Chapter 31

Die Arbeiter glaubten aber daneben noch eine eigene Organisation nötig zu haben, und so wurde schon am 5. Juni 1887 die Gründung eines allgemeinen Uhrenarbeiterverbandes ins Auge gefaßt, der aber im Rahmen derfédération horlogèresich halten sollte. In einer ferneren Versammlung in Biel am 5. Februar 1888, in der 4200 Arbeiter durch 60 Abgeordnete vertreten waren, wurde die Gründung endgültig vollzogen. Er wurde bezeichnet alsfédération horlogère ouvrièreim Gegensatz zu der allgemeinenfédération horlogère, der man zum Unterschiede den Zusatzmixtegab, und der schon nach dem ersten Jahre ihres Bestehens 12000 Mitglieder angehörten.

Aber beide Verbände hatten keine lange Dauer. Nicht allein hatten sich, abweichend von dem Stickereiverbande, nur eine Minderzahl der Arbeitgeber beteiligt, sondern es gelang auch nicht, die gegenseitigen Verdächtigungen und Reibereien zu beseitigen; um so weniger konnte man daran denken, den Grundsatz des „Verbandsverkehrs“ einzuführen. Bald trennte sich der Arbeiterverband von derfédération mixte, konnte dann aber, losgelöst von ihr, sich nicht halten. Andererseits hatte dadurch auch diefédération mixteihr Rückgrat verloren und mußte bald ihre Thätigkeit einstellen. Man versuchte dann in verschiedenen Orten das Verhältnis von Arbeitern und Arbeitgebern durch besondere „Konventionen“ zu regeln oder wenigstens einen allgemeinen Lohntarif einzuführen, aber auch solche Vereinbarungen waren regelmäßig nur von kurzer Dauer.

Angeregt durch einen im März 1892 in Grenchen ausgebrochenen großen Streik, an dem die 22 bedeutendsten Uhrenfabriken beteiligt waren, gelang esdann auf einem am 16. Oktober 1892 in St. Immer abgehaltenen Kongresse, einen neuen Uhrenarbeiterverband, diefédération ouvrière horlogère, zustande zu bringen, die 1895 4500 Mitglieder zählte und seitdem die Arbeiterinteressen mit Erfolg vertritt.

Die sozialen Verhältnisse der Ziegler im Fürstentum Lippe-Detmold sind im hohen Grade eigenartig und interessant, und da sie, soweit mir bekannt, bisher noch keine litterarische Bearbeitung gefunden haben, auf die ich verweisen könnte, so ist es nicht zu vermeiden, soviel über dieselben hier mitzuteilen, wie zum Verständnisse der Thätigkeit des im Jahre 1895 gegründeten Gewerkvereins erforderlich ist.

Von den in der deutschen Gewerbestatistik aufgeführten 266519 Zieglern wohnen etwa 14000 in Lippe; sie bilden fast die Hälfte der aus 130000 Köpfen bestehenden Einwohnerschaft. Von den 14000 arbeiten etwa 12500 bei den etwa 1300 lippe'schen Meistern; bei ihnen bestehen deshalb die hier näher zu schildernden Verhältnisse:

Die sozialdemokratische Agitation hat unter den Lippe'schen Zieglern bisher aller Mühe ungeachtet kaum irgend welchen Boden gefunden. Die wenigen, die man gewonnen hat, sind dem „Allgemeinen Verein der Töpfer Deutschlands“ angeschlossen, dessen Mitgliederzahl sich ausweislich der Statistik der Generalkommission für 1898 auf 4891 beläuft; doch ist dieser Anschluß ein Notbehelf, der in den gewerblichen Verhältnissen keinen Anhalt findet.

Der Grund für diese Erfolglosigkeit der sozialdemokratischen Agitation liegt nun keineswegs darin, daß etwa die Lage der Ziegler in dem Maße befriedigend wäre, um keine Wünsche nach Aenderung aufkommen zu lassen; im Gegenteil, ihr Beruf fordert Opfer an Lebensgenuß, wie kaum ein anderer. Mitte März, ja bei günstigem Wetter schon im Februar, ziehen die Zieglerscharen hinaus in das Land, um erst frühestens Mitte Oktober zu ihren Familien zurückzukehren. Die Zeit des Steinformens währt vom 15. März bis 14. Oktober; das Brennen der Ware, bei dem etwa 25 % der Arbeiter beschäftigt werden, dauert dann noch je nach dem Betriebe bis Mitte November oderselbst bis Mitte Dezember. Der Verdienst während der „Campagne“ beläuft sich von 200 Mk. für den Abtragejungen bis auf 700 Mk., im Durchschnitt auf etwa 440 Mk. Die Frau bewirtschaftet während der Zeit das Land, das jeder Ziegler zu Eigentum oder pachtweise besitzt, und zwar in der Weise, daß das Beackern durch einen Bauern geschieht, in dessen Wirtschaft die Frau dafür einige Tage als Tagelöhnerin arbeitet. Das ist ein schon seit Generationen bestehendes festes Verhältnis; jede Zieglerfamilie hat ihren „Ackersmann“. Für die Vererbung besteht ein besonderes altes Heimstättenrecht. Während des Winters betreiben die Ziegler vielfach ein Handwerk, andere arbeiten in den Forsten oder als Tagelöhner.

