DRITTES BUCH1. KapitelRAVALETTE
Jahre waren vergangen. Ich befand mich auf meiner zweiten Orientreise und hatte unterwegs London und Paris besucht. Meine Absicht war eine dreifache: zunächst wollte ich den »Hohen Dom des Rosenkreuzer-Tempels« sowie seinen Großmeister besuchen, die höheren Lehren des Ordens studieren und mit den Brüdern sprechen; zweitens wollte ich mir in Jerusalem die Substanzen holen, die ich zur Bereitung des Lebenselixiers brauchte, nicht etwa, um es herzustellen, sondern, weil ich eben diese Substanzen in meiner ärztlichen Praxis, die ich nach meiner Rückkehr nach Amerika wieder aufnehmen wollte, zu verwenden gedachte. Und drittens brauchte ich Ruhe, Entspannung und Ortsveränderung, denn ich fühlte, daß ich, wenn ich nicht ginge, an dem, was ich seit jenem Betrug erlebt hatte, sterben würde; und wenn ich starb, was dann? – Und so ging ich.
In Paris brachte ich den größten Teil meiner Zeit damit zu, die Schätze der assyrischen und ägyptischen Galerie zu betrachten.
Bei einem solchen Besuche nun stand ich in Bewunderung versunken vor den Keilinschriften auf einer Reihe von Tafeln, die die Archäologie bis jetzt noch nicht entziffert hat. Während der letzten fünf oder sechs Besuche in dem Museum hatte ich in meiner Nähe einen alten Herrn bemerkt, der offenbar Franzose war und zu dem kleinen Überrest des alten Adels gehörte, der noch auf dem Boden der Grande Nation lebte. Man konnte das aus der ganzen Art seines Auftretens und Benehmens schließen, das sehr höflich und vornehm, aber durchaus einfach war; aus der Güte, die sein Gesicht ausstrahlte, konnte man leicht ersehen, daß Glück und Frieden in seiner Brust wohnten, und daß er ein Wohltäter und gleichzeitig ein eifriger Förderer der Menschheit war. Im Museum schien er offensichtlich mit derselben Aufgabe wie ich beschäftigt, nämlich der Entzifferung der erwähnten Inschriften.
Früher waren zwischen uns, wenn wir uns begegneten, nur Begrüßungen und jene allgemeinen Höflichkeiten, wie sie zwischen wohlerzogenen Leuten üblich sind, ausgetauscht worden. Diesmal jedoch war unser Gruß wie durch gegenseitige Anziehung wärmer und länger; wir rückten zwei Stühle vor die Tafeln und begannen über die Inschriften zu disputieren. Der alte Edelmann, dessen Name Ravalette war, sagte:»Wie kommt es, daß Sie täglich hier die Inschriften kopieren und die Buchstaben zu entziffern suchen, über die sich die hervorragendsten Gelehrten Europas noch immer verzweifelt und hoffnungslos die Köpfe zerbrechen? Sie sind doch noch so jung und hoffen da auf Erfolg, wo alte Gelehrte scheiterten?« »Verzweifle wer will«, sagte ich. »Ich glaube, daß ich diese Rätsel noch ganz richtig lösen werde.«
»Nun gut«, sagte Ravalette, »Sie wünschen also zu lernen und sind doch schon ein halber Gelehrter; und wenn Sie willens sind, zu lernen, so bin ich willens, zu lehren. Auf jeden Fall kann aus der Erörterung von Ideen kein Leid entstehen, vielleicht sogar viel Gutes.«
Ich war entzückt, Ravalette so sprechen zu hören, denn ich fühlte, daß er, trotz des großen Altersunterschiedes, in vielen Beziehungen ein mir kongenialer Geist war, und ich wartete mit Spannung, bis er die reichen Schätze seiner Gedanken und Erfahrungen vor mir ausbreiten würde.
»Ich bin mit Ihnen der Ansicht«, fuhr Ravalette fort, »daß die Sätze auf den Tafeln da vor uns beweisen würden, daß sich die menschliche Geschichte in Wirklichkeit noch viel weiter in die Nacht der Zeit erstreckt, als bis zu der Periode, deren Beginn durch Moses bezeichnetwird. Es gibt Denkmäler, die unzweifelhaft beweisen, daß die Menschheit viel älter ist, als man gewöhnlich annimmt, und daß die Kulturen schon in längst vergangenen Jahrhunderten der Erde ihre Segnungen mitgeteilt haben und dann hinweggefegt worden sind und nur vereinzelte Spuren zurückgelassen haben, um die Nachwelt wissen zu lassen, daß sie existiert haben.
Noch mehr! Inmitten der Überreste jener verflossenen Zeiten finden wir solche, die sichtlich auf noch viel weiter entfernte Zeiten und Kulturen zurückgehen – die Trümmer einer Welt, an die sich nur noch die Seraphim erinnern! Einen Beweis für diese Behauptung bieten die Pyramiden, über deren Erbauungszeit und Zweck wir nur Vermutungen anstellen können. Die authentische Geschichte Ägyptens kann auf über 6000 Jahre zurückverfolgt werden, aber schon für jene ferne Epoche waren die Pyramiden ebenso wie heute ein Rätsel.«
Nachdem wir noch eine Weile geplaudert hatten, lud er mich ein, ihn in seine Wohnung zu begleiten und mit ihm zu speisen. »Es ist nur ein kleines Stück Weges«, sagte er, »mein Haus liegt in der Rue Michel le Compte, ganz nahe der großen Rue du Temple, einige Minuten von hier.« Ich nahm seine Einladung an, schob meinen Arm in den seinigen und dann gingen wirzusammen fort. Seine Wohnung war eines jener alten, stattlichen Herrenhäuser, wie sie der Adel in der Zeit Ludwigs des Vierzehnten zu bauen pflegte. Wir traten ein und setzten uns alsbald zu einer reichen, üppigen und gemütlichen Mahlzeit nieder. Die seltensten Weine, die kostbarsten Gerichte schmückten seine Tafel, die aufmerksamsten Diener warteten auf und zum Schluß folgte der beste Kaffee, den ich je getrunken, und der feinste Tabak, den ich je geraucht hatte. Nach dem Essen schlug er vor, einen kleinen Spaziergang zu machen, und bald schlenderten wir Arm in Arm nach der Rue du Temple, von wo wir immer in der gleichen Richtung weitergingen, bis wir die Grenzen der Altstadt erreichten und in eine Vorstadt, Belleville, kamen.
Bevor wir die Straße verließen, hatte ich mir die Lage des Hauses eingeprägt und mir die Nummer auf mein Elfenbeintäfelchen notiert, das ich stets bei mir zu tragen pflege.
Schließlich betraten wir ein Café, wo wir etwas Eiskaffee zu uns nahmen. Dann schlug er mir vor, uns eine Guinguette, d. h. ein Teehaus anzusehen, wie es kürzlich für das gewöhnliche Volk errichtet worden war und wo der Besucher für 10 Sous den vornehmen Mann spielen und seinen Kaffee aus silbernen Tassen schlürfenkonnte. Wir sprachen mit dem Besitzer über die Neuheit seines Unternehmens und fragten ihn, ob nicht seine Gäste – die alle den unteren Volksschichten angehörten – eine scharfe Überwachung nötig machten und ob nicht ab und zu einmal einer mit ein paar silbernen Löffeln oder Bechern oder einer vergoldeten Fruchtschale durchginge.
»Nein«, erwiderte der Mann darauf, »ich habe genug vom Leben und von der Menschheit gesehen, um mein scheinbar närrisches, auf jeden Fall aber neues Unternehmen wagen zu können. Mein Lokal wird von Tausenden besucht, mein Betriebskapital ist groß und doch habe ich bei dem kostspieligen Versuch, dem Unbemittelten den Komfort des Reichen zugänglich zu machen, noch nicht 10 Franken verloren.«
Wir konnten die Menschenkenntnis Herrn Popinardes nur bewundern, denn wir fühlten, daß seine Philosophie des Vertrauens, wie er sie nannte, einen reichen Schatz an Wahrheit barg. Dann nahmen wir, immer noch Arm in Arm, unseren Weg in die Umgebung von Belleville, und dort, inmitten der freien Natur, begannen wir über ein Thema von besonderem Interesse zu sprechen. Dieses Thema war »die menschliche Seele und ihre Hilfsmittel«. Ich erinneremich nur noch an den letzten Teil unseres Disputs. Der alte Edelmann sagte nämlich:
»Dann glauben Sie also wirklich, daß es eine Art natürlicher Magie gibt, die in ihren Ergebnissen viel wunderbarer ist, als Aladins Lampe oder Salomons Glücksring?«
»Ganz gewiß glaube ich das.«
»Wie haben Sie von ihrer Existenz erfahren, und wie stellen Sie es sich vor, Novize zu werden, und sich gewisser beabsichtigter Verbindungen zu bedienen? Vielleicht glauben Sie an Elfen, Feen, Genien und Magier?« fragte er mit unterdrücktem Lachen.
»Ich weiß nicht sicher,« erwiderte ich, »ob es solche Magie gibt, aber ich glaube es. Durch ernstes Streben kann sie gefunden werden. Es gibt Stufen, die zu ihr führen, und wenn wir die erste davon entdeckt haben (die wir, glaube ich, schon im Mesmerismus besitzen), können wir ihr folgen, bis wir den großen Thron erreichen. Ich glaube nicht, daß Elfen, Feen, Genien und Magier nur mythische Wesen sind. Es muß, wie mir scheint, ein Funken Wahrheit in den sagenhaften Erzählungen von ihnen stecken, die das Staunen des Hörers und Lesers wachrufen.«
»Sehr gut. Aber sagen Sie mir, ob solche Wesen dieser Welt oder der Welt der Toten angehören.«
In diesem Augenblick schien es mir, als verlöre ich meine geistige Selbständigkeit und als bemächtige sich eine fremde Macht meiner Seele, die für mich antwortete:
»Sie gehören keiner von beiden an, sondern einer ganz anderen Welt!«
Ravalette sah bei diesen Worten erstaunt drein und, nachdem er mich fast eine Minute lang aufmerksam angeblickt hatte, murmelte er kaum verständlich die Worte: »Es wird so sein! Sie sprechen vom Mesmerismus als der ersten Stufe zur wahren Magie, an die Sie glauben und von der ich weiß, daß sie existiert, und Sie dachten, es könnte davon mit Erfolg Gebrauch gemacht werden, um Kenntnisse zu erwerben, die durch die gewöhnlichen Mittel und Methoden nicht erreichbar sind. Sagen Sie mir, wie? Sicherlich doch nicht durch gewöhnliches Hellsehen, das immer nur vergangene Tatsachen enthüllt und nichts anderes, und daher dem Forscher nur wenig nützen kann? Sie glauben mit mir, daß die gesamte alte Geschichte, wie sie uns überliefert wird, im besten Falle eine bloße Fabel oder ein Gemisch von Mythen darstellt, obwohl vielleicht gewisse Teile einer tatsächlichen Grundlage nicht ganz entbehren, wobei das Wahre tausendfach von Erdichtetem überwuchert wird. Wie wollen Sie da mit Hilfemesmerischer Kräfte wahr und falsch unterscheiden? Können Sie mir darauf antworten?«
»Glauben Sie mir, mein kluger junger Freund, daß der Mesmerismus – wie man ihn nun einmal nicht ganz richtig nennt – recht gut ist zu dem verschiedenartigsten medizinischen Gebrauch. Er mag auch ein bewundernswertes Mittel für die Kontrolle der geistigen Fähigkeiten eines anderen sein, auch recht gut zum Hervorbringen der Grenzerscheinungen des zweiten Gesichts benützt werden, so daß er schließlich zu einer Leiter wird, auf der man mit Geschick und Ausdauer die geringeren Höhen wahren Hellsehens zu erklimmen befähigt wird, aber trotzdem ist der Mesmerismus das niederste der vielen Mittel, um Einsicht und Überblick über die weiten Meere der Geheimnisse zu gewinnen, die das menschliche Leben und das Bewußtsein überall eingrenzen. Ich gebe zu, daß der Mesmerismus in einigen wenigen Fällen den Beweis erbracht hat, daß er ein königlicher Weg zu mancherlei Kenntnissen ist; wissen Sie aber, daß er sich noch öfter als Irrweg erwiesen hat, der zu Skeptizismus und Zweifel führt? Und daher rate ich Ihnen, allen diesen Wegen zu mißtrauen, und dies umsomehr, als jedes menschliche Wesen, das seine Tierheit überwunden hat, in sich selbst Kräfte und Fähigkeiten besitzt, die,wenn nur für ihre Ausbildung genügend Sorge getragen wird, schließlich für alle Mühe reichlich belohnen. Der aber ist ein Narr, der sich selbst verläßt, mesmerische Behandlung oder Arzneien oder dergleichen anwendet und dadurch unter den Boden der Außenwelt sinkt, ohne die wahre Feuerseele erreichen zu können.«
Ich biß mich auf die Lippe vor Verstimmung und Ärger über solche Tiraden gegen etwas, was meine innerste Seele bis jetzt als lichtbringend verehrt hatte. Und obwohl ich nicht zweifeln konnte, daß Ravalette im vollsten Ernst sprach, konnte ich nicht umhin, auf seinen Lippen ein triumphierendes Lächeln zu bemerken. Dieser Mann ist älter als ich, sagte ich mir, und weiß, wovon er spricht, sonst wäre er nicht so voll sicheren Vertrauens. Er kennt etwas Höheres als den Mesmerismus. Was mochte es wohl sein? Immer strebte ich, ein Problem zu lösen, an dessen Ende das »Warum?« und das »Warum nicht?« alles menschlichen Sehnens liegt – die Frage der bewußten, persönlichen Unsterblichkeit. War vielleicht alles, was ich an mesmeristischen Erscheinungen selbst gesehen und anderen in eigener Person vorgeführt hatte, nichts weiter als ein Produkt von Phantasie und Vermutung? Ich konnte es nicht glauben und doch hatte mein sarkastischer Begleiter dies, wennnicht behauptet, so doch logisch gefolgert, und offenbar wußte er ebenso viel von den Vorgängen in meinem Geiste, wie ich selbst, und vielleicht sogar noch bedeutend mehr. Ich befand mich in vollständiger Verwirrung.