Als besondere Aufgaben sind in den Statuten hervorgehoben die Förderung der humanen Bildung durch Errichtung kaufmännischer Fortbildungsschulen verbunden mit volkswirtschaftlichem Unterricht und Gesetzeskunde, die Verbesserung des Lehrlingswesens insbesondere dadurch, daß Lehrlinge nur von solchen Prinzipalen gehalten werden dürfen, die eine kaufmännische Ausbildung besitzen und daß die Lehrlinge zum Besuche der obligatorischen Fortbildungsschulen verpflichtet sind, ferner die Förderung des Genossenschaftswesens und die Erledigung aller begründeten Beschwerden der Mitglieder gegen Prinzipale, Behörden und Publikum durch den Verein, wobei dieser selbst die Prozeßführung übernimmt; thunlichst soll hierbei ein schiedsgerichtliches Verfahren stattfinden. Der Verein hat neben einer seit 1885 bestehenden Versicherung gegen Stellenlosigkeit, in der gegen Zahlung von monatlich 1 Mk. bezw. 1 Mk. 50 Pf. eine monatliche Unterstützung von 30 Mk. bezw. 45 Mk. bis zur Dauer von 6 Monaten erworben wird, noch ferner eine Unterstützung gegen Stellenlosigkeit in Höhe von monatlich 30 Mk. bis zu 3 Monaten, für die außer den monatlichen Vereinsbeiträgen von 90 Pf. nichts bezahlt wird. Endlich besteht eine Stellenvermittelung. Neben dem Vereine besteht in der Form einer eingeschriebenen Hülfskasse eine selbständige Kranken- und Begräbniskasse.
Der Verein hat sich mehrfach mit der Agitation für gesetzgeberische Aufgaben befaßt, insbesondere bei Beratung des neuen Handelsgesetzbuches und des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb, wo er gegen die Konkurrenzklausel und für erweiterte Sonntagsruhe, sowie Ausdehnung der Arbeiterschutzbestimmungen der Gewerbeordnung und der Gewerbegerichte auf die Handlungsgehülfen, für den Achtuhr-Ladenschluß und gegen das Verbot des Detailreisens, eintrat; ferner kämpft er seit Jahren für die gesetzliche Anerkennung der Berufsvereine.
Das Vereinsorgan ist die „Kaufmännische Rundschau“. Die Mitgliederzahl betrug am 31. Dezember 1895: 3849 in 46 Ortsvereinen; am 31. Dezember 1896 4229 Mitglieder in 58 Ortsvereinen, am 31. Dezember 1897 4409 Mitgliederin 57 Ortsvereinen und am 31. Dezember 1898 4382 Mitglieder. Im Jahre 1898 erhielten auf Grund der Versicherung gegen Stellenlosigkeit 33 Mitglieder 2761 Mk. 50 Pf., daneben erhielten Stellenlosenunterstützung 113 Mitglieder 5322 Mk. 97 Pf. Die Stellenvermittelung besetzte 776 Stellen bei 870 Bewerbern. Für Bildungszwecke wurden 2269 Mk. 37 Pf., für das Vereinsorgan 5340 Mk. 5 Pf. ausgegeben. Die Kranken- und Begräbniskasse zahlte 66564 Mk. 38 Pf. Das Gesamtvermögen betrug 149323 Mk. 32 Pf.
b)Deutschnationaler Handlungsgehülfenverband[160].
Der Verband ist insofern aus dem Vereine für Handlungskommis von 1858 hervorgegangen, als einige im Herbst 1893 aus diesem ausgeschlossene Mitglieder einen neuen Verband zu gründen unternahmen, sodaß schon wegen dieses persönlichen Verhältnisses der neue Verband in einem scharfen Gegensatze zu dem alten Vereine sich befand. Dazu kam aber auch eine anderegrundsätzliche Auffassung. Der Verband betont mit Nachdruck die Notwendigkeit einer Vertretung der sozialpolitischen Interessen der Handlungsgehülfen und macht den älteren Vereinen zum Vorwurf, daß sie durch ungenügende Vertretung derselben den Rückgang des Standes verschuldet hätten.
Infolge hiervon ist auch das äußere Auftreten ein verschiedenes. Anklagen gegen den Geist des Mammonismus, und die daraus folgende soziale Zerklüftung, über den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital und die Gefahr der Herabdrückung der Handlungsgehülfen in das Proletariat geben den öffentlichen Erklärungen des Verbandes ein ganz anderes, moderneres Gesicht, als den älteren Vereinen; der Sozialdemokratie steht es durchaus fern, scheint aber im Gegenteil die Elemente, die sonst vielleicht für sie zu haben sein würden, an sich zu ziehen, weshalb er von ihr heftig bekämpft wird. Einen einseitigen Karakter erhält der Verband durch die Bestimmung des Statutes, daßJudenvon der Mitgliedschaft ausgeschlossen sind, wie denn auch die antisemitische Partei ihm ihre Unterstützung leiht, obgleich eine verletzende Form der Geltendmachung dieses Standpunktes bisher nicht hervorgetreten ist. Immerhin ist er der Grund gewesen, weshalb die Anmeldung des Verbandes zum Beitritte in den „Deutschen Verband kaufmännischer Vereine“ in dessen Generalversammlung vom Sommer 1896 zurückgewiesen wurde.
Aus den Statuten ist Folgendes zu erwähnen:
Der Verband steht treu zu Kaiser und Reich. Er hat den Zweck, durch Zusammenschluß der Berufsgenossen die soziale Lage derselben zu heben, deren Interessen überall, wo es notwendig ist und sie bedroht sind, thatkräftig zu vertretenund durch geeignete Maßnahmen für die Erhaltung des Ansehens des gesamten Handelsstandes zu wirken.
Der Verband erachtet es als seine besondere Aufgabe, in diesem Sinne auf Behörden und gesetzgebende Körperschaften einzuwirken.
Parteipolitische und religiöse Bestrebungen innerhalb des Verbandes sind ausgeschlossen.
Mittel zum Zweck sind dem Verbande ferner die Selbsthülfe zur Schaffung wirtschaftlicher Vorteile für die Mitglieder durch seine Abteilungen und seine Bestrebungen zur Durchführung sozialer Reformen im Handelsstande, und zwar:
Der Sitz des Verbandes ist Hamburg. Er zerfällt in Ortsgruppen und Gauverbände. Organ desselben ist die aus den ursprünglich begründeten „Mitteilungen des Deutschen Handlungsgehülfenverbandes“ hervorgegangene 2mal monatlich erscheinende „Deutsche Handelswacht.“
Die Mitgliederzahl ist von 76 am 1. Januar 1895 auf 570 am 1. Januar 1896, auf 2350 am 1. Januar 1897, auf 7735 am 1. Januar 1898, auf 18277 am 1. Januar 1899 und auf 28992 am 10. Juli 1899 in 367 Ortsgruppen gestiegen.
Der Verband betont in seiner hauptsächlich gegen die alten Vereine, insbesondere der Hamburger Vereine von 1858 und der Leipziger Verband gerichteten Agitation in erster Linie, daß diese das Uebel nicht an der Wurzel angefaßt hätten. Er legt deshalb das Hauptgewicht auf Beschränkung der Arbeitszeit durch die Einführung eines Maximalarbeitstages nach der Art der Geschäfte, des Achtuhr-Ladenschlusses und völliger Sonntagsruhe von Sonnabend Abend bis Montag Morgen. Daneben fordert man Beschränkung der Frauenarbeit auf solche Beschäftigungen, in denen diese aus Rücksichten des Anstandes geboten ist. Neben obligatorischen Fortbildungsschulen für die Lehrlinge soll die Zulassung zum Gehülfen von einer Prüfung vor einer Kommission abhängig gemacht und eine bestimmte Skala für das Verhältnis der in denselben Geschäfte zulässigen Gehülfen und Lehrlinge eingeführt werden, daneben ist der Verband für das Verbot der Konkurrenzklausel, für Aufrechterhaltung der bisherigen gesetzlichen Kündigungsfrist von 6 Wochen und für kaufmännische Schiedsgerichte eingetreten.
Obgleich der Verband hiernach die schärfere Interessenvertretung auch gegenüber den Prinzipalen betont, hat er doch 1026 derselben als unterstützende Mitglieder d. h. ohne Stimmrecht aufgenommen. Auch Stellenvermittelung und Rechtsschutz gewährt der Verband, wie die älteren Vereine.
