlichen nicht leiden. Einmal ließ er sogar die Popen von der Borissogljeber Kirche, die zu ihm mit dem Kreuze gekommen waren, mit Hunden hetzen.
Der Graf war, berichtete Ljubow Onissimowna, vor lauter Bosheit abstoßend häßlich und sah allen wilden Tieren zugleich ähnlich. Arkadij verstand aber auch diesem tierähnlichen Gesicht, und wenn auch nur für kurze Zeit, einen solchen Ausdruck zu verleihen, daß der Graf,wenn er abends in seiner Loge saß, würdiger als mancher andere aussah.
Der »Natur« des Grafen gingen aber, zu seinem großen Ärger, am meisten die Würde und der »kriegerische Ausdruck« ab.
Damit ein so unvergleichlicher Künstler wie Arkadij niemand andern mit seinen Diensten beglücken könne, »mußte er sein Leben lang zu Hause sitzen und bekam niemals bares Geld in die Hand«. Er war aber schon über fünfundzwanzig Jahre alt, und Ljubow Onissimowna stand im neunzehnten. Sie waren natürlich miteinander bekannt, und zwischen ihnen waren Beziehungen entstanden, die in diesem Alter häufig sind: sie hatten einander lieb. Sie konnten aber von ihrer Liebe nur in entfernten Andeutungen und nur vor fremden Ohren während des Schminkens sprechen.
Zusammenkünfte unter vier Augen waren unmöglich und selbst undenkbar ...
»Wir Schauspielerinnen,« erzählte Ljubow Onissimowna, »wurden ebenso streng überwacht, wie die Ammen in vornehmen Häusern: wir standen unter der Aufsicht älterer Frauen, welche Kinder hatten; und wenn mit einer von uns, Gott behüte, etwas passierte, so wurden jenen Frauen die Kinder weggenommen und furchtbaren Martern unterzogen.«
Das Gebot der Keuschheit durfte nur der übertreten, der es selbst aufgestellt hatte.
Ljubow Onissimowna stand um jene Zeit nicht nur in der Blüte ihrer jungfräulichen Schönheit, sondern auch in der interessantesten Entwicklungsperiode ihres vielseitigen Talents: sie sang in den Chören die »Potpourris«, tanzte »die ersten Pas in der Chinesischen Gärtnerin« und kannte, von einem Drange nach dem Tragischen erfüllt, »alle Rollen vom bloßen Zuschauen«.
Ich weiß nicht mehr genau, in welchen Jahren sich das abspielte. In Orjol wurde der Kaiser (ich weiß nicht recht, ob es Alexander Pawlowitsch oder Nikolai Pawlowitsch war) erwartet; er sollte in der Stadt übernachten und am Abend einer Vorstellung im Theater des Grafen Kamenskij beiwohnen.
Der Graf lud zu dieser Veranstaltung den ganzen Adel ein (sein Theater war für Geld überhaupt nicht zugänglich) und gab sich Mühe, die Aufführung möglichst glanzvoll zu gestalten. Ljubow Onissimowna sollte das »Potpourri« singen und die »Chinesische Gärtnerin« tanzen; bei der letzten Probe fiel aber eine Kulisse herab und verletzte die Schauspielerin, die im Stücke »Die Herzogin de Bourblanc« die Hauptrolle spielen sollte, am Fuße.
Ich habe noch nie etwas von einem Stück mit diesem Titel gehört, aber Ljubow Onissimowna sprach den Namen der Heldin so aus, wie ich ihn hier wiedergebe.
Die Theaterarbeiter, die die Kulisse fallen ließen, bekamen im Pferdestall ihre Prügel, die Verletzte wurde in ihre Kammer getragen, es gab aber niemand, der die Rolle der Herzogin de Bourblanc übernehmen konnte.
»Ich erklärte mich bereit,« erzählte Ljubow Onissimowna,»diese Rolle zu spielen, denn es gefiel mir so gut, wie die Herzogin de Bourblanc ihren Vater auf den Knien um Verzeihung bittet und nachher mit aufgelösten Haaren stirbt. Ich hatte aber schönes langes blondes Haar, und Arkadij verstand es wunderbar zu frisieren.«
Der Graf war über die unerwartete Bereitwilligkeit des Mädchens, die Rolle zu spielen, sehr erfreut und sagte dem Regisseur, als dieser bestätigte, daß »Ljuba die Rolle nicht verpatzen werde«:
»Wenn sie die Rolle verpatzt, wirst du es mir mit deinem Rücken büßen, ihr aber bringe von mir die Quamarin-Ohrringe.«
Die »Quamarin-Ohrringe« waren ein ebenso schmeichelhaftes wie verhaßtes Geschenk. Ihre Verleihung bedeutete die hohe Ehre, für einen Augenblick zur Odaliske des Grafen erhoben zu werden. Einige Zeit oder auch unmittelbar nach der Verleihung der Ohrringe bekam Arkadij den Auftrag, das zum Opfer auserwählte Mädchen gleich nach der Vorstellung als »heilige Cäcilie« zu kostümieren; das Mädchen wurde ganz weiß gekleidet, bekam den Heiligenschein um den Kopf und eine Lilie, das Symbol der Unschuld, in die Hand und wurde so in die Gemächer des Grafen geschafft.
»Das kannst du in deinem Alter noch nicht verstehen,« sagte die Kinderfrau, »es war aber das Schrecklichste, besonders für mich, denn ich sehnte mich damals nur nach Arkadij. Also begann ich zu weinen. Ich warf die Ohrringe auf den Tisch und konnte mir gar nicht denken, wie ich am Abend spielen würde.«
Um diese selbe Stunde trat auch an Arkadij eine ebenso verhängnisvolle Versuchung heran.
Ein Bruder des Grafen, der immer auf seinem Gute lebte, kam in die Stadt, um sich dem Kaiser vorzustellen. Dieser Bruder war noch viel häßlicher als der andere: er hielt sich ständig auf dem Lande auf, zog nie die Uniform an und ließ sich niemals rasieren, weil sein Gesicht voller Beulen und Höcker war. Bei dieser außergewöhnlichen Gelegenheit mußte er aber die Uniform anlegen, sein Äußeres in Ordnung bringen und jenen »kriegerischen Ausdruck« annehmen, der damals verlangt wurde.
Es wurde aber sehr viel verlangt.
»Heute weiß man gar nicht mehr, wie streng damals alles war,« sagte die Kinderfrau. »In allen Dingen wurde damals viel auf die Form gesehen, und den vornehmen Herren waren wie der Gesichtsausdruck, so auch die Haartracht genau vorgeschrieben. Manchem stand aber dieses vorschriftsmäßige Aussehen gar nicht: wenn man ihn nach der Vorschrift mit dem aufrecht stehenden Schopf über der Stirne und den nach vorne gekämmten Haaren an den Schläfen frisierte, so sah er wie eine Bauern-Balalaika ohne Saiten aus.« Die vornehmen Herren hatten davor große Angst. Alles kam auf die Kunst des Friseurs und Raseurs an: von der Art und Weise, wie die Stege zwischen dem Backenbart und dem Schnurrbart ausrasiert, wie die Locken gebrannt und wie sie angeordnet waren, hing der ganze Gesichtsausdruck ab. Die Herren vom Zivil hatten es, wie die Kinderfrau sagte, viel leichter, denn man schenkte ihnen weniger Beachtung und verlangte von ihnen nur ein bescheidenes Aussehen; von den Militärpersonen verlangte man aber, daß sie den Vorgesetzten gegenüber Bescheidenheit und allen anderen Menschen gegenüber maßlosen Kampfesmut ausdrückten.
Arkadij verstand aber mit seiner wunderbaren Kunst, dem häßlichen und unbedeutenden Gesicht des Grafen eben diesen Ausdruck zu verleihen.
Der ländliche Graf war noch viel häßlicher als der städtische und so furchtbar verwachsen und verroht, daß er es auch selbst fühlte. Er hatte aber niemand, der sein Äußeres in Stand halten könnte: seinen eigenen Friseur hatte er aus lauter Geiz gegen Zins nach Moskau entlassen; auch hatte er so viele Höcker im Gesicht, daß man ihn unmöglich rasieren konnte, ohne ihm die ganze Haut zu zerschinden.
Er kommt also nach Orjol, beruft zu sich alle Barbiere der Stadt und sagt ihnen:
»Wer von euch mich so herrichten kann, daß ich meinem Bruder, dem Grafen Kamenskij gleiche, bekommt zwei Dukaten. Für denjenigen aber, der mich dabei schneidet, lege ich zwei Pistolen auf den Tisch. Wer seine Sache gut macht, kann das Gold nehmen und gehen; wer mir aber auch nur ein Pickelchen verletzt oder den Backenbart auch nur um ein Haar verschneidet, den töte ich auf der Stelle.«
Er wollte den Leuten nur Angst machen, denn die Pistolen waren gar nicht geladen.
In Orjol gab es damals nur sehr wenig Barbiere, und diese hielten sich meistens in den Bädern auf, um Schröpfköpfe und Blutegel anzusetzen, hatten aber weder Geschmack noch Phantasie. Das sahen sie auch selbst ein und weigerten sich, den Grafen Kamenskij umzuwandeln. »Gott sei mit dir und deinem Gold!« dachten sie sich.
»Was Sie von uns verlangen,« sagen sie ihm, »können wir gar nicht machen, denn wir sind nicht wert, eine so erhabene Person auch nur anzurühren. Uns fehlen auch die richtigen Rasiermesser: wir haben nur gewöhnliche russische Messer, für Ihr Gesicht braucht man aber ein englisches. Nur des Grafen Barbier Arkadij allein könnte so was fertig bringen.«
Der Graf läßt die städtischen Barbiere hinauswerfen, und diese sind froh, daß sie mit heiler Haut davongekommen sind. Er selbst aber fährt zu seinem älteren Bruder und sagt:
»Lieber Bruder, ich komme zu dir mit einer großen Bitte: überlasse mir vor dem Abend deinen Arkadij, damit er mich in einen ordentlichen Zustand bringt. Ich habe mich schon lange nicht rasieren lassen, und die hiesigen Barbiere können das nicht machen.«
Und der Graf antwortet seinem Bruder:
»Die hiesigen Barbiere taugen selbstverständlich zum Teufel. Ich wußte gar nicht, daß es hier welche gibt: ich lasse selbst meine Hunde von eigenen Leuten scheren. Was aber deine Bitte betrifft, so verlangst du von mir etwas Unmögliches; denn ich habe den Eid geleistet, daß Arkadij, so lange ich lebe, keinen Menschen außer mir anrühren wird. Glaubst du denn, daß ich mein Wort vor meinem leibeigenen Sklaven brechen kann?«
Der andere antwortet:
»Warum denn nicht? Du hast es so angeordnet und kannst es auch selbst wieder abschaffen.«
Der ältere Graf sagt aber, daß er diese Ansicht sehr merkwürdig finde:
»Wenn ich das tue, was kann ich dann von meinenLeuten verlangen? Arkadij weiß, daß ich es einmal so festgesetzt habe, und alle wissen es, dafür wird er auch viel besser als die anderen behandelt. Wenn er sich aber untersteht, seine Kunst auf jemand andern anzuwenden, so muß ich ihn zu Tode prügeln und unter die Rekruten stecken.«
Der Bruder erwidert darauf:
»Du kannst ja nur das eine von beiden tun: ihn entweder zu Tode prügeln oder unter die Rekruten stecken; beides zugleich kannst du gar nicht machen.«
»Gut,« sagt der Ältere, »ich will deinen Wunsch erfüllen. Ich werde ihn aber nicht zu Tode, sondern nur halbtot prügeln und dann unter die Rekruten stecken.«
»Ist das dein letztes Wort, Bruder?«
»Ja, das allerletzte.«
»Ist das dein einziges Bedenken?«
»Ja, das einzige.«
»Dann ist es wunderschön; ich hatte schon geglaubt, daß dein leiblicher Bruder dir weniger wert ist als ein leibeigener Sklave. Du brauchst also deinen Befehl gar nicht aufzuheben, schick mir nur deinen Arkadij,damit er mir meinen Pudel schert. Das weitere ist aber schon meine Sache.«
Der Bruder konnte ihm diese Bitte nicht gut abschlagen.
»Gut,« sagte er, »deinen Pudel darf er wohl scheren.«
»Das ist alles, was ich brauche.«
Er drückte dem Bruder die Hand und fuhr heim.
Das war um die Dämmerstunde im Winter, wo man eben die Lampen anzündet.
Der Graf läßt Arkadij kommen und sagt ihm:
»Geh zu meinem Bruder ins Haus und scher ihm seinen Pudel.«
Arkadij fragt:
»Ist das alles, was Sie mir befehlen?«
»Das ist alles,« sagt der Graf. »Komm aber bald zurück, denn du mußt noch die Schauspielerinnen frisieren. Ljuba wird heute in drei Rollen spielen, nach dem Theater sollst du sie mir aber als heilige Cäcilie einkleiden.«
Arkadij Iljitsch fiel beinahe um.
Der Graf fragte:
»Was hast du denn?«
Arkadij aber antwortete:
»Verzeihung, ich bin auf dem Teppich ausgeglitten.«
Der Graf witterte wohl etwas:
»Paß auf, daß es kein Unglück gibt!«
Arkadij war esaber schon so zumute, daß er nicht mehr an Glück und Unglück dachte.
Als er den Befehl hörte, mich als heilige Cäcilie einzukleiden, verging ihm Hören und Sehen. Er nahm das Lederfutteral mit dem Rasierbesteck und ging hinaus.