Die Arbeitszeit während der Campagne ist ungemein lang. In dem unterelbeschen Gebiete beträgt sie in 85 % der Ziegeleien 16 Stunden; in Westfalen gilt dies nur für etwa 50 %; nirgends ist sie unter 14 Stunden. Die Wohnungsverhältnisse sind geradezu unglaublich; oft müssen in den nur mangelhaft gegen Regen und Wind geschützten Schlafräumen vier Personen in demselben Bette schlafen.

Wenn trotz dieser Verhältnisse die Unzufriedenheit und deshalb die Versuche, durch eine Organisation auf Abhülfe hinzuwirken, bisher wenig Boden gefunden hatten, so erklärt sich dies in allererster Linie daraus, daß die Ziegler gerade hierin einen Schutz gegen Konkurrenz sehen; sie sprechen ganz offen aus, daß bei günstigeren Verhältnissen der Zudrang aus anderen Gewerben sie erdrücken würde, und ebenso sehen die Lipper hierin ein Mittel, den außerlippeschen Zieglern die Spitze zu bieten.

Unterstützt wird aber dieser Gesichtspunkt durch die eigenartigen gewerblichen Verhältnisse, wie sie gerade in Lippe üblich sind. DerZiegeleibesitzerliefert nichts, als die äußeren Vorbedingungen der Fabrikation, also insbesondere die Ziegelei, einschließlich des Logis für die Arbeiter, außerdem das Rohmaterial, Ofen, Gerätschaften u. s. w. Für den Betrieb wendet er sich an einenMeister, dem er für den betreffenden Sommer seine Ziegelei gegen die Verpflichtung übergiebt, ihm Steine zu einem festgesetzten Preise herzustellen. Der Meister seinerseits sucht sich dann die erforderliche AnzahlZieglerzu verschaffen. Das Verhältnis zwischen Meister und Arbeiter ist nun verschieden, je nachdem Maschinen- oder Handbetrieb stattfindet. Auf den Maschinenziegeleien ist der Meister selbständiger Unternehmer, der die von ihm angeworbenen Arbeiter gegen Lohn beschäftigt. Nach der älteren und heute noch durchaus herrschenden Einrichtung des Handbetriebes dagegen findet eine eigenartige Verbindung zwischen genossenschaftlichem und Lohnsystem statt. Der Meister sucht sich nämlich, nachdem er mit dem Besitzer abgeschlossen hat, die sog.Annehmer, d. h. die ersten, vorgebildeten Arbeiter, die an dem von ihm geschlossenen Akkorde in derWeise sich beteiligen, daß sie mit ihm gemeinsam das Risiko tragen und ihr Gewinn von dem Geschäftserfolge abhängig ist. Erst nachdem so der feste Stamm gebildet ist, werden von dem Meister die eigentlichenLohnarbeiterangeworben, die teilweise ebenfalls aus Lippe stammen, aber auch aus anderen Gegenden kommen und insbesondere den am Orte der Beschäftigung wohnenden Arbeitern entnommen sind. Die Zahl der „Annehmer“ ist in der Regel 1/8 der Gesamtzahl. Die Beköstigung in dem vom Besitzer zur Verfügung gestellten Logis besorgt der Meister für alle Arbeiter mit Ausnahme der am Orte wohnenden auf gemeinsame Rechnung, jedoch so, daß er dabei einen Vorteil hat, der sich meistens auf 2–5 % berechnet, häufig aber auch weit höher steigt. Dieses Verhältnis heißt die „Kommunie“. Obgleich dasselbe den Bestimmungen der Gewerbeordnung (§§ 115–119) zuwiderläuft, ist es doch fast allgemein in Uebung, und wo der Verdienst des Meisters nicht zu hoch ist, stehen sich sogar die Arbeiter gut dabei, da bei dem Großeinkauf geringere Preise gezahlt werden als beim Krämer. Der Beweis ergiebt sich daraus, daß der Beitrag zur Kommunie in der Regel für jeden Arbeiter während der Campagne nur etwa 150 Mk. beträgt.