Aus dem Geschäftsberichte für 1898 ist hervorzuheben, daß der Verband neben der Errichtung kaufmännischer Fortbildungsschulen, insbesondere Einführung des Schulzwanges und für Handlungsgehülfenkammern, auch für eine Umsatzsteuer auf Warenhäuser und Ramschlager eingetreten ist und auf dem zweiten vom 10–11. April 1898 in Leipzig abgehaltenen Verbandstage die Errichtung einer eigenen Verbandskrankenkasse beschlossen hat. Der Verband hat 18 besoldete Beamte und eine Versicherung gegen Stellenlosigkeit; er ist dem deutschen Verbande für das kaufmännische Unterrichtswesen, dem Verbande deutscher Arbeitsnachweise, dem deutschen Sprachvereine und dem alldeutschen Verbande beigetreten. Der VerbandsvorsitzendeSchackhat bei den letzten Reichstagswahlen in 2 Bezirken kandidiert und 5106 bezw. 5065 Stimmen erhalten; 20 Abgeordnete haben sich als Kandidaten verpflichtet, für seine Forderungen einzutreten. Die Stellenvermittelung hat 1898 nur 214 Stellen vermittelt, doch betont der Bericht, daß eben der Verband den Grundsatz der alten Vereine, nur immer Hand in Hand mit den Prinzipalen zu gehen, um die Stellenvermittelung nicht zu schädigen, nicht anerkenne, daß er auch Stellen injüdischen Geschäften, Stellen mit Konkurrenzklauseln, kurzer Kündigungsfrist u. dergl. nicht vermittele.
Der Verband hat auch die Schaffung einer Gesamtvertretung der deutschen Handlungsgehülfen in die Hand genommen durch Berufung vonHandlungsgehülfentagen, von denen der erste am 6. April 1896 in Hamburg, der zweite am 19. April 1897 in Berlin, der dritte am 11. April 1898 in Leipzig und der vierte am 3. April 1898 in Kassel stattgefunden hat. Auf dem ersten waren 31, auf dem zweiten 185, auf dem dritten 326 und auf dem vierten 738 Städte durch etwa 800 Abgesandte vertreten. Gegen den Vorwurf antisemitischer Richtung wurde protestiert, auch waren in Kassel alle nationalen Parteien des Reichstages eingeladen, jedoch war nur die deutsch-soziale Reformpartei durch Abgeordnete vertreten. Man faßte Beschlüße zu Gunsten des gesetzlichen Achtuhr-Ladenschlußes, der Einführung kaufmännischer Schiedsgerichte unabhängig von den Gewerbegerichten und der Bekämpfung der Warenhäuser. Ebenso forderte man im Gegensatz zu dem Verbande kaufmännischer Vereine, der sich für Befreiung der Handlungsgehülfen von der Invaliditäts- und Altersversicherung ausgesprochen hatte, die Beibehaltung des Versicherungszwanges unter Ausdehnung auf alle Handlungsgehülfen ohne Rücksicht auf die Höhe des Gehaltes, ferner Einführung höherer Lohnklassen mit höheren Beiträgen und Renten und möglichste Herabsetzung der Altersgrenze sowie Zulassung der Selbstversicherung für selbständige Kaufleute. Endlich befürwortete man, daß die Handlungsgehülfen versuchen möchten, aus ihren Reihen Abgeordnete in den Reichstag zu wählen, daß sie aber jedenfalls ohne Unterschied der Parteistellung nur solche Kandidaten unterstützen sollten, die sich verpflichten, für die Forderungen des Standes einzutreten. Während man an den ersten drei Tagen Huldigungstelegramme an den Kaiser gesandt hatte, wurde in Kassel hiervon mit der Begründung Abstand genommen, daß man bisher niemals einer Antwort gewürdigt sei und man nicht den Schein der Aufdringlichkeit auf sich laden wolle. Der Vorsitzende erklärte unter stürmischen Beifalle, die deutsch-nationalen Handlungsgehülfen pflegten nicht zu antichambrieren, sondern würden mit aller Kraft den Augenblick zu erkämpfen versuchen, wo die Großen der Erde gezwungen seien, mit der Bewegung zu rechnen.
c)Verein für kaufmännische Angestellte[161]).
Der Verein ist hervorgegangen aus dem kaufmännischen Verein in Frankfurt a. M. Derselbe besaß die „Kaufmännische Presse“ als Vereinsorgan, das sich unter Leitung des bekannten sozialdemokratischen Redakteurs Dr.Quarckbefand. Zwischen ihm und dem VereinsvorsitzendenSchäferwar es wegen der Haltung des Blattes mehrfach zu Reibungen gekommen, die dazu führten, daß der Verein beschloß, das Blatt am 1. Juli 1894 eingehen zu lassen. Unter diesen Umständen thaten sich die AnhängerQuarck's zusammen, gründeten einen eigenen „Verein für kaufmännische Angestellte“ und beschlossen, die „Kaufmännische Presse“ unter Leitung Dr.Ouarck's als ihr Organ fortzuführen. Der neue Verein beantragte seine Zulassung zu dem „Deutschen Verbande kaufmännischer Vereine“, die auch in der Generalversammlung in München mit 44 gegen 41 Stimmen gegen den Widerspruch des „Kaufmännischen Vereins“ beschlossen wurde. Aber schon in der Generalversammlung vom 8./9. Juni 1896 in Berlin wurde der Antrag auf Ausschluß mit 78 gegen 27 Stimmen angenommen.
Der Verein wollte nicht als sozialdemokratisch gelten, aber es machte sich doch von Anfang an ein gewisser Gegensatz zwischen den sozialdemokratischen und den übrigen Mitgliedern geltend, insbesondere wurde von den letzteren gegenQuarckder Vorwurf eines zu radikalen Vorgehens erhoben. Dies führte dahin, daß in der Vereinsversammlung am 23. Juli 1896 der Beschluß gefaßt wurde, zu erklären, daß die Versammlung mit Ton und Haltung, wie sie in dem Vereinsorgane in der letzten Zeit zum Ausdruck gekommen seien, nicht einverstanden sei. Die Folge dieses Beschlusses war, daßQuarckseine Redaktion niederlegte, daß aber auch eine Anzahl seiner Gesinnungsgenossen mit ihm aus dem Vereine austrat. Da andrerseits zu Beginn des Jahres eine größere Anzahl Mitglieder wegen der von ihnen mißbilligten durchQuarckverfolgten Politik ausgetreten waren, so war das Ergebnis eine doppelte Schwächung des Vereins und ein Herabgehen der Mitgliederzahl von 439 auf 319.
Nach seinen Statuten ist der Zweck des Vereins „die Hebung der sozialen Lage der Handlungsgehülfen durch Zusammenschluß und Fortbildung derselben, sowie durch Einwirkung auf Behörden und Gesetzgebung“. Parteipolitische und religiöse Zwecke sind ausgeschlossen. Als Mittel hierzu sollen dienen: öffentliche Versammlungen, Herausgabe der „Kaufmännischen Presse“, kostenlose Stellenvermittelung, fach- und wissenschaftliche Vorträge, Unterhaltung einer Bibliothek, Erteilung von Rechtsauskunft und Vertretung vor Gericht, sowie Pflege der Geselligkeit. Mitglied kann werden, wer die Zwecke des Vereins anerkennt.
Daß der Verein eine größere äußere Bedeutung nicht gewonnen hat, mag die Folge seiner Stellung sein. Einerseits bekämpft er die alten Vereine, insbesondere den Hamburger und den Leipziger, denen er zum Vorwurfe macht, daß sie nur Geselligkeit und Unterstützungswesen betrieben, während er die energische Vertretung der sozialen Interessen des Gehülfenstandes sich zur Aufgabegestellt habe, anderseits befindet er sich in Gegensatz nicht allein zu der Sozialdemokratie, sondern auch zu dem deutsch-nationalen Verbande, dem er zünftlerische Bestrebungen vorwirft. Die Wirksamkeit des Vereins hat sich deshalb bisher wesentlich auf Abhaltung von Agitationsversammlungen und Eingaben an Behörden beschränkt. Eine besondere von ihm erhobene Forderung ist neben den kaufmännischen Schiedsgerichten, der vollständigen Sonntagsruhe und dem Acht-Uhr-Ladenschlusse noch ferner die Anstellung von Handelsinspektoren. Die von dem Vereine veranstalteten Vorträge, zu denen er u. a. auch dem PfarrerNaumannherangezogen hat, behandeln überwiegend sozialpolitische Gegenstände; schönwissenschaftliche Themata sind ausgeschlossen.
d)Zentralverband der Handlungsgehülfen und -Gehülfinnen Deutschlands.
