VIERZEHNTES KAPITEL

»Interessant,« sagte er, »interessant. Aber warum soll ich dem dummen Menschen mit dem Geiste glauben, daß er nicht selbst davonläuft?«

»Nun, das ist eben Sache des gegenseitigen Vertrauens.«

»Gegenseitiges Vertrauen,« wiederholte er ... »Hm, gegenseitiges Vertrauen! Soll ich für einen dummen Bauern nach Sibirien, oder er für mich unter die Knute? Hm, hm, wenn er sein Wort hält ... unter die Knute ... Das ist interessant.«

Man schickte nach Maroi, erklärte ihm, worum es sich handle, und er sagte: »Nun, was ist dabei?«

»Und du wirst nicht davonlaufen?« fragte der Engländer.

Maroi antwortete: »Warum denn?«

»Damit man dich nicht peitscht und nach Sibirien verschickt.«

Aber Maroi erwiderte: »Nun, weiter nichts?«

Der Engländer ist vor Freude lebendig geworden:

»Reizend,« sagt er, »wie interessant!«

Gleich nach der Unterredung begann die Aktion. Am Morgen setzten wir die große herrschaftliche Barkasse in Stand und fuhren den Engländer ans andere Ufer. Dort setzte er sich mit dem Ikonenmaler Ssewastjan in eine Kalesche und fuhr zum Kloster. Nach einer gutenStunde sehen wir unseren Ikonenmaler dahereilen mit einem Blatt in den Händen.

Wir fragen:

»Hast du sie gesehen, Teurer, und kannst du sie jetzt nachmachen?«

»Ich habe sie gesehen,« antwortet er, »und werde sie genau treffen, vielleicht, daß sie etwas lebhafter in den Farben wird, aber das ist kein Unglück, denn wenn die echte Ikone herkommt, werde ich in einem Nu das Leuchten der Farben dämpfen.«

»Väterchen,« bitten wir, »gib dir Mühe!«

»Schon gut,« erwidert er, »werde mich schon bemühen.«

Und kaum hatten wir ihn zurückgerudert, als er sich auch gleich an seine Arbeit setzte, und um die Dämmerung war der Engel auf dem Täfelchen fertig und glich unserm versiegelten, wie ein Tropfen Wasser dem andern, nur die Farben schienen etwas frischer.

Gegen Abend schickte der Vergolder die neuen Beschläge, und nun kam die gefährliche Stunde unseres Diebstahls.

Wir hatten, wie es sich versteht, alles vorbereitet und warteten auf den gegebenen Augenblick. Kaum ließen sich vom anderen Ufer her die ersten Glockenklänge zur Abendmesse vernehmen, als wir zu dritt ein Boot bestiegen, ich, Luka und der alte Maroi, der ein Beil, einen Meißel, eine Brechstange und ein Seil mitgenommen hatte, um mehr einem Diebe zu gleichen. Wir steuerten gerade auf die Klostermauer zu.

Die Dämmerung bricht um diese Jahreszeit früh an, und obwohl es Vollmondwoche war, blieb die Nacht pechschwarz, eine richtige Diebesnacht. Am anderen Uferangelangt, ließen Maroi und Luka mich im Boot zurück und schlichen zum Kloster hinauf. Ich wartete voll Ungeduld. Die Ruder hatte ich ins Boot genommen, das ich an einem Strickende am Ufer festhielt, und war bereit abzustoßen, sobald Luka seinen Fuß ins Boot setzen würde. In der Besorgnis, wie alles gelingen würde und ob wir die Spuren unseres Diebstahls rechtzeitig verwischen könnten, erschien mir die Zeit schrecklich lang. Es dünkte mir, es sei schon viel Zeit verstrichen. Die Dunkelheit war entsetzlich, der Wind fegte nunmehr anstatt des Regens nassen Schnee daher. Das Boot schaukelte, und ich treuloser Knecht begann, mich allmählich in meinem Mantel erwärmend, einzuschlummern. Plötzlich beginnt das Boot unter einem Stoß zu schwanken, ich zucke zusammen und sehe den Onkel Luka im Boote stehen, der mit fremder, gepreßter Stimme sagt: »Rudre!«

Ich ergreife die Ruder, kann sie aber vor Schreck nicht in die Dollen einlegen. Schließlich gelingt es mir, ich stoße vom Ufer ab und frage: »Onkel, habt ihr den Engel bekommen?«

»Ich habe ihn, rudre stärker!«

»Erzähle doch,« forsche ich weiter, »wie habt ihr ihn bekommen?«

»Genau wie es geplant war.«

»Werden wir noch rechtzeitig zurückkommen können?«

»Wir müssen es können: eben erst haben sie mit der großen Litanei begonnen. Rudre! Wohin ruderst du?«

Ich sehe mich um: Großer Gott, ich rudere wirklich nicht in unsere Richtung, und doch scheint es mir, daß ich richtig quer über die Strömung halte, aber unsereSiedlung ist nicht zu sehen, weil Schnee und Sturm schrecklich daherfegen und mich blind machen. Ringsum heult der Wind und schaukelt das Boot, und oben vom Fluß weht es wie von Eis her.

Aber mit Gottes Gnade erreichen wir das Ufer, springen beide aus dem Boot und laufen, was wir laufen können. Der Ikonenmaler ist schon bereit; er handelt kaltblütig und entschlossen. Vor allem nimmt er die Ikone, und als alle vor ihr niederfallen und sich verneigen, läßt er sie den versiegelten Engel küssen und schaut selbst bald auf ihn, bald auf die Kopie und sagt: »Sie ist gut! Man muß sie nur ein wenig mit Safran dämpfen und etwas mit schmutziger Farbe tönen.« Damit nimmt er die Ikone, spannt sie in den Schraubstock, richtet die Säge her ... und dann fliegt sie nur. Wir alle stehen herum und schauen voller Angst zu, ob er die Ikone nicht beschädige. Stellen Sie sich vor, wie er mit seinen übergroßen Händen das Bild, welches kaum stärker als ein Blättchen dünnsten Schreibpapieres ist, vom Brett abtrennt. Wie leicht ist da ein Unglück geschehen: wenn die Säge nur um ein Haar schief geht, so schneidet sie es durch und zerreißt das Antlitz! Der Ikonenmaler Ssewastjan aber verrichtete die schwierige Arbeit mit solcher Kaltblütigkeit und Kunstfertigkeit, daß es einem, wenn man ihn dabei betrachtete, gleich ruhig ums Herz wurde. Wie er das Bild als dünnste Schicht abgetrennt hat, schneidet er in einem Augenblick das Ausgesägte aus den Rändern heraus, nimmt seine Kopie, zerknittert sie in der Faust und schlägt sie dann auf die Tischkante, als wolle er sie zerreißen und vernichten; schließlich betrachtet er die Leinwand gegen das Licht, und nun ist das neue Bildchen voller Sprüngewie ein feines Sieb, Ssewastjan klebt es nun auf das alte Brett, nimmt dunkle Schmutzfarbe auf die Hand, mischt sie mit dem Finger mit Safran und altem Firnis zu einer Art Kitt und reibt damit kräftig, mit der vollen Handfläche das zerknitterte Bildchen ein. Dies alles hatte er mit großer Schnelligkeit vollführt, und nun sah die neue Ikone aus wie eine alte und glich aufs genaueste der echten.

Dann wurde die Kopie in einem Nu mit Lack bedeckt, und wir setzten sie in den Rahmen. Nun nahm Ssewastjan das echte, vom Brett abgetrennte Bild und verlangte so schnell wie möglich einen Fetzen von einem alten Filzhute.

Damit begann der äußerst schwierige Prozeß der Entsiegelung.

Man gab dem Ikonenmaler einen Hut, und er zerriß ihn sofort über dem Knie in zwei Teile, bedeckte mit dem einen den versiegelten Engel und schrie: »Das heiße Plätteisen!«

Im Ofen lag auf sein Geheiß ein schweres Schneiderbügeleisen. Michailiza packte es mit der Ofengabel und reichte es Ssewastjan. Jener umwickelte den Griff mit einem Lappen, spuckte auf das Eisen und legte es auf den Filzfetzen. Von dem Filz steigt ein böser Gestank auf, aber der Ikonenmaler wiederholt es noch und noch einmal und nimmt es dann plötzlich weg. Seine Hand fliegt wie der Blitz; der Rauch steigt schon in einer Säule hoch, aber Ssewastjan versteht zu backen: mit der einen Hand dreht er langsam den Filzlappen und mit der anderen führt er geschickt das Eisen. Mit jedemmal fährt er langsamer, aber fester darüber und dann wirft er plötzlich den Fetzen und das Eisen weg und hältdie Ikone ans Licht: das Siegel ist fort, als wäre es nie dagewesen! Der starke Stroganower Lack hat standgehalten, der Siegellack ist vollständig verschwunden, nur ein schwacher feuerroter Tau ist zurückgeblieben, aber das leuchtende, heilige Antlitz ist jetzt ganz zu sehen.

Der eine weint, der andere betet, der dritte beugt sich über die Hände des Ikonenmalers, um sie zu küssen, nur Luka Kirillow vergißt seine Aufgabe nicht, sondern kargt mit jeder Minute. Er reicht Ssewastjan die Kopie und sagt:

»Nun, mach schneller fertig!«

Aber jener antwortet: »Mein Werk ist beendet, ich habe alles getan, was ich übernommen habe.«

»Und das Siegel aufdrücken?«

»Wohin?«

»Ja hierher, auf das Gesicht des neuen Engels, wie es bei jenem alten war.«

Aber Ssewastjan schüttelt den Kopf und antwortet:

»Nein, ich bin kein Beamter, daß ich mich erfrechen würde, so etwas zu tun.«

»Was sollen wir nun anfangen?«

»Ja, das weiß ich doch nicht. Ihr hättet dafür einen Beamten oder einen Deutschen herbitten sollen. Das habt ihr jetzt versäumt, nun tut es selbst.«

Luka erwidert:

»Was glaubst du wohl! Um nichts in der Welt werden wir uns dazu erfrechen.«

Und der Ikonenmaler antwortet:

»Auch ich werde mich nicht erfrechen.«

Während der wenigen Minuten dieses Streites stürzt plötzlich die Frau Jakow Jakowlewitschs totenbleich ins Zimmer und spricht:

»Seid ihr denn noch nicht fertig?«

Wir antworten, wir seien fertig und auch wieder nicht fertig: das Wichtige sei vollbracht, aber eine Kleinigkeit vermöchten wir nun nicht.

Sie erwidert: »Auf was wartet ihr denn? Hört ihr denn nicht, was sich draußen tut?«

Wir horchen und erbleichen noch mehr als sie. In unserer Sorge hatten wir dem Wetter keine Aufmerksamkeit geschenkt, und nun hören wir es draußen toben: das Eis geht!

Ich springe hinaus und sehe, wie das Eis schon über den ganzen Fluß treibt, wie die Schollen krachend und berstend übereinander springen. Besinnungslos stürze ich zu den Booten, ... kein einziges ist mehr da, alle sind fortgeschwemmt. Mir stockt die Zunge im Munde, so daß ich kein Wort über die Lippen bringe, und mir scheint es, ich versinke in die Erde ... Ich stehe da ... rühre mich nicht ... und gebe keinen Laut von mir.

Aber während wir hier im Dunkeln umherirren, hatte die Engländerin, die mit Michailiza in der Stube zurückgeblieben war, die Ursache der Verzögerung erfahren, die Ikone ergriffen ... und einen Augenblick später eilt sie, in der einen Hand eine Laterne haltend, mit dem Bild auf die Treppe hinaus und schreit:

»Nehmt! Fertig!«

Wir schauen hin: auf dem Antlitz des neuen Engels ist das Siegel!

Luka steckt die beiden Ikonen sofort in den Busen und schreit:

»Das Boot!«

Ich eröffne ihm, daß kein Boot da ist, daß alle fortgetrieben sind.

Und ich sage Ihnen, das Eis treibt daher wie eine Herde, zerschellt an den Pfeilern und erschüttert die Brücke, so daß die armdicken Ketten dröhnen.

Wie die Engländerin dies hört, wirft sie die Hände empor und schreit mit unmenschlicher Stimme: »James!« Und sie fällt in Ohnmacht.

Und wir stehen dabei und fühlen nur das eine: »Wo bleibt jetzt unser Wort? Was wird jetzt mit dem Engländer, was mit dem alten Maroi?«

Eben ertönt vom Glockenturm des Klosters das dritte Läuten.

Da rafft sich Onkel Luka auf und ruft der Engländerin zu:

»Komm zu dir, Gnädige, deinem Manne wird nichts geschehen. Vielleicht wird der Henker das alte Fell unseres Maroi peitschen und sein ehrliches Gesicht mit dem Brandzeichen entehren, aber das soll erst nach meinem Tode geschehen.« Dabei bekreuzigt er sich und geht.

Ich schreie ihm zu: »Onkel Luka, wo willst du hin? Lewontij ist umgekommen, auch du wirst es!« Und ich eile ihm nach, um ihn aufzuhalten. Allein er hebt das vor seinen Füßen liegende Ruder auf, das ich bei unserer Ankunft auf die Erde geworfen habe, schwingt es über mich und schreit: »Fort, oder ich schlage dich tot!«

Meine werten Herren, ich habe mich in meiner Erzählung offen genug als kleinmütig bekannt, als ich den verstorbenen Knaben Lewontij auf der Erde seinem Schicksal überließ und selbst auf einen Baum kletterte; aber ehrlich und offen sage ich Ihnen, daß ich hier vor dem Ruder Onkel Lukas nicht erschrocken und auch nichtzurückgewichen wäre ... aber, ob Sie es mir glauben oder nicht, in dem Augenblick, als ich mich des Namens Lewontijs erinnerte, sah ich, wie die Gestalt des Jünglings zwischen mir und Luka in der Dunkelheit erstand und drohend gegen mich die Hand erhob. Diesen Schrecken konnte ich nicht ertragen und wich zurück. Aber Luka stand schon am Ende der Kette und rief uns plötzlich, den einen Fuß auf die Kette setzend, zu:

»Stimmt den Chor an!«

Unser Vorsänger Arefa steht bei uns, vernimmt es und beginnt sogleich: »Ich öffne die Lippen«. Die anderen fallen ein, und so schreien wir den Chor dem Sturmgeheul entgegen, und Luka bangt nicht vor den Todesschrecken und schreitet über die Brückenketten weiter. Binnen einer Minute hat er das erste Joch zurückgelegt und steigt zum zweiten nieder ... Und weiter? Die Dunkelheit umfängt ihn, er ist nicht mehr zu sehen: ob er noch geht oder schon herabgestürzt ist und von den verfluchten Schollen in den Strudel getrieben wird, wir wissen es nicht, wir wissen nicht, ob wir für seine Rettung oder für die ewige Ruhe seiner starken, liebenswerten Seele beten sollen.

Was war inzwischen am anderen Ufer geschehen? Seine Eminenz der Erzbischof zelebrierte wie gewöhnlich die Abendmesse und ahnte nicht, daß inzwischen am Nebenaltar ein Diebstahl ausgeführt wurde. Unser Engländer Jakow Jakowlewitsch, der mit seiner Erlaubnis an diesem Altar stand, stahl den Engel und schickte ihn, wie er es geplant hatte, mit seinem Mantelhinaus, wo Luka mit ihm davoneilte. Der alte Maroi blieb seinem Worte getreu vor dem gleichen Fenster stehen und wartete bis zur letzten Minute. Kehrte Luka nicht zurück, so würde er, gleich nachdem sich der Engländer zurückgezogen hätte, das Fenster einschlagen und mit der Brechstange und dem Meißel wie ein wirklicher Dieb durch das Fenster in die Kirche steigen. Der Engländer wendet kein Auge von ihm und sieht, wie der alte Maroi, gehorsam und seinem Versprechen getreu, dasteht und ihm zunickt, wenn er das Gesicht des Engländers dem Fenster zugewendet erblickt, als ob er sagen wollte: »Hier bin ich, der verantwortliche Dieb«.

So beweisen sie einander ihren Edelmut, und keiner will dem anderen gestatten, ihn im gegenseitigen Vertrauen zu übertreffen. Aber zu ihrer beider Glauben gesellt sich noch ein dritter, stärkerer, von dessen Wirken sie jedoch nichts wissen. Als der letzte Glockenschlag der Nachtmesse verklungen war, öffnete der Engländer leise das Klappfenster, damit der alte Maroi hereinsteige, und war schon im Begriff, sich zurückzuziehen, als er plötzlich bemerkte, daß sich der alte Maroi abgewendet hatte, ihn nicht mehr ansah, sondern gespannt nach dem Flusse hinüberschaute und in einem fort wiederholte:

»Helfe ihm Gott herüber, helfe ihm Gott herüber, helfe ihm Gott herüber!«

Dann sprang er plötzlich auf, tanzte wie betrunken und schrie:

»Gott hat ihm herübergeholfen, Gott hat ihm herübergeholfen!«

Jakow Jakowlewitsch geriet in helle Verzweiflung und dachte:

»Jetzt ist es zu Ende: der dumme Alte ist verrückt geworden, ich bin verloren!« Da sieht er auf einmal, wie Maroi den Luka umarmt.

Der alte Maroi stammelt: »Ich habe geschaut, wie du mit Laternen über die Ketten gingst.«

Luka erwidert: »Ich hatte keine Laterne dabei.«

»Woher kam das Leuchten?«

Luka antwortet:

»Ich weiß nicht, ich habe kein Leuchten gesehen, ich bin so schnell gelaufen, wie ich konnte, und weiß nicht einmal, wie ich herübergekommen und nicht gefallen bin.«

»Das waren Engel ... ich habe sie gesehen, und darum überlebe ich diesen Tag nicht und sterbe noch heute.«

Luka aber hat keine Zeit, viel zu reden, und so antwortet er dem Alten nicht, sondern reicht dem Engländer beide Ikonen durch das Fenster. Der nimmt sie und fragt:

»Warum ist kein Siegel darauf?«

Luka fragt: »Wieso ist keines?«

»Ja, es ist keines.«

Da bekreuzigt sich Luka und sagt:

»Nun ist es aus. Jetzt ist keine Zeit, es auszubessern. Dieses Wunder hat der Engel der herrschenden Kirche vollbracht, und ich weiß weshalb.«

Damit stürzt Luka in die Kirche, drängt sich in den Altarraum, wo man den Erzbischof eben entkleidet, wirft sich ihm zu Füßen und spricht:

»Ich bin ein Gotteslästerer, und das habe ich getan!« Und er erzählt ihm alles. »Nun befehlen Sie, daß man mich in Ketten legt und ins Gefängnis abführt.«

Der Bischof hört voll Würde alles an und antwortet:

»Durch Betrug habt ihr das Siegel von eurem Engelgenommen, unser Engel hat es selbst von sich genommen und dich hergeführt.«

Luka erwidert:

»Ich sehe es, Eminenz, und erbebe. Befehlen Sie nur rasch, daß man mich dem Strafgericht überliefert.«

Aber der Erzbischof antwortet in vergebendem Tone:

»Kraft der mir von Gott gegebenen Gewalt vergebe ich dir und spreche dich los. Bereite dich vor, morgen Christi allerreinsten Leib zu empfangen.«

Nun, und weiter, meine werten Herren, glaube ich, daß ich Ihnen nichts mehr zu erzählen habe. Luka Kirillow und der alte Maroi kehrten am nächsten Morgen zurück und sagten:

»Väter und Brüder, wir haben die Herrlichkeit des Engels der herrschenden Kirche gesehen, die Vorsehung Gottes über ihr und die Güte ihres Hierarchen; wir sind selbst von ihm mit dem heiligen Öl gesalbt worden und haben heute bei der Messe den Leib und das Blut des Erlösers empfangen.«

Ich trug in mir schon lange, seit dem Besuch beim Starez Pamwa, das Verlangen, mich im Geiste mit ganz Rußland zu vereinigen und rief:

»Und wir gehen mit dir, Onkel Luka!«

Und so versammelten wir uns alle zu einer Herde, wie Schäflein unter einem Hirten, und hatten kaum begriffen, wozu und wohin der versiegelte Engel uns alle geführt hatte, warum seine Wege zu Beginn verworren waren, und wie er sich dann der Menschenliebe willen entsiegelte, die sich in jener schrecklichen Nacht offenbarte.

Der Erzähler war zu Ende. Die Hörer schwiegen; schließlich aber räusperte sich jemand und bemerkte, daß in dieser Geschichte alles zu erklären sei: Michailizas Träume, die Erscheinung, die sie im Halbschlaf erblickte, das Herunterfallen des Engels, den eine hereingelaufene Katze oder ein Hund herabgestoßen hatte, auch Lewontijs Tod, der schon vor seiner Begegnung mit Pamwa krank gewesen war, das alles sei erklärlich. Zu erklären sei schließlich auch die zufällige Erfüllung der Worte des in Rätseln sprechenden Pamwa.

»Begreiflich ist auch«, fügte der Hörer hinzu, »daß Luka mit dem Ruder über die Ketten gegangen ist: die Maurer sind bekannt als Meister im Steigen und Klettern, und mit dem Ruder hatte er das Gleichgewicht gehalten. Es ist schließlich auch begreiflich, daß Maroi um Luka ein Leuchten gesehen hat, das er für Engel hielt. Einem aufs äußerste gespannten, vor Kälte erstarrten Menschen mag allerlei vor den Augen flimmern! Ich würde es selbst noch begreiflich finden, wenn zum Beispiel der alte Maroi, seiner Voraussage nach, den Tag nicht überlebt hätte ...«

»Er hat ihn nicht überlebt«, erwiderte Mark.

»Vortrefflich! Auch hierin ist nichts Verwunderliches, wenn ein achtzigjähriger Greis nach solchen Aufregungen und einer derartigen Erkältung stirbt. Aber was mir in der Geschichte ganz unerklärlich bleibt, ist, wie das Siegel, das die Engländerin auf den neuen Engel aufgedrückt hatte, verschwinden konnte?«

»Nun, das ist gerade das Allereinfachste«, sagte Markheiter, und erzählte, wie man bald darauf das Siegel zwischen Beschlag und Bild gefunden habe.

»Wie konnte das geschehen?«

»Nun so: auch die Engländerin wollte sich nicht erdreisten, das Gesicht des Engels zu beschädigen, und so befestigte sie das Siegel auf einem Papier, das sie unter den Beschlag schob. Das war sehr klug und kunstfertig von ihr gehandelt, als aber Luka die Heiligenbilder auf seiner Brust beim Tragen erschütterte, fiel das Siegel ab.«

»Nun, jetzt ist also die ganze Geschichte einfach und natürlich.«

»Ja, so schließen viele, daß hier alles auf ganz gewöhnliche Weise vor sich gegangen sei, und nicht nur die gebildeten Herrschaften, denen sie bekannt geworden ist, sondern auch die Unsrigen, die im Schisma verblieben sind, lachen darüber, daß uns eine Engländerin mit einem Papierchen der Kirche zugeschoben habe. Aber wir streiten nicht gegen solche Beweise. Jeder beurteilt es so, wie er es glaubt, uns aber ist es gleich, auf welchen Wegen der Herr den Menschen zu finden weiß und aus welchem Gefäß er ihn tränkt, wenn er ihn nur sucht und seinen Durst nach Vereinigung mit dem Vaterlande stillt. — Aber da kommen schon die Fell-Bauern aus dem Schnee gekrochen. Haben sich anscheinend ausgeruht, die Herzigen, und werden gleich weiterfahren. Vielleicht nehmen sie mich ein Stück mit. Die Wassilijnacht ist vorbei. Ich habe Sie ermüdet und Ihnen vielerlei von mir berichtet. Dafür habe ich die Ehre, Sie zum neuen Jahr zu beglückwünschen, und verzeihen Sie mir Unwissendem um Christi Willen!«

Im Perejaslawer Kreise des Poltawaschen Gouvernements lebte der Gutsbesitzer Iwan Gawrilowitsch Wischnewskij. Durch die Freigebigkeit der Kaiserin Jelisaweta Petrowna hatte er ein großes Gut an beiden Ufern des Flusses Ssupoi erhalten. (Die Flüsse Udai und Ssupoi werden in einem Lehrbuch der Geographie als »wegen ihrer vielen Mängel zur Schiffahrt ungeeignet« bezeichnet.) Das Gut bestand aus zwei großen Dörfern, von denen das eine Farbowanaja hieß, das andere Ssosnowka.

Der alte Pan Iwan Wischnewskij lebte und starb auf diesem Gut. Nach seinem Tode gingen Farbowanaja und Ssosnowka auf seinen Sohn, Stepan Iwanowitsch Wischnewskij über, der eine heroische Berühmtheit erlangte. Es ist freilich möglich, daß die Phantasie diese durch Legenden ergänzt und ausgeschmückt hat.

Stepan Iwanowitsch war athletisch gebaut, ein Recke, dabei gastfreundlich, starrköpfig und ein schrecklicher Wüstling, aber er besaß Bildung. Er war einer der jungen Leute gewesen, die die Kaiserin Jekaterina nach England geschickt hatte, »zur Ausbildung des Verstands und des Herzens«. Nach seiner Rückkehr aus England trat er ins Garderegiment zu Pferd ein, aber als er den Rang eines Leutnants erhalten hatte, nahm er seinen Abschied, heiratete eine Adelige aus dem Twerschen Gouvernement,Stepanida Wassiljewna aus dem Geschlechte der Schubinskijs, und ließ sich in seinem eigenen Hause zu Moskau nieder.

Zu tun hatte Wischnewskij hier nichts, und er begann »wunderlich« zu werden.

Vor allem gedachte er, den Moskowitern durch seine kosakische Nationalität zu imponieren. Er wollte mit niemand verkehren, kleidete sich kleinrussisch, trank viel »Gebrannten« und aß angeblich nur Bärenfleisch.

Der Kaiserin wurde berichtet, daß Wischnewskij »die gesellschaftlichen Sitten außer Acht lasse«, und dem Starrkopf wurde eine Rüge zuteil. Er beschloß sich zu bessern und ließ sich zu diesem Zwecke aus Kleinrußland einen Kosakenwagen mit einem Ochsengespann nach Moskau bringen und dazu einen Burschen, der mit den Ochsen umzugehen verstand. Am Tage der üblichen und für alle angesehenen Personen der Residenz obligatorischen Visiten schickte sich Stepan Iwanowitsch an, »bei allen Respektpersonen Visite zu machen«. Aber er fuhr nicht etwa leichthin in einer Equipage aus, sondern mit einem ganzen Zuge. Voraus galoppierte ein Jockei auf einer stutzschwänzigen englischen Stute, ihm folgte eine prächtige mit sechsen bespannte Kutsche, in der der Kammerdiener saß, und hinter ihr kam der Wagen, oder die kleinrussische »Fuhre«, auf der Pan Wischnewskij thronte. Der Wagen war bespannt mit einem Paar schwarzgrauer krummhörniger Ochsen. Der Pan saß, wie die kleinrussischen Bauern zu sitzen pflegen, — d. h. in der Mitte des Wagens auf einem Haufen Roggenstroh und rauchte phlegmatisch eine Weichselpfeife kleinrussischer Fasson. Der Kleinrusse, der die Ochsen lenkte, trug Pluderhosen»so weit wie Wolken«, ein geteertes Hemd, schwere Stiefel und eine hohe, zottige Mütze. Er ging mit einer Peitsche neben den Ochsen her, hielt sie mit einem Riemen am Nasenring, »damit sie in der lärmenden Stadt« nicht scheuen, und schrie ihnen bald »Zo—be« und bald »Zob« zu.

Der Jockei hatte die Liste der Personen, die dieser verwilderte Europäer besuchen sollte. Er sprengte voran, ritt in den Hof der auf der Liste stehenden hochmögenden Persönlichkeit und meldete laut:

»Mein Pan kommt!«

Wenn dann der Zug in Sicht kam, wendete sich ihm der Jockei mit dem Gesichte zu und rief wieder:

»Da ist der Pan Wischnewskij selbst gekommen!«

Dann hielt die Kutsche vor der Freitreppe, ihr entstieg der Kammerdiener Stepan Iwanowitschs und trat ins Haus, um zu fragen, ob es den Herrschaften genehm sei, seinen Herrn zu empfangen.

Empfing man Wischnewskij, so fuhr die Kutsche weiter, und an der Freitreppe hielt die »Fuhre« mit dem Ochsengespann; Stepan Iwanowitsch stieg aus, begab sich in die Gemächer und beschenkte freigebig die ihm unter die Augen kommende Dienerschaft. In den Appartements benahm er sich als vornehmer Herr und Europäer, prunkte mit prächtigen Manieren, vorzüglichen Sprachkenntnissen und der schlagfertigen Bissigkeit seines kleinrussischen Verstandes.

»Denn er war ein zu Scherzen aufgelegter Herr, sprach Französisch und Italienisch und vermochte in diesen Sprachen Gott zu preisen. Nur war er zu faul dazu.«

Wischnewskij aß, wie oben erwähnt, angeblich nur Bärenfleisch und hielt deshalb auf einem der Twerschen Güter seiner Frau einen Bärenzwinger. Man mästete dort die Bären und brachte sie nach Moskau zum Tisch Stepan Iwanowitschs. Gegen die Polizei hegte Wischnewskij einen eingeborenen und unbesiegbaren Haß, und kein Polizist durfte es wagen, sich zu erkühnen, seinen Hof zu betreten, ohne zu riskieren, allen möglichen Beleidigungen ausgesetzt zu sein, wenn ihn Stepan Iwanowitsch erblickte. Wischnewskijs Haus zu Moskau war für die Polizei unzugänglich, und aus diesem oder einem anderen Grunde stand es bald in einem sehr geheimnisvollen, aber wenig schmeichelhaften Rufe. Vor allem wurde dieser durch die sittenlosen Instinkte Wischnewskijs in Bezug auf die Frauen, oder um es genauer zu bezeichnen, auf die Kinder weiblichen Geschlechts gefördert. Die Polizei haßte ihrerseits Stepan Iwanowitsch ebenfalls und suchte einen Anlaß, um ihm seine Flegelhaftigkeit heimzuzahlen, fand aber lange keinen geeigneten Grund dafür. Schließlich stellte sich ein solcher ein. Ein Hofhund hatte einen noch nicht ganz der Muskel beraubten Knochen auf die Straße geschleppt und dort fallen lassen, und in diesem Knochen erkannte man das Gelenk eines kleinen menschlichen Fußes. Einige Tage später wiederholte sich dasselbe. Man beobachtete den Hund und sah, daß er diese Knochen aus der Abfallgrube holte. Die Dienerschaft der Nachbarhäuser begann davon zu reden, daß Wischnewskij mit seinen leibeigenen Mädchen Schändliches treibe und sie dann töte. Bald zählte manauch schon die spurlos verschwundenen Mädchen auf und nannte sogar ihre Namen.

Die Polizei erblickte hierin nicht nur einen hinreichenden Grund einzuschreiten, sondern hielt es geradezu für ihre Pflicht, — was es in der Tat auch war. Zu diesem Zweck erschienen der Polizeikommissar und der Revieraufseher auf dem Hofe Stepan Iwanowitschs und schritten zur Besichtigung der Grube, aus der der Hund die verdächtigen Knochen geholt hatte. Die treuen Diener Stepan Iwanowitschs ließen die Polizei nicht zur Besichtigung zu, ehe sie ihren »Pan« davon in Kenntnis gesetzt hatten. Stepan Iwanowitsch zog seinen Rock an, ging selbst zu den Polizisten hinaus und befahl ihnen, die Grube zu öffnen. Zur Freude der Polizisten fand sich dort eine ganze Menge derselben Knochen, die den Anlaß zu dem Verdachte gegeben hatten. Aber zugleich stellte sich freilich heraus, daß sie keineswegs Überreste menschlicher Füße waren, sondern die Tatzen der jungen, für den Tisch Wischnewskijs getöteten Bären.

Die Polizisten gerieten in Verlegenheit und begannen sich bei Wischnewskij zu entschuldigen, indem sie erklärten, sie seien durch Verdächtigungen und verleumderische Gerüchte zu diesem Mißgriff verleitet worden.

Wischnewskij verzieh ihnen und ... prügelte sie mit der Knute.

Dieser krasse Vorfall hatte zur Folge, daß ihm befohlen wurde, Moskau zu verlassen und auf seinen kleinrussischen Dörfern zu leben, die sein Vater durch die Freigebigkeit der Kaiserin Jelisaweta Petrowna erhalten hatte.

Wischnewskij mußte sich dem Befehle unterwerfen und fuhr nach Farbowanaja im Perejaslawschen Kreis,um dort sein Treiben in noch größerer Freiheit fortzusetzen.

Der Vorfall mit den Bärentatzen wird nach Moskauer Darstellungen verschiedenen Personen zugeschrieben; Stepan Iwanowitsch Wischnewskij wird er nur in einigen kleinrussischen Überlieferungen zugeeignet, die vor allem in den vom Udai und Ssupoi befruchteten Tälern verbreitet sind. Bezüglich der Visiten mit dem Ochsengespann suchte ich in Moskauer Überlieferungen vergeblich nach einer Erinnerung an diese originelle Ausfahrt. Diese Erzählung muß man daher als zweifelhaft ansehen. Aber unter den Bewohnern der Täler von Udai und Ssupoi behaupten viele Liebhaber solcher Überlieferungen nachdrücklich die Wahrheit dieser Geschichte und weisen alle Beweisgründe, daß sie in Moskau nicht bestätigt werde, mit Selbstvertrauen und voll Verachtung zurück, indem sie ihre dicken Kosakenlippen aufwerfen und sagen:

»Ja dort, — wenn ihr die Wahrheit in Moskau suchen wollt!«

Als Stepan Iwanowitsch Wischnewskij auf seine kleinrussischen Dörfer übersiedelte, baute er sich in den beiden Orten an den beiden Ufern des ruhmwürdigen Ssupoi, in Farbowanaja und in Ssosnowka je ein Haus. In beiden in großherrschaftlichem Stile errichteten Häusern hielt er zahlreiche Dienerschaft, Jagdgefolge, Gestüte und Harems. Mit den letzteren begnügte sich Stepan Iwanowitsch übrigens nicht, sondern machte überdies bei allen Frauen seiner Herrschaft ausgedehnten Gebrauch von den Rechten eines Padischah. Er lebte abwechselndbald auf dem einen, bald auf dem anderen Gut und hielt überall die von ihm eingeführten willkürlichen Sitten aufrecht. Er hielt es für sein vollstes Recht, jeden, wie er sich ausdrückte, »zu seinem Christenglauben« zu bekehren, und erreichte frei und schrankenlos alles, was er zu erreichen wünschte.

Unter allen Launen seines Eigensinns nahm Wischnewskijs unbezähmbarer Haß gegen die Polizei die erste Stelle ein. Kaum war er angekommen, als er die Anordnung traf, daß weder der Kreischef, noch der Polizeikommissar, noch überhaupt irgendein Beamter es wagen dürfen, mit Schellen durch seine Herrschaft zu fahren. Den Bauern war befohlen, jeden, der mit Geläute durchs Dorf fuhr, anzuhalten und sich zu erkundigen, wer er sei. Wenn der Durchreisende ein Adeliger oder überhaupt eine Privatperson war, so mußten sie ihn weiterfahren lassen und ihm sagen, daß das Land, durch das er fahre, dem Pan Wischnewskij gehöre, und daß dieser Pan ehrliche Gäste »liebe und schätze«. Sie luden die Durchreisenden ein, zum Herrn zu kommen, um sich dort von den Reisemühen zu erholen und die Gastfreundschaft des Pan zu genießen. Wenn der Durchreisende Eile hatte und nicht »zu Gast« fahren wollte, sondern sich höflich bedankte, hielt man ihn nicht mit Gewalt zurück, sondern gestattete ihm ebenso höflich, weiterzufahren und ungehindert seine Schellen läuten zu lassen. Hatte dagegen der Reisende Zeit und erklärte er sich damit einverstanden, zum Pan zu fahren, so begleitete man ihn nach Farbowanaja oder nach Ssosnowka, je nachdem, in welchem der beiden Dörfer der Pan Wischnewskij zur Zeit lebte.

Stepan Iwanowitsch empfing alle diese Gäste freundlich,fragte nicht nach Rang und Amt und bewirtete sie nach damaligem Brauch üppig und reichlich, — manchmal allzu reichlich, so daß manchen seine Gastfreundschaft schlecht bekam. Doch gab es weder beim Essen noch beim Trinken irgendeinen Zwang, nur wurde alles im Übermaß aufgetragen, und wenn sich einer dadurch zur Unmäßigkeit verleiten ließ, so lag darin keinerlei Zwang oder Gewalt von Seiten Wischnewskijs, und der unvorsichtige Gast hatte es sich selbst zuzuschreiben, wenn er für seine Völlerei büßen mußte.

Vielen Gästen, die Not zu leiden schienen, gab Stepan Iwanowitsch beträchtliche Unterstützungen, Offizieren aber pflegte er stets etwas Wertvolles zum Andenken zu schenken. Gegen Beamte jedoch, besonders aber gegen die Polizei, zeigte sich Stepan Iwanowitsch als roher Tyrann, und die Forderungen, die er an diese unglücklichen Menschen stellte, waren derartig hart und erniedrigend, daß es schwer verständlich ist, wie sie sich ihnen unterwerfen konnten und keine Mittel fanden, sich vor dem Sonderling von Farbowanaja zu schützen.

Wenn der Kreischef oder der Revieraufseher an die Grenze der Wischnewskijschen Herrschaft kamen, mußten sie den Wagen halten lassen und die Schellen festbinden, damit sie nicht läuteten. Andernfalls mußten die Bauern sie anhalten, ihnen das Geläute wegnehmen und sie unverzüglich zum Pan selbst in das Herrenhaus führen. Widersprach der Polizeibeamte, so drohte ihm eine doppelte Gefahr: nämlich erstens von den Bauern geprügelt zu werden, die das »auf den Kopf des Herrn« tun durften, das heißt auf Verantwortung des Gutsbesitzers selbst; und zweitens, vor den Pan geführt zu werden, bei dem jedenPolizeibeamten ein ungeheuer erniedrigendes, aber mit unabänderlicher Strenge eingehaltenes besonderes Zeremoniell erwartete.

Ob der Polizeibeamte gefügig oder widerspenstig war, ehrlich oder anspruchsvoll, bei Pan Wischnewskij standen sie alle »auf ein und demselben Blatt«. An ihre Ehrenhaftigkeit glaubte er übrigens nicht im mindesten, und es scheint, daß er sich darin nicht allzusehr irrte. Er hatte den Grundsatz aufgestellt, daß kein Beamter die Schwelle seines Hauses überschreiten durfte, gleichgültig in welcher Angelegenheit oder unter welchem Vorwand. Hatten der Kreischef oder der Polizeikommissar dienstlich mit ihm zu tun, oder mußten sie mit einem Anliegen oder einer Bitte bei ihm erscheinen, so wußten sie genau, daß sie durch seine Besitzungen ohne Geläute und möglichst leise fahren und vor dem Tore halt machen mußten; auf keinen Fall durften sie es wagen, in den Hof einzufahren. Auf dem Gut und auf dem Hofe mußten sie zu Fuß gehen, am Tor die Mütze abnehmen und an den Fenstern des Hauses stets mit entblößtem Haupte vorübergehen.

Andernfalls, beim geringsten Verstoß gegen diese Regel, packte die darauf dressierte Hausdienerschaft den Betreffenden bei den Armen, stieß ihn vor das Tor und »versetzte ihm mehrere kräftige Nackenstöße«. Da dieses Verfahren genau und streng eingehalten wurde, wagte niemand, an Ungehorsam oder Widerstand auch nur zu denken. Damit war aber die Erniedrigung noch nicht zu Ende. Der Beamte durfte nicht weiter als bis zur Freitreppe, unter der in einem Verließ die großen Madelanschen Hunde hausten. Dort mußte er stehen bleiben undwarten, bis Stepan Iwanowitsch seinen »Kammerkosaken« oder seinen Lakai zu ihm herausschickte. Den Lakai mußte der Beamte »als seinesgleichen begrüßen«, das heißt ihm die Hand geben, und erst dann durfte er ihm den Zweck seines Besuches beim Pan auseinandersetzen.

Fand Wischnewskij, daß die Angelegenheit, wegen welcher der Beamte gekommen war, keine Beachtung verdiene, so befahl er ihn davonzujagen. War es dagegen eine adelige Angelegenheit oder eine Mitteilung aus den höheren Sphären, so zog Stepan Iwanowitsch seine Pekesche an, setzte die Mütze auf, kam selbst auf die Freitreppe hinaus und hörte den Beamten an. Während der ganzen Zeit stand er seitwärts zu ihm und schaute ihn kein einzigesmal an.

Hierauf ging Wischnewskij schweigend ins Haus, und der Lakai brachte dem Beamten auf einem Teller ein Glas Schnaps und einenFünfzigerschein. Der Beamte mußte zuerst den Schnaps austrinken, dann durfte er die fünfzig Rubel »für den Imbiß« nehmen. Für Beamte gab es im Hause Wischnewskijs keine Gastfreundschaft. Hatte der Beamte wider Erwarten eine hohe Meinung von sich und weigerte sich, das ihm auf die Treppe hinausgebrachte Glas Schnaps zu trinken, so erhielt er auch das Geld für den Imbiß nicht. Der Lakai mußte ihn in diesem Falle hinunterstoßen, ihm den Schnaps in den Rücken gießen, die fünfzig Rubel selbst einstecken und an einer Leine ziehen, die zu dem eisernen Fallgatter führte, hinter dem die Madelanschen Hunde unter der Treppe saßen.

Da die Beamten dies alles wußten, wagten sie niemals, auch nur den kleinsten Widerstand gegen die Einrichtungen Stepan Iwanowitschs zu zeigen; sie waren sogar erfreut,wenn eine Angelegenheit sie zur Freitreppe des Pans von Farbowanaja führte.

Wenn sich dies alles wirklich so verhielt, wie es die Überlieferungen erzählen, so besaßen die fünfzig Rubel für den Imbiß augenscheinlich einen hohen Wert.

In Bezug auf Moral und Keuschheit war Stepan Iwanowitsch ein sehrunzeremonieller und überdies naiver Mensch. Übrigens waren seine Erlebnisse dieser Art einander meist sehr ähnlich, doch schildert die heroische Epopöe die außerordentlich originelle Rolle, die seine Frau, Stepanida Wassiljewna, geborene Schubinskaja, dabei spielte. Anscheinend kann man auch sie mit vollem Recht als psychopathisch bezeichnen, wenn auch in einem anderen Sinne.

Sie war, wie bereits erwähnt, eine Twersche Adelige, eine gebildete Frau aus sehr guter Familie. Sie liebte ihren Gemahl und lebte mit ihm stets im besten Einvernehmen. Aus ihrer Ehe mit Stepan Iwanowitsch hatte sie zwei Töchter. Die Geburt der zweiten Tochter verlief so unglücklich, daß Stepanida Wassiljewna für ihr ganzes Leben »einen Schaden« davontrug. Stepan Iwanowitsch begann sich von ihr fernzuhalten: wenn sie in Farbowanaja lebte, fuhr er nach Ssosnowka, war sie in Ssosnowka, so fuhr er nach Farbowanaja. Als Stepanida Wassiljewna dies sah und weil sie, wie sie sagte, ihren Mann liebte, begann sie Vorsorge dafür zu tragen, daß »er sich von ihr nicht fernhalte« und daß »ihm das Leben bei ihr nicht langweilig werde«. Zu diesem Zweck hielt sie an Abenden Spinnstundenab, zu denen die Mädchen nur ungern und unter Tränen kamen, aber Stepanida Wassiljewna behandelte sie freundlich, bewirtete sie so lange, bis sie zutraulich wurden und nicht mehr weinten. Dann schrieb sie ihrem Gemahl und lud ihn ein zu kommen, »um sich an den Mädchen zu erfreuen«. Und er antwortete ihr: »Ich danke dir sehr und weiß deine Sorge für mich zu schätzen, im übrigen habe ich bei der Auswahl zu deinem Geschmack mehr Vertrauen, als zu meinem eigenen.«

Eine solche Antwort ihres Mannes freute Stepanida Wassiljewna nicht nur, sondern rührte sie. Ihre Gefühle für Stepan Iwanowitsch brannten mit doppelter Glut, und sie schrieb ihm unverzüglich in aller Eile zurück: »Für dein Vertrauen, mein teuerster Freund, danke ich dir vielmals, und ich hoffe, daß die Wahl meines Geschmacks, auf den du so vertraust, deinem Herzen gefallen wird. Nur bitte ich dich, Engel meiner Seele, komm so bald wie möglich zu mir, denn mein Herz sehnt sich nach dir, und du wirst sehen, daß ich über nichts gekränkt bin, sondern deinen Geschmack verstehe. Unsere Kinder sind beide gesund, grüßen dich und küssen deine Hände.« Unterschrift: »Deine treue Frau und Dienerin Stepanida.«

Wenn Stepan Iwanowitsch eine solche Nachricht erhielt, gab er sein Einzelleben auf und fuhr zu seiner Gemahlin, die damit ihren Zweck erreicht hatte, daß er »in ein und demselben Hause mit ihr lebe, ohne sich zu langweilen«.

Sie verhätschelte nicht nur die Favoritinnen, die sie für ihren Mann auswählte, sondern pflegte und versorgte auch seine Kinder, die sich bei der patriarchalischen Ordnung dieses Herrenlebens in Farbowanaja rasch vermehrten.

Wischnewskij selbst war bei weitem nicht so gutherzig und aufrichtig wie seine Frau: wenn sich sein verderbtes Herz bei der Person, welche die Obliegenheit hatte, ihm »das Leben kurzweilig zu machen«, zu langweilen begann, so schickte sich Wischnewskij an, wieder allein im anderen Dorfe zu leben.

Stepanida Wassiljewna verstand dies sogleich und hinderte ihren Mann daran nicht, da für sie der Friede und das eheliche Einvernehmen, nach dem Vermächtnis der Vorfahren, am höchsten in der Welt standen; einige Zeit später traf sie wieder Vorbereitungen und schrieb ihm einen vorsichtigen und zärtlichen Brief, in dem sie sagte: »Deine List und deine Unaufrichtigkeit mir gegenüber in wichtigen Angelegenheiten kränken und quälen mich sehr, mein Freund, da ich sie durch nichts verdient habe. Gott sieht meine Wahrhaftigkeit, und daß ich dich über alles in der Welt liebe. Durch die Trennung von dir welkt mein Herz dahin wie Gras, und meine heißen Tränen versiegen nicht. Die Person, die dich durch ihre Reizlosigkeit ermüdet und gelangweilt hat, habe ich durch meine Bemühungen ohne viel Aufhebens versorgt; alle sind jetzt mit ihrer Lage vollkommen zufrieden und bedanken sich. Wenn du bald zu mir kommst, kannst du dich an einer sehr liebenswürdigen Person ergötzen. Unsere Kinder sind durch Gottes Gnade wohlbehalten und gesund und beten für ihren Vater.« Und wieder dieselbe Unterschrift: »Deine Frau und Dienerin.«

Wischnewskijs Antwort waren Grüße an seine Frau und die Versicherung seines vollen Vertrauens zu ihrem Geschmack, und bald darauf kehrte Stepan Iwanowitsch in den Schoß seiner Familie zurück. Man erwartete ihnnatürlich und begrüßte ihn mit Zymbeln und Gesang, Zurufen und Schmeicheleien und allem, was notwendig war, um ihn so zufrieden zu stellen, wie er es sich selbst wünschte und seine zärtliche, überzärtliche Frau es einrichten konnte, die das Unglück gehabt hatte, aus einer lebhaften und reizenden Frau »auf Lebenszeit ein unbrauchbarer Mensch« zu werden.

Nach dem beschriebenen Zwischenfall besserte sich Stepan Iwanowitsch in Bezug auf seine Verschlossenheit und sein Mißtrauen und nahm nie mehr Zuflucht zum Separatleben.

Stepanida Wassiljewna sorgte für ihn, wie sich die Bauern ausdrückten, »wie eine Mutter für ihr Kind«.

Die unwahrscheinliche, primitive Einfachheit dieser Beziehungen, die an die biblische Erzählung von Sarah und Hagar erinnert, wird noch unwahrscheinlicher, wenn man den Einzelheiten Glauben schenken will, die die Bauern über das Leben dieser Ehegatten erzählen.

Stepan Iwanowitsch war ein reiner Türke. Seine mannigfaltigen Verbindungen umfaßten alle Arten von Liebe, von einer flüchtigen Verirrung bis zur Anhänglichkeit eines Sultans an seine Odaliske oder an seine erste Sultanin. Die vorübergehenden Beziehungen kommen natürlich nicht in Betracht, die Stellung der ersten Sultanin nahm selbstverständlich seine gesetzliche Frau ein, die er vielleicht auf seine Weise liebte und auf jeden Fall, wie er versicherte, »hoch schätzte«.

»Wenn jemand etwas wider mich unternimmt«, pflegteer zu sagen, »so kann ich es vielleicht noch verzeihen, aber wenn es jemand einfällt, Stepanida Wassiljewna zu beleidigen, so werde ich ihn zu erreichen wissen, wer es auch sei, und selbst Zar Iwan der Grausame hat keine derartigen Marter ersonnen wie die, mit denen ich den Beleidiger meiner Frau strafen werde.«

Alle wußten dies und wußten zudem, daß Stepan Iwanowitsch nicht scherzte, sondern alles, was er sagte, auch machte, und so kam es niemandem in den Sinn, Stepanida Wassiljewna gegenüber auch nur das geringste Anzeichen von Unehrerbietigkeit oder Ungehorsam zu äußern. Nicht alle dagegen verstanden diese eifrige Sorge Wischnewskijs für seine Frau, und während die einen sie seiner übergroßen Zärtlichkeit zuschrieben, sahen andere darin Verschlagenheit, wie sie ja dem kleinrussischen Charakter Wischnewskijs in der Tat in beträchtlichem Maße eigen war. Sie nahmen an, er wolle allen vor seiner Frau »Furcht einjagen«, damit ihre auf die Ergötzung seines Lebens durch die Liebe der leibeigenen Odalisken gerichteten Bemühungen nicht auf den geringsten Widerstand stießen, da er jeden Ungehorsam ihr gegenüber so bestrafen würde, daß Zar Iwan der Grausame in seinem Grab erzitterte.

Übrigens mag es sein, wie es will, Bestimmtes ist darüber nicht zu sagen; dagegen wird mit Bestimmtheit erzählt, daß Stepan Iwanowitsch, der in seinen sonstigen flüchtigen Romanen verderbt und rücksichtslos bis zur Grausamkeit war, es liebte, in seine Beziehungen zu den Odalisken, die ihm seine erste Sultanin nach ihrem Geschmack auswählte, eine eigenartige Poesie zu tragen. Es entsprach dies ganz seiner Natur, in der sich in solchen Fällen etwasZartes und Gefühlvolles äußerte. Ähnlich wie Don Juan darf er sich rühmen, daß er diese jungen Wesen nie durch Rauheit kränkte, sie auch nie »mit kalter Leidenschaftslosigkeit« verführte. Nein, er kam immer mit zarter Aufmerksamkeit in das Haus seiner Frau, die für ihn liebevoll eine neue Freude bereithielt, und die beiden Gatten pflegten die Erwählte, »wie man ums Morgenrot einen Falken steigen läßt«. Sie liebkosten, schmückten und hätschelten sie, das Mädchen wohnte in den Gemächern Stepanida Wassiljewnas, war bunt gekleidet, mit Süßigkeiten übersättigt und versank in Genüssen, so daß sie selbst nicht merkte, wie sie von einer Rolle in die andere überging und lange Zeit, wie benebelt, nicht wußte, was mit ihr geschah und womit das enden würde. Alle diese Odalisken hatten das Kindesalter noch kaum überschritten, in dem der Kopf noch arm an Erfahrungen ist, die Vorstellungen über die Zukunft noch unentwickelt sind und nur das lusterfüllte Leben des Augenblicks lockt. So gaben sich viele aufrichtig mit Herz und Seele ihrem Gebieter hin, oder empfanden ihre Rolle wenigstens nicht als Last; Stepanida Wassiljewna aber liebten sie wie eine Mutter. Und in der Tat, sie verhätschelte sie wie eine Mutter und ermunterte sie wie eine ältere Haremsgenossin, die sich über das Glück freut, das die jungen Odalisken ihrem geliebten Padischah bereiten. Frau, Mann und die diensthabende Favoritin trennten sich im Hause fast nie und verbrachten die meiste Zeit zu dritt. Einige seiner Odalisken aber liebte Stepan Iwanowitsch so sehr, daß er sich keinen Augenblick von ihnen trennen konnte. Wischnewskij war dann zu seiner Geliebten nicht nur gefühlvoll, sondern liebevoll wie einfeuriger Jüngling, und wenn er das Haus unbedingt verlassen mußte, so nahm er sie in der Verkleidung eines Pagen oder Jägers, dem die Obhut seiner kostbaren Bernsteinpfeifen und seiner Tabaksbeutel anvertraut war, mit. Da Stepan Iwanowitsch stets, selbst Nachts rauchte, war ihm ein solcher »Pfeifenjunge« unentbehrlich, und er hatte immer einen bei sich.

Man schloß daraus, daß Stepan Iwanowitsch hier bis zu einem gewissen Grad von Eifersucht geleitet wurde, doch entbehrt diese Annahme jeder Grundlage, da er ja nichts riskierte, wenn er das Mädchen unter der Obhut Stepanida Wassiljewnas zurückließ. Man muß vielmehr annehmen, er habe, wie es diejenigen behaupten, die diesen kleinrussischen Psychopathen genauer kannten, seine Favoritinnen so leidenschaftlich geliebt, daß er sich von ihnen so lange nicht trennen konnte, bis seine Leidenschaft ihren gewöhnlichen Lauf genommen hatte und abflaute.

Die Anhänglichkeit Stepan Iwanowitschs an die betreffende Odaliske war um so stärker, je größere Zärtlichkeit und Sorge sie in seiner Frau weckte. War Wischnewskijs Leidenschaft verflogen und fuhr er »hinter den Ssupoi«, so nahm Stepanida Wassiljewna die Sorge auf sich, die alte »Ergötzung« unterzubringen und eine neue vorzubereiten, die den Pan von Farbowanaja wieder vom anderen Ufer zurücklocken sollte.

Tragisch waren diese Trennungen nie. Dank der Taktik, der Güte und der Freigibigkeit Stepanida Wassiljewnas wurden alle diese Angelegenheiten friedlich und im Guten und zur allgemeinen Zufriedenheit sämtlicher Verwandten des Mädchens beigelegt. Eine einzige Ausnahmebildete der Fall eines fünfzehnjährigen Bauernmädchens, das das Herz Wischnewskijs besonders stark gefesselt und ihm einen Sohn und eine schmerzliche Spur in seinen Erinnerungen hinterlassen hatte.

Die lokalen Überlieferungen berichten sogar den Namen des »wie ein Märchen« schönen, schwarzäugigen Mädchens, das zu dem Pan in ziemlich späten Jahren seines Lebens in Beziehungen trat. Es hieß Gapka Petrunenko. Sie war so schön, daß es »den Augen wohltat, sie zu schauen«, und hatte, wie die Geschichte erzählt, ein sanftes Herz und eine empfängliche Seele. Wischnewskij konnte ihre schlanke Taille mit seinen Fingern umspannen, und er liebte sie, wie keine andere, die vor oder nach ihr seine Gunst genoß. Er kleidete sie in rosa Atlas und in Jacken aus kostbaren türkischen Schals, er trug sie auf den Händen und küßte ihre Füße.

Stepanida Wassiljewna, die diese heiße Liebe ihres Mannes zu dem Mädchen sah, widmete sich ihr in einem solchen Maße, daß sie sich selbst und ihre beiden Töchter zu vergessen schien, von denen die jüngere schon zwölf Jahre zählte. Am Morgen flocht Stepanida Wassiljewna selbst Gapkas schwarze Flechten, abends löste sie sie ihr und ließ ihre dichten Locken von aromatischem Rauch durchziehen. Sie gestattete keiner niedrigen Hand, ihren Körper zu berühren und benetzte selbst mit rosenduftendem Wasser ihre Füße, auf die Stepan Iwanowitsch in leidenschaftlicher Selbstvergessenheit seine Lippen drückte. Mit einem Wort, dieses prächtige Mädchen wardie Favoritin der Favoritinnen, und ihrAufenthalt im Hause Wischnewskijs unterschied sich weit von dem aller anderen. Selbst wenn Stepan Iwanowitsch mit den Hunden auf die Jagd ritt, nahm er Gapka mit und begnügte sich nicht damit, daß sie als Tscherkessin gekleidet im ruhigen Jagdwagen mitfuhr, sondern nahm sie aus dem Wagen und setzte sie vor sich in den Sattel. Wenn das Mädchen von dieser unbequemen und anstrengenden Reise müde wurde und der Schlaf ihr Köpfchen neigte, überließ sie Wischnewskij keiner fremden Hand, sondern brach die Jagd ab und brachte Gapka vorsichtig mit eigenen Händen nach Hause. Und Gott mochte dem von seinem Gefolge gnädig sein, der durch ein Geräusch den kindlichen Schlaf der Geliebten des Pan störte! Dem Schuldigen waren die feuchte Grube und Peitschenhiebe sicher.

Ebenso sorgsam übergab Wischnewskij an der Freitreppe das Kind den Händen der ihn Erwartenden und begleitete sie dann selbst, wenn man Gapka in aller Stille in die Gemächer Stepanida Wassiljewnas trug.

Dort entkleidete man sie und legte sie auf die Atlaskissen des breiten türkischen Diwans, auf dessen Rand sich die Gatten setzten und ihren Tee tranken. Während der ganzen Zeit sprachen sie kein Wort, sondern ergötzten sich damit, das schlafende Mädchen anzuschauen. Wurde es Zeit, zur Ruhe zu gehen, so stand Stepanida Wassiljewna auf und ging mit leichtem Schritt über den Teppich in das anstoßende Zimmer, wo ihr Schlafgemach war. In dankbarem Schweigen küßte Stepan Iwanowitsch seiner Frau oftmals die Hand und flüsterte ihr zu:

»Du bist mein Schutzengel, — ich bete dich an!«

Stepanida Wassiljewna fühlte und teilte das Glück ihresMannes mit einer unglaublichen, vielleicht nur ihr eigenen Hingabe.

Sie ging in ihr Schlafzimmer, betete dort lange vor dem Heiligenbild und ging dann wieder mit unhörbaren Schritten in das anstoßende Gemach, wo die schlafende rosige Gapka mit ihren jungen kräftigen Händen die Kissen umfing, während die athletische Gestalt Wischnewskijs zu denFüßen des schlummernden Mädchens auf dem Teppich lag, den Kopf gegen den Diwan gelehnt.

Stepanida Wassiljewna schlug über die beiden das Kreuz, kehrte in ihr Witwenbett zurück, und ihr Schlaf war ruhig, friedlich und erquickend. In diesem ganzen seltsamen, scheinbar widersinnigen Gemenge von Gefühlen und Beziehungen erblickte sie nichts für sich Erniedrigendes, nicht einmal etwas Unpassendes; im Gegenteil, es schien ihr, als ob es gar nicht besser gehen könne.

Die grenzenlose Liebe dieser Frau zu ihrem Manne und das große Unglück, das ihr Gesundheitszustand für sie bedeutete, hatten ihre moralischen Begriffe, die niemandem klar und verständlich schienen, derart verändert. Da ich diese Erzählungen nur als Sammlung einzelner Berichte aus dem Mund Verschiedener wiedergebe, werde ich mich nicht weiter bemühen, die Persönlichkeit Stepanida Wassiljewnas genauer zu erklären. Ich glaube aber, daß man sie heute mit dem Begriff »psychopathisch« bezeichnen würde. Ich gebe nur die interessante Erzählung wieder, wie ich sie selbst gehört habe, ohne an den Charakteren und Sitten der Helden dieserlegendären Berichte eigene Kritik üben.

Ich glaube, daß es sich hier in erster Linie nicht um Kritik handelt, zumal alle handelnden Personen schonins Reich der Schatten gewandert sind, sondern darum, der Nachkommenschaft die Erinnerung an die erstaunliche Unmittelbarkeit ihrer Charaktere und an ihr originelles, launenhaftes Leben zu bewahren.

Wohlbekannt sind uns die stürmischen Naturen unserer großrussischen Adligen, deren Leben nach dem Ausspruch eines Dichters »unter Festen, sinnlosem Prahlen, kleinlichen Lastern und kleinlicher Tyrannei verlief, und bei denen der Chor der unterdrückten, zitternden Menschen das Leben der Hunde und Pferde beneidete«. Wir wissen, wie unsere »alten Weinschläuche« unter dem Gären des jungen, in sie gegossenen Weines zitterten. Die gesunde realistische Richtung unserer großrussischen Literatur, die uns vielleicht den Vorwurf des übertriebenen Realismus eintragen wird, zeigt uns das wahre Gesicht unseres großrussischen Lebens. Die kleinrussischen Schriftsteller folgen aber unserer für die Jetztzeit vielleicht einzig nützlichen Richtung nicht. Das Leben des kleinrussischen auftrumpfenden Herrentums ist uns entweder durch die Romantik oder durch die primitive Volkstümlichkeit der kleinrussischen Schriftsteller verschleiert. Wird es einmal geschildert, so meist in schwülstigen Formen, die an die endlose polnische Historie vom »Pan Kochanko« erinnern. Aber das kleinrussische Herrenleben hat seine Originalität, die des Studiums wert ist und zugleich ein ziemlich helles Licht auf die Eigenheiten der kleinrussischen Charaktere wirft, die, nach der Bemerkung Schewtschenkos, der Welt »die gemeinen Enkel berühmter Großväter« liefern.

Es ist nutzlos, sich mit den Vertretern jener mittleren Generation zu befassen, die wie eine Schicht zwischen den »Großvätern und den Enkeln« liegt, zwischen denen,die der nationale Poet als »große« rühmte, und jenen, die er zu den »gemeinen« rechnete. Vor uns stehen Gestalten, die an der Wasserscheide jener beiden Hauptströmungen stehen, deren eine das kleinrussische Land zu nie erreichter Höhe getragen hatte, während es die andere zu nie wieder gut zu machender »Gemeinheit« führte.

Alles auf der Welt ist »begründet, folgerichtig und bedingt«, und so können die Glieder einer Kette nur ihre Form ändern, aber nichsdestoweniger faßt ein Glied das andere, und jedes ist unabänderlich mit dem anderen verbunden.

Indem ich in diesen Aufzeichnungen alles vereine, was ich über Wischnewskij und seine Sippe gehört habe, glaube ich damit der Literatur ein vergessenes Kettenglied zu erhalten, das bisher nur in einzelnen Überlieferungen bewahrt wurde. Möglicherweise sind diese nicht alle zuverlässig, aber selbst in diesem Falle sind sie als Schöpfung des Volkes interessant, weil sie bezeichnend sind für das, was die Phantasie der Menschen in Erstaunen versetzte und begeisterte, oder was ihnen gefiel.

Ich fahre in meiner Erzählung über Wischnewskij fort.

Einige Zeilen weiter oben verließen wir den mächtigen Pan von Farbowanaja, wie er auf dem Teppich zu Füßen seiner ländlichen Nymphe schlief. Lassen wir ihn noch in dieser Stellung, wie sie schöner und poetischer in seinem willkürlichen und zügellosen Leben kaum je vorkam. Mögen sie süß weiterschlafen bis zur Morgenröte des Tages, der ihr Glück und ihre Ruhe trüben und in den Becher der Liebesfreuden des Pan den Tropfen des bitteren Schierlings träufeln wird.

Wir werden später auf das [**Erreignis‚Ereignis] zu sprechen kommen,das den Höhepunkt der Leidenschaften und der moralischen Verwirrung Wischnewskijs darstellt und nach dem seine Geliebten einander wieder in rascher Folge ablösten, ohne jene beschriebene Höhe zu erreichen; Wischnewskij ließ aber bis zu seinem Tode nicht von ihnen.

Zeichnen wir nun, so gut wir es verstehen und vermögen, die übrigen Seiten seiner Tätigkeit und seines Charakters.

In keiner der Erzählungen, die ich über Wischnewskij hörte, nimmt er als Vater und Erzieher eine charakteristische Stellung ein; er wird ausschließlich als »Erzeuger« erwähnt. Im übrigen wird berichtet, daß, als um jene Zeit in Petersburg »die Institute eingeführt wurden« und der eingesessene Adel auf Wunsch der Kaiserin die Aufforderung erhielt, seine Töchter zur Erziehung dorthin zu bringen, Wischnewskij nach Petersburg reiste und seine Tochter persönlich hinbrachte. Jedoch wird dieser Umstand nicht erwähnt, um die väterliche Fürsorge Wischnewskijs zu bezeugen, sondern weil diese Reise mit einem anderen interessanten Ereignis in Verbindung steht, von dem später berichtet werden wird. Auch als Gutsbesitzer, in seiner Eigenschaft als Herr, Richter und Züchtiger der ihm untergebenen Leibeigenen bewies Wischnewskij keine besondere Originalität, sondern führte die Herrschaft, »wie sie von alter Zeit her geführt wurde.« Alles wurde durch Leibeigene und gemietete rechtgläubige oder polnische Aufseher verrichtet. Wischnewskij hatte einige Polen in seinem Dienst, gegen die er keinerlei Feindschaft hegte, über die er sich aber gerne lustig machte. Aucheinige Juden waren da, die der Psychopath auf verschiedene Weise zu erschrecken pflegte. Mehr als einen von ihnen hatte er zu Tode erschreckt, aber sie kamen immer wieder zu ihm, da Wischnewskij manchmal freigebig war und ihnen manchen Verdienst zukommen ließ. Im übrigen benützte er die Juden als Kommissionäre. Aber Gott sei dem gnädig, der ihn betrog! Er ließ ihn mit Ruten und Peitschen schlagen und quälte ihn fast noch mehr durch Furcht.

Wischnewskij war auch Patriot, was sich à la longue in seiner Vorliebe für den kleinrussischen Kaftan und die kleinrussische Sprache äußerte, und zudem — in seiner Verachtung für die Ausländer. Besonders wenig schätzte er die Deutschen, die er aus zwei Gründen nicht achten konnte: erstens, weil sie »stockbeinig« sind, und zweitens, weil ihm ihr Glaube nicht gefiel, — »sie verehren die Heiligen nicht«. Stepan Iwanowitsch nahm von sich an, daß er »die Heiligen verehre«. Er war in Glaubenssachen vollkommen unwissend und kritiklos und ließ sich auch nicht auf religionsphilosophische Fragen ein, da er fand, daß dies eine »Sache der Popen« sei; er »beschützte und verteidigte nur als Ritter seinen Glauben vor allen Andersgläubigen«. Er sah in diesem Punkte mit den Augen des einfachen Volkes, das nur die Rechtgläubigen zu den Christen zählt, alle übrigen »andersbetenden« Christen für Ungläubige, die Juden aber und »das ganze sonstige Pack« als unrein ansieht. Aber auch der Ausländer, ja sogar der Deutsche, konnte an den Tisch Stepan Iwanowitschs gelangen, und einer — gerade ein Deutscher — lebte sogar in seinem Hause und genoß sein Vertrauen; doch bevor sich der »Ungläubige« ihm nähern durfte,suchte sich das religiöse Gewissen Wischnewskijs Genugtuung und Frieden mit sich selbst zu verschaffen. Stepan Iwanowitsch, der nach seinem eigenen Geständnis »keinen Katechismus gelernt hatte«, hatte für den Empfang von Andersgläubigen eine sehr konkret formulierte Frageordnung aufgestellt.

Stepan Iwanowitsch fragte den Lutheraner oder Katholiken: »Nun, wenn du auch anders glaubst und betest als wir, den heiligen Wundertäter Nikola achtest du doch gewiß?«

Der so geprüfte Andersgläubige wußte aus zuverlässigen Gerüchten, was mit ihm geschehen würde, wenn er es wagen wollte zu sagen, daß er den Wundertäter nicht verehre, zu dem der Pan von Farbowanaja so sehr hielt. Er hätte sogleich erfahren, wie kräftig die Stühle sind, auf die Stepan Iwanowitsch seine Gäste setzte, und wie biegsam die Weiden, die ihre Zweige in das Wasser des Ssupoi tauchen. Aber da jeder Andersgläubige, der das Glück hatte, Wischnewskij so weit für sich einzunehmen, daß er schon mit ihm über den Glauben sprach, dies genau wußte, so antwortete er ihm, wie es die Empfangsordnung verlangte:

»O ja«, erwiderte der also befragte »Andersbetende«, »wie sollte ich den Nikola nicht achten, wo ihn doch die ganze Welt verehrt!«

»Nun, ‚die ganze Welt‘, Bruder, da hast du doch etwas zuviel gesagt,« versetzte Stepan Iwanowitsch; »du mußt wissen, daß der heilige Nikola von Geburt Moskowite ist, du sollst aber unseren ‚russischen‘ Jurka verehren.«

Das Wort »russisch« im Sinne des klein- oder südrussischen, wurde damals scharf dem »moskowitischen«,großrussischen entgegengesetzt. Moskowitisch und »russisch« waren zwei getrennte Begriffe, im Himmel und auf Erden. Die irdischen Unterschiede waren jedem durch seine leiblichen Augen sichtbar, die himmlischen dagegen wurden durch den Glauben erkannt. Dem Glauben nach obliegen aber die großrussischen Angelegenheiten der Sorge des wundertätigen Nikolai, des Patrons Rußlands, die südrussischen aber finden Schutz und Hilfe in der Fürsorge des den Kleinrussen besonders geneigten heiligen Jurij, oder wie man ihn heute nennt, des heiligen Georg.

Jeder Andersgläubige, der die Prüfung über den heiligen Nikolai bestanden hatte, versicherte nun Wischnewskij noch bestimmter, daß er auch den heiligen Jurij verehre, »noch mehr, als den Nikola«.

Dies gefiel Stepan Iwanowitsch. Damit war die Katechisierung des Gastes beendet, und dem nun Aufgenommenen wurde der Glaubensunterschied nie mehr vorgeworfen. Ja, wenn jemand zufällig diesen Unterschied erwähnte, so unterbrach ihn Stepan Iwanowitsch und sagte:

»Es ist kein Unterschied da, er verehrt den Nikola, aber noch mehr den heiligen Jurka.«

Also genossen die Andersgläubigen, die sich gebessert hatten, das Vertrauen des Psychopathen, und ein Deutscher verwaltete sogar, beinahe ohne Rechenschaft abzulegen, eines seiner Güter und genoß so ausgedehnte Machtvollkommenheit, daß er fast alles tun durfte, was Wischnewskij tat.

Nur in bezug auf die Frauen erlaubte ihm Stepan Iwanowitsch nicht, sein Begehren auf den Gesindehof auszudehnen, damit niemand sähe, wie sich eine Frau des wahren, griechischen Glaubens »mit einem Deutschen einlasse«. Aus diesem Grund dachte er für ihn einen Schimpf aus, der den Mächtigen selbst in den Augen eines Kindes erniedrigen mußte. Der Deutsche war verpflichtet, im Sommer leichte Kleidung und im Winter einen wattierten Schlafrock und Pantoffeln anzulegen, eine Laterne in die Hand zu nehmen und so in der Begleitung eines Aufsehers, der »für sein Leben verantwortlich war«, ins Dorf zu gehen. Dem Deutschen war dieses Verbot auferlegt, damit von ihm »keine Vermehrung des Deutschen käme, sondern alles zu Gunsten des Russischen ginge«.

In den Einzelheiten schienen es zwar nur teilweise Beschränkungen zu sein, aber im Zusammenhang hatten sie zur Folge, daß der Deutsche sich bei Stepan Iwanowitsch beklagte:

»Keine Möglichkeit.«

»Aber warum denn?«

»Alle laufen davon.«

Das bedeutete, daß, sobald der Deutsche in seinem langen Schlafrock, mit seiner Laterne und in Begleitung »des für sein Leben Verantwortlichen« seinen nächtlichen Gang antrat, ihn alle schon von ferne erblickten und diejenigen, denen sein Besuch drohte, davonliefen und sich versteckten.

Stepan Iwanowitsch tat, als ob er dies bedaure, ließ aber keine Änderung an der von ihm eingeführten Ordnung zu.

»Ohne Laterne und ohne Begleiter werden sie dichpacken und verprügeln, und ich habe dann niemanden, der mir für dich verantwortlich ist,« sagte er, als sei er aufrichtig von der Notwendigkeit seiner Einführung überzeugt; aber Leute, die ihn näher kannten, bemerkten, daß, wenn er mit dem Deutschen über die Angelegenheit sprach, seine »eine Schnurrbartspitze lachte«.

Als wirklicher Psychopath vereinigte er in sich viel Sinnloses mit Schlauem so innig vermischt, daß man unmöglich ergründen konnte, was Ernst und was Scherz war.

Der Spaß mit dem Deutschen endete damit, daß er so lange mit seiner Laterne wie ein leuchtendes Johanniswürmchen im Gras einherging, bis ihm einmal im Schuppen einer Bauernhütte die Rippen eingedrückt wurden und der für sein Leben verantwortliche Begleiter ihn nach Hause trug, wo er seine deutsche Seele unverzüglich Gott empfahl, die Seele, die hier in Verehrung der Heiligen Nikolai und Georgij gelebt hatte.

Ungeachtet der freiwilligen Unterwerfung dieses Deutschen unter die genannten Heiligen, hielt es Stepan Iwanowitsch doch für unpassend, ihn innerhalb des Friedhofes zu beerdigen, »neben den Vorfahren wahren östlichen Glaubens«; er ordnete an, ihn außerhalb der Umfriedung zu begraben und auch kein Kreuz aufs Grab zu setzen, sondern einen großen Stein darauf zu legen, damit die Müden sich setzen und ausruhen können.

In allen Fällen beobachtete er einen eigenen, in seiner Art sehr originellen Ton, der wie von seinem Humor, so auch vom Respekt vor dem heimatlichen Glauben zeugte, welch letzterer sich weniger auf dem Katechismus als auf den Heiligen Nikola undJurka gründete. Aber Gott alleinweiß, ob alles sich wirklich so verhielt, wie er vorgab, oder ob ihn etwas anderes leitete.

Um die Religiosität Wischnewskijs vollkommen zu kennzeichnen, muß man hinzufügen, daß er es durchaus nicht jedem gestattete, den Heiligen Nikolai und Jurij anzurufen und zu verehren, sondern nur den Christen anderer Bekenntnisse. Diese befreiten sich durch den Respekt vor diesen Heiligen aus aller Not und empfingen die Gnade Stepan Iwanowitschs. Den Juden aber erlaubte er unter keinen Umständen, ihre Zuflucht zum Schutz dieser Heiligen zu nehmen, und jeden, der auch nur eine Neigung dazu verriet, unterwarf er einer Prüfung. Einmal hatte ihn ein Jude betrogen und sollte dafür geprügelt werden. Als man ihn vor die Freitreppe schleppte, von der aus Stepan Iwanowitsch sein Urteil verkündet hatte, begann der Jude sich jämmerlich zu krümmen und zu schreien:

»Oi, wie ich sie verehre ... ich verehre den Nikola, verehre auch den Jurka ...«

Stepan Iwanowitsch befahl den Liktoren innezuhalten und fragte den zitternden Juden:

»Was schreist du da?«

»Wie ich sie verehre, ... wie ich verehre ...«

»Laß das Stammeln, — sage ruhig, wen du verehrst!«

»Oi, alle, oi, die beiden verehre ich, den Heiligen Nikola und den Heiligen Jurka.«

»Nun, das tust du vergeblich.«

»Oi, weswegen, ... oi, weshalb vergeblich ... wenn sie doch gnädig sind, vielleicht, daß sie sich meiner erbarmen.«

»Ja, sie sind gnädig, das ist ganz richtig, aber mit denJuden, Bruder, haben sie nichts zu schaffen. Ihr habt euren Moses, den ruf an, wenn man dich prügelt. Aber dafür, daß du es gewagt hast, mit deinen Judenlippen so heilige Namen auszusprechen, gebt ihm, ihr Jungens, noch zehn mit der Peitsche für den Nikola, und fünfundzwanzig für den heiligen Jurka, damit er sich nicht mehr erfrecht, sie anzutasten.«

Natürlich schleppte man den unglücklichen Juden fort und verabreichte ihm zuerst getreulich, was ihm für den Betrug zukam, und dann eine Zulage von weiteren fünfunddreißig Hieben für den nach der Meinung Wischnewskijs unangebrachten Versuch, sich beim Nikolai und beim heiligen Jurij einzuschmeicheln. Da aber der Rang der beiden Heiligen nicht gleich war, gab man ihm für den Nikolai nur zehn Hiebe, für den heiligen Jurij aber fünfundzwanzig.

Dies geschah, versteht sich, nicht ohne guten Grund, sondern infolge der größeren Liebe und Verehrung des Pan für den heiligen Jurij, »weil er ein Russe und kein Moskowite ist«.


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