Chapter 11

Die Gesamteinnahme für die Jahre 1869 bis 1895 belief sich auf 20500000 Mk., die Gesamtausgabe auf 18500000 Mk., so daß ein Vermögen von zwei Millionen Mark verblieb. Von den Ausgaben entfielen 11000000 Mk. auf Kranken- und Begräbnisgelder, 1750000 Mk. auf Invalidenunterstützung, 2850000 Mk. auf Rechtsschutz, Bildungszwecke, Reise-, Notstands- und Arbeitslosenunterstützung.

Das Verbandsvermögen belief sich am 1. April 1899 auf 54977 Mk. 04 Pf. neben einem Bestande der Organkasse von 8322 Mk. 76 Pf. Das Gesamtvermögen der Vereine mit Ausschluß der Kranken- und Begräbniskassen betrug Ende 1895 741257 Mk., d. h. mehr als 11 Mk. auf den Kopf.

Neben dem Verbandsorgan, dem „Gewerkverein“, der 1899 im 31. Jahrgange erscheint, haben noch sechs Gewerkvereine ihre besonderen Fachblätter. Die Gesamtauflage beträgt 74800. Außerdem besteht noch eine zur Benutzung durch die Tagespresse bestimmte „Gewerkvereinskorrespondenz“, die nach einem Beschlusse des Zentralrates vom 2. Juli 1896 künftig mindestens einmal monatlich erscheinen und allen sich dafür interessierenden Blättern unentgeltlich zugesandt werden soll.

Ueber dieLeistungender Vereine giebt für die sechs Jahre 1892–1897 folgende Tabelle eine Uebersicht.

Der von v.Schweitzerauf dem 26. September 1868 berufene und unter seinem Vorsitze tagende Kongreß war von 206 Abgeordneten aus allen Teilen Deutschlands besucht, die 142008 Arbeiter aus 110 Orten vertraten. Nach der gewaltsamen Entfernung derHirsch'schen Anhänger gelang es v.Schweitzerohne Mühe, in den viertägigen Verhandlungen, seine vorher bis in alle Einzelheiten ausgearbeiteten Pläne zur Annahme zu bringen. Jede Gewerkschaft sollte durch ganz Deutschland eine geschlossene Einheit bilden. Aus den Vorständen der einzelnen Gewerkschaften wurde eine Zentralleitung unter dem Namen „Deutscher Gewerkschaftsbund“ gebildet, dessen Sitz in Berlin war und dessen Präsidium aus v.Schweitzer,Fritzscheund einer dritten unbekannten Person bestand. v.Schweitzerbeabsichtigte die Einteilung der Gewerkschaften, die auf dem Grundsatze der Branchenorganisation beruhten, in 32 Berufsgruppen, die sogenannten „Arbeiterschaften“, die etwa den späteren „Industrieverbänden“ entsprechen. Von solchen Arbeiterschaften wurden auf dem Kongresse sofort 10 gebildet, nämlich: die Berg- und Hüttenarbeiter, die Metallarbeiter, die Färber, die Weber und Manufakturarbeiter, die Schuhmacher, die Bäcker, die Buchbinder, die Schneider, die Holzarbeiter und die Maurer.

Aber diesem günstigen Anfange entsprach nicht der weitere Verlauf, und insbesondere v.Schweitzerselbst grub schon nach einem Jahr seinem soeben geschaffenen Werke das Grab, indem dieerste Delegiertenversammlungdes „deutschen Gewerkschaftsbundes“, die Ende 1869 in Anschluß an die inKasselabgehaltene Generalversammlung des vonLassallegegründeten „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“ tagte, auf Antrag v.Schweitzer's die Auflösung aller bestehenden Gewerkschaften und den Uebertritt ihrer sämtlichen Mitglieder in einen gleichzeitig ins Leben zu rufenden „Allgemeinen deutschen Arbeiterunterstützungsverband“ mit dem Sitze in Berlinbeschloß. Dieser Verband sollte mit dem „Allgemeinen deutschen Arbeitervereine“ in engster Verbindung bleiben, indem nicht allein zwischen den Präsidenten eine Personalunion bestehen sollte, sondern auch die Mitgliedschaft des Unterstützungsverbandes von der Anerkennung der Grundsätze des Arbeitervereins abhängig gemacht war.

Welche Gründe v.Schweitzerhierzu bestimmt haben, ist schwer zu beurteilen. Möglicherweise fürchtete er aus der nahe liegenden Konkurrenz beider Organisationen eine Zersplitterung und war von der alleinseligmachenden Kraft der politischen Sozialdemokratie so überzeugt, daß er sie nicht durch eine selbständige Gewerkschaftsbewegung lahm legen wollte, vielleicht aber war es auch ein aus seiner eigenartigen Natur zu erklärender blasierter Ueberdruß an dem selbstgeschaffenen Unternehmen, der ihn ja auch bald bestimmte, von seiner ganzen politischen Thätigkeit zurückzutreten. Jedenfalls war durch die Gründung des Unterstützungsverbandes, in dem alle Arbeiter ohne Rücksicht auf die Berufsgliederung und die durch diese bedingten besonderen Beziehungen und Interessen Aufnahme fanden, das allein lebenskräftige Prinzip der gewerkschaftlichen Organisation verlassen.

Dem entsprach auch der äußere Verlauf der Entwicklung. Während, wie erwähnt am 26. September 1869 in Berlin 142000 Arbeiter vertreten gewesen waren, während in Kassel immerhin noch 35232 Mitglieder gezählt wurden, war diese Zahl bereits auf der im folgenden Jahre 1870 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung auf 20657 und bei einer am 25. Mai 1871 vorgenommenen Zählung auf 4257 herabgegangen. Als man in den folgenden Jahren seitens der Polizei energisch gegen alle sozialdemokratischen Vereinigungen vorging, benutzteHasenclever, der Nachfolger v.Schweitzer's im Arbeitervereine und im Unterstützungsverbande, dies als Vorwand, um den nicht mehr lebensfähigen Verband durch einen Erlaß vom 8. September 1874 formellaufzulösen. Allerdings hatten sich nicht alle Gewerkschaften dem in Kassel gefaßten Beschlusse gefügt, und es bestanden deshalb einige derselben auch noch ferner weiter, aber zu irgend welcher Bedeutung vermochten sie nicht zu gelangen.

Auch dieMarxistenhatten die große praktische Bedeutung der Gewerkschaften erkannt, aber sie gerieten, als die konsequenteren, noch mehr als die Lassalleaner in Konflikt mit ihrer Grundauffassung von der Unmöglichkeit, unter der Herrschaft der bestehenden Wirtschaftsordnung zu befriedigenden Zuständen zu gelangen, während doch die Gewerkschaften sich grundsätzlich auf den Boden dieser Ordnung stellen. So fand man denn schließlich eine Vermittelungin dem Standpunkte, daß die Gewerkschaften freilich das Los der Arbeiterklasse nicht eigentlich zu bessern vermöchten, aber doch weiteren Verschlechterungen vorzubeugen im Stande sein und vor allem Schulen bildeten, in denen es möglich sei, die Arbeiter zum Verständnisse ihrer Lage zu bringen und für die politischen Aufgaben vorzubereiten. Eine konsequentere Richtung freilich sprach es offen aus, daß die Gewerkschaftsbewegung keinen weiteren Zweck haben könne, als gewissermaßen experimentell die Unmöglichkeit zu beweisen, im Rahmen der bestehenden Ordnung zu befriedigenden Zuständen zu gelangen und so die Arbeiterschaft von der Notwendigkeit einer Umgestaltung der heutigen Verhältnisse zu überzeugen.

Eine weitere Verschiedenheit beider Richtungen bestand darin, daß die Lassalleaner sich imnationalenRahmen hielten, während die Marxisten dieinternationaleRegelung als die allein mögliche ansahen. Anstatt nun aber den Ausgangspunkt von nationalen Verbänden zu nehmen und deren internationale Zusammenfassung als letzten Abschluß der Zukunft vorzubehalten, ging man umgekehrt davon aus, daß vor allem die an der Abgrenzung der Völker klebende rückständige Auffassung durchbrochen werden müsse und deshalb die internationale Organisation die Grundlage der nationalen zu bilden habe. Uebrigens war das Ziel, das man anstrebte, das gleiche, wie esSchweitzerverfolgte, nämlichnichtberufsmäßig abgegrenzte Vereinigungen, von denen man vielmehr annahm, daß sie als auf falschem „Kastengeist“ beruhend, dem Solidaritätsgedanken Abbruch thun würden,sondernallgemeine Arbeiterverbände, die sich von den politischen nur durch ihr zunächst in Angriff genommenes Arbeitsgebiet unterschieden. Endlich hielt man die gewerkschaftlichen Vereinigungen überhaupt, da sie auf dem Boden des Lohnsystems standen, nicht für in erster Linie wertvoll, sondern richtete vielmehr die Agitation zunächst auf Produktivgenossenschaften, die den Arbeiter in die Lage bringen sollten, sich der Herrschaft des Kapitals und des Unternehmertums zu entziehen und deshalb geeignet schienen, einen Uebergang zu der künftigen sozialistischen Wirtschaftsordnung herzustellen.

Demgemäß beschloß der erste von der „Internationalen Arbeiterassoziation“ in London einberufene Kongreß, der vom 3. bis 9. September 1866 inGenftagte, auf Vorschlag des Generalrates, daß die Thätigkeit der „Gewerkvereine“, die sich mit den Fragen des Lohnes und der Arbeitszeit zu beschäftigen hätten, als notwendig anzuerkennen sei, solange die heutige Wirtschaftsform bestehe, daß sie aber bisher zu ausschließlich den unmittelbaren Kampf gegen das Kapital vor Augen gehabt und ihre eigene Macht der Thätigkeit gegen das heutige Produktionssystem noch nicht vollkommen verstanden hätten, daß sie vielmehr Schwerpunkte der Organisation für die Arbeiterklasse zu bilden und ihre Thätigkeitdurch die Verbindung der Vereine in allen Ländern zu verallgemeinern hätten. „Die Errichtung und Förderung von Gewerkvereinen soll daher“ — so heißt es dann wörtlich — „die Hauptaufgabe des Arbeiterstandes für die Gegenwart und die nächste Zukunft bleiben; abgesehen davon, daß sie den Uebergriffen des Kapitals entgegenwirken, müssen sie lernen, in bewußter Weise als Brennpunkt der Organisation der Arbeiterklasse zu handeln im Interesse ihrer vollständigen Emanzipation.“

Die Arbeitseinstellungen beschloß man, obgleich von einigen Seiten ihr Nutzen völlig bestritten wurde, „als notwendiges Hülfsmittel im Kampfe zwischen Kapital und Arbeit“ anzuerkennen, doch sei ihr Hauptwerk zu sehen „in der Gewöhnung der Arbeiter an gemeinsame Aktion und in der zuweilen im Anschluß an Streiks erfolgenden Gründung von Produktivgenossenschaften“.

Auf dem dritten Kongresse inBrüssel, der vom 6. bis 13. September 1868 tagte, wurden diese Beschlüsse bestätigt, die allgemeine Gründung von Streikkassen empfohlen und alle Mitglieder der internationalen Arbeiterassoziation zum Eintritte in die „Gewerksgenossenschaften“, wie man sie jetzt nannte, aufgefordert. Auch der 1869 inBaselabgehalteneKongreßbeauftragte den Generalrat, „die internationale Verbindung der Gewerksgenossenschaften aller Länder zu ermitteln“.

In Deutschland hatte die Marx'sche Richtung der Sozialdemokratie zuerst Fuß gefaßt, als der auf den 5. September 1868 nachNürnbergberufenefünfte Vereinstag deutscher Arbeitervereine, die bis dahin im Fahrwasser der Fortschrittspartei gesegelt waren, auf Antrag vonLiebknechtden Beschluß gefaßt hatte, „das Programm der internationalen Arbeiterassoziation zu dem seinigen zu machen.“ Zugleich wurde unter Ablehnung eines AntragsSonnemann, der sich für staatliche Altersversorgungs- und Lebensversicherungskassen aussprach, beschlossen, „den Mitgliedern des Verbandes und speziell dem Vororte aufzugeben, für Vereinigungen der Arbeiter in zentralisierten Genossenschaften thatkräftig zu wirken.“

Auch der konstituierendeKongreß der sozialdemokratischen ArbeiterparteiinEisenach(7. bis 9. August 1869) stellte sich auf den gleichen Standpunkt, fand aber eine Schwierigkeit darin vor, daß das gewerkschaftliche Interesse bereits überwiegend durch die lassalleanischen Gründungen in Anspruch genommen war. So wurde denn auf Antrag vonBebelundYorkbeschlossen: „Die sozialdemokratische Arbeiterpartei betrachtet es als eine Pflicht jedes Parteigenossen, auf eine Einigung der Gewerkschaften mit allen Mitteln hinzuwirken, hält aber als Bedingung fest, daß die Gewerkschaften sich von dem Arbeiterschaftspräsidium des Herrnvon Schweitzerlossagen. Zugleich empfiehlt der Kongreß die weitere Bildung von Gewerksgenossenschaften auf internationaler Grundlage.“

Diese Bestrebungen waren nicht ohne Erfolg. Nicht allein erhielt die Marx'sche über die Lassalle'sche Richtung überhaupt bald das Uebergewicht, sondern dazu kam noch, daßvon Schweitzerdurch seine diktatorische Haltung sich viele Feinde gemacht hatte. Außerdem knüpfte der Ausdruck „Gewerksgenossenschaft“ an die gerade vonLassallein den Vordergrund seines Programms gestellten Produktivassoziationen an, und endlich gab der internationale Karakter einen gewissen Nimbus, als ob dadurch eine außerordentliche Macht gewährt wäre. So gelang denn vielfach die Verschmelzung der von beiden Richtungen begründeten Verbände.

Von besonderem Interesse sind die Bestrebungen des bereits erwähntenYork, eines Tischlers in Harburg, der es als seine Lebensaufgabe ansah, die gewerkschaftliche Entwickelung auf eine höhere Stufe zu heben. Er sah den Grund des bisherigen Mißerfolges einerseits in der zu großen Zersplitterung der Gewerksgenossenschaften und andererseits in der Abhängigkeit derselben von der politischen Partei. Er forderte deshalb eine Trennung von der letzteren und eine selbständige wirtschaftliche Arbeiterbewegung, zugleich aber auch die Verbindung aller Fachverbände zu einer „Gewerkschaftsunion“. Die Aufgabe derselben sollte vor allem sein die einheitliche Regelung der Lohnkämpfe, ferner der Austausch der gemachten Erfahrungen und gemeinsame statistische Erhebungen, planmäßige Agitation und gemeinsame Wanderunterstützung. Die Union sollte unter einem leitenden Ausschusse stehen, alljährliche Unionskongresse abhalten und ein gemeinsames Preßorgan, „Die Union“, haben. Es gelangYork, einen Gewerkschaftskongreß[72]zur Beratung seines Programms zusammenzuberufen, der vom 15. bis 17. Juni 1872 in Erfurt tagte und von 51 Abgeordneten mit 65 Mandaten als Vertretern von 11358 Arbeitern besucht war. Welche GrundanschauungenYorkverfolgte, tritt am deutlichsten hervor in folgender von ihm beantragten Resolution: „In Erwägung, daß die Kapitalmacht alle Arbeiter, gleichviel ob sie konservativ, fortschrittlich, liberal oder Sozialdemokraten sind, gleich sehr bedrückt und ausbeutet, erklärt der Kongreß es für die heiligste Pflicht der Arbeiter, allen Parteihader beiseite zu setzen, um auf dem neutralen Boden einer einheitlichen Gewerkschaftsorganisation die Verbindung eines erfolgreichen kräftigen Widerstandes zu schaffen, die bedrohte Existenz sicher zu stellen und eine Verbesserung ihrer Klassenlage zu erkämpfen. Insbesondere aber haben die verschiedenen Fraktionen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei die Gewerkschaftsbewegung nach Kräften zu fördern und spricht der Kongreß seinBedauern darüber aus, daß die Generalversammlung des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins einen gegenteiligen Beschluß gefaßt hat.“

Aber obgleich der Kongreß diese Resolution annahm, so wurden doch dieYork'schen Vorschläge wesentlich abgeschwächt, indem sich gegen die geplante Zentralisation der Widerstand der bestehenden Gewerkschaften geltend machte. Nachdem ein, allerdings vonYorknicht unterstützter Antrag, die Vororte der bestehenden Vereine als Exekutivausschüsse und Kassenverwaltungen ganz zu beseitigen und so die Vereine in der Union aufzulösen, abgelehnt und es statt dessen jedem Vereine überlassen war, ob er dies thun wolle, wurde auch die Schaffung eines selbständigen Organes verworfen und beschlossen, ein solches unter dem Namen „Die Union“ als Beiblatt dem „Volksstaat“ beizulegen. Immerhin wurde die Gründung der „Union“ als eines Zentralverbandes aller Gewerkschaften, sowie eine Unionssteuer von wöchentlich 8 Pfennig einstimmig beschlossen, ein Zentralausschuß mit dem Sitze in Leipzig gewählt und zur Beratung eines Unionsstatutes eine Kommission eingesetzt. Diese hat jedoch die übertragenen Aufgaben unerledigt gelassen. Auch derzweitevonYorkzu Pfingsten 1874 nachMagdeburgberufeneKongreßscheiterte an dem Widerstande der einzelnen Gewerkschaftsvorstände gegen die ihnen zugemutete Aufgabe ihres Selbstbestimmungsrechtes. Der am 1. Januar 1875 erfolgte TodYorkshatte den baldigen völligen Verfall seiner Schöpfung zur Folge, und damit war der Plan der Gründung unpolitischer, von allen Parteien unabhängiger Gewerkschaften, der vielleicht geeignet gewesen wäre, der sozialen Entwickelung Deutschlands eine ganz andere Richtung zu geben, für Jahrzehnte gescheitert. Allerdings verfolgte man den Plan, alle Gewerkschaften zu einem einheitlichen Verbande zusammenzufassen, in den nächsten Jahren noch weiter und hatte bereits zu Pfingsten 1876 einen allgemeinen Gewerkschaftskongreß nach Magdeburg berufen, doch wurde er unter dem Eindrucke desHödel'schen Attentates von der Polizei verboten.

Die auf dem Gothaer Kongresse vollzogene Vereinigung der Lassalleaner und Marxisten zu einer einheitlichen „sozialistischen Arbeiterpartei“ bot den Anlaß, jetzt auch die Bestrebungen auf Verschmelzung der beiderseitigen gewerkschaftlichen Organisationen von neuem aufzugreifen. Dies wurde dadurch erleichtert, daß auch die Marxisten im Hinblick auf ihre recht geringen praktischen Erfolge den Gedanken einer internationalen Ausgestaltung des Gewerkschaftswesens als ein noch für lange Zeit unausführbares Ziel aufgegeben hatten. So trat denn im Anschluß an den Parteikongreß inGothaam 28. und 29. Mai 1875 eine von beiden Richtungen beschickteGewerkschaftskonferenzzusammen, die sich dahin einigte, den bestehenden Vereinen desselben Gewerbes den Zusammenschluß zur Pflicht zu machen. Zur Vorbereitung eines allgemeinen Gewerkschaftskongresses wurde eine Kommission von 5 Personen mit dem Sitze in Berlin eingesetzt, mit der die Vorstände der einzelnen Organisationen in Verbindung treten sollten; die Konferenz erklärte ferner: „Es ist Pflicht der Gewerksgenossen, aus den Gewerkschaftsorganisationen die Politik fern zu halten, dagegen sich der sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands anzuschließen, weil nur diese die politische und wirtschaftliche Stellung der Arbeiter in vollem Maße zu einer menschenwürdigen zu machen vermag.“ Die bestehenden 13 Gewerkschaftsblätter zu einer einzigen zu verschmelzen, hielt man für unthunlich, dagegen sollten die verwandten Berufe sich in dieser Hinsicht zusammenthun. Auch die gemeinsame Wanderunterstützung erklärte man für die erste Aufgabe, die erledigt werden müsse.

Während die bisher behandelten Bestrebungen sämtlich auf dem Grundsatze der Zentralisation beruhten, indem man davon ausging, daß nur durch Zusammenschluß wenn nicht der gesamten Arbeiterschaft, so doch wenigstens aller Arbeiter eines bestimmten Gewerbes ein Erfolg zu erzielen sei, hatten sich in der Stille, ohne daß man ihre Entstehung im einzelnen verfolgen kann, in den größeren Städten örtliche Vereine von Fachgenossen gebildet, die sich deshalb die Bezeichnung „Fachverein“ beilegten, und die, im Gegensatz zu den zentralisierten Gewerkschaften, die Beschränkung auf einen bestimmten Ort als Grundsatz aufstellten. Daß diese Bewegung von den großen Städten ausging, erklärt sich sehr einfach, war doch die Organisation der Arbeiterschaft in diesen erheblich weiter fortgeschritten, so daß von den seitens einer über ein größeres Gebiet erstreckten Gewerkschaft gesammelten Geldern das Meiste für die Betreibung der Organisation an den kleineren Orten verwendet werden mußte, und deshalb, vom Standpunkte des Egoismus betrachtet, die Arbeiterschaft der Großstädte nicht mit Unrecht den Vorwurf gegen die Gewerkschaften erhob, daß sie für die Arbeiterschaft der kleinen Orte die Last zu tragen habe. Dazu kam, daß man sich durch die Abhängigkeit von den auswärts befindlichen Gewerkschaftsorganen an freier Bewegung und rascher Ausnutzung augenblicklicher Vorteile gehindert fühlte.

Aber auch abgesehen von diesen egoistischen Beweggründen hatten die Lokalorganisationen zweifellos gewisse Vorzüge. In erster Linie fiel bei ihnen die Schwierigkeit fort, daß sie sich nicht mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen durften, da dies nur in Frage kam, wenn mehrere Vereine miteinander in Verbindung traten. Dadurch aber, daß man politische Fragen in den Versammlungenbehandeln durfte, erhielten diese mehr Reiz und Anziehungskraft und gestatteten die Verwendung im Sinne der sozialdemokratischen Agitation.

Dazu kommt, daß nicht allein die Opferwilligkeit für die dem Gebenden aus unmittelbarer Nähe bekannten Aufgaben und Personen größer zu sein pflegt, als für entfernte Kreise, und daß die Kontrolle und überhaupt die Verwaltung sich erheblich vereinfachte. Machten die Anhänger der Zentralorganisation geltend, daß nur sie die wichtige Aufgabe der Wanderunterstützung zu erfüllen im stande seien, so wiesen dem gegenüber die Vertreter der lokalen Vereine darauf hin, daß gerade durch die Wanderunterstützung der Zuzug aus der Provinz in die großen Städte erleichtert und so den Arbeitern der letzteren eine schwere Konkurrenz geschaffen werde.

Das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vom 21. Oktober 1878 war, wie der Titel sagt, nicht bestimmt zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie als solche, sondern gegen ihre „auf Umsturz gerichtete“ Thätigkeit in Vereinen, Versammlungen und der Presse, noch weniger aber gegen die ganze Arbeiterbewegung und die aus derselben entspringenden Interessenvertretungen. Machte dieser Grundgedanke in der Fassung des Gesetzes einen noch so unklaren und der Auslegung der Behörden weiten Spielraum lassenden Ausdruck gefunden haben, so kann man doch von einer loyalen Handhabung, die bei der Beratung des Gesetzes im Reichstage feierlich angelobt war, nicht mehr sprechen, wenn die Anwendung der gegen die gedachten staatsumstürzenden Bestrebungen gegebenen Machtmittel sich richtete gegen Bestrebungen, die, wie die gewerkschaftlichen, sich grundsätzlich auf den Boden der bestehenden Staats- und Wirtschaftsordnung stellten. Zweifellos giebt es für jene staatsumstürzende Richtung, die allein auf dem Boden der Auffassung erwachsen kann, daß die bestehende Ordnung in ihrer Grundlage verfehlt und zu irgend welcher Besserung unfähig sei, keinen gefährlicheren Feind, als Bestrebungen, die auf dem Boden eben dieser selben Ordnung eine solche Besserung herbeizuführen und so den schlagendsten Beweis für die Verkehrtheit jenes radikalen Ausgangspunktes zu liefern suchen. Wir werden uns mit dem Verhältnisse der Gewerkschaftsbewegung zur Sozialdemokratie an anderer Stelle[73]eingehender zu beschäftigen haben und werden dort den Satz begründen: die Gewerkschaftsbewegung ist der Todfeind der Sozialdemokratie. Daß also die zum Kampfe gegen die letztere verpflichteten Behörden die erstere nicht, wie es natürlich gewesen wäre, mit allen Mitteln unterstützten, war ein Beweis einesunglaublich geringen Verständnisses auf sozialpolitischem Gebiete, wie es uns allerdings bei dem dem realen Leben abgewandten Bureaukratismus nicht wunder nehmen kann; daß man aber zwischen beiden einen Unterschied gar nicht anerkannte, sondern alles, was auf Vertretung der Arbeiterinteressen abzielte, mit den Waffen des Gesetzes bekämpfte, läßt sich in der That nur so erklären, wie es ein sehr vorsichtiger Beurteiler[74]thut mit den Worten: „Ist von staatlichen Organen doch nur zu oft dann gerade in eine Bewegung einer Berufsvereinigung störend eingegriffen worden, wo innerhalb der letzteren eine die spezifisch gewerkschaftlichen Aufgaben ernst nehmende Richtung allgemach die Oberhand über die große Zahl derer gewonnen hatte, denen die Gewerkschaftsbewegung nur als Mittel zur Verfolgung politischer Ziele gilt.“ ... „Ohne tieferes Verständnis für die den Berufsorganisationen bei der Weiterbildung unserer sozialen Verhältnisse zugefallene Rolle waren manche Polizei- sowie andere Staatsbehörden bisher geneigt, das Interesse der besitzenden Klasse und insbesondere dasjenige der Arbeitgeber ohne weiteres mit dem der Gesamtheit zu identifizieren und gegen die Fachvereinigungen der Arbeiter jedes nur irgend angängige gesetzliche Hinderungsmittel in Anwendung zu bringen.“

Die Ausbreitung und die Leistungen der Gewerkschaften zur Zeit des Erlasses des Sozialistengesetzes sind am besten zu ersehen aus der im Jahre 1877 von dem Hamburger BuchhändlerGeibauf privatem Wege aufgenommen und in Nr. 4 des „Pionier“ vom 26. Januar 1878 veröffentlichten, neuerdings in dem „Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ Nr. 30 von 1893 wieder abgedrucktenStatistik. Nach dieser gab es damals 25 Gewerkschaften, welche zusammen mit 5 Lokalorganisationen 49055 Mitglieder in 1266 Ortsgruppen umfaßten; 18 derselben mit 22145 Personen zahlten einen Monatsbeitrag bis zu 40 Pf., nur 8 derselben erhoben 60 Pf. oder darüber. Nach einer anderen Quelle[75]zählten die Gewerkschaften damals 58000 Mitglieder in 29 Verbänden und 1300 Zweigvereinen mit 15 Gewerkschaftsblättern. Ueber die Ausbreitung der lokalen Fachvereine fehlen alle Angaben, doch geht ihre nicht geringe Bedeutung daraus hervor, daß auf dem vonYorkeinberufenen Erfurter Gewerkschaftskongresse von den insgesamt vertretenen 11358 Mitgliedern der Marx'schen Organisationen 6152 den internationalen Gewerksgenossenschaften, dagegen 3768 lokalen Fachvereinen und 1438 freien Vereinigungen angehörten.

Von den in der Geib'schen Statistik aufgezählten 25 Verbänden sind bis zum Ende des Jahres 1878 nicht weniger als 16 der Auflösung zum Opfer gefallen. Die meisten der übrigen lösten sich, um dem zu entgehen, freiwillig auf. Auchdie lokalen Fachvereine hatten größtenteils dasselbe Schicksal. Die ganze Arbeiterbewegung, die politische wie die gewerkschaftliche, schien zunächst vom Erdboden verschwunden. Daß man selbst Verbände, wie die der Buchdrucker, die in ausgesprochenem Gegensatze zu der Sozialdemokratie standen, nicht verschonte[76], zeigte deutlich den Karakter des obrigkeitlichen Schreckensregimentes.

Lag es zunächst wie ein Bann auf der ganzen Arbeiterschaft, so suchten doch die Führer möglichst eine Fühlung der Genossen aufrecht zu erhalten und benutzten hierzu in erster Linie die Gründung vonFachblättern, die sich anfangs ängstlich von jeder Berührung mit allgemeinen oder gar politischen Angelegenheiten fern hielten, deren Unterstützung aber trotzdem gerade mit dem Hinweise den Arbeitern ans Herz gelegt wurde, daß sie den einzigen zunächst möglichen Weg darstellten, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern. Solche Organe entstanden schon fast unmittelbar nach der auf Grund des Sozialistengesetzes erfolgten Unterdrückung der früheren Gewerkschaftsblätter und politischen Zeitungen. So wurde schon 1878 das „Schuhmacherfachblatt“, 1879 die „Neue Tischlerzeitung“, der „Schiffbauerbote“ und das Organ der Tabakarbeiter „Der Gewerkschafter“ begründet. Bald bot die von der Regierung ins Leben gerufene soziale Versicherungsgesetzgebung Stoff zur Besprechung, und insbesondere die zugelassene Bildung freier Hülfskassen gab Anlaß, den ablehnenden Standpunkt der Arbeiterschaft gegen die staatliche Bevormundung zum Ausdrucke zu bringen. Hatte man doch die Bekämpfung der Umsturzbestrebungen so weit ausgedehnt, daß selbst die im Jahre 1876 auf Grund des Hülfskassengesetzes errichtete „Zentral-, Kranken- und Sterbekasse“ verboten war, um der Arbeiterklasse das Gefühl völliger Recht- und Schutzlosigkeit mit voller Klarheit zum Bewußtsein zu bringen.

Auch einzelne Vereinigungen, die lediglich die Fachinteressen der Beteiligten vertreten wollten, wagten sich unter dem Namen von „Fachvereinen“ ans Licht, obgleich sie es möglichst vermieden, an die Oeffentlichkeit zu treten und vielmehr ihre Thätigkeit im wesentlichen darauf beschränkten, arbeitslos gewordene Mitglieder durch Wanderbeihülfen zu unterstützen, Krankenkassen, Herbergen und Arbeitsnachweise zu errichten und ein Fachblatt herauszugeben.

Uebrigens war doch auch die durch die Botschaft vom 17. November 1881 eingeleitete Sozialpolitik, genau besehen, bereits eine Abweichung von derjenigen des Sozialistengesetzes. Allerdings beschränkte sie die Aufgabe des Staates auf eine möglichst bureaukratische Staatshülfe und trat den Versuchen der Arbeiter,aus eigner Kraft für sich zu sorgen, rücksichtslos entgegen. Aber immerhin war doch die Parole ausgegeben, die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem derpositiven Förderung des Wohles der Arbeiterzu suchen und daß ein Anspruch der letzteren auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher zu teil geworden, in den Aufgaben eines auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens stehenden Staates begründet sei. So bedauerlich es war, daß dieses Entgegenkommen der staatlichen Gewalt von den Arbeitern schroff zurückgewiesen wurde, indem man darin nur den Versuch sah, die selbständige Stellung ihrer Klasse noch weiter herabzudrücken, so gab doch diese Haltung zugleich den unbefangen Denkenden Anlaß zur Prüfung der Frage, ob nicht in der That eine Hebung der Arbeiterklasse ohne deren eigene Beteiligung ein verfehltes Unternehmen sein müsse.

Diesen Erwägungen und insbesondere dem Wunsche, das Mißtrauen der Arbeiter zu bekämpfen und zwischen ihm und dem Königtume eine Brücke zu schlagen, entsprang die vonStöcker, A.Wagner,Henriciu. a. im Jahre 1880 eingeleitete sog.Berliner Bewegung, die sich stützte auf die Gründung einer eigenenchristlich-sozialen Partei. An maßgebender Stelle stand man zunächst dieser Bewegung nicht unsympathisch gegenüber, und da sie nur auf dem Wege der Vereinsbildung und öffentlicher Versammlungen wirken konnte, so ging damit eine freiere Handhabung des Vereins- und Versammlungsrechtes Hand in Hand.

Eine besondere Stellung nahm hierbei ein der damals vielgenannte VergolderEwald, der im Anfang 1882 öffentlich mit dem Vorschlage hervortrat, die Berliner Arbeiter möchten doch durch eine an den Fürsten Bismarck zu entsendende Deputation oder eine an den Reichstag gerichtete Petition ihre Wünsche und Beschwerden in loyaler Weise zum Ausdruck bringen, einem Vorschlage, der auch in Regierungskreisen Beifall fand. In einer auf den 31. März 1882 einberufenen Versammlung, zu der die Vorstände der damals in Berlin bestehenden 18 Fachvereine eingeladen und in der 9 derselben vertreten waren, wurde zur Ausarbeitung des Petitionsentwurfes ein „Generalkomitee der Berliner Gewerkschaften“ eingesetzt, in das außer sieben Mitgliedern von Fachvereinen auch zwei christlich-soziale Vertreter gewählt wurden. Die Petition, über die man sich schließlich einigte, umfaßte die bekannten Arbeiterschutzforderungen bezüglich der Sonntags-, Frauen- und Kinderarbeit, Ueberwachung der Betriebe und Einführung eines gesetzlichen Maximalarbeitstages von neun Stunden. Aber wichtiger, als dieses formelle Ergebnis, war das durch diese Anregung und die zahlreichen Versammlungen in die gewerkschaftliche Bewegung hineingetragene neue Leben, dessen Bedeutung daraus ersichtlich ist, daß dieZahl derFachvereineam Schlusse des Jahres 1883 von 18 auf 50 gestiegen war. Die Polizei ging schließlich freilich gegenEwaldund das neugegründete Gewerkschaftskomitee mit Strafen und Schließung vor, doch wurde die letztere von den Gerichten nicht bestätigt.

Die hierdurch gegebene Anregung wirkte im übrigen Deutschland fort. Zunächst begannen solche Arbeiterklassen, die, wie die Buchdrucker, stets im Gegensatze zur Sozialdemokratie gestanden und trotzdem die Wucht des Sozialistengesetzes gefühlt hatten, eine neue Organisation ins Leben zu rufen. Dann folgten andere, die sich in dem Verhältnisse zur Sozialdemokratie einigermaßen neutral gehalten hatten, wie die Hutmacher und Bildhauer, bis dann mit dem auf dem Tischlerkongresse Weihnachten 1883 begründeten Zentralverbande der Tischler unter dem Vorsitze vonKloßeine Arbeiterschaft folgte, in der sozialdemokratische Anschauungen unzweifelhaft vertreten waren. Den Genannten folgten dann bis 1884 einschließlich nach: die Zimmerer, die Manufakturarbeiter, die Schneider, die Steinmetzen, die Schuhmacher und die Tabakarbeiter.

AlsAufgabenbezeichnete man in den Statuten: Arbeitslosenunterstützung, Reisegeld, unentgeltlichen Rechtsschutz, Stellenvermittelung und im allgemeinen Erringung günstigerer Arbeitsbedingungen auf gesetzlichem Wege. Am schwierigsten war die Stellung zu Streiks; einzelne Verbände beschränkten die Unterstützung auf Abwehrstreiks, andere schieden sie ganz aus oder überwiesen sie besonderen Organisationen.

Gerade die Lohnbewegung führte dann noch zu einer Form der Verbindung, die man nicht als eigentliche Organisation bezeichnen kann, die aber praktisch große Bedeutung gewann. Bei einer Arbeitseinstellung mußte es von äußerster Bedeutung sein, alle Berufsgenossen für dieselbe zu gewinnen. Dies war nur möglich durchallgemeine Versammlungen, in denen dann auch die betreffendenStreik- oderKontrollkommissionengewählt und die bindenden Beschlüsse gefaßt wurden. Obgleich die Aufgabe dieser Kommissionen zunächst auf einen einzelnen Streik beschränkt war, behielten sie häufig doch ihre Funktionen als eine allgemeine Leitung bei, indem sie nicht allein von Zeit zu Zeit je nach Bedürfnis Versammlungen einberiefen, sondern auch regelmäßige Sammlungen durch „Sammellisten“ und „Quittungsmarken“ in die Hand nahmen, ja häufig erhielten die Kommissionsmitglieder sogar gewisse Besoldungen, wogegen ihnen dauernde Aufgaben, wie die Kontrolle der Werkstätten, Errichtung von Arbeitsnachweisen, Ausarbeitung von Statistiken, übertragen wurden.

Eine ähnliche Stellung hatten die sog.Vertrauensmänner, die zuweilen für eine bestimmte einzelne Aufgabe bestellt wurden, zuweilen aber auch die vorbezeichnete Thätigkeit der Kommissionen übernahmen. Die eine oderdie andere Art dieser losen Organisation hat sich nach und nach in fast allen den Berufen entwickelt, in denen man zu festeren Formen nicht gelangte.

Nun haben offenbar beide Firmen der Organisation, die feste und die lose, ihre Vorteile, und es ist das Verdienst des vielgenannten Regierungsbaumeisters a. D.Keßler, daß er in einer Folge von Nummern des von ihm herausgegebenen „Bauhandwerkers“ (Februar und März 1887) einen umfassenden Plan entwickelte, der es ermöglichen sollte, beide miteinander zu kombinieren. Sein Grundgedanke ist der, daß es gewisse Angelegenheiten gebe, auf deren Beeinflussung nun einmal die Arbeiterschaft nicht verzichten könne, da sie ihre wichtigsten Lebensinteressen berührten, wie insbesondere die Aufklärung und Schulung der Mitglieder und die Beeinflussung der Gesetzgebung im arbeiterfreundlichen Sinn, daß aber diese Angelegenheiten unter den Begriff der politischen fielen, und da zu ihrer Besorgung feste Verbände unentbehrlich seien, so ergebe sich daraus die notwendige Folge, daß die Vereine auf Politik nicht verzichten könnten, dafür aber davon absehen müßten, miteinander in Verbindung zu treten. Andererseits ließen sich umgekehrt gewisse andere Aufgaben, insbesondere die Durchführung von Lohnbewegungen, nur erreichen durch gemeinsames Vorgehen der Gewerbsgenossen an verschiedenen Orten. Daraus ergebe sich, daß eine Teilung der Geschäfte nötig sei, indem neben die Vereine, die politischen Karakter haben müßten,öffentliche Generalversammlungen des ganzen Gewerbesträten, denen die Besorgung aller derjenigen Angelegenheiten anheimfalle, die einen breiteren Rahmen, als die Mitgliedschaft des Vereins, erforderten. Als Organe dieser Generalversammlungen sollen endlichLohnkommissionenbestehen. Diese werden allerdings in der Rechtsprechung ebenfalls als Vereine betrachtet und dürfen deshalb sich nicht mit Politik beschäftigen, können aber für nicht-politische Zwecke miteinander in Verbindung treten.

So scharfsinnig der Gedanke ausgedacht war, so ist doch seine Ausführung gescheitert, wobei wohl die Abneigung der Vereinsleiter, sich einen wesentlichen Teil ihrer Befugnisse entziehen zu lassen, mitgewirkt haben mag, doch liegt auch ein berechtigtes Bedenken in dem Gesichtspunkte, daß der Plan die Bedeutung der festen Vereinsbildung stark zurücktreten läßt, während doch gerade in ihr der beste Weg gesehen werden muß, zu einer befriedigenden Gestaltung unserer sozialen Verhältnisse zu gelangen.

Für dieStellung der Verwaltungsbehördengegenüber der gewerkschaftlichen Bewegung ist karakteristisch der sogen.Puttkamer'sche Streikerlaßvom 11. April 1886. In demselben wird zunächst die Unanfechtbarkeit des Koalitionsrechts und insbesondere der aus § 152 der Gewerbeordnung sich ergebenden Befugnis zur Arbeitseinstellung betont, dannaber ausgeführt, daß sich dies nur auf solche Vereinigungen und Bestrebungen beziehe, bei denen die Erringung besserer Arbeitsbedingungen in der That das eigentliche und wahre Ziel sei, nicht aber auf solche, bei denen der Lohnkampf nicht Mittel zur Erringung eines an sich legitimen Erfolges, sondern Selbstzweck sei, indem es den Führern lediglich darauf ankomme, die nach ihren falschen Theoremen mit Naturnotwendigkeit aus der heutigen Form des Arbeitsverhältnisses sich ergebende Kluft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu einer unüberbrückbaren zu erweitern, in den letzteren den Haß gegen die Gesamtheit unserer politischen und gesellschaftlichen Zustände anzufachen und zu unterhalten und so die Gemüter der ihren Verführungskünsten anheimgefallenen Arbeitermassen allmählich auf einen gewaltsamen Losbruch vorzubereiten. Arbeitseinstellungen, die unter diese Gesichtspunkte fielen, von welchen also anzunehmen sei, daß sie durch die sozialdemokratische Agitation vergiftet oder auch nur in ihrem weiteren Fortgange der Leitung derselben verfallen, hätten ihrenwirtschaftlichenKarakter abgestreift und seien zurevolutionärenBestrebungen geworden, die unter das Gesetz vom 21. Oktober 1878 zu stellen seien.

Hiernach war also jeder Streik verboten, bei dessen Leitung sozialdemokratische Elemente beteiligt waren; es ist begreiflich, daß damit die Thätigkeit der Gewerkschaften völlig lahm gelegt war.

Einen anderen Angriffspunkt entnahm man aus derVersicherungsgesetzgebung, indem man die sämtlichen von den Gewerkschaften eingerichteten Kassen für Versicherungen erklärte und der für diese bestehenden staatlichen Aufsicht unterwarf. Die Gewerkschaften suchten sich dem dadurch zu entziehen, daß sie durch eine Aenderung der Statuten ausdrücklich den Mitgliedern jeden Rechtsanspruch entzogen und die Gewährung von Unterstützung in das freie Ermessen des Vorstandes stellten. Hierin sahen aber die Behörden eine einfache Umgehung des Gesetzes und hielten auch in solchen Fällen an dem Erfordernis der Genehmigung fest. Es liegt auf der Hand, daß dies dem Gesetze zuwiderläuft, da der Grund der staatlichen Ueberwachungspflicht lediglich in dem Zwecke beruht, die Versicherten bei dem durch die Versicherung übernommenen Risiko zu schützen, indem die Beurteilung der Sicherheit des Unternehmens und des angemessenen Verhältnisses zwischen Prämie und Versicherungssumme für das Verständnis der großen Masse zu schwierig ist. Dieser, und nicht der Gesichtspunkt der Gefährdung der Staatssicherheit ist der Grund des staatlichen Aufsichtsrechtes, das also nicht Platz greifen kann, wenn die Beteiligten auf irgend welches Recht ausdrücklich verzichten oder wenn auch nur die Gefahr einer Leistungsunfähigkeit der Kasse, wie es bei bloßen Unterstützungen der Fall ist, nicht eintreten kann.

In Preußen suchte man außerdem noch die Bestimmungen desAllgemeinen LandrechtsII, Tit. 6, § 2–21 über die erlaubten Gesellschaften herbeizuziehen, indem man die Gewerkschaften unter diesen Begriff stellte und dann das über sie zugelassene staatliche Aufsichtsrecht in Anspruch nahm.

Endlich wurde kein Mittel unversucht gelassen, die verschiedenenVereinsgesetzezur Bekämpfung aller gewerkschaftlichen Bestrebungen heranzuziehen, indem man nicht allein jede Thätigkeit von mehreren Menschen unter den Begriff des Vereins stellte, sondern zugleich den Begriff der politischen Angelegenheiten so weit ausdehnte, daß neben ihnen für gewerkschaftliche Aufgaben kaum noch irgend ein Raum blieb.

Erwiesen sich nun auch dieGerichtediesen Bestrebungen gegenüber teilweise ablehnend, so ist doch nicht zu verkennen, daß auch ihre Urteilssprüche durch die allgemeine Stimmung beeinflußt wurden, so daßSchmöle[77]das harte Urteil fällt, die Polizeibehörden und die Mehrheit der Gerichte hätten der Ansicht Vorschub geleistet, daß sie in ausschließlicher Parteinahme für die Interessen des Unternehmertums vor keiner Beugung des Rechtes zurückschreckten, sobald die Arbeiter die mindesten Anstalten träfen, sich einer weiteren Verkümmerung ihrer Lebenshaltung zu erwehren oder eine günstigere Gestaltung der Arbeitsverträge herbeizuführen. Diese Auffassung war um so begreiflicher, als niemals etwas davon verlautet hat, daß man die Vereinsgesetze auch einmal gegen Innungen, landwirtschaftliche und Fabrikanten-Vereine angewendet hätte, obgleich diese sehr häufig staatliche Maßnahmen in den Kreis ihrer Erörterungen zogen.

Ganz besonders unverständig war dabei die Bekämpfung desKassenwesensder Arbeiter, denn es ist klar, daß gerade hier ein konservativer Zug liegt, der eine feste Verbindung mit der bestehenden Ordnung herstellt, wie denn umgekehrt die radikale Richtung innerhalb der Sozialdemokratie stets gerade gegen die „Kassensimpelei“ ihre schärfsten Angriffe gerichtet hat, indem sie behauptete, daß dadurch die Gewerkschaften übertrieben ängstlich und vorsichtig gemacht würden. Als ein Uebel konnten diese Kassen nur erscheinen von einem ganz engherzigen, egoistischen Unternehmerstandpunkte, der die durch sie ermöglichte Hebung der Lebenshaltung der Arbeiterklasse grundsätzlich verwirft, um in einer niedrig stehenden Masse jedes Widerstandes unfähige Sklaven zu haben. Das Vorgehen der staatlichen Behörden hätte also nur Sinn gehabt, wenn sie beabsichtigt hätten, sich auf diesen Standpunkt zu stellen. Da hiervon keine Rede sein kann, so bleibt nur die auch vonSchmöle[78]gegebene Erklärung übrig, daßunter der damaligen Zeitrichtung, die aber leider auch heute noch leider die weitaus überwiegende ist, die meisten Angehörigen der oberen Klassen mit einem unklaren Vorurteil auf alles herabsehen, was zu der Sozialdemokratie in irgend welcher Beziehung steht und außerdem von dem Unterschiede zwischen ihr und der Gewerkschaftsbewegung keine Spur eines Verständnisses haben.

Offenbar mußte die Auffassung der Arbeiterschaft, daß ihr gegenüber die staatlichen Behörden alle Mittel und Kniffe anwendeten, um sie zu schädigen, ungemein verbitternd wirken, und es ist das Zeichen eines fast unerklärlichen Vertrauens, wenn man dennoch stets an der bestehenden Rechtsordnung festhielt und es versuchte, sich ihr gegenüber so gut als möglich einzurichten.

Nachdem durch Ablauf des Sozialistengesetzes die Bahn für eine kräftigere Entwickelung des Gewerkschaftswesens frei gemacht war, glaubte man vor allem auf die Schaffung einereinheitlichen Leitungundobersten Spitzebedacht sein zu sollen.

Man berief deshalb eine aus den Vertretern der einzelnen Vereinigungen bestehendeGewerkschaftskonferenzzusammen, die am 16. und 17. November 1890 in Berlin tagte und als provisorischen Zentralausschuß dieGeneralkommissioneinsetzte mit dem Auftrage, einen allgemeinen Gewerkschaftskongreß einzuberufen und eineVorlage für die Organisation der deutschen Gewerkschaftenauszuarbeiten. Daneben sollte die Kommission den bestehenden Organisationen ihre Hülfe gewähren, insbesondere alle Abwehrstreiks unterstützen und für die Agitation zur weiteren Verbreitung der Organisation Sorge tragen.

Die Generalkommission, welche aus sieben Mitgliedern besteht, hat ihren Sitz in Hamburg. Vorsitzender ist ReichstagsabgeordneterLegien. Sie hat ausweislich ihres für die Zeit vom 17. November 1890 bis 1. März 1892 erstatteten Berichtes sich zunächst mit einerStatistik der bestehenden Gewerkschaftenbeschäftigt, nach welcher im Jahre 1890 in Deutschland 53 Zentralvereine mit 3150 Zweigvereinen und 227733 Mitgliedern bestanden. Außerdem gab es fünf Organisationen nach dem Vertrauensmännersystem mit 73467 Mitgliedern, so daß einschließlich der lokalen Fachvereine die Gesamtzahl aller gewerkschaftlich organisierten Arbeiter auf rund 350000 geschätzt wurde. Ein Versuch, eine gleiche Statistik über die vorgekommenenStreiksaufzustellen, ist an dem mangelnden Entgegenkommen der bestehenden Vereinigungen gescheitert. Dagegen hat die Kommission die ausgebrochenen Ausstände, soweit es sich um Abwehrstreiks handelt, unterstützt. Dieser Karakter wurde von 37 angemeldeten Streiks bei 31 anerkannt und für diese insgesamt 184396 Mk. ausgegeben. Nach dem Beschlusse der Berliner Konferenz sollten diese Auslagenvon sämtlichen Gewerkschaften nach dem Verhältnis ihrer Mitgliederzahl aufgebracht werden, da aber die Beiträge nicht in ausreichendem Maße eingingen, so sah sich die Kommission gezwungen, ein Anlehen von 106950 Mk. aufzunehmen, worüber sie nachher lebhafte Vorwürfe zu hören gehabt hat.

Da sich übrigens die Ansicht geltend machte, daß die Kommission in der Unterstützung von Ausständen zu freigebig sei, so wurden auf einer am 7. und 8. September 1891 inHalberstadtabgehaltenenZusammenkunft von Gewerkschaftsvertreternhierfür bestimmte einschränkende Grundsätze aufgestellt.

Auch mit demAuslandesuchte die Kommission Verbindungen anzuknüpfen, insbesondere wurden zwei Mitglieder nach England geschickt, um von den dortigen Gewerkschaften Unterstützung für die ausgebrochenen Streiks zu erhalten. Der Erfolg war freilich nicht erheblich. Um für den genannten Zweck im voraus größere Mittel bereit zu halten, wurden Sammlungen für den sog.Maifondsausgeschrieben, indem man zu diesem Zwecke am 1. Mai, dem durch den Pariser internationalen Arbeiterkongreß 1889 eingeführten allgemeinen Arbeiterfeiertage, gewisse Abzeichen verkaufte. Aber auch hier entsprach der Erfolg nicht den Erwartungen, und die eingegangenen Summen reichten nicht einmal aus, um das aufgenommene Darlehen vollständig zurückzuzahlen. Endlich schuf sich die Kommission in dem „Correspondenzblatte der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ ein eigenesOrgan, welches nach Bedarf, regelmäßig aber wöchentlich in etwa 400 Exemplaren, an die Vertrauensleute der Gewerkschaften und die Redaktionen der Arbeiterzeitungen unentgeltlich versandt wird.

Um die endgültige Organisation zu schaffen, wurde dann dererste„Kongreß deutscher Gewerkschaften“ einberufen, der vom 14. bis 18. März 1892 inHalberstadttagte und als Beginn eines neuen Abschnittes in der Gewerkschaftsbewegung von der größten Bedeutung gewesen ist.

Der Schwerpunkt der Aufgabe bestand in der Schaffung einereinheitlichen Organisation, und zwar handelte es sich dabei um erheblich mehr als eine praktisch-formelle Frage, denn die Stellung zu den vorgeschlagenen Formen war wesentlich beeinflußt durch die prinzipielle Auffassung über Zweck und Wesen der Gewerkschaften. Nach den weitaus meisten deutschen Vereinsgesetzen ist es Vereinen, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere mit Politik im engeren Sinne befassen, verboten, mit anderen Vereinen gleicher Art in der Weise in Verbindung zu treten, daß sie unter einem gemeinsamen Organe vereinigt werden. Da nun eine solche Vereinigung für die rein gewerkschaftlichen Aufgaben, also die Vertretung der Arbeiterinteressen gegenüber den Unternehmern von dem höchsten Werte ist, so kann es für diejenigen Gewerkschaften,die wirklich auf diesem Boden stehen, keinem Zweifel unterliegen, daß sie diesen Verhältnissen Rechnung tragen und zur Erreichung ihres Zweckes auf die politische Thätigkeit verzichten müssen. Anders müssen sich dagegen diejenigen Vereinigungen stellen, die umgekehrt die politischen Aufgaben als das Wesentliche ansehen und die Maske der Gewerkschaft nur vorgebunden haben, um sich dadurch leichter in den Arbeiterkreisen Eingang zu verschaffen.

Aber der Gegensatz greift noch tiefer, denn ob man die politische oder die gewerkschaftliche Seite der Arbeiterbewegung als die wichtigere ansehen soll, ist durchaus davon abhängig, ob man glaubt, mit den Mitteln der gewerkschaftlichen Thätigkeit eine wesentliche Besserung der Lage des Arbeiterstandes erreichen zu können, oder ob man der Ansicht ist, daß dies ausgeschlossen und ein Erfolg lediglich durch grundlegende Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse zu erzielen sei, m. a. W. ob man sich grundsätzlich auf den Boden der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung stellt oder diesen verläßt. Wir werden diesen Gedankengang an anderer Stelle noch eingehender zu verfolgen haben, einstweilen wird das Gesagte ausreichen, um zu zeigen, daß der Streit um die Organisation zugleich die Stellungnahme der Gewerkschaften zu den Grundfragen der Arbeiterbewegung wiederspiegelt.

Auf dem Kongresse standen sich übrigens nicht 2 sondern 3 Gruppen und Systeme gegenüber, indem die Vertreter derzentralen Organisationin 2 Gruppen zerfielen, nämlich die Anhänger derBranchenorganisationund derIndustrieverbände. Die letzteren wollten zur Grundlage der Organisation die Gliederung nicht nach Einzelberufen, sondern nach ganzen Industrien machen, so daß z. B. nicht die Tischler, Zimmerleute, Drechsler, Stellmacher u. s. w. je eine selbständige Vereinigung, sondern alle Arbeiter der Holzindustrie einen gemeinsamen Verband bilden sollten. Als Vorteil dieser Organisationsform, die bis dahin insbesondere unter den Metallarbeitern bestand, wurde die Kostenersparung geltend gemacht, indem es bei ihr insbesondere möglich sein würde, die jetzt bestehenden 58 Gewerkschaftsblätter auf 12 bis 15 zu beschränken. Von der Gegenseite wurde dem entgegengehalten, daß das Gefühl der Zusammengehörigkeit in den Berufs- oder Branchenorganisationen sich stärker entwickele, als in den Industrieverbänden, und daß die Rücksicht auf diese Auffassung der Verwischung der Grenze zwischen den einzelnen Berufen im Wege stehe, daß diese Verbände außerdem nicht im stande sein würden, den Verschiedenheiten der einzelnen Berufe, die sich z. B. darin zeigten, daß die wöchentlichen Beiträge der Mitglieder zwischen 7½ und 35 Pf. schwankten, ausreichend Rechnung zu tragen, und daß deshalb der Industrieverband vielleicht für eine spätere Zukunft, aber nicht für die Gegenwart die richtige Form sei. Die Anhänger der Industrieverbände konnten die Thatsachedes erwähnten engeren Zusammengehörigkeitsgefühls innerhalb der einzelnen Gewerbe nicht bestreiten, bekämpften sie aber als „Berufsdünkel“ und „Kastengeist“, den man ausrotten müsse und wollten ihm deshalb einen Einfluß auf die Form der Organisation nicht zugestehen.

Neben den genannten 3 Organisationsformen wurde endlich noch von einigen Seiten empfohlen, von der Bildung geschlossener Vereine überhaupt abzusehen und sich mit demVertrauensmännersystemzu begnügen, und auf den Vorzug desselben als Brücke zu den nicht organisierten Arbeitern hingewiesen, indem den letzteren Gelegenheit geboten sei, bei öffentlichen, für alle Arbeiter des betreffenden Gewerbes bestimmten Versammlungen sich an diesen zu beteiligen und so die Gedanken der Arbeiterbewegung allmählich in sich aufzunehmen, während Vereinsversammlungen sich auf die bereits zum Verständnis der Notwendigkeit einer Organisation gelangten Arbeiter beschränkten.

Aber die Vertreter dieser Anschauung vermochten gegenüber den offenbaren Vorteilen eines geregelten Vereinswesens nicht durchzudringen, so daß man es auf dem Kongresse im wesentlichen mit den Auseinandersetzungen zwischen den angeführten 3 Organisationsformen zu thun hatte, und zwar stand im Vordergrunde des Interesses der Gegensatz zwischen derlokalenund derzentralen Organisation, da es sich hier um die bereits bezeichnete prinzipielle Stellungnahme handelte. Diese bildete denn auch den roten Faden in den von beiden Seiten vorgebrachten Gründen. Die Vertreter der Lokalorganisation sprachen ganz offen aus, daß man die Arbeiter nicht zu der Anschauung bringen dürfe, als ob auf dem Boden der bestehenden Wirtschaftsordnung eine wesentliche Besserung zu erreichen wäre, daß die Möglichkeit des Erfolges und deshalb der Schwerpunkt der ganzen Arbeiterbewegung aufpolitischem Gebieteliege, daß die gewerkschaftliche Thätigkeitnur eine Vorschulebedeute und man deshalb, ohne das eigentliche Ziel zu verlieren, nicht auf die Beschäftigung mit der Politik verzichten könne, während ihnen von den Gegnern entgegengehalten wurde, daß der Grundgedanke der ganzen Gewerkschaftsbewegung darin bestehe, das auf dem Boden der bestehenden Verhältnisse Mögliche zu erreichen und sich von politischer Thätigkeit völlig fern zu halten.

Die Generalkommission hatte sich für die Zentralorganisation entschieden, und von Anfang an unterlag es keinem Zweifel, daß die Vertreter der Lokalorganisation sich in erheblicher Minderheit befanden, hatte doch die Berliner Gewerkschaftskonferenz sogar die Frage offen gelassen, ob man ihnen überhaupt die Teilnahme an dem Kongreß gestatten sollte. Diese wurde ihnen nun freilich durch Beschluß des Kongresses eingeräumt, aber eine Reihe von Vereinigungen hatte schon vorher durch Proteste ihre Teilnahme abgelehnt, und nachdem nach einer 4 Sitzungen ausfüllenden Verhandlung, in der man sichrecht scharfe Dinge gesagt hatte, die von den Vertretern der Lokalorganisation eingebrachte Resolution „mit bedeutender Mehrheit“, wie der offizielle Bericht sagt, abgelehnt war, verließen diese mit einer Protesterklärung den Kongreß.

So standen denn nur noch die Vertreter der Organisation nachBerufen(Branchen) undIndustrieensich gegenüber. Uebrigens wollten auch die ersteren einen weiteren Zusammenschluß der Berufsverbände zu sog.Unionen, und die Generalkommission, die den Standpunkt der Berufsorganisation vertrat, hatte einen Entwurf vorgelegt, nach welchem die verwandten Gewerkschaften zu solchen Unionen verbunden werden sollten. Zwischen ihnen und denIndustrieverbändenbestand nur der Unterschied, daß die ersteren die einzelnen Mitglieder zunächst zu selbständigen Berufsgruppen vereinigen und erst diese Gruppen wiederum zu den Unionen zusammenfassen, während die Industrieverbände jene Zwischenstufe fallen lassen und die Mitglieder in einenunmittelbarenZusammenschluß bringen würden. DieUnionbedeutet allerdings eine feste Organisation, welche die Zentralverbände der verwandten Berufe zu einer höheren Einheit zusammenfaßt, aber diese läßt die Einzelverbände doch als solche mit einer relativen Selbständigkeit bestehen, während derIndustrieverbanddieselben auflöst und sich an deren Stelle setzt. Mitglieder der Union sind die Zentralverbände, Mitglied des Industrieverbandes sind die einzelnen Arbeiter. Die letztere Form des Zusammenschlusses ist deshalb die engere, sie schafft einerseits eine größere Kraftkonzentration, setzt aber andererseits auch eine höhere Stufe des Solidaritätsgefühls voraus und tritt dem „Kastengeiste und Berufsdünkel“, über den auf dem Kongreß allseitig geklagt wurde, am schärfsten entgegen.

Endlich wurde eine noch losere Verbindung der Berufsgruppen dahin vorgeschlagen, daß dieselben sich nicht zu Unionen, also festen Organisationen, vereinigen, sondern sich auf die Abschließung sog.Kartellverträgebeschränken sollten, in denen lediglich für gewisse gemeinsame Zwecke Vereinbarungen der im übrigen in ihrer Selbständigkeit nicht beeinträchtigten Gewerkschaften getroffen würden.

Der Kongreß nahm mit 148 gegen 37 Stimmen eine von den Holzarbeitern vorgeschlagene Resolution an, welche insofern einen Mittelstandpunkt vertrat, als sie einerseits die völlige Vereinigung zuIndustrieverbändenals letztes Ziel anerkennt und deren Bildung schon jetzt überall da empfiehlt, wo die Verhältnisse es zulassen, andererseits aber hinter die Unionen zurückgeht und sich auf bloßeKartellverträgebeschränkt, indem „die Frage, ob die späteren Vereinigungen der Berufsorganisationen zu Unionen oder Industrieverbänden stattzufinden hat, der weiteren Entwickelung der Organisationen infolge der Kartellverträge überlassen wird“. DasVertrauensmännersystemsoll nur da stattfinden, wo der zentralen Organisation gesetzliche Hindernisse im Wege stehen.


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