Bis Ende der 80er Jahre hatten diesozialdemokratischenAnschauungen unter den Handlungsgehülfen wenig Boden gefunden, und nur in Berlin hatte sich Ende 1889 eine „Freie Vereinigung der Kaufleute“ gebildet. Nach ihrem Vorbilde wurden in den nächsten Jahren in Leipzig, Hamburg, Dresden, München, Stuttgart, Hannover, Elberfeld und Krefeld ähnliche „freie Vereinigungen“ ins Leben gerufen. Dieselben waren ausschließlich lokal organisiert und hatten zunächst keine Verbindung untereinander. Eine solche wurde erst hergestellt durch die Gründung des Blattes „Der Handelsangestellte“ in Berlin, dessen erste Nummer am 1. Oktober 1892 erschien. Dasselbe stellte sich auf den Boden der „modernen Arbeiterbewegung“ und trat offen für die sozialdemokratische Partei ein.
Gegenüber dieser Organisation entstand eine neue Bewegung, die freilich ebenfalls „auf dem Boden des Klassenkampfes“ stand und die Harmonie der Interessen zwischen Prinzipalen und Gehülfen bestritt, sich deshalb an die „klassenbewußten Handlungsgehülfen“ wandte und gegen den „Standesdünkel“ auftrat, der bisher die Handlungsgehülfen gehindert habe, sich als Lohnarbeiter zu fühlen, die aber die formelle Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei ablehnte. Die Anhänger dieser Richtung traten am 7. Juni 1897 in Leipzig zu einer freien Konferenz zusammen, auf der man nach Entgegennahme der Mitteilung, daß eine Verständigung mit den Berlinern ebenso wie mit den freien Vereinigungen in Stuttgart, München und Dresden nicht zu erreichen gewesen sei, den „Zentralverband der Handlungsgehülfen und -Gehülfinnen Deutschlands“ ins Leben rief, an dem sich zunächst nur die Gehülfen aus Chemnitz, Frankfurt a. M., Fürth, Hamburg und Leipzig beteiligten. Nach dem angenommenen Programm ist der Zweck des Verbandes die Erzielung möglichst günstiger Anstellungsbedingungen und gesetzlicher Beschränkung derArbeitszeit, berufsstatistische Ermittelungen, Rechtsschutz und Stellennachweis. Parteipolitische Bestrebungen sind ausgeschlossen. Die Einführung einer Unterstützung für Stellenlose wurde vorläufig noch zurückgestellt. Der Verband trat mit dem 1. Juli 1897 ins Leben und hat sich der „Generalkommission für die Gewerkschaften Deutschlands“ angeschlossen. Er besitzt ein eigenes Organ in dem „Handlungsgehülfenblatte“, dessen erste Nummer am 5. Juli 1897 erschien.
In der am 30. Mai 1898 inFrankfurtabgehaltenenersten Generalversammlungwurde berichtet, daß sich in Elberfeld, Krefeld und Breslau neue Ortsvereine gebildet hätten und die Mitgliederzahl 337, darunter 54 weibliche, beträge. Man nahm eine Resolution an, die den grundsätzlichen Standpunkt festlegen soll und folgenden Wortlaut hat.
„Der Zentralverband der Handlungsgehülfen und -Gehülfinnen Deutschlands erkennt, daß im Handelsgewerbe eine wirtschaftliche Entwickelung wirksam ist, welche dahin geht, einerseits durch immer kapitalkräftigere Verkaufsgeschäfte für die verschiedensten Artikel an den Mittelpunkten des Verkehrs (Bazare, Warenhäuser) die kleineren Geschäfte und damit auch die Möglichkeit zu vernichten, daß die Mehrzahl der Gehülfen selbständig werden kann, andererseits durch immer größere Arbeitsteilung in den Engros- und Bankgeschäften, sowie durch umfassende Heranziehung weiblicher Kräfte die Stellung der Handlungsgehülfen immer unsicherer und weniger lohnend zu machen.
Diese Entwickelung entspricht in vielen Punkten derjenigen in anderen modernen Gewerben und ist vom Standpunkt der von ihr nachteilig Betroffenen zu bedauern, aber durch keine Mittel aufzuhalten und nur durch schließliche Beseitigung des jetzigen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit zu überwinden.
Für die nächste Zeit erscheint dem Z.-V. d. H. u. -G. D. der Schutz der in bezahlter Arbeit bei den Handelskapitalisten stehenden männlichen und weiblichen Kräfte durch einheitliche Organisation als das einzige Mittel, diese Kräfte vor dem Herunterdrücken auf eine immer tiefere Kulturstufe zu bewahren. Er empfiehlt deshalb allen männlichen und weiblichen Handlungsgehülfen Deutschlands das Eintreten für folgende Forderungen:
Damit diese Forderungen mit viel größerem Nachdruck als bisher vertreten werden können, ist es nötig, daß alle gesetzlichen und polizeilichen Beschränkungen des Vereins- und Versammlungsrechts fallen und daß die bezahlten Kräfte im Handelsgewerbe sich einheitlicher als bisher ohne Unterschied der Konfession, der Geschäftsstellung und des Geschlechts im Z.-V. d. H. u. -G. D. organisieren.“
Es wurde mitgeteilt, daß die Einigungsversuche mit den Vertretern des „Handelsangestellten“ wegen Aussichtslosigkeit aufgegeben seien.
Trotzdem ist eine Verschmelzung auf der am 2. Oktober 1898 inBerlinabgehaltenenKonferenzzustande gekommen, und zwar dahin, daß die beiden Fachblätter vereinigt werden und das neue Organ unter dem Titel „Handlungsgehülfenblatt“ in Berlin erscheint. Die „freie Vereinigung der Kaufleute“ in Berlin hat dann an einer an demselben Tage abgehaltenen Generalversammlung mit 37 gegen 12 Stimmen sich zu Gunsten des Zentralverbandes aufgelöst, wobei in den Verhandlungen die Ansichten darüber auseinandergingen, ob der bisherige Gegensatz nur ein taktischer oder ein prinzipieller sei. Auch die freien Vereinigungen in München und Dresden sind diesem Beispiele gefolgt. Die Mitgliederzahl des Zentralverbandes ist dadurch auf etwa 1000 gestiegen.
Der Verband führt einen lebhaften Kampf nicht nur gegen die alten Vereine, sondern auch gegen den deutsch-nationalen Verband, dem er vorwirft, sich durch seine zünftlerischen Bestrebungen in den Dienst der Prinzipale und der antisemitischen Partei gestellt zu haben, insbesondere habe er dies durch sein Eintreten für eine Umsatzsteuer auf Warenhäuser bewiesen. Auch gegen den „Verein für kaufmännische Angestellte“ nimmt der Zentralverband eine unfreundliche Haltung ein. Er beruft sich mit Nachdruck darauf, daß er die einzige Vereinigung sei, die Prinzipale nicht aufnehme und deshalb in der Lage sei, die Interessen der Gehülfen nachdrücklich zu vertreten.
Die evangelischen Arbeitervereine[163]bestanden in Bayern schon seit dem 50er Jahren, hatten dort aber wesentlich den Karakter der Männer- und Jünglingsvereine ohne soziale Ziele. Die Anregung, Vereine mit sozialpolitischen Zwecken zu schaffen, wurde erst dadurch geboten, daß in den bestehenden christlich-sozialen Vereinen, obgleich sie konfessionslos sein wollten, der katholische Einfluß sich in einer den evangelischen Interessen zuwiderlaufenden Weise geltend machte. Der erste Verein dieser Art wurde am 2. Pfingsttage des Jahres 1882 in Gelsenkirchen insbesondere unter der Führung des BergmannsFischermit 57 Mitgliedern gegründet. Obgleich bei dem Beginne der Bewegung die evangelische Geistlichkeit nicht unmittelbar beteiligt war, hat sie sich bald derselben lebhaft angenommen und meist die geistige Führerschaft erhalten, obgleich man daran festhielt, die formelle Leitung den Arbeitern selbst zu überlassen. Im Jahre 1885 gab es schon 25 Vereine mit 11700 Mitgliedern, 1887 44 Vereine mit 17000 und 1890 95 Vereine mit 28000 Mitgliedern.
Während bis dahin die Bewegung vorzugsweise auf Rheinland-Westfalen beschränkt geblieben war, wo auch die Vereine 1885 sich zu einem Provinzialverbande zusammengeschlossen hatten, begann seit 1888 auch in dem übrigen Deutschland die Bildung von Vereinen und Verbänden, und am 6. August 1890 wurde endlich in Erfurt derGesamtverband evangelischer Arbeitervereine Deutschlandsbegründet. Schon 1885 hatte man sich in dem „Evangelischen Arbeiterboten“, der in Hattingen a. Ruhr erscheint, ein Organ geschaffen, das demnächst von dem Gesamtverbande übernommen wurde.
Ganz genaue Mitgliederzahlen sind nicht zu erhalten. Nach Angaben der Beteiligten gab es 1893 230 Vereine mit 73000 Mitgliedern. Eine möglichst genaue Statistik, deren Zuverlässigkeit freilich von anderer Seite bestritten ist, hat im Winter 1895/96 der Redakteur des Evangelischen ArbeiterbotenHolthoffdurch Umfrage bei den einzelnen Vereinen unternommen und in Nr. 13–22 seines Blattes von 1896 veröffentlicht. Danach gab es damals folgende Verbände:
sodaß sich die Zahl aller Vereine auf 308 mit 64446 Mitgliedern belaufen würde, doch ist die Statistik aus Bayern unvollständig; die Mitgliederzahl des Bayrischen Verbandes wurde in der Generalversammlung von 1896 auf 8000 angegeben. Sachsen und Schlesien sind seit 1897 dem Gesamtverbande beigetreten.
Die neuesten Ziffern bietet ein von dem Vorsitzenden des Gesamtverbandes Pfarrer lic.Weberin Mönchen-Gladbach im Frühling 1898 gehaltener Vortrag. Danach gab es: in Ostpreußen 8 Vereine mit 2000 Mitgliedern, in Westpreußen 1 Verein mit 450 Mitgliedern, in Schlesien 8 Vereine mit 2854 Mitgliedern, in Pommern 6 Vereine mit 548 Mitgliedern, in Brandenburg 10 Vereine mit 2100 Mitgliedern, in der Provinz Sachsen 16 Vereine mit 4436 Mitgliedern, in Hannover 3 Vereine, in Schleswig-Holstein 7 Vereine mit 1186, in der Provinz Hessen 12 Vereine mit 3156 Mitgliedern, im Saargebiete19 Vereine mit 3000 Mitgliedern, im übrigen Rheinland und Westfalen 116 Vereine mit 26641 Mitgliedern die in dem Provinzialverbande zusammengefaßt waren und daneben noch im Rheinland 18 Vereine mit 6135 Mitgliedern und in Westfalen 10 Vereine mit 1000 Mitgliedern, im Königreich Sachsen 16 Vereine mit 9000 Mitgliedern, in Braunschweig 1 Verein mit 106 Mitgliedern, im Großherzogtum Hessen 5 Vereine mit 1300 Mitgliedern, in Baden 20 Vereine mit 2400 Mitgliedern, in Württemberg 35 Vereine mit 2915 Mitgliedern, in der Rheinpfalz 23 Vereine mit 2889 Mitgliedern, im übrigen Bayern 23 Vereine mit 4988 Mitgliedern. Das giebt eine Gesamtzahl von 359 Vereinen mit 76998 Mitgliedern, von denen allein auf Rheinland-Westfalen 36776 Mitglieder entfallen. Da viele Vereine dem Verbande nicht angehören, so kann man die Gesamtzahl der Mitglieder auf eben 90 000 veranschlagen. Außer dem Evangelischen Arbeiterboten bestehen noch die „Württembergische Arbeiterzeitung“ und das „Sächsische Evangelische Arbeiterblatt“. Das frühere „Hamburger Volksblatt“ ist seit Herbst 1895 eingegangen. Ebenso hat die „Christlich-soziale Volkszeitung“ in Erfurt, die an die Stelle der mit dem 1. April 1896 eingegangenen „Erfurter Arbeiterzeitung“ getreten war, seit Anfang 1898 ihr Erscheinen eingestellt. Im Gesamtverbande bestehen 96 Bibliotheken. Die Vereine haben zusammen ein Vermögen von 152233 Mk. in baren Gelde, wozu noch Mobilien im Werte von 62858 Mk. und Immobilien im Werte von 337500 Mk. kommen.
Die Statuten der Vereine sind meist demjenigen des Gelsenkirchener Vereins genau nachgebildet und lauten in den wesentlichen Punkten:
Der Verein steht auf dem Boden des evangelischen Bekenntnisses und hat den Zweck:
Diese Zwecke sollen erreicht werden durch Verbreitung nützlicher Schriften, durch Vorträge und durch Gründung einer Kranken- und einer Sterbekasse. Mitglied kann jeder evangelische Berg-, Hütten- und Tagearbeiter, sowie jeder Handarbeiter des betreffenden Bezirks werden, der sich im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befindet und eines unbescholtenen Rufes erfreut. Mitglieder, die das Versprechen katholischer Kindererziehung geben, werden ausgeschlossen.
In den Satzungen des Gesamtverbandes heißt es ferner:
Um diese Aufgaben zu erfüllen, sind wiederholt von den leitenden Personen empfohlen: freie Diskussionen und die Errichtung einer Rednerbildungsanstalt, sowie die Gründung einer Arbeiterzeitung in großem Stile, Bildung von Hülfs-, Kranken- und Begräbniskassen, sowie von Arbeitervereinshäusern, gemeinsame Anschaffung von Lebensmitteln, Auskunftserteilung in wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen und Gründung von Berufsabteilungen; doch ist von diesen Vorschlägen nicht viel verwirklicht. Immerhin haben die Vereine nach dieser Richtung, sowie zur Begründung von Spar- und Bauvereinen, Arbeitsnachweis, Volksbureaus, Aerztekassen und durch Eingaben an die Behörden und den Reichstag vielfach in sozialem Sinne anregend gewirkt. Die einzige gemeinsame Einrichtung ist die „Kranken- und Sterbekasse evangelischer Arbeitervereine, eingeschriebene Hülfskasse“ in Mönchen-Gladbach; neben ihr besteht eine besondere Sterbekasse des evangelischen Arbeitervereins von Dresden und Umgegend. Eine am 10. Oktober 1898 in Nürnberg abgehaltene und von 65 Vereinen beschickte Bundeskonferenz der Bayrischen Evangelischen Arbeitervereine hat beschlossen, eine Zentralkasse für Unterstützung bei Krankheit und unverschuldeter Arbeitslosigkeit zu gründen.
Was densozialpolitischen Standpunktder Vereine betrifft, so läßt sich derselbe nicht für alle gemeinsam bezeichnen, vielmehr besteht in dieser Beziehungeine so große Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit der Anschauungen, das dadurch sogar der Bestand des Gesamtverbandes ernstlich in Frage gestellt ist. Man kann im wesentlichendrei Richtungenunterscheiden.
Dieerstestützt sich auf die Bestimmung des Statutes, die das friedliche Einvernehmen mit den Arbeitgebern betont; sie will alle sozialreformerischen Bestrebungen, soweit sie über bloße Unterstützungszwecke hinausgehen, möglichst fern halten und kleidet dieses Verlangen in die Form einer Betonung der religiösen Aufgabe. Die Hauptvertreter dieser Richtung sind der RedakteurQuandelund der FabrikantFrankenin Bochum; sie wird deshalb meistens als die „Bochumer Richtung“ bezeichnet. Der „Evangelische Arbeiterbote“ wird im wesentlichen in ihrem Sinne geleitet.
In scharfem Gegensatze zu ihr steht diezweitedurchNaumannvertretene Richtung, die eine entschiedene sozialreformerische Haltung der Vereine fordert. Sie findet im allgemeinen ihre Anhängerschaft im Süden und wird durch die „Württembergische Arbeiterzeitung“ unterstützt. In neuester Zeit ist Dr.Maurenbrecherin einem Aufsatze der „Sächsischen Arbeiterzeitung“ für eine völlige Umgestaltung der Vereine im Sinne dieser Anschauungen und offene Loslösung von der älteren Tradition eingetreten; der Aufsatz hat viel Aufmerksamkeit erregt, aber in den sächsischen Vereinen überwiegend Ablehnung gefunden.
Diese folgen nämlich, ebenso wie die „Sächsische Arbeiterzeitung“ selbst im allgemeinen der durch den zeitigen Vorsitzenden des Gesamtverbandes lic.WebervertretenendrittenRichtung, die einen Mittelweg zu gehen sucht, indem sie freilich die sozialreformerischen Aufgaben betont wissen will, aber nicht allein ein möglichstes Hand-in-Hand-Gehen mit den Arbeitgebern wünscht, sondern vor allem gegen die Sozialdemokratie den Kampf bis aufs Messer führen will und jedes Zusammenarbeiten mit ihr auch auf rein praktischem Gebiete grundsätzlich ablehnt. Die einzige Ausnahme hatWeberneuerdings für Baugenossenschaften zugestanden.
Der Standpunkt des Gesamtverbandesist niedergelegt in dem sog. evangelisch-sozialen Programm vom 31. Mai 1893, das folgenden Wortlaut hat:
„A.Grundlinien für ein evangelisch-soziales Programm als Anhalt für Vorträge und Diskussionen in den Evangelischen Arbeitervereinen.“
Wir stehen auf dem Grunde des evangelischen Christentums. Wir bekämpfen darum die materialistische Weltanschauung, wie sie sowohl zu den Ausgangspunkten als zu den Agitationsmitteln der Sozialdemokraten gehört, aber auch die Ansicht, daß das Christentum es ausschließlich mit dem Jenseits zuthun habe. Das Ziel unserer Arbeit sehen wir vielmehr in der Entfaltung seiner welterneuernden Kräfte in dem Wirtschaftsleben der Gegenwart. Wir sind der Ueberzeugung, daß dieses Ziel nicht schon erreicht werden kann durch eine nur zufällige Verknüpfung von allerhand christlichen und sozialen Gedanken, sondern alleindurch eine organische, geschichtlich vermittelte Umgestaltung unserer Verhältnisse gemäß den im Evangelium enthaltenen und daraus zu entwickelnden sittlichen Ideen. In diesen finden wir auch den unverrückbaren Maßstab rückhaltloser Kritik an den heutigen Zuständen, wie kraftvolle Handhaben, um bestimmte Neuorganisationen im wirtschaftlichen Leben zu fordern. Wir werden danach streben, daß diese Organisationen bei ihrer Durchführung in gleichem Maße sittlich erzieherisch wirken, wie technisch leistungsfähig und für alle Beteiligten nach dem Maße ihrer Leistung wirtschaftlich rentabel sind. Wir vermeiden es, unsere Forderungen aus irgend einer einzelnen nationalökonomischen Theorie herzuleiten. Dagegen erkennen wir eine unserer Hauptaufgaben darin, unsere Freunde vollständig und vorurteilslos über die schwebenden wirtschaftlichen Probleme aufzuklären. Wir erblicken in der wachsenden Konzentration des Kapitals in wenigen Händen einen schweren wirtschaftlichen Uebelstand, wir fordern daher vom Staate, daß er dieselbe nicht befördere, sondern ihr auf alle gesetzliche Weise entgegenwirke, auch auf dem Wege der Steuergesetzgebung. Unsere Forderungen werden wir formulieren von Fall zu Fall, nach dem Maße der wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnis des Wirtschaftslebens.
Zur Zeit stellen wir im einzelnen folgende auf:
I.Für den Großbetrieb:
Wir erkennen die hauptsächlich durch die Fortschritte der Technik hervorgerufene Großindustrie als wirtschaftliche Notwendigkeit an, halten es aber für unsere Pflicht, die im Großbetrieb beschäftigten Arbeiter im Streben nach Erhöhung und Veredelung ihrer Lebenshaltung, um größere ökonomische Sicherheit und den Schutz ihrer persönlichen Güter in Leben und Gesundheit, Sittlichkeit und Familienleben zu unterstützen.
Als Stärkungsmittel sehen wir an:
1. die bisherige staatliche Arbeiterversicherung, deren Vereinfachung und Ausdehnung wir wünschen;
2. die bisherige staatliche Arbeiterschutzgesetzgebung, deren Ausgestaltung wir fordern in Bezug auf:
a) angemessene Kürzung der Arbeitszeit (Maximal-Arbeitstag),
b) Einführung einer Sonntagsruhe von mindestens 36 Stunden,
c) gesunde Arbeitsräume,
d) Einschränkung aller dem Familienleben, der Gesundheit und Sittlichkeit schädlicher Frauen- und Kinderarbeit,
e) Verbot der Nachtarbeit außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt einen fortlaufenden Betrieb nötig machen;
3. die Einführung obligatorischer Fachgenossenschaften, bezw. gesetzlich anerkannter Gewerkschaften;
4. die Sicherheit des vollen Koalitionsrechtes der Arbeiter;
5. die Einführung von Arbeitervertretungen oder Aeltestenkollegien in den einzelnen Fabriken;
6. die Umgestaltung der Staatsbetriebe in Musterbetriebe bei Gewährleistung der vollen persönlichen Freiheit der Arbeiter und Angestellten.
II.Für den Kleinbetrieb, sowie Handel und Gewerbe:
Die Vereine sind nicht der Meinung, daß der gesamte Kleinbetrieb dem Untergange verfallen ist. Sie treten daher für ihn ein, soweit er sich durch Ansätze energischer Selbsthilfe als lebensfähig erweist. Sie fordern:
1. für das Handwerk die Einführung einer korporativen Organisation und die Begründung und Förderung genossenschaftlicher Vereinigungen;
2. für den redlichen Handel und Gewerbebetrieb Schutz durch Beschränkung und Beaufsichtigung des Hausierhandels und der Abzahlungsgeschäfte, sowie durch Beseitigung der Wanderlager und Schleuderbazare;
3. eine Börsenordnung, durch die alle Börsengeschäfte soweit als möglich wirksamer staatlicher Aufsicht unterstellt werden und durch die besonders dem Mißbrauch der Zeitgeschäfte als Spielgeschäfte, namentlich in den für die Volksernährung wichtigen Artikeln entgegengetreten wird.
B.Arbeitsprogramm für die Evangelischen Arbeitervereine.
1. Die Vereine suchen die religiöse, geistige und sittliche Bildung ihrer Mitglieder zu heben.
2. Die Vereine fördern mit aller Kraft die Anhänglichkeit an Kaiser und Reich, Fürst und Vaterland.
3. Die Vereine suchen mit allen Kräften das Familienleben zu fördern, an dessen gottgewollter Ordnung sie festhalten. Sie treten darum nachdrücklich für Schaffung ausreichend großer, freundlicher, gesunder und billiger Wohnungen ein. Sie hoffen insbesondere die Unterstützung von Arbeiterbaugenossenschaften durch die Mittel des Staates (oder Altersversicherung), der Kommunen und reicher Kirchengemeinden.
4. Die Vereine nehmen sich auch der zeitweiligen wirtschaftlichen Notstände ihrer Mitglieder an durch Einführung von Darlehenskassen, Unterstützungskassen in Krankheits- und Sterbefällen, Arbeitsnachweisung, Arbeitslosen-Versicherung u. s. w. Diese Einrichtungen werden möglichst von Arbeitern selbst geleitet und sollen zugleich als Mittel dienen, sie in ihrem wirtschaftlichen Urteil zu schulen.
5. Sie wollen eine edle Geselligkeit und treue Kameradschaft unter ihren Mitgliedern pflegen.“
Als dieses Programm beschlossen wurde, standen die Beteiligten noch stark unter dem Einflusse der durch die kaiserlichen Februarerlasse eingeleiteten sozialpolitischen Strömung, die damals im wesentlichen noch als die herrschende anzusehen war. Es gab damals innerhalb der Evangelischen Arbeitervereine nur die beiden Richtungen, die man im allgemeinen alssozialkonserativeundsozialliberalebezeichnen kann: die erstere war vertreten durchWeber, die zweite durchNaumann; auf einem zwischen jenen beschlossenen Kompromisse beruht dasBerliner Programm. Die oben bezeichnete dritte,nationalliberaleRichtung war noch nicht vorhanden oder wenigstens nicht öffentlich hervorgetreten. Aber je mehr der soziale Wind abflaute, kam sie zur Geltung und bald fühlte sie sich stark genug den Kampf aufzunehmen.
Bis zum Jahre 1896 war der PfarrerWerthin Schalke, ein Mann der Vermittelung, Vorsitzender sowohl des Rheinisch-westfälischen Provinzialverbandes als auch des Gesamtverbandes gewesen. Bei seinem Tode trat im Provinzialverbande an seine Stelle der FabrikantFranken. Im Gesamtverbande hätte die Besetzung des Postens eines ersten Vorsitzenden Anlaß zur Entfesselung des Streites geben müssen, allein das wurde verhindert durch die eigentümliche Stellung des PfarrersWeber, der als stellvertretender Vorsitzender der gegebene Nachfolger zu sein schien. War er nämlich einerseits der Bochumer Richtung nicht willkommen, weil er ihr zu „sozial“ erschien, so galt er andererseits den sozialreformerischen Elementen schon deshalb als verdächtig, weil er in Anlaß des im Frühjahr 1896 erfolgten AusscheidensStöcker's aus dem evangelisch-sozialen Kongresse sich mitStöckersolidarisch erklärt hatte und dadurch zum Kongresse und insbesondere zu derNaumann'schen Gruppe in einen ziemlich scharfen Gegensatz getreten war.
Die Folge dieser unklaren Verhältnisse war es, daß man auf demDelegiertentage, der am 26./27. Mai 1896 inFrankfurta. M. gleichzeitig mit dem evangelisch-sozialen Kongresse abgehalten wurde, von der Neuwahl eines ersten Vorsitzenden vorläufig absah. Daß übrigens die „soziale“ Richtung die Mehrheit hatte, ergab sich daraus, daß der vonWebereingebrachte und aus dessen angegebener Stellung zu erklärende Antrag, den nächsten Delegiertentagunabhängig vom evangelisch-sozialen Kongreß abzuhalten, auf erfolgten lebhaften Widerspruch zurückgezogen wurde.
Aus den übrigen Verhandlungen des Delegiertentages ist zu erwähnen, daß beschlossen wurde, vom 15. August 1896 ab die Wanderunterstützung einzuführen die allen Mitgliedern gezahlt werden soll, welche dem Vereine mindestens 6 Monate angehören. Den Vereinen wurde ferner empfohlen Diskussionsabende zu veranstalten und in den Gemeinden auf Errichtung sozialer Kommissionen hinzuwirken, welche alle auf die Verhältnisse der städtischen Arbeiter, die Vergebung von Arbeiten, die Bau-, Wohnungs- und Mietverhältnisse, Fortbildungsschulen, Volks- und Wohlfahrtseinrichtungen und dgl. bezüglichen Vorlagen der städtischen Kollegien nach sozial-ethischen Gesichtspunkten prüfen oder denselben Gutachten zugehen lassen sollen, auch durch das Gewerbegericht mit Arbeitgebern und Arbeitern Fühlung zu halten und sich durch andere geeignete Persönlichkeiten, sowie durch Vertrauensmänner der verschiedenen Arbeiterorganisationen zu ergänzen haben. Hinsichtlich der Wohnungsfrage wurde nach ausführlicher Erörterung desLechler-Schäffle'schen Wohnungsreformplanes beschlossen, in dieser Richtung bei dem Ministerium und den Volksvertretungen vorstellig zu werden, auch bei den Behörden auf eine energische polizeiliche Kontrolle der Arbeiterverherungen hinzuwirken. Endlich wurde beschlossen, die Anstellung weiblicher Hülfskräfte bei der Fabrikinspektion und die Verwendung der Gelder der Invaliditätsversicherungsanstalten für ausgedehnte Krankenfürsorge insbesondere in Genesungshäusern warm zu unterstützen, sowie eine Vereinfachung der bisherigen Sozialversicherung zu fördern. Auf die an die Vertreter aus Bayern gerichtete Anregung, den Anschluß ihrer Vereine an den Gesamtverband herbeizuführen, erwiderten diese, daß ihre Vereine dann als politische betrachtet und ihnen die Veranstaltung der bisher sehr beliebten Familienabende verboten werden würde. Ein Protest, der das Vorgehen des Freiherrn v.Stummgegen die evangelischen Geistlichen im Saargebiete entschieden verurteilte, wurde unter lebhaftem Beifall einstimmig angenommen.
Die Bochumer Richtung glaubte aber unter der Gunst der immer mehr herrschend gewordenen antisozialen Strömung ihren Kampf weiter führen zu sollen. Das von dem RedakteurQuandelgeleitete „Rheinisch-westfälische Tageblatt“ brachte mehrfache Artikel, in denen nicht allein im allgemeinen die Ansicht vertreten wurde, daß „die ganze Oeffentlichkeit bewußt oder unbewußt, absichtlich oder unabsichtlich, freiwillig oder gezwungen um das große Kalb des Sozialismus tanze,“ sondern geradezu die Behauptung aufgestellt wurde, das evangelische Vereinswesen drohe in der fortgesetzten Behandlung uferloser Doktrinen zu versanden und durch seine kathedersozialistischen Neigungen die vorhandenen Gegensätze zu erweitern; „alle die sozialpolitischen Vorträge, Debatten, Resolutionen,Beschlüsse, Proteste, Berichtigungen, das ehrliche Bestreben, auf dem verführerischen Tanzboden sozialer Ideen sich mit ultramontanen, antisemitischen und anderen salonfähigen Sozialpolitikern in gleichem Tanze zu bewegen“, hätten aber bisher wenig Erfolg gehabt. Als Gegenmaßregel wurde in einem Aufrufe des Vorstandes des Bochumer Kreisverbandes am 17. Februar 1897 der Vorschlag gemacht, eine großehumanitäre Verbandsanstaltzu begründen, die den greifbaren Mittelpunkt der gesamten sozialpolitischen Bestrebungen des Verbandes bilden und insbesondere den Zweck haben sollte, Feierabendhäuser für alte Arbeiter beiderlei Geschlechts, Rekonvaleszentenhäuser für erhaltungsbedürftige Mitglieder, Haushaltungsschulen für deren Töchter, Zusammenkunftsorte für Jünglinge, Erziehung der Waisen, Spar-, Kredit- und Lebensversicherungsanstalten, Arbeiterwohnungen u. s. w. in die Hand zu nehmen.
Gegen diesen Vorschlag wandte sich nicht nurNaumann, der ihn als den Versuch bezeichnete, die evangelischen Arbeitervereine zu Kleinkinderbewahranstalten zu machen, sondern auchWeber, der einerseits finanzielle und fachliche Gründe gegen denselben geltend machte, andererseits aber auch die Befürchtung aussprach, daß die Arbeitervereine dadurch von ihrer eigentlichen sozialen Thätigkeit abgelenkt werden sollten. Wie es scheint, warWeberdurch die von derStumm'schen Richtung gegen ihn erhobenen gehässigen Angriffe allmählich in eine schärfere Gegenstellung gegen den Unternehmerstandpunkt gedrängt, als früher, wie insbesondere darin hervortrat, daß er nicht allein sich an der Gründung des Christlichen Bergarbeitergewerkvereins beteiligt, sondern insbesondere gemeinschaftlich mitHitzedie Veranstaltung des am 1. Februar 1897 in Bochum abgehaltenen Bergarbeiterkongresses in die Hand genommen hatte.
Diese neue Gruppierung mußte natürlich in der nächsten Delegiertenversammlung ihren Ausdruck finden, ja er trat schon bei deren Vorbereitung hervor. Als nämlich derAusschußin seiner Sitzung inKasselam 5. März 1897 den Beschluß, den Verbandstag am 20. April 1897 in Bochum abzuhalten, gefaßt und bereits die entsprechende öffentliche Bekanntmachung erlassen hatte, lehnte der Bochumer Kreisverein dies ab, so daß statt dessen Elberfeld gewählt werden mußte.
In seiner Eröffnungsrede betonteWeber, daß gegenüber dem kalten Winde der sozialen Reaktion der Verband sein soziales Programm nach oben und nach unten, nach rechts und links vertreten müsse und daß kein Unterschied der sozialen Richtungen, mögen sie christlich-sozial, evangelisch-sozial oder national-sozial sein, bestehen dürfe. Er erwähnte, daß aus dem Saarverbande zwei Vereine aus dem Grunde mit der Begründung ausgetreten seien, daß der Delegiertentag in Frankfurt „gegen den um die soziale Frage hochverdienten Freiherrn v.Stummein Mißtrauensvotum beschlossen habe“, eineMitteilung, die mit großer Heiterkeit aufgenommen wurde. Ebenso hatte der Verein in Hersfeld seinen Austritt angezeigt, nachdem sein Antrag, die Nationalsozialen aus dem Verbande auszuschließen, abgelehnt war. Der RedakteurQuandelerhob scharfe Vorwürfe nicht allein gegen den von Professor A.Wagnerauf dem Bergarbeiterkongreß gehaltenen Vortrag, durch den er angeblich zum Streik angereizt habe, sondern auch gegenWeber, der den Krieg gegen das Kapital erklärt habe. Es gelang mit Mühe, die hochgehenden Wogen der hierdurch verursachten Debatte wieder soweit zu glätten, daß die Referate über Gründung eines Unterstützungsfonds für die Verbandsmitglieder im Falle unverschuldeter Arbeitslosigkeit, über Einführung von Arbeitsämtern, die Sonntagsruhe der Post- und Eisenbahnbeamten, städtische soziale Kommissionen, Zentralisation des Arbeitsnachweises, Unterhaltungsabende und Aenderung der Unfallgesetzgebung angehört werden konnten.
Man beschloß, durch freiwillige Beiträge einen Fonds zur Unterstützung bei Arbeitslosigkeit zu gründen. Hinsichtlich der Arbeitsämter forderte man Instanzen zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern mit folgendem Zusatz: »Insbesondere erkennen wir zur Verhütung von Streiks als notwendig an einerseits die getrennten Berufsorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch gesetzliche Anerkennung zu fördern, andererseits schon jetzt einegemeinsame Organisation von Arbeitgebern und Arbeitnehmernin's Auge zu fassen und durch gesetzliche Bestimmungen Garantie dafür zu schaffen, 1., daß beide Teile stets in engster Fühlung bleiben und 2., daß bei ausbrechenden Streitigkeiten Instanzen vorhanden sind, die das Vertrauen beider Teile genießen und zu Ausgleichsversuchen nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind.
Hinsichtlich des Arbeitsnachweises wurde eine ausführliche Resolution angenommen, in der die Schaffung eines zusammenhängenden Netzes von Nachweisstellen gefordert wird; diese sollen unter gemeinsamer Verwaltung von Arbeitgebern und Arbeitern stehen und sich in Lohnstreitigkeiten nicht einmischen, deshalb auch in solchen Fällen ihre Thätigkeit nicht einstellen. In betreff der sozialen Kommissionen wurde der Beschluß des vorigen Delegiertentages in mehrfachen Punkten ergänzt. Der vonNaumanngeäußerten Ansicht, man solle nicht neben den bestehenden sozialistischen Gewerkschaften besondere christliche gründen, sondern durch Eintritt der religiös und vaterländisch gesinnten Arbeiter in jene Einfluß zu gewinnen suchen, tratWeberentgegen und vertrat den Standpunkt, daß grundsätzlich ein Zusammenarbeiten mit der Sozialdemokratie zu verwerfen sei.
Daß auf dem Delegiertentage die Bochumer Richtung in der Minderheit war, ist schon daraus zu ersehen, daß die Wahl des RedakteursQuandelinden Ausschuß abgelehnt wurde;Frankenwar nicht einmal vorgeschlagen. In der nächstenAusschußsitzung, die am 28. Juni 1897 inKasselstattfand, wurde sogar auf AntragWeber's beschlossen: „Der Ausschuß erklärt, daß er jedem Versuche, die Rechtsbeständigkeit und Verbindlichkeit desevangelisch-sozialen Programmesder evangelischen Arbeitervereine (Berlin 1893) für die Mitglieder des Gesamtverbandes anzutasten, auf das allerentschiedenste entgegentreten wird und daß er diejenigen Verbände und Vereine, welche sich von diesem Programm lossagen sollten, nicht mehr als Glieder des Gesamtverbandes anerkennen kann.“ Dieser Beschluß wandte sich insofern gegen die Bochumer Richtung, weil aus deren Kreisen mehrfach das Berliner Programm und insbesondere die in demselben geforderte „Umgestaltung der Verhältnisse“ angegriffen und dessen Revision gefordert war.
Daß die Bochumer Richtung übrigens nicht einmal innerhalb des rheinisch-westfälischen Provinzialverbandes die Mehrheit hatte, zeigte sich auf dessenVerbandstage in Essenam 6. Februar 1898, indem hier bei der Neuwahl der bisherige VorsitzendeFrankenund sein GegenkanditatNiemeyerje 68 Stimmen erhielt. NachdemFranken, zu dessen Gunsten das Los entschieden hatte, trotzdem zurückgetreten war, wurdeNiemeyergewählt. AuchQuandellehnte die auf ihn gefallene Wahl ab.
Trotzdem setzten die Kreisverbände Bochum und Gelsenkirchen, die zusammen 27 Vereine umfassen, ihre Agitation fort und beschlossen auf einer Zusammenkunft inBochumam 20. Februar 1898 das sog.Ultimatum, in welchem sie erklärten, fernerhin nur dann noch dem Verbande angehören zu können, wenn:
Punkt 3 bezieht sich darauf, daß gegen Fischer der Vorwurf erhoben war, daß er sich mehrfach in seiner Stellung als Verbandsagent in die Parteistreitigkeiten im Verbande eingemischt habe.
Um zu diesen Ultimatum Stellung zu nehmen, wurde am 9. März 1898 inWitteneine Ausschußsitzung des Provinzialverbandes abgehalten, in der man den aufgestellten Forderungen weit entgegen kam. Zu 1) wurde mit allen gegen 4 Stimmen (aus Bochum und Gelsenkirchen) erklärt, daß die letztenWahlen nicht im Gegensatze zu Bochum und Gelsenkirchen gethätigt seien und man bereit sei, den genannten Kreisverbänden bei künftigen Wahlen entgegenzukommen sowie dahin zu wirken, daß sie im Ausschusse des Gesamtverbandes vertreten seien. Der Antrag,Webermöge zu Gunsten eines Vertreters aus Bochum zurücktreten, wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Zu 2) wurde den Vertretern aus Bochum und Gelsenkirchen anheimgestellt, entsprechende Anträge auf Aenderung des evangelisch-sozialen Programmes einzubringen und dabei erklärt, daß dasselbe überhaupt niemals als bindende Norm für die gesamte Thätigkeit der Vereine, sondern nur als Grundlinie und Grenzlinie für soziale Verträge und Diskussionen aufgefaßt sei. Zu 3) wurde dem AgentenFischerzugesichert, daß er nach wie vor ungehemmt und unbeschränkt nach seiner freien Ueberzeugung im Verbande thätig sein dürfe, auch betont, daß ihm dies niemals bestritten sei. Nach der Beschlußfassung zu 2) hatten 4 Mitglieder aus Bochum und Gelsenkirchen die Sitzung verlassen, während 4 andere geblieben waren.
Da die Bochumer sich hiermit nicht für befriedigt erklärten, so fand am 1. April 1898 in Bochum nochmals eine Ausschußsitzung statt in der es nach scharfen Auseinandersetzungen und nachdem innerhalb der Opposition selbst verschiedentlich die Gefahr einer Spaltung betont war, gelang, eine Einigung dahin zustande zu bringen, daß, nachdemQuandelerklärt hatte, daß er das soziale Programm durchaus anerkenne, der Verbandsvorstand seinerseits die Gegenerklärung abgab, die Bochumer Richtung als voll und ganz berechtigt anzuerkennen. An die Stelle vonFischer, der auf sein Amt als erster Schriftführer freiwillig verzichtete, wurde Quandel gewählt.
Nachdem so die Einigung herbeigeführt war, erhielt sie auf dem am 12./13. April 1898 inKasselabgehaltenenDelegiertentagedes Gesamtverbandes noch dadurch, daß manFrankenin den Verbandsausschuß wählte, ihre Bestätigung. Andererseits wurdeWeberjetzt endlich zum ersten Vorsitzenden gewählt und erhielt außerdem noch dadurch eine Stärkung seiner Stellung, daß auchStöckerals Vertreter des in Berlin neu gegründeten evangelischen Arbeitervereins in den Ausschuß aufgenommen wurde. In den Verhandlungen trat freilich der Gegensatz der Anschauungen noch mehrfach hervor, insbesondere bei den Erörterungen der Stellung des „evangelischen Arbeiterboten“, gegen dessen Leitung vonNaumannein Vorwurf daraus hergeleitet wurde, daß er bei der Reichstagswahl für den nationalliberalen Kandidaten in Bochum eingetreten war.Naumannbetonte dabei, die evangelischen Arbeitervereine trenne von den Ultramontanen ihre evangelische, von den Sozialdemokraten ihre nationale, von den Nationalliberalen ihre soziale Gesinnung. Nach erregten Auseinandersetzungen würde ein VermittelungsantragWeberangenommen, daß die Vereine für keine bestimmte Parteirichtung eintreten, aber von ihren Mitglieder voraussetzen, daßsie als evangelische, patriotische und soziale Männer sich an den Wahlen beteiligen. Der Antrag, daß der Verbandstag künftig wieder in Verbindung mit dem evangelisch-sozialen Kongreß stattfinden sollen, wurde gegen den WiderspruchQuandel's angenommen.
Die übrigen Verhandlungen betrafen 1. die Wohnungsfrage, 2. Koalitionsfreiheit und Berufsvereine, 3. die Bekämpfung des Alkoholismus, 4. die Einberufung eines nationalen Schutzkongresses und, 5. die Ausdehnung der Wanderunterstützung. Die hinsichtlich des zweiten Punktes angenommene Resolution lautet: »Der Gesamtverband evangelischer Arbeitervereine hält es im Interesse des sozialen Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und Kultur- und Machtstellung unseres Verbandes für dringend geboten, daß 1. in Ausführung der kaiserlichen Februarerlasse endlich gesetzliche Bestimmungen über die Formen getroffen werden, in denen die Arbeiter durch Vertreter, die ihr Vertrauen besitzen, zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlungen mit den Arbeitgebern befähigt werden, und 2, daß auch dementsprechend die Arbeiter in der Ausübung ihres Koalitionsrechtes geschützt werden, indem a) den Berufsvereinen unter der Voraussetzung der staatlichen Einführunggemeinsamer Organisationender Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Rechtsfähigkeit nicht länger vorenthalten bleibt, und b) die Vertretung ihrer wirtschaftlichen Interessen nicht durch Anwendung des politischen Vereinsgesetzes erschwert wird. Denn solange berechtigte Forderungen der Arbeiter unerfüllt bleiben, ist an eine erfolgreiche Bekämpfung der Sozialdemokratie nicht zu denken. Der Zusatz bezüglich der gemeinsamen Organisation beruht auf einem von dem PastorRahlenbeckgestellter Antrage.
Schließlich wurde noch ein Protest gegen die von Freiherrn v.Stummim Reichstage gegen die evangelischen Arbeitervereine erhobenen Angriffe einstimmig angenommen. Der vonNaumanngestellte Antrag, den Jahresbeitrag zur Verbandskasse auf den Kopf der Mitglieder von 3 auf 10 Pf. zu erhöhen, wurde späterer Beschlußfassung vorbehalten. Es ist bemerkenswert, daß sowohl der Oberpräsident wie der Regierungspräsident und der Konsistorialpräsident dem Verbandstage beiwohnten.
Auch die Verhandlungen der am 19./20. September 1898 inWittenbergabgehaltenenAusschußsitzungverliefen in demselben Geiste. Auf AntragWeber's wurde folgender Beschluß gefaßt:
»Der Ausschuß sieht die in der Aeußerung seiner Majestät des Kaisers vom 6. Oktober 1889 betonte Notwendigkeit, „den Arbeitern die Ueberzeugung zu verschaffen, daß sie ein gleichberechtigter Stand sind und als solcher allseitig anerkannt werden,“ noch nicht als erfüllt an. Eine weitere Fortführung der sozialen Reform ist eine unabweisbare Notwendigkeit. Insbesondere hat diese Fortführung der Sozialreform sich zu erstrecken auf die Schaffunggesetzlicher Bestimmungen, welche eine wirksame Vertretung der Standesinteressen der Arbeiter durch Arbeiterausschüsse und Arbeiterkammern ermöglichen, auf die Begründung gemeinsamer Organisationen der Arbeitgeber und Arbeiter, auf die obligatorische Einführung von Einigungsämtern und Schiedsgerichten mit Urteilsprechung und eventuell mit exekutorischer Gewalt, auf ein arbeitsstatistisches Amt, auf strengere Beaufsichtigung der Hausindustrie, auf angemessene Kürzung der Arbeitszeit, soweit sie im Interesse der Gesundheit und des Familienlebens notwendig erscheint, auf weitere Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit und auf geregelte Durchführung der Sonntags- und Nachtruhe für die Arbeiter.
Hinsichtlich des nationalen Arbeiterschutzkongresses wurde beschlossen, sich an demselben, falls er zustande kommen sollte, zu beteiligen. Die Forderung eines Reichswohnungsgesetzes und wegen Einrichtung sozialer Kommissionen wurde wiederholt und daneben die Gründung von Baugenossenschaften empfohlen. Die Schaffung eines arbeitsstatistischen Reichsamtes und die Verbesserung der Invaliditätsversicherung im Sinne einer Herabsetzung der Altersrente und der Rentenzahlung bei teilweiser Invalidität soll angestrebt werden. Die Zentralisation des Arbeitsnachweises ist festzuhalten, doch soll er weder in den Händen der Arbeiter noch in denen der Arbeitgeber liegen, sondern unter gemeinsamer oder neutraler Leitung stehen.
Die am 23./24. Mai 1899 in Kiel abgehaltene Delegiertenversammlung bot noch einige Nachklänge der vorangegangenen Streitigkeiten, insbesondere erhobNaumannvon neuem Angriffe gegen die Haltung des „Evangelischen Arbeiterboten,“ die durch die offizielle Erklärung ihre Erledigung fanden, daß das Blatt nicht Organ des Gesamtverbandes, sondern nur dessen Anzeigenblatt sei. Daraufhin hat der badische und württembergische Verband die frühere Verpflichtung seiner Vereine, den „Arbeiterboten“ zu halten, aufgehoben mit der ausdrücklichen Begründung, daß man mit dessen sozialpolitischer Haltung nicht einverstanden sei. Auf den AntragNaumannswurde übrigens in Kiel beschlossen zu erklären, „daß die evangelischen Arbeitervereine nicht bloß religiösen, sondern ebenso sozialen Karakter haben.“ Bei der Stellungnahme zu der „Zuchthausvorlage“ trat der Gegensatz der Auffassungen scharf hervor, doch blieb der vonFrankenvertretene, dem Gesetze günstige Standpunkt in der Minderheit, und es wurde beschlossen, daß freilich der Terrorismus, möge er von Arbeitern oder von Arbeitgebern ausgehen, zu mißbilligen sei, daß aber „die bestehenden Gesetze eine vollständig genügende Abhülfe böten und in ihrer Verschärfung eine bedenkliche Bedrohung der freiheitlichen Rechte der Arbeiter und eine Gefahr für unser Volksleben zu erblicken“ sei. Hinsichtlich der Errichtung von Arbeiterkammern begrüßte die Versammlung die von dem AbgeordnetenHitzeund v.Hehlim Reichstage eingebrachten Anträge „alseinen ernsten Versuch, die Frage einer gemeinsamen, der Verständigung dienenden und nach Berufen gegliederten Organisation der Arbeiter und Arbeitgeber der Lösung näher zu bringen.“ Die übrigen Gegenstände der Tagesordnung betrafen die alttestamentlichen Propheten, die katholischen Männerorden und das Krankenkassenwesen; in letzterer Beziehung wünschte man Aufhebung der freien Hülfskassen und Verallgemeinerung der Ortskrankenkassen unter fest angestellten beeidigten Beamten. —
Die Grundlage der evangelischen Arbeitervereine ist eine dreifache und wird dies bleiben müssen, nämlich 1. die religiöse, 2. die vaterländische, 3. die soziale. Damit ist gegeben, daß eine einseitige Betonung einer dieser Punkte dem Karakter der Vereine widerspricht, und dies gilt auch hinsichtlich der sozialen Stellung. Die Vereine zu reinen Arbeiterinteressenvertretungen umzugestalten, würde ihrem Wesen widersprechen, womit völlig vereinbar ist, daß sie das Menschenmaterial liefern, um Vereinigungen rein sozialer Art ins Leben zu rufen. Auch der Umstand, daß in den Vereinen sehr verschiedene Elemente gemischt sind, daß ihnen insbesondere auch kleinere und größere Arbeitgeber angehören, kommt hierbei in Betracht. Zweifellos ist dies eine Schwäche der Vereine, aber sie bieten dafür den Vorteil eines gewissen Ausgleiches und gegenseitiger Annäherung. Man kann sie in sozialer Beziehung als eine Schule bezeichnen, und das trifft zugleich insofern zu, als die Mitglieder sich ganz überwiegend noch auf der Stufe von Lernenden und Geleiteten befinden. Nicht allein bilden die treibende Kraft regelmäßig die Geistlichen, sondern auch die Anregungen sind stets von oben gekommen, nicht aber aus den eigenen Reihen der Mitglieder hervorgegangen. Die Ausschußsitzungen und Verbandstage sind die Gelegenheiten, wo von den leitenden Personen die in ihnen entsprungenen oder im Austausch mit anderen Kreisen gewonnenen Ideen den übrigen Teilnehmern als Anregungen geboten werden, um sie ihrerseits wieder in den einzelnen Vereinen weiterzugeben. Der Gang ist von oben noch unten, nicht umgekehrt. Die Vereinsmitglieder pflegen sogar solchen Anregungen gegenüber nicht einmal sonderlich empfänglich zu sein, wie sich darin zeigt, daß Versammlungen, die lediglich geselligen oder patriotischen Zwecken dienen, viel lebhafter besucht sind, als solche, in denen Vorträge und Diskussionen stattfinden.