Die Verteilung des von dem Besitzer an den Meister gezahlten Betrages erfolgt nun in folgender Weise: Zunächst werden abgezogen die Steuern, Versicherungsbeiträge u. s. w., dann erhalten die Lohnarbeiter ihre festgesetzten Löhne. Von dem Reste werden zuerst die sog. „Vorzüge“ bestritten, die für die verschiedenen Klassen: Ofensetzer, Umgänger, Brenner und Steinmacher in verschiedener Höhe berechnet werden. Dazu gehört auch der „Meistervorzug“; früher betrug derselbe für jeden Arbeiter 15 Mk., jetzt wird es üblich, statt dessen einen bestimmten Prozentsatz, z. B. 5 % von der Gesamtsumme des Verdienstes anzurechnen. Der nach allen diesen Abzügen verbleibende Rest wird zwischen dem Meister und den Annehmern gleichmäßig geteilt.

Das Verhältnis zwischen Meister und Arbeitern ist ein durchaus patriarchalisches. Die Ausgaben für die Kommunie werden allerdings in ein Kommuniebuch eingetragen, aber selten kontrolliert. Die Berechnung des Verdienstes besorgt der Meister allein, der den Arbeitern einfach mitteilt, wie viel sie zu erhalten haben. Auch Auszahlungen während der Campagne stehen in seinem diskretionären Ermessen; er gewährt sie nur soweit, als er es im Interesse des Arbeiters, insbesondere um ihn vor unnützen Ausgaben zu bewahren, für gut hält.

Im allgemeinen wird das weitgehende Vertrauen, welches die Ziegler dem Meister entgegenbringen, nicht getäuscht und ist das Verhältnis zwischen beiden ein gesundes. Allerdings haben sich eine Anzahl von Meistern zu eigentlichen Unternehmern im modernen Sinne entwickelt, aber diese Zahl ist gering. In der Regel hat jeder Meister alle Stufen des Gewerbes selbstdurchlaufen, und ebenso ist weder rechtlich noch thatsächlich dem Ziegler die Möglichkeit verschlossen, selbst Meister zu werden. Ueberall sind die Meister die tüchtigsten, intelligentesten und ordentlichsten Elemente unter der Zieglerschaft, sie haben deshalb eine starke moralische Autorität. Besteht auch zwischen Meistern und Zieglern ein gewisser Interessengegensatz, so besteht doch nirgends ein Klassengegensatz.

Außer den Meistern und Zieglern kommt nun aber noch eine dritte Klasse von Personen in Betracht: Das sind dieAgenten. Das lippesche Zieglergewerbe hat sich nach Aufhören der dortigen Handweberei in den 40er und 50er Jahren dieses Jahrhunderts sehr schnell entwickelt unter Beihülfe der Regierung. Zur Unterstützung des Gewerbes führte diese einen staatlichen Arbeitsnachweis ein mittels sog. „Zieglerboten“ oder „Agenten“. Dies waren staatliche Beamte, die von jedem Ziegler bei Vermittelung einer Stelle eine gesetzlich bestimmte Abgabe erhielten und dafür auch gewisse Garantien für Durchführung der Verträge leisteten. Diese Vermittelung war obligatorisch; ohne sie geschlossene Verträge waren ungültig. Sie bezog sich auch nicht allein auf das Verhältnis zwischen Meistern und Arbeitern, sondern ebenso auf die Vermittelung zwischen Meistern und Besitzern. Die unzulänglich geübte Regierungskontrolle führte zu einer völligen Abhängigkeit von den Agenten, und so wurde am 7. September 1869 das Ziegler-Gewerbegesetz aufgehoben. Thatsächlich vollzieht sich heute die Verhandlung zwischen Meistern und Arbeitern ohne Mitwirkung der Agenten; dagegen wenden die Besitzer sich nach wie vor bei Vergebung der Meisterstellen sowohl an die früheren vier staatlichen Agenten, wie an die ferneren, die sich auf Grund der Gewerbefreiheit besetzt haben, und so hat sich ein ausgedehnter ungesunder Stellenschacher entwickelt, indem die Agenten die einträglichen Meisterstellen einfach an die Meistbietenden abgeben. Durch Einführung der Krankenversicherung hat sich die Zahl der Agenten sehr vermehrt, indem häufig die Kassenführer der Krankenkassen ihre aus dieser Thätigkeit gewonnenen Kenntnisse benutzen, um ein einträgliches Agenturgeschäft zu betreiben. In einigen Gegenden, z. B. in den unterelbeschen Bezirken, hat man in neuester Zeit begonnen, sich von dem Agentenwesen zu befreien, und die Vermittelung durch persönliche Beziehungen oder durch die Zeitungen eingerichtet.

Hiernach erscheinen in den Verhältnissen des Zieglergewerbes insbesondere folgende Punkte besserungsbedürftig:

1. der Arbeitsnachweis durch die Agenten;

2. die Arbeitsdauer;

3. die Wohnungsverhältnisse;

4. das Verhältnis zwischen Meistern und Zieglern wird sich auf die Dauer in der jetzigen Form nicht haltbar erweisen, denn es führt überall da, wo die Meister nicht wohlmeinende und ehrliche Leute sind, zu einer unerhörten Uebervorteilung der blindlings in ihre Hände gegebenen Arbeiter, und zwar äußert sich dies in zwei Punkten:

a. hinsichtlich der Abrechnung, insbesondere betreffs des Meistervorzuges,

b. hinsichtlich der gemeinsamen Beschaffung der Lebensmittel. —

Unter den hier kurz skizzierten Umständen war es ein nahe liegender Gedanke, in ähnlicher Weise, wie bei den Bergarbeitern, auch bei den Zieglern einen auf christlich-sozialer Grundlage beruhenden Gewerkverein ins Leben zu rufen, zumal die Ziegler überwiegend religiös und kirchlich gesinnt sind, durchschnittlich auch in sittlicher Hinsicht auf einer hohen Stufe stehen. Das Verdienst, die Sache in die Hand genommen zu haben, gebührt dem PastorZeißin Schwalenberg, der unter Beihülfe des Pfarrers lic.Weberin Mönchen-Gladbach zunächst durch die lippeschen Lokalblätter den Plan verbreiten ließ und nach längeren Vorbereitungen zum 11. Dezember 1895 nach Lage eine allgemeine Zieglerversammlung einberief, an der sich etwa 300 Ziegler und Meister aus allen Teilen des Landes beteiligten. Hier wurde einstimmig die Bildung eines „Gewerkvereins der Ziegler in Lippe“ beschlossen.

Karakteristisch ist, daß die zur Vornahme der weiteren Schritte, insbesondere Beratung der Statuten, gewählte Kommission aus zwei Agenten, zwei Meistern und einem Ziegler gebildet wurde. Die Agenten haben sich zunächst dem Unternehmen freundlich gegenübergestellt, aber doch bald herausgefühlt, daß sie bei demselben eine innerlich unmögliche Stellung einnehmen, wie ebenso auch die Meister und Ziegler sich ihres Gegensatzes gegen die Agenten, der später einmal zu einer Beseitigung derselben führen muß, bewußt wurden, so daß man sie in den weiteren Entwickelungsstadien fallen ließ.

Am 9. Januar 1896 fand dann im Anschlusse an eine von etwa 500 Personen besuchte allgemeine Zieglerversammlung dieerste Generalversammlungdes neu begründeten Gewerkvereins statt, in der die Statuten endgültig festgesetzt und die Vorstandswahlen vollzogen wurden. Mitglied des Vereins kann jeder Ziegler werden, der treu zu Kaiser und Reich steht, sich als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze bekennt und verspricht, den Verpflichtungen des Vereins nachzukommen.

Der Zweck des Gewerkvereins ist im allgemeinen die Hebung der wirtschaftlichen Lage des Zieglerstandes und Beseitigung der sozialen Schäden im Zieglergewerbe auf christlich-patriotischer und gesetzlicher Grundlage. Insbesondere erstrebt der Verein:

a) Sicherung eines Verdienstes, welcher dem Werte der geleisteten Arbeit und der durch diese Arbeit bedingten Lebenshaltung entspricht.

b) Regelung der täglichen Arbeitszeit, soweit dies zum Schutze für Leben, Gesundheit und geistiges Wohl der Arbeiter notwendig ist.

c) Vermehrung und Verbesserung der Gewerbeinspektion und der anderen Kontrollorgane zur Ueberwachung der zum Schutze der Arbeiter über Sonntagsruhe, Wohn- und Schlafräume, Trinkwasser u. s. w. erlassenen Gesetzesbestimmungen.

d) Erlaß weiterer gesetzlicher Bestimmungen, die zum Gedeihen des Zieglergewerbes notwendig sind.

e) Verbot und Regelung der Frauen- und Kinderarbeit auf Ziegeleien.

f) Erhaltung eines guten Verhältnisses zwischen Meistern und Zieglern.

g) Errichtung einer Auskunftsstelle für rechtliche, verwaltungsrechtliche und fachmännische Fragen.

h) Errichtung eines gewerblichen Schiedsgerichtes für Ziegler in Lippe.

i) Unterstützung der Mitglieder bei unverschuldetem Lohnverluste und in außerordentlichen Notfällen.

Die Mittel zur Erreichung dieser Zwecke sind:

Gemeinsame Beratung über die Interessen des Zieglergewerbes und Veranstaltung von Vorträgen darüber in den Generalversammlungen und den Bezirksvereinen; Vertretung der Interessen des Zieglergewerbes bei der Regierung, bei anderen Behörden, bei den Parlamenten und in der Presse; Einreichung von Petitionen an maßgebenden Stellen, Vertretung und Durchführung gerechter Beschwerden von Zieglern, sowohl gegenüber den Ziegeleiverwaltungen als in anderen Fällen: Erforschung und Feststellung von gesetzwidrigen Mißständen auf Ziegeleien. Vermittelung zwischen Meistern und Zieglern bei Streitfällen; unentgeltliche Erteilung von Rat und Auskunft in rechtlichen, verwaltungsrechtlichen und fachmännischen Fragen; Errichtung einer Unterstützungskasse, aus welcher Mitglieder, die nachweislich ohne eigenes Verschulden, z. B. bei Konkursfällen, um einen Teil ihres Verdienstes gekommen sind, oder sich in außergewöhnlicher Notlage befinden, nach Maßgabe der vorhandenen Mittel entschädigt werden.

Der Mitgliedsbeitrag ist für die Ziegler auf monatlich 10 Pfg. festgestellt, für Meister ist dies der Mindestsatz, dessen Erhöhung ihnen selbst überlassen bleibt.

Der Vorstand besteht aus sechs Meistern und sechs Zieglern. Vorsitzender ist ZiegelmeisterAugust Meierin Sülterheide bei Lage. Im Sommer besorgt die Geschäfte ein fünfgliedriger Geschäftsausschuß, dessen Vorsitzender der GeschäftsführerEllerkampin Lage ist.

Das Vereinsorgan ist die „Lippesche Zieglerzeitung“. Daneben wird aber zu Bekanntmachungen auch noch die „Lippesche Landeszeitung“ benutzt. Während der Campagne erscheint außerdem noch das „Ziegler Sonntagsblatt“.

Bei der außerordentlichen Generalversammlung in Schöttmar am 10. März 1896 zählte der Verein 2500 Mitglieder in 35 Bezirksvereinen. Die dort beschlossene Auskunftsstelle (Rechtsbureau) ist am 15. April 1896 in Wirksamkeit getreten, hat sich mit einem Rechtsanwalt in Detmold in Verbindung gesetzt und ist bisher zur Erteilung von Rat in allerlei Angelegenheiten mehrfach in Anspruch genommen.

Auf der am 18. Februar 1897 in Lemgo abgehaltenenzweiten ordentlichen Generalversammlungwurde mitgeteilt, daß dem Vereine zur Zeit etwa 3500 Mitglieder in 63 Bezirksvereinen angehörten. In den Verhandlungen wurden mehrfache Erfolge der bisherigen Organisation im unterelbeschen Gebiete, insbesondere eine Erhöhung des Preises für 1000 Steine um 1 Mk. und Herabsetzung der Arbeitsdauer, hervorgehoben. Als Mißstand, dessen Bekämpfung in erster Linie angestrebt werden müsse, wurde allseitig anerkannt das Unterbieten bei Bewerbungen um die Meisterstellen. Hier liegt in der That ein Interessengegensatz zwischen den Meistern und denjenigen Zieglern, die beabsichtigen, selbst Meister zu werden, indem sie mit dem bisherigen Inhaber der Stelle in Konkurrenz treten.

Bei den Verhandlungen über die Arbeitsdauer zeigte sich der Einfluß der bereits bezeichneten Eigenart der Lippeschen Verhältnisse; man wehrte sich energisch gegen eine zu starke Herabsetzung und einigte sich, nachdem ein Antrag wegen Ermäßigung auf 13 Stunden gegen 12 Stimmen abgelehnt war, schließlich auf 14 Stunden. Ebenso wünschte man die Beschäftigung der jugendlichen Arbeiter über das jetzt zulässige Maß von 11 Stunden auszudehnen, während man für das Verbot der Wanderarbeit der Frauen in Ziegeleien eintrat. Die Angelegenheit der Kommunie führte zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen Meistern und Zieglern, indem die letzteren manche vorgekommenen Unregelmäßigkeiten rügten, während die ersteren sich darauf beriefen, daß der Meister ja zur Rechnungslegung verpflichtet sei. Endlich wurde die Abstellung der Mißstände auf dem Gebiete der Wohn- und Schlafräume, der Bettwäsche und des Trinkwassers gefordert und die Errichtung einer Zieglerschule gewünscht.

In den Statuten wurde die Einrichtung einer Unterstützungskasse gestrichen und beschlossen, daß jeder Bezirksverein einen eigenen Vorstand haben solle, was in Rücksicht auf das Vereinsgesetz insofern bedenklich ist, als der Verein dann ängstlich die Klippe der Beschäftigung mit politischen Angelegenheiten vermeiden muß. Um die Thätigkeit für den Verein erfolgreicher betreiben zu können,wurde ein Geschäftsführer mit einem Gehalte von 1000 Mk. angestellt, der kein Nebengeschäft betreiben darf.

An den Verhandlungen beteiligte sich auch der lippesche Kabinettsminister v.Oertzen, der den Verein des lebhaften Wohlwollens der Regierung versicherte.

Auch an der am 29. Januar 1898 in der „Zieglerbörse“ in Lage abgehaltenendritten ordentlichen Generalversammlungbeteiligten sich sowohl ein Vertreter des lippeschen Ministeriums als auch der Bürgermeister von Lage, die Gewerberäte der beteiligten Bezirke, mehrere Lippesche Landtagsabgeordnete und der ReichstagsabgeordneteHüpeden. Vertreten waren 48 Bezirksvereine durch 77 Stimmberechtigte, daneben etwa 200 Mitglieder. Aus dem Geschäftsberichte ist folgendes hervorzuheben:

Der Verein hat sich über das Fürstentum Lippe hinaus ausgedehnt und zählt außer 62 Bezirksvereinen in Lippe 6 solche in der Provinz Hessen, 1 in Westfalen, 1 in Hannover und 1 in Waldeck. Seit der vorigen Generalversammlung sind 15 Bezirksvereine neu gebildet, doch haben sich auch einige aufgelöst. In das Verzeichnis der Mitglieder sind jetzt nur die wirklich zahlenden aufgenommen, deren Zahl am 1. Januar 1898 2623 betrug. Der Vorstand, in dem Meister und Ziegler in gleicher Zahl vertreten sind, ist 1897 fünfmal zusammengetreten; der Geschäftsführer hat 34 Agitationsversammlungen abgehalten. Es wird betont, daß der von dem Vereine befolgte Grundsatz, daß das Ziegelgewerbe nur bei festem Zusammenhalten zwischen Meistern und Zieglern gedeihen könne, sich bewährt und als beste Schutzwehr gegen das Eindringen der Sozialdemokratie erwiesen habe, da die drei Jahre hindurch fortgesetzte Agitation der letzteren in Lippe völlig vergeblich gewesen sei. Allerdings sei ein solches Zusammenwirken nur möglich, wenn man neben aller Verhetzung und Aufwiegelung gegen den Meisterstand zugleich alle Ungerechtigkeiten und Ungesetzlichkeiten bekämpfe. Wenn einige Meister, die das scheuten, bittere Gegner des Vereins geworden seien, so müsse er das in dem Bewußtsein ertragen, daß alle verständigen Meister auf seiner Seite standen. Abgesehen von der grundsätzlichen Bekämpfung der Sozialdemokratie, schließe der Verein alle Parteipolitik aus. In seiner Thätigkeit hat der Verein erhebliche Erfolge aufzuweisen, insbesondere ist durch das im Jahre 1896 zwischen dem Gewerkverein und den Ziegeleibesitzern in Drochtersen abgeschlossene Uebereinkommen, das man auch für die Campagne 1897/98 aufrecht erhalten hat, im Gebiete der unteren Elbe, der Oste und Este die Verkürzung der Arbeitszeit um zwei Stunden unter gleichzeitiger Erhöhung der Akkordsätze um 18% erreicht und dadurch ein Mehrverdienst der Ziegler um etwa 125000 Mk. erzielt. Ein ähnliches Vorgehen ist auch in anderen Gebieten beabsichtigt.Großen Nutzen haben die Mitglieder von dem seitens des Vereins eingerichteten unentgeltlichen Rechtsschutze. In 160 Fällen ist der Rat des Vereinsanwaltes in Anspruch genommen, fünf Prozesse hat der Verein auf seine Kosten für die betreffenden Mitglieder geführt, da sie von grundsätzlicher Bedeutung waren. In 60 Fällen handelte es sich um Streitigkeiten zwischen Meistern und Zieglern; in den meisten ist durch Vermittelung des Vereins eine gütliche Verständigung erzielt. In 23 Fällen standen schlechte Wohnungsverhältnisse in Frage, insbesondere Klagen über Reinlichkeit, Bettwäsche, Trinkwasser und dgl. Der Verein hat sich bei solchen Klagen, ohne den Namen des Beschwerdeführers zu nennen, an die Behörden gewandt und Abhülfe geschafft. Auch an den Bundesrat und verschiedene Staatsbehörden hat der Verein Eingaben gerichtet, insbesondere wegen der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter und Frauen, wegen Beseitigung der vielfach die Ziegler infolge ihres Aufenthaltes an andern Orten betreffenden Doppelbesteuerung und wegen Verlegung der Landtags- und Gemeindewahlen in den Winter.

In der Versammlung kamen großenteils dieselben Gegenstände zur Verhandlung. Die Frage der Besteuerung wurde nach einem eingehenden Vortrage des Vereinsanwaltes und nachdem der anwesende Regierungsvertreter seine Unterstützung zugesagt hatte, einer Kommission überwiesen. Ueber die Mißstände im Zieglergewerbe wurde unter Zugrundelegung einer vom Vorstande durch Fragebogen veranstalteten Umfrage ein ausführlicher Bericht erstattet. Danach liegt der Schwerpunkt der vorhandenen Uebelstände in der Schmutzkonkurrenz bei der Bewerbung um die Meisterstellen, die dann sowohl überlange Arbeitszeit und Schädigung des Verdienstes als auch Streitigkeiten zwischen Meistern und Gesellen zur Folge hat, die selbst zu Arbeitsniederlegungen geführt haben. Es wurde beschlossen, jeden Fall unangemessener Bewerbung um Meisterstellen durch Unterbietungen mittels der Presse an die Oeffentlichkeit zu bringen und Mitglieder, die sich eines solchen Vergehens schuldig machen oder im Gebiete der Unterelbe, Oste oder Este länger als von 4–8 Uhr arbeiten lassen, neben öffentlicher Namensnennung aus dem Vereine auszuschließen. Uebrigens wurde bei den Verhandlungen auch über Kontraktbruch der Arbeiter geklagt und zu dessen Verhütung schriftliche Abfassung der Verträge empfohlen. Die Unzufriedenheit über die Wohnungsverhältnisse war allgemein und fand ihren Ausdruck in einem Beschlusse, den Erlaß eines Reichswohngesetzes, daneben aber eine einheitliche Polizeiverordnung über die Wohnungsangelegenheit im Zieglergewerbe zu beantragen; dabei soll insbesondere für alle Ziegeleien die Einrichtung eines Krankenzimmers gefordert werden.

Ein weiterer Gegenstand der Verhandlungen war dasVerhältnis zwischen Meistern und Zieglern, insbesondere dieKommunie. Während von einer Seite empfohlen wurde, im Interesse des Friedens sich mit dieser Frage gar nicht zu befassen, hielt die Mehrheit es umgekehrt für erforderlich, hier völlig offene Aussprache herbeizuführen. Als Uebelstände bei der bisherigen Einrichtung wurde hervorgehoben, daß die Meister ohne jede Beteiligung der Arbeiter das Kommuniebuch führten und die Einkäufe besorgten, auch die Abrechnungen erst unmittelbar vor Schluß der Campagne den Arbeitern vorlegten, so daß diesen eine Prüfung meistens nicht möglich sei. Es wurde beschlossen, dahin zu wirken, daß während der Campagne regelmäßig Abrechnungen über die Kommunie stattfinden und Kontobücher für jeden Ziegler über die von dem Meister bezogenen Gegenstände eingeführt werden, auch soll auf jeder Ziegelei die Abrechnung mit dem Meister durch eine von den Zieglern gewählte Kommission geprüft werden. Ein noch weiter gehender Antrag, daß der Einkauf der Lebensmittel nicht von den Meistern allein, sondern gemeinsam mit den Arbeitern besorgt oder daß Kantinen eingerichtet und der Behörde unterstellt werden sollten, wurde aus dem Grunde bekämpft, weil ein solches Verfahren die Autorität des Meisters untergraben und ihn gewissermaßen unter Kuratel stellen würde, auch die Kantinen durchaus zu verwerfen seien. Der Antrag wurde mit 56 gegen 32 Stimmen abgelehnt. Endlich wurde noch beschlossen, auf Beseitigung des Borgsystems bei den Kaufleuten hinzuwirken.

Der letzte Gegenstand der Tagesordnung war die Errichtung einesArbeits-und Stellennachweisesfür Meister und Ziegler. Man beschloß einerseits auf die reichsgesetzliche Regelung der Sache hinzuwirken, andererseits aber auch einen mit der Geschäftsstelle zu verbindenden, allen Mitgliedern gleichmäßig zugänglichen Stellen- und Arbeitsnachweis zu errichten, der in den verschiedenen Teilen des Landes Filialen zu unterhalten hat. Die lippesche Regierung soll um einen Beitrag zu den Kosten aus Landesmitteln und Uebernahme der obersten Kontrolle gebeten werden.

Schließlich verhandelte man über das Verhältnis des Vereins zu dem im letzten Jahr gegründeten „Deutschen Ziegelmeisterverbande“. Es wurde einstimmig folgender Antrag angenommen:

„Die Generalversammlung erklärt, daß ein bezirksweiser Zusammenschluß der Meister im Anschluß an den Gewerkverein nützlich und bisweilen notwendig sein kann, daß aber ein unabhängig vom Gewerkverein stehender Meisterverein schädlich sei und nur dazu diene, daß die Uneinigkeit zwischen Meistern und Zieglern vermehrt und die Agitation der Sozialdemokratie befördert werde; die Generalversammlung beschließt daher,daß niemand zugleich Mitglied des Gewerkvereins und des Meisterverbandes sein kann, falls nicht letzterer etwa als Glied sich dem Gewerkverein anschließen und dem Vorstand desselben unterordnen will.“

„Die Generalversammlung erklärt, daß ein bezirksweiser Zusammenschluß der Meister im Anschluß an den Gewerkverein nützlich und bisweilen notwendig sein kann, daß aber ein unabhängig vom Gewerkverein stehender Meisterverein schädlich sei und nur dazu diene, daß die Uneinigkeit zwischen Meistern und Zieglern vermehrt und die Agitation der Sozialdemokratie befördert werde; die Generalversammlung beschließt daher,daß niemand zugleich Mitglied des Gewerkvereins und des Meisterverbandes sein kann, falls nicht letzterer etwa als Glied sich dem Gewerkverein anschließen und dem Vorstand desselben unterordnen will.“

In der am 12. Januar 1899 in Detmold abgehaltenenvierten Generalversammlungwaren außer etwa 200 Mitgliedern 52 stimmberechtigte Vertreter von 36 Bezirksvereinen anwesend; die Zahl der letzteren ist auf 78, diejenige der Mitglieder auf 3112 gestiegen. Die Verhandlungsgegenstände waren im wesentlichen dieselben, wie in früheren Jahren. Der Verein hat nicht allein die Herabsetzung der Arbeitszeit Von 16 auf 14 Stunden aufrecht erhalten, sondern für die nächste Campagne sogar eine weitere Verminderung um ½ Stunde unter gleichzeitiger Erhöhung der Akkordpreise um 6% durchgesetzt. Für Rheinland ist, wie schon früher für Westfalen, die Befreiung von der doppelten Kirchensteuer erreicht. Der Verein besitzt eine Lesehalle und eine Vereinsbibliothek. Er ist zu den christlichen Gewerkschaften in ein näheres Verhältniß getreten und Mitglied der „Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen“ geworden. Sehr wirkungsvoll hat sich die Einrichtung des Rechtsschutzes erwiesen, insbesondere sind 41 Beschwerden an die Behörden wegen mangelhafter Wohnungseinrichtungen von Erfolg gewesen. Die Geschäftsstelle hat wiederholt mit Erfolg als Einigungsamt gewirkt. Die schon lange angestrebte Zieglerschule in Lemgo ist jetzt mit staatlichem Zuschuß ins Leben getreten, dagegen haben die von der lippeschen Regierung unterstützten Bestrebungen weiterer Ausdehnung des Arbeiterschutzes für jugendliche Arbeiter und Frauen, insbesondere der Ausschluß der letzteren von der Wanderarbeit, keinen Erfolg gehabt. Die Versammlung beschloß deshalb, daß die dem Vereine angehörenden Meister im Interesse der Sittlichkeit Wanderarbeiterinnen nicht beschäftigen dürfen. Wegen der „zahlreichen, ja fast allgemeinen“ Uebertretungen der Arbeiterschutzgesetze in Bezug auf Sonntagsruhe, Frauen- und Kinderarbeit seitens der vielen belgischen und holländischen Ziegler im Rheinland soll eine Eingabe an die Behörde gemacht werden. Besondere Kommissionen wurden eingesetzt 1. zur Beaufsichtigung der Befolgung der Arbeiterschutzgesetze, 2. für Zusammenschluß der Meister zur Erzielung günstiger Vertragsabschlüsse, 3. zur Bekämpfung unlauterer, das ganze Gewerbe schädigender Konkurrenz bei Bewerbung um Meisterstellen, wodurch am meisten der Lohn herabgedrückt wird. Eingehend wurde über den Arbeitsnachweis verhandelt. Die jetzige Vermittelung durch die Agenten hat zu großen Uebelständen Anlaß gegeben, unter denen Besitzer und Arbeiter zu leiden haben. Es würde deshalb bedauert, daß der von dem Vereine unternommene Versuch eines Zusammengehens mit der Organisation der Ziegeleibesitzer vorläufig gescheitert sei. Es würde eine Zentralstelle für Arbeitsnachweis in Lippe mit Filialen für andereGegenden eingerichtet. Der Verein besitzt jetzt zwei eigene Blätter, die „Lippesche Zieglerzeitung“ und „Gut Brand“.

Der Gewerkverein der Ziegler ist eine sehr interessante Erscheinung.

Die Schwierigkeit, deren Ueberwindung große Mühