III.Henriette.

Ich stand auf, ich setzte mich wieder und stand wieder auf, die Augen stets auf die Glocke geheftet, welche ich noch einmal anschlagen zu sehen fürchtete. Ich horchte aufmerksam, in der Hoffnung, daß sie sich wieder entfernen würde; da traf ein anderes Geräusch mein Ohr: es war der Schritt meines Oheims Tom, der in mein Zimmer ging. Jetzt überfiel mich die noch größere Furcht, von ihm mit dem Mädchen zusammen getroffen zu werden, und in der Verwirrung beschloß ich, lieber der Gefahr entgegenzugehen, als sie zu erwarten. Ich zog mich also leise wieder zurück, damit es scheine, als käme ich aus der Bibliothek, hustete, und ging mit einem Schritte, dem die Furcht Festigkeit verlieh, hin und öffnete.... Ihre lieblicheGestalt zeichnete sich im Schattenriß auf dem Halbdunkel der Treppe: Ist Herr Tom zu Hause? fragte sie.

Dies waren die ersten Worte, welche ich von den Lippen der schönen Jüdin vernahm. Sie hallen noch in meinen Ohren wider, so viel Reiz hatte der Ton ihrer Stimme für mich. Obgleich die Frage überaus einfach war, so antwortete ich doch für den Augenblick nicht, jedoch weniger aus Absicht als aus Verwirrung, und schritt höchst linkisch gegen die Bibliothek zu, sie folgte mir nach.

Ohne mich umzusehen, ging ich bis an den Tisch meines Oheims. Ich wünschte, die Tafel möchte recht weit entfernt sein, so sehr fürchtete ich den Augenblick, wo ihr Blick dem meinigen begegnete. Endlich sah ich sie an, sie erkannte mich und erröthete.

Wo war meine Anrede geblieben! Ueber alle Berge. Ich schwieg und war weit röther als sie; weil wir aber so nicht länger gegenüber bleiben konnten, hub' ich folgendermaßen an:

Mein Fräulein... Und da blieb ich stecken.

Herr Tom... versetzte sie und suchte ihrer Verlegenheit Herr zu werden: Ich werde wiederkommen, da er nicht zu Hause ist. Sie verneigte sich leicht, ging davon und ließ mich in einer so übermäßigen Verwirrung stehen, daß ich nicht eher daran dachte, sie zugeleiten, bis sie bereits die Thüre der Bibliothek hinter sich hatte. Jetzt erst eilte ich ihr nach. Sie war verwirrt, ich auch; und als wir in der Dunkelheit der Hausflur beide die Thür öffnen wollten, begegneten sich unsere Hände – ein Wonneschauer durchzuckte meinen ganzen Körper. Sie ging; ich blieb allein, allein in der weiten Welt.

Kaum war sie fort, da kam meine Anrede ganz und gar wieder. Ich schalt mich über mein linkisches Wesen, meine Dummheit, meine Verlegenheit. Denn damals wußte ich noch nicht, daß diese Verlegenheit, diese Unbeholfenheit gleichfalls ihre Sprache habe, die bei vielen Frauen sehr großen Eindruck macht und weit schwieriger nachzuahmen ist, als jede andere. Indeß erinnerte ich mich bald an den Ausdruck ihrer Mienen, ihre Verwirrung, ihren Blick, und wurde dadurch weit zufriedenergestellt. Ich eilte wieder an das Fenster, um sie gehen zu sehen, da hörte ich die Thüre hinter mir sich öffnen. Kaum hatte ich Zeit, um auf das Bett meines Oheims zu springen, wo ich mich hinter den alten grünen Vorhängen, die jegliches Licht von demselben abhielten, verbarg.

Aber, mein liebes Kind, was Sie mir sagten...

Ein junger Mensch, ich versichere Sie, Herr Tom.

Ein junger Mensch! der Unverschämte! Und wie benahm er sich?

Er benahm sich gut. Er sah gar nicht unverschämt aus, Herr Tom.

Das bleibt sich gleich... denn sehen Sie, so sich hier als Herr zu benehmen...

Vielleicht ein Bekannter von Ihnen...

Ich oder mein Neffe; sonst niemand.

Ich glaube... der war's, sagte sie mit leiserer Stimme und niedergeschlagenen Augen.

Er! Eben diesen Augenblick habe ich ihn verlassen! in dem Zimmer hier unten!... Und, sagen Sie mir, kennen Sie denn auch meinen Neffen?

Hier trat eine Pause ein, eine ewig lange Pause.

Sie erröthen, hübsches Kind!... Nun, verlassen Sie sich darauf, es gibt deren genug, die nicht so brav... auch nicht so liebenswürdig... Doch sagen Sie, woher kennen Sie ihn?

Mein Herr... Sie sagten, daß er unter Ihrem Zimmer wohne. Hier habe ich zuweilen am Fenster... denselben jungen Mann gesehen, der mich hier empfing.

Unmöglich, sage ich Ihnen. 's ist allerdings mein Neffe, den Sie am Fenster gesehen haben, denn da verbringt er den ganzen lieben Tag; doch daß er hier gewesen sei, nein, daran ist er ganz unschuldig, der arme Julius. Ich will Ihnen auch sagen warum. Gestern Abend gegen neun Uhr war der Wildfang auf ein hohes Gerüst geklettert, ohne daß ich begreifen kann weshalb, es müßte denn sein, daß es wegen einer Narrethei im Hospitalsaale gegenüber gewesen. (Hier wurde die Verwirrung des Mädchens immer größer, sie wendete das Antlitz seitwärts zu mir her, um ihr Erröthen vor dem Oheim zu verbergen.) Und auf einmal krack!... ein gewaltiges Gepolter, ich laufe hinzu und finde ihn ander Erde liegen; es war so arg, daß ich ihn zu Bett brachte, wo er sich noch befindet... Doch ja, sehen Sie, was ich glaube. Einem jungen Mädchen von Ihrem Aeußern wird schon immer von jungen Leuten nachgegangen. Ein solcher nun, so ein Verwegener... verstehen Sie?... ist Ihnen voraufgegangen. Nun, nicht so schamhaft, mein Kind, nicht so schamhaft; es ist keine Sünde, wenn man hübsch ist... Lassen wir's aber, wenn es Sie in Verlegenheit setzt, ein ander Mal schließe ich meine Thüre besser. Sprechen wir von anderen Dingen. Sie bringen mir mein Buch zurück? Hm! was sagen Sie zu dem Text? Halt einmal, legen Sie das Buch da hin und warten Sie einen Augenblick. Ich will... Warten Sie ein wenig. Und er ging in ein Seitengemach, das zur Bibliothek führte. Ich zitterte, denn dies für gewöhnlich verschlossene Gemach war durch eine geheime Treppe mit meinem Zimmer verbunden.

Ich blieb allein mit ihr. Ich war der einzige Zeuge neben ihr für einige Augenblicke: das schien mir eine unschätzbare Gunst, gleich als ob Sie mir ihr Herz erschlossen hätte. In ihren Zügen, in ihrer Haltung, den geringsten Bewegungen glaubte ich ähnliche Dinge zu lesen, wie sie vor einem Augenblicke in mir vorgingen. Geheimnißsüße Augenblicke! Augenblicke wonniger Stille, wo mein Herz in der Wirklichkeit einige Bilder meines Traumes fand!

Zum ersten Male sah ich sie so nahe und konnte mich an dem Zauber weiden, den ich in ihr entdeckte. Daß ich es nicht in diese Zeilen hauchen, es nicht malen kann, wie sie mir erschien! Und die Bibliothek meines Oheims schien ein Wunderrahmen zu sein, der ihre glänzende Schönheit noch erhöhte. Die ehrwürdigen Bücher, die Reihenfolge der Alter vertretend, auf den staubigen Gestellen, der alterthümliche Duft, das studirzimmerliche Schweigen und mitten darin diese junge Blume voll Frische und Leben... das sind Dinge, die sich nicht in Worte fassen lassen.

So lange hatte sie aufrecht gestanden und ging jetzt, sich neben dem Fenster auf den Lehnsessel meines Oheims niederzusetzen. Sie stützte die Wange auf die schöne Hand und sendete den Blick nachdenklich-schwermüthig gen Himmel; ein Lächeln flog leicht wie der Odem über ihre Lippen. Dann streiften ihre Blicke nachlässig über den dicken Folianten, von dem mein Oheim aufgestanden war. Nach und nach blieben sie darauf haften, ihr bescheidenes Antlitz überzog lebhafte Röthe und eine steigende Theilnahme malte sich darauf. Ich hab' es! rief in diesem Augenblicke mein Oheim Tom; sie erhob sich, ohne jedoch die Augen von dem Folianten abzuwenden, bis mein Onkel in die Bibliothek getreten war.

Da ist es! Das hat Mühe gekostet. Ich schenke es Ihnen wegen Ihrer Liebe zu dem Hebräischen, ich behalte das andere, das für mich größern Werth hat, weil ich sehr auf den Text halte. Dieses mit dem Saffianbandepaßt besser für Ihre zarten Finger; nehmen Sie es und erinnern Sie sich dabei an den Doktor Tom.

Sie sind zu gütig, mein Herr. Ich nehme Ihr schönes Buch an und werde immer Ihrer gedenken, obschon ich nicht hoffen darf, daß ich Sie wieder besuchen werde.

Ja, sagte mein Onkel lächelnd, aus Furcht vor dem bösen Neffen. Gut, daß ich darauf komme, ich hätte den meinigen fast vergessen... Leben Sie wohl, auf Wiedersehen.

Er gab ihr das Geleit. Bereits war der Foliant, welcher ihre Blicke gefesselt hatte, in meinem Besitz; allein ich zitterte, mein Oheim möchte mir nicht Zeit genug gönnen zu entschlüpfen, glücklicherweise hatte er die Thüre des Seitengemachs offen gelassen; ich stürzte hier hinein. Im Nu war mein Buch in Sicherheit; die Kleiderpuppe unter dem Bett und ich auf demselben, wo ich meinen guten Oheim Tom erwartete, der gleich darauf eintrat.

O! o! Schon auf? fragte er. Und wann aufgewacht?

Schlag zehn Uhr, lieber Onkel. Die vollständigste Genugthuung malte sich bei diesen Worten auf dem Gesichte meines Oheims Tom. Er war vergnügt, mich wiederhergestellt zu sehen, mehr aber noch war er es der Ehre willen, die seine Wissenschaft daraus erntete.Er nahm einen feierlichen Ton an: Jetzt, Julius, will ich dir sagen, was du hattest. Eine Hemicephalalgie.

Glauben Sie, Oheim?

Ich glaube es nicht, Julius, sondern ich weiß es, und weiß es ganz sicher; denn ich bin nicht ein Jota vom Hippokrates abgegangen. Durch den Fall und die Erschütterung des Gehirns entstand ein Austreten der inneren Ausscheidungen der Gehirnhaut. Und weißt du wol, in welchem Zustande ich dich gefunden habe? Uebermäßig schneller Pulsschlag, stierer Blick, vollständiges Irrereden. Ueberdies.... das Zugpflaster....

Ach! mein Oheim, reden Sie nicht mehr davon und erzählen Sie es Niemanden.

Das Zugpflaster hat ein leichtes Durchsickern erzeugt; es geht besser; indeß scheint das Fieber noch nicht verschwunden. Nun kommt mein Kühltrank.

Ja, Oheim!

Jetzt tritt ruhiger Schlaf ein...

O freilich, Onkel; ausgezeichnet.

Ein vorhergesehener, vorausgesagter, prophezeiter Schlummer von ein Uhr Nachts bis zehn Uhr Morgens. Und jetzt bist du auf dem Wege der Genesung!

Vollständig genesen, mein Oheim.

Nein; und vor allen Dingen müssen wir einen Rückfall vermeiden. Du verhältst dich ruhig, indeß ich dir ein leichtes Senfpflaster bereite; später wollen wir sehen. Ruhe dich aus und arbeite heute nicht. Versprich mir das.

Sie können darauf rechnen.

Sobald mein Onkel gegangen war, machte ich mich über den Folianten. Aber ich gerieth in eine neue Verlegenheit. Das Buch hatte zweitausend Seiten und in meiner Eile hatte ich die einzige davon, die meine Theilnahme erregte, zu bemerken vergessen. Dieses Ungeheuer durchblättern? es ist darin ein Gedanke, ein Wort vielleicht nur, welches sie anziehen konnte, und dieses Wort unter einer Million anderer zu entdecken! Und dennoch triebmich eine unbesiegliche Begierde an, danach zu suchen, gleich, als ob mein Schicksal von dieser Entdeckung abhange.

Ich ging an's Werk. O! welch unsinniges Zeug kam mir vor Augen und welchen Eifer zum Studium hatte ich dabei! Wenn mein Onkel mich gesehen, oder nur mein Professor! Eifriger, junger Mann, zügeln Sie Ihre Hitze, hätte er mir gesagt; Sie treibens zu stark.

Es war eine Sammlung von alten Chroniken des Mittelalters, worin manch fabelhaftes, verliebtes Abenteuer berichtet war; manches Wappenstück, Anmerkungen, Urkunden; ein buntes Gemisch im Geschmacke meines Oheims. Ich fand indeß mancherlei darin, welches sie und mich ansprechen konnte, doch nicht mehr als jeden Andern; so kam ich bis zur zweihundertsten Seite.

Darüber schrien die Stuhlrollen, die Leiter rollte, eine ungemeine Bewegung gab sich in dem Zimmer meines Oheims kund. Es war klar, er suchte umsonst, indeß ich mich mit dem Nachschlagen befaßte. Mir kam ein Gedanke... Ich stieg hinauf.

Wirklich befand sich mein Oheim in einem bejammernswerthen Zustande, wie eine Löwin, welcher... Ich will sagen, er irrte umher und suchte seine Scharteke, die er von seinen Fächern, von seinem Tisch, vom Himmel wieder verlangte. Verwirrung und Unordnung war in sein stilles, ruhiges Bereich gedrungen.

Bestohlen! ich bin bestohlen, Julius... und verloren! (Er erklärte mir dies.) Das Buch ist von unbeschreiblichem Werthe, unersetzbar, und ich war gerade auf derselben Seite im Begriff... aber ich habe meinen Gewährsmann verloren! o, Libanius! du siegst!

Unmöglich! es muß durchaus... laßt nur sehen... was für eine Seite, Onkel?

Ha! weiß ich's! Drei Jahre Streit über die Bulle Unigenitus und im Hafen Schiffbruch leiden!

Die Bulle, sagen Sie?...

Unigenitus!

Unigenitus!Ja, das ist abscheulich. Und diese Seite...

Gab die Bulle mit einer Variante, die sich sonst nirgends findet.

Und weiter nichts?

Wie, Du, Du findest das nicht genug! Ich gäbe alles was ich habe für diese Seite. Aber ich werde sie wieder bekommen. Nur eine Person konnte es thun... sie soll mir schon sagen, wer der Gesell ist, der die Folianten wegholt... Geschwind!

Und der gute Onkel setzte seine Perrücke zurecht, nahm sein altes Rohr, setzte den dreieckigen Hut auf und ging. Auch ich stieg hinab und wiederholte für mich ganz leise: Bulle Unigenitus, Bulle Unigenitus, aus Besorgniß das Wort zu vergessen.

BulleUnigenitus, BulleUnigenitus, sagte ich und durchblätterte meinen Folianten. BulleUnigenitus... Da ist sie! in dicken Buchstaben. Es war Latein: entsetzliche Täuschung. Seit diesem Eindrucke habe ich stets einen Widerwillen gegen das Latein empfunden,das ich, aufrichtig gesagt, vorher auch nicht liebte. Da ich indeß bemerkte, daß die Bulle mitten auf der Seite anfing, so richtete ich meinen Blick auf das Vorhergehende. Ich las:

Was massen die Kastellanen von Amgrivoisauf die Linie der Chauvin gelangtedurch Verheyratung des edlen Herrn vonSaintree mit der Henriette von Entragues.

Der edle Junkher war noch niemalen von Liebe betroffen gewest. Also geschahe es, da der Bart ihm zu keimen begunnte, dass er Henrietten in dem Schlosshofe sahe und vieles vergnügen daran fassete sie anzuschauen, fein wie sie war und von vorteillhafftem Gesichte; undt schöpfete aus solchem Beginnen ein Liebesleid, nicht vermögend ein ander Ding zu denken bei Tag- und Nachtzeiten. Wusste aber mit nichten wie es ihr kund geben, sintemahlen er noch ganz unerfahren in angelegenheiten der Liebe. Und keck und ohn forcht als er unter den Junkhern war, so war er vor dem Angesicht eines Fräuleins links und schlecht beholfen. Also fassete er sich, da er immer heftiger entbrannte, nahm sich ein Muth und stellete sich in das Gemach seines Ahns, da sie musste hinkommen, und wollete mit einem Strauss ihr ein gar glänzend Zeugniss der Flamme verleihen, darinnen er um ihre schönen Augen brannte. Und so lang als sie nicht kame, war er wundersam fertig ihr zu reden undt sein sträusslein zierlichstermassen zu überreichen. Da indessen Henriette eintrat, er eiligst selbigesunter die Tafel warf und stumm wurde, links und übler befangen, denn ein edelknabe über einem Fehler ertappet. Henriette ihren theils hatt' es wohl gesehen sammt den dichten Strauss und ward gar wundersam roth, und solche waren sie einander gegenüber roth wie ein paar Feldmohn und unvermächtig etwas zu sagen. Und sie wären da noch ohne den Ahn, der eintrat: Was machet ihr hinnen?... u. s. w.

Ich las und las tausendmal diese Seite, ich war vor Freude entzückt, denn da ich in meinem Geiste die schlichten Ereignisse dieser Geschichte mit dem verglich, was ich in den Mienen meiner Jüdin gelesen hatte, mußte ichallerdings glauben, daß meine Schüchternheit und mein unbeholfenes Wesen ihr nicht misfallen hatten, wie ich aus ihrer Unterhaltung mit meinem Onkel annehmen durfte, daß meine Aufmerksamkeit, wie mein Gesicht am Fenster ihr nicht entgangen waren! Wir hatten uns also verstanden; ich war also tausendmal weiter, als ich glaubte, und konnte mich fernerhin dem Hange meines Herzens hingeben, ohne durch die Schwierigkeiten eines ersten Schritts oder die Furcht, ihr fremd zu sein, beschränkt zu werden. Das erste, was ich that, war, daß ich eine genaue Abschrift dieser theuern Zeilen nahm; dann benutzte ich, da mir der Kummer, den ich meinem Oheim gemacht hatte, schwer auf dem Herzen lag, die Abwesenheit desselben, um das Buch wieder hinaufzutragen, wo ich es so zwischen die andern steckte, daß er glauben mußte, er habe es selber verkramt.

Ich kehrte in mein Zimmer zurück und schloß mich ein, um ungestörter allein mit meinen Gedanken zu sein, die mir heute eine wunderliebe Gesellschaft waren. Ich durchging in meinem Geiste stets dieselben Dinge, um neue Seiten an ihnen zu entdecken, bis ich endlich ermüdet von dem gethanen Schritte abließ, um zu bedenken, was weiter zu thun: denn mein Loos an das ihre ketten war von da an das einzige Ziel meines Lebens.

Ich zählte achtzehn Jahr. Ich war Student, ohne Stand, ohne andere Mittel als die Güte meines Oheims.Allein diese Schwierigkeiten kümmerten mich wenig, und ich beseitigte sie in tausenderlei Weise, wie es der Muth eingibt, den die Gewalt einer großen Liebe verleiht. Hingebung, Aufopferung, unbestimmte Ruhmbegierde schwellten mein Herz und erhoben mich zu meiner theuern Jüdin; ich erhielt ihre Hand und vermochte ihr ein Loos zu bieten, wie sie es verdiente. Oder wenn ich bedachte, wie weit ich noch von diesen glänzenden Verhältnissen entfernt sei, so wünschte ich, sie solle arm, von niederem Stande, verlassen sein, so daß sie durch eine Vereinigung mit mir nur gewinnen könne; ich dachte wieder an die geringschätzige Miene des Pförtners, die jetzt meine einzige Hoffnung wurde.

Es war Sonntag. Die Glocken riefen die Gläubigen zum Tempel; ihr eintöniger Schall brachte Ruhe in meine Seele. Sie schwiegen und die Stille der Straßen verlieh meinen Gedanken, die sich über alle Hindernisse hinaus erhoben hatten, höhern Muth. Die Melodien der Kirchengesänge, die ernsten Töne der Orgel gesellten sich sanft zu meinen Träumereien und ich sah unvermerkt mich selber in der Mitte der Gläubigen, im Genuß eines ruhigen Glücks neben meiner Gefährtin, wie wir beide aus demselben Buche ablasen, wie sie ihre schönen Wimpern auf das Blatt senkte, wie ihr Athem sich mit dem meinigen vermischte und ein süßes Glück unser Theil auf dieser Welt und unsere gemeinsame Hoffnung in der andern war.

Aber eine Jüdin in der Kirche! Nein, dieses Bedenken kam mir nicht an. Ein trunkenes Herz kleidet seine Träume nur mit seinen Wünschen und Bildern aus, mit dieser angenehmen, gefälligen Gesellschaft, welche seinem Fluge nirgends wehren. Ach! ich bin seitdem wieder auf die Erde gekommen; ich bin im Geleit der Wirklichkeit gewandelt, unter der Zuchtruthe des Verstandes und der Vernunft; sie alle zusammen, diese strengen Lehrer, haben mir nicht einen Augenblick gegeben, der sich mit den himmlischen Regungen von damals vergleichen könnte. Warum müssen doch solche Augenblicke so kurz sein und sich nicht wiederfinden!

Ich kannte den Namen, die Wohnung jener nicht, die sich meines ganzen Seins bemächtigt hatte. Ich erwartete mit steigender Ungeduld die Stunde Montags. Sie erschien nicht. Dienstag und Mittwoch vergingen eben so. Ich hörte, daß seit zweien Tagen der Kranke, den sie gepflegt hatte, todt war. Am Freitag war ich voll Ungeduld zu meinem Oheim hinaufgegangen; ein Unbekannter klopfte an die Thüre und überbrachte ihm ein Päckchen.

Mach' es auf, Julius! sagte er.

Ich öffnete. Es war das Buch in Saffianband. Auf der innern Seite des Umschlags standen die Worte zu lesen:

Wenn ich sterbe, bitte ich dies Buch an Herrn Tom zu geben, von dem ich es habe.

Und weiter unten:

Wenn Herr Tom mir einen Gefallen erzeigen will, so gebe er das Buch seinem Neffen zum Andenken an diejenige, welche er in der Bibliothek empfangen hat.

Wenn sie stürbe! rief ich aus; sie, sterben!

Armes Kind, sagte mein Oheim Tom; was kann ihr zugestoßen sein?

Wo wohnt sie, Onkel?

Wir wollen zusammen gehen, um uns nach ihr zu erkundigen.

Einen Augenblick darauf befanden wir uns in der Straße. Es regnete. Wir waren fast die Einzigen, welche draußen gingen. Beim Umbiegen um eine Straßenecke sahen wir einige Leute; mein Oheim blieb stehen... Was gibt es? sagte ich; weshalb gehen wir nicht... Armer Julius, es ist zu spät! Es war der Leichenzug: vor zwei Tagen hatten die Pocken sie hinweggerafft!

Am nächsten Tage begann ich wieder zu schauen und zu sinnen: eine Träumerei voll Bitterkeit und innerer Leere, fade Muße, Widerwillen gegen die Welt, die Menschen, das Leben selber, ohne den Reiz irgend einer Erinnerung. Statt aller Gesellschaft, als einzigen Freund,hatte ich das kleine Buch, und wenn ich die Zeile gelesen, die für mich bestimmt war, drückte mir die Wehmuth das Herz, bis die Thränen mir aus den Augen strömten und mich erleichterten.

Mein zweiter Freund war mein Oheim Tom. Ich erzählte ihm alles, und als ich ihm meinen Streich, den ich ihm gespielt, erzählte, fand ich in seinem Herzen nur Nachsicht und Güte. Meine Trauer rührte ihn und auch er nahm seinen Theil daran, ohne sie ganz zu verstehen.Und wenn er am Abend mich düster sah, so rückte er leise seinen Stuhl neben den meinigen und wir saßen schweigend neben einander, beide in einem Gedanken vereint. Ein so verständiges Mädchen, sagte er in seiner treuherzigen Einfalt, in Pausen.... ein so hübsches Mädchen.... ein so junges Mädchen! Und bei dem Schimmer des Kamins sah ich eine Thräne seine alten Wimpern feuchten.

Endlich kam die Zeit auch mir zu Hülfe, sie gab mir die Ruhe wieder und andere Freuden, aber nie eine ähnliche: ich hatte meine Jugend zu Grabe getragen.

Wie ist doch das Herz treu, so lange es jung und rein ist! Wie ist es so zartfühlend und aufrichtig! Wie liebte ich diese Jüdin, welche ich kaum gesehen und so bald wieder verloren! Welch engelgleiches Bildnißist mir von diesem zerbrechlichen Wesen, dem reizenden Verein von Anmuth, Zucht und Schönheit, geblieben!

Der Gedanke an den Tod erwacht langsam, nach und nach; in den ersten Tagen des Lebens hat sein Name keinen Sinn. Für die Kindheit ist alles in der Blüthe, im Entstehen, eine Schöpfung von gestern; für den Jüngling ist alles Kraft, Jugend, überströmendes Leben. In der That, einzelne Wesen verschwinden aus dem Gesichte, aber sie sterben nicht.... Sterben! das will sagen, für immer der Freude verloren sein; den lachenden Anblick der Fluren, des Himmels, selbst den Gedanken daran verlieren, welchen so glänzende Hoffnungen, so lebendige, wahre Gebilde erfüllen!!...

Sterben! das will sagen, die Glieder, welche von Kraft strotzen, von Leben glühen, die frisches Blut röthet, schwach werden, eisig erkalten, in entsetzliche Blässe sich auflösen sehen.

Unter die Erde dringen, das Leichentuch aufheben, dieses wurmzerfressene Fleisch anschauen, die staubzerfallenen Gebeine... der Greis kennt diese Bilder, er verscheucht sie, aber den Jüngling treten sie niemals an.

Er verliert die, welche er liebt, er weiß, daß er sie nicht wiedersehen wird, er begegnet ihrem Leichenzug, erweiß, daß sie unter diesen Bretern, unter diesem Hügel liegt... aber es ist immer noch sie, unverändert, ewig schön, rein, reizend mit dem verschämten Lächeln, dem schüchternen Blick, der ergreifenden Stimme.

Er verliert die, welche er liebt, sein Herz erstickt oder strömt glühende Seufzer aus; er sucht, er ruft die, welche ihm entrissen worden; er redet zu ihr, er legt ihrem Schatten das ihr eigenthümliche Leben, die ihr eigenthümliche Liebe bei, er sieht sie vor sich stehen.... es ist immer noch sie, unverändert, ewig schön, rein, reizend mit dem verschämten Lächeln, dem schüchternen Blicke, der ergreifenden Stimme.

Er verliert die, welche er liebt. Nein, er trennt sich von ihr, sie befindet sich an irgend einem Orte und dieser Ort ist durch ihre Gegenwart verschönt; er ist

Geehrt durch ihren Fuß, erhellt von ihrem Blick;

Geehrt durch ihren Fuß, erhellt von ihrem Blick;

Geehrt durch ihren Fuß, erhellt von ihrem Blick;

Geehrt durch ihren Fuß, erhellt von ihrem Blick;

alles ist daselbst Schönheit, Liebe, mildes Licht, keusches Geheimniß...

Und dennoch! An dem Orte, wo sie sich befindet, ist die Nacht, die Kälte, die Nässe, der Tod und seine widerwärtigen Gehilfen in vollster Thätigkeit!

Der Gedanke an den Tod erwacht langsam, nach und nach. Aber ist er einmal in die Seele des Menschen gedrungen, so verschwindet er nicht wieder. Vordem war seine Zukunft Leben; jetzt ist der Tod das Endealler seiner Pläne, derselbe drängt sich von nun an in alle seine Unternehmungen. Er denkt an ihn, wenn er die Scheune füllt, er zieht ihn zu Rathe, wenn er Güter erwirbt, derselbe drängt sich auf, wenn er seine Pachten abschließt; er setzt sich einsam mit demselben in sein Gemach, um sein Testament zu machen, und unterzeichnet dasselbe mit ihm.

Die Jugend ist hochherzig, empfänglich, muthig... und die Greise nennen sie verschwenderisch, unüberlegt, tollkühn.

Das Alter ist haushälterisch, bedachtsam, vorsichtig... und die Jünglinge heißen es geizig, selbstsüchtig, zaghaft.

Aber warum beurtheilen sie einander, wie können sie sich beurtheilen? Sie haben keinen gemeinschaftlichen Maßstab. Die Einen berechnen alles auf's Leben, die Anderen alles auf den Tod.

Dieser Augenblick, wo der Lebenshorizont des Menschen wechselt, ist bedeutsam. Die eben noch so fern am Himmel schwebenden Gebiete ziehen näher, das phantastische, glänzende Gewölk wird dicht und regungslos, die azurnen und goldenen Räume zeigen nur noch die Nacht hinter kurzer Dämmerung... O! wie verändert sind die Verhältnisse! wie bedeutungslos erscheint dem Menschen alles, was er gethan! Er begreift nun, daß sein Vater ernst, daß sein Großvater finster war und Abends, wenn die Spiele begannen, sich zurückzog.

Er selbst fühlt sich bewegt; dieser neue Gedanke arbeitet in seinem Herzen und weckt die Erinnerung an viele Worte, viele Dinge, deren düstern Sinn oder trostreichen Zauber er früher nicht begriff....

Es war einmal in den Tagen seiner ersten Jugend, an einem Sonntage; er sah, er hörte der Zecher fröhliche Lust, wie sie in der Weinlaube saßen, das Leben feierten und dem Grabe Hohn sprachen; man lachte, man trank, man erheiterte sich das kurze Dasein und unter dem Laube heraus rauschte in fröhlicher Weise das Lied durch die Lüfte:

.... Einst müßt ihr in die Grube sinken,Wo Nacht auf immer uns umschlingt;Drum Freunde! laßt uns leben, trinken!Auf Freunde, trinket, lebet, singt!...Und will in's Leichentuch uns hüllenDer bleiche Knochenmann, Freund Hain,Dann laßt das Glas noch einmal füllen...Mit dreistem Sprung zur Gruft hinein!

.... Einst müßt ihr in die Grube sinken,Wo Nacht auf immer uns umschlingt;Drum Freunde! laßt uns leben, trinken!Auf Freunde, trinket, lebet, singt!...Und will in's Leichentuch uns hüllenDer bleiche Knochenmann, Freund Hain,Dann laßt das Glas noch einmal füllen...Mit dreistem Sprung zur Gruft hinein!

.... Einst müßt ihr in die Grube sinken,Wo Nacht auf immer uns umschlingt;Drum Freunde! laßt uns leben, trinken!Auf Freunde, trinket, lebet, singt!...

.... Einst müßt ihr in die Grube sinken,

Wo Nacht auf immer uns umschlingt;

Drum Freunde! laßt uns leben, trinken!

Auf Freunde, trinket, lebet, singt!...

Und will in's Leichentuch uns hüllenDer bleiche Knochenmann, Freund Hain,Dann laßt das Glas noch einmal füllen...Mit dreistem Sprung zur Gruft hinein!

Und will in's Leichentuch uns hüllen

Der bleiche Knochenmann, Freund Hain,

Dann laßt das Glas noch einmal füllen...

Mit dreistem Sprung zur Gruft hinein!

Und der Chor wiederholte mit vollem, wogendem Klange:

Und will in's Leichentuch uns hüllenDer bleiche Knochenmann, Freund Hain,Dann laßt das Glas noch einmal füllen...Mit dreistem Sprung zur Gruft hinein!

Und will in's Leichentuch uns hüllenDer bleiche Knochenmann, Freund Hain,Dann laßt das Glas noch einmal füllen...Mit dreistem Sprung zur Gruft hinein!

Und will in's Leichentuch uns hüllenDer bleiche Knochenmann, Freund Hain,Dann laßt das Glas noch einmal füllen...Mit dreistem Sprung zur Gruft hinein!

Und will in's Leichentuch uns hüllen

Der bleiche Knochenmann, Freund Hain,

Dann laßt das Glas noch einmal füllen...

Mit dreistem Sprung zur Gruft hinein!

Vor Jahren, vor langen Jahren war's einmal auf steinigem Acker, ein schwacher Greis beugte sich unterder Last seiner schweren Arbeit. Im Brande der Sonne machte er eine unfruchtbare Haide urbar; der Schweiß rann ihm von der kahlen Stirne und die Hacke zitterte in seiner dürren Hand.

In dem Augenblick kam ein Reiter den Rain entlang. Beim Anblicke des Mannes zügelte er seinen Lauf: Ihr habt wol Eure liebe Noth? fragte er. Der Greis hielt ein und gab durch eine Geberde zu erkennen, daß ihm die Noth nicht fehle; dann nahm er die Hacke wieder zur Hand und sprach: Man muß sich in Geduld schicken, um den Himmel zu verdienen!

Ferne, aber gewaltige Erinnerungen, deren jede einen ganz verschiedenen Keim in sich birgt. Welcher ist's, der aufsprießen wird?....

Ist die Nacht hinter der kurzen Dämmerung ewig? Dann laßt mich anstoßen mit euch, fröhliche Kumpane! laßt mich mit euch des Lebens genießen, Trotz biete ich dir, Freund Hain!... Dann stelle ich all mein Sach' auf das Leben und auf mein Haupt: Ehre, Tugend, Humanität, Reichthum; denn mein Gott bin ich, meine Ewigkeit diese wenigen Tage, mein ganzer Antheil an der Glückseligkeit so viel ich vom Antheil Anderer erhasche, so viel ich Freuden aus meinem Körper gewinne, so viel ich meine Sinne entzücken kann! Ehrlich – wenn ich stark, reich, wohl vom Schicksale bedacht; achtbar aber auch dann, wenn schwach, ichList gebrauche, wenn ich arm, stehle; wenn ich enterbt, im Finstern wandle, um mir meinen Antheil vom Erbe zu verschaffen; denn meine Nacht nahet und ich habe ein gleiches Recht zum Genuß!

Und will in's Leichentuch uns hüllen. . . . . . . . . . . . . .

Und will in's Leichentuch uns hüllen. . . . . . . . . . . . . .

Und will in's Leichentuch uns hüllen. . . . . . . . . . . . . .

Und will in's Leichentuch uns hüllen

. . . . . . . . . . . . . .

Lustiges Liedlein, wie düster erscheinst du mir! Du gleichst dem blühenden Hügel, der vermoderte Gebeine bedeckt!

Aber wenn die Nacht hinter dieser kurzen Dämmerung sich lichtet!.... Wenn sie nur ein dichter Schleier ist, der dem Auge die glänzenden, unendlichen Himmel verhüllt?...

Dann, Alter, wende ich mich zu dir; deine Lumpen ziehen mich an; ich will auf deinem Pfade wandeln.

Welcher Frieden für das Herz, welches Licht für den Geist! Eine gemeinsame Mühseligkeit, ein gemeinsamer Gott, eine gemeinsame Ewigkeit! Komm, mein Bruder, dein Elend dauert mich; dies Gold wird mich anklagen, wenn ich dir keine Linderung gewähre. Leiden und Duldung, Reichthum und Milde sind nicht mehr leere Worte, sondern süße Arzneien und führen zum Leben!

Das Ueble also ist ein Uebel und daher das Gute zu erwählen und zu verfolgen. Die Gerechtigkeit ist heilig, die Humanität segensvoll; der Schwache hat seine Rechte und der Starke beschränkende Pflichten.Mächtig oder elend, niemand ist enterbt außer durch seine Schuld... Vergnügen, Lust, Reichthümer, ihr habt eure Gebrechen und eure Pflichten. Armuth, Schmerzen, Herzeleid, ihr habt eure Tröstungen und eure Berechtigungen.... Tod! ich will dir weder Hohn sprechen noch dich fürchten; einzig und allein will ich mich bereiten, die glücklichen Reiche zu sehen, deren Eingang du aufschließest.

Alter Mann! wie weise, reich und tröstlich erscheinst du mir. Du gleichst in meinen Augen alten Ruinen, die am entlegenen Plätzchen Schätze verbergen.

So ändern sich die Dinge mit der Anschauungsweise. In diesem Sinne ist der Augenblick so bedeutsam, wo der Gedanke an den Tod die Seele des Menschen erfaßt und zwei Wege sich vor ihm öffnen.

Wäre der Mensch ein bloßes Vernunftwesen, so würde man ihn je nach dem Standpunkte seiner Ansichten durch eine gebieterische, schicksalsschwere Nothwendigkeit, von Schluß zu Schluß folgend, in dem einen oder dem andern dieser beiden Wege wandeln sehen. Glücklicherweise kennt und liebt der Mensch, unabhängig von aller Schulweisheit, die Ordnung, die Gerechtigkeit, das Gute; wenn er die Tugend gekostet, so zieht sie ihn an und er hält fest an ihr. Zudem, von Leidenschaften gepeinigt, von der Nothwendigkeit ganz und gar in Anspruch genommen, hat der armselige Vernunftmensch,der wankelmüthige Geist, das schwache Geschöpf weder Zeit noch Kraft, grausam oder erhaben zu sein... Doch man folge der Menge, man beobachte die Einzelnen, welche sich davon absonderten, um segenbringend oder verderblich zu wirken, und man wird unter denen, die nach bestimmten Grundsätzen handeln, auch die Entschlossensten antreffen und sie ohne Stolz zur Tugend schreiten sehen, und zum Verbrechen ohne Gewissensbisse.

Doch, armes Liedlein! darum hadre ich nicht mit dir; du dachtest an nichts Uebles. Trinken und Singen ist ein herrlich Ding: die Freude erweitert das Herz. Unter der Weinlaube beim Klange der Becher ziehe der Ernste, der Freudenfeind sich zurück, dann erscheinst du, auf den Flügeln der Lust und Freude heranschwebend.

Ist es deine Schuld, wenn einzelne Verse dem Laubdache entschlüpfen und an das Ohr eines Knaben schlagen, der mit seinem Oheim den Hügel hinanstieg?

Wir kehrten zurück. Mein Oheim Tom trinkt selber freilich keinen Wein, aber er sah es gern, wenn andere Leute um eine Flasche herum die Sorgen und Mühen der Woche vergaßen. Es war seine Gewohnheit nicht, an solchen Gelagen Theil zu nehmen, allein es machte ihm Vergnügen, ihnen zuzusehen, die Fröhlichkeit pflanzte sich auf ihn fort und seine Züge belebten sich mit freundlichem Lächeln. So ging ich auch Sonntag Abends mit ihm spazieren, nicht etwa an öffentliche Orte oder aneinsame Stellen, sondern zwischen den Weingeländen herum, die vor der Stadt die Familien der geringen Leute versammelten.

Noch jetzt gehe ich dahin. Zuweilen bin ich mitten darunter, ich weiß nicht ob etwa, weil ich selbst ein geringer Mann geblieben bin, oder ob meine Kunst mich dahin leitete.

Da rede ich von zwei neuen Dingen zu dir, Leser! Das Erstere wird einen unangenehmen Eindruck auf dich machen, das Letztere überrascht dich, wenn du aus dem, was du bisher von meiner Geschichte gelesen, nicht errathen hast, daß Ostade und Teniers mich weit stärker anzogen, als Grotius und Pufendorf. Doch ich will diese beiden Dinge trennen, um von jedem besonders zu sprechen.

Hast du jenes Knötchen vergessen, welches dein Haupt so gut als das meinige hat? Ich erlaube mir, dich daran zu erinnern. Vernimm also, daß niemand von sich sagt, er gehöre zu dem gewöhnlichen Volke, noch darauf stolz ist, vom Volke zu sein, oder seine Freunde darunter zu haben. Oder wäre ich nicht ein wenig dein Freund? Was du auch sein magst, das Volk ist in deinem Munde das Volk auf niedrerer Stufe, als der, wo du in der Stufenleiter der bürgerlichen Gesellschaft stehst. Du, du gehörst nicht dazu und in jedem Falle, wo deine Eitelkeit (wiederum das Knötchen) ihre Rechnung nicht dabei findet, wirst du keinen Ruhm darin suchen, zum Volke zu gehören, und wärest du wirklich aus ihm. Merk dir's.

In der That, wenn bewußtes Knötchen durch die Aufgeblasenheit eines Großen sich verletzt fühlt und es gern auswetzen möchte, könnte es sich weigern unter solchen Umständen, daß du eine Ehre darein setztest, zum Volke zu gehören, und wäre es auch wirklich nicht einmal der Fall. Aber das ist nur für den Augenblick und blos deshalb, weil das Volk weit mehr Lebensart, bessere Sitten, einen weit vorzüglicheren Ton hat, als jener Große, und weil er's als unendlich tief unter ihm stehend betrachtet.

Eben so wenn besagtes Knötchen möchte, daß du einem Club vorstehst, die Seele einer Bewegung seist, das Haupt einer Partei, der Herausgeber eines Volksblatts, so würdest du wieder nur in ein Ding deinen Stolz setzen, nämlich darein, daß du zum Volke gehörst, daß du aus dem Schoose des Volks entsprossen, daß du im Schoose des Volks und, wenn möglich, für dasselbe sterben wollest. Aber deine weißen Handschuh, dein feines Kleid, deine saubere Wäsche, das Spazierstöckchen, mit dem du spielend umherfichst, die Augengläser, welche dir ein Bedürfniß geworden, zeugen wider deine Behauptung. Du nennst dich Einen vom Volk! und würdest dich beleidigt fühlen, hielte man dich beim Worte.

Du siehst, die Ausnahme bewahrheitet die Regel.

Ja, es ist wirklich so, ich bin beim Volk geblieben. Ich suche daraus weder Ruhm noch Schimpf zu ziehen, obwol ich fühle, wie ungemein schwer das ist.

Ich schreite zu dem zweiten Punkte.

Mein Oheim Tom hegte große Vorurtheile wider den Stand eines Künstlers. Er fand denselben eines denkenden Wesens nicht sehr würdig und höchst ungeeignet, ein essendes, trinkendes und besonders ein heirathendes Wesen zu ernähren. Sonderbar ist dabei, daß er, während er die Künstler geringschätzte, die Kunst ganz besonders verehrte, insoweit nämlich die Kunst in's Bereich der Gelehrsamkeit fällt, als sie ein Gegenstand zu Untersuchungen, zu Denkschriften ist. Mein Oheim hatte zwei dicke Bände über die griechische Glyptik geschrieben.

Ich hingegen ließ die griechische Steinschneiderei sein wie sie wollte; jung wie ich war, hatte das Grün der Wälder, das Blau der Berge, der Adel der menschlichen Gestalt, die Anmuth der Frauen, der weiße Bart des Greises für mich einen geheimen Zauber, der noch weit lebendiger und gewaltiger wurde, wenn ich auf Leinwand oder Papier eine Nachahmung dieser mir so reizenden Dinge sah. Tausend linkische Versuche auf meinen Heften und Büchern thaten die wundersame Lust kund, die ich in der Nachahmung meiner selbst fand, und ich erinnere mich, daß ich lange Arbeitstunden hindurch mit Wollust die reizenden Bilder niederkritzelte, welche einige, gar häufig falsch oder nothdürftig begriffene Verse Virgils in meiner Einbildung erweckten. Ich malte Dido. Ich malte Jarbas. Ich malte Venus selber:

Virginis os habitumque gerens, et virginis armaSpartanae: vel qualis equos Threissa fatigatHarpalyce, volucremque fuga praevertitur Hebrum.Namque humeris de more habilem suspenderat arcumVenatrix, dederatque comam diffundere ventis,Nuda genu, nodoque sinus collecta fluentes.

Virginis os habitumque gerens, et virginis armaSpartanae: vel qualis equos Threissa fatigatHarpalyce, volucremque fuga praevertitur Hebrum.Namque humeris de more habilem suspenderat arcumVenatrix, dederatque comam diffundere ventis,Nuda genu, nodoque sinus collecta fluentes.

Virginis os habitumque gerens, et virginis armaSpartanae: vel qualis equos Threissa fatigatHarpalyce, volucremque fuga praevertitur Hebrum.Namque humeris de more habilem suspenderat arcumVenatrix, dederatque comam diffundere ventis,Nuda genu, nodoque sinus collecta fluentes.

Virginis os habitumque gerens, et virginis arma

Spartanae: vel qualis equos Threissa fatigat

Harpalyce, volucremque fuga praevertitur Hebrum.

Namque humeris de more habilem suspenderat arcum

Venatrix, dederatque comam diffundere ventis,

Nuda genu, nodoque sinus collecta fluentes.

Anfänglich hatte mein Oheim Tom zu meinen Kritzeleien gelächelt; später aber hörte er auf, eine Neigung zu ermuntern, die mich von meinen Studien abzog. Nichts desto weniger nährte er, wenn er Sonntag Abendsmich mit in die Weinberge spazieren nahm, ohne es zu ahnen, diesen Hang, dem er entgegenarbeiten wollte. Unter den Laubgewinden fand ich die reizendsten Spiele von Licht und Schatten, lebendige, malerische Gruppen und jene menschlichen Antlitze, auf denen sich in tausend Zügen Freude, Trunkenheit, Friede, bange Sorgen, kindliche Freude oder verschämte Schüchternheit malten. Ich liebte eben so sehr als er diese Spaziergänge, nur daß wir auf denselben verschiedenen Gelüsten nachgingen. Als indeß in meinen Heften auf die Jarbas und Dido nach und nach gewöhnlichere, aber wahrere Figuren folgten, hörten diese Spaziergänge auf.

Nun führte mich mein guter Oheim wider seine Neigung und trotz seines hohen Alters weit von der Stadt nach entlegenen Fluren spazieren, zuweilen sogar bis zu den Orten, wo unter den Felsen des Berges Salève die Arve sich durch ein grünendes Thal schlängelt, einsame Inseln mit ihren Fluthen umschließend und in ihren Wellen den sanften Glanz der Abendsonne spiegelnd. Von dem Platze, wo wir uns niederließen, sah man eine alte Barke vorüberziehende Landleute an's andere Ufer setzen, oder auch in der Ferne eine lange Reihe von Kühen durch eine Furth von den Inseln zum festen Lande ziehen. Der Hirt folgte auf einem alten Rößlein, vor sich im Sattel ein Paar Buben; das Gebrüll ward ferner und ferner und schlug in leisem Verhallen kaum an unser Ohr, bis der lange Zug sich in den dunkelblauen Schatten der Dämmerung verlor.

Diese Schauspiele entzückten mich. Mit bewegtem Herzen, die Seele voll süßer Empfindungen, ging ich von dannen und ein geheimes Verlangen zur Nachbildung, zur Wiedergabe einiger Züge von diesen Wundern drängte mich bereits. Nach der Rückkehr verwendete ich den ganzen Abend darauf. In entzückender, stets bereitwillig aufblühender Träumerei schmückte ich meine unförmigen Gebilde mit der höchsten Farbenpracht, die inmeiner Phantasie lebte, und zitterte im Gefühl der unschuldigsten, jedoch lebhaftesten Freude.

Obgleich mein Oheim über die Steinbildnerei schrieb und die Werke des Phidias sammt den drei Manieren Raphael's auswendig wußte, so verstand sich mein guter Oheim doch blutwenig auf Zeichnen- und Malerkunst. Er rühmte die schönen Zeiten der Renaissance[3], allein seine Liebhaberei richtete sich auf die Medaillons von Le Prince und die Hirtengemälde von Boucher, womit er seine Bibliothek geschmückt hatte.

[3]: Das Zeitalter aufblühender Kunst von 1453, der Einnahme Konstantinopels, bis 1610, Beginn der Regierung Ludwig's XIII., dessen Ausbildungspunkt unter Franz I. von Frankreich fällt.

Jedoch hing neben dem Bette in wurmstichigem Rahmen noch ein Bild, welches wir, mein Oheim und ich, vor allen anderen liebten, obgleich aus verschiedenen Beweggründen: er, weil dies Gemälde, das aus der Zeit vor Raphael herstammte, viel Licht auf die Erfindung der Oelmalerei warf; ich, weil es mir vor allen die geheimnißvolle Macht des Schönen offenbarte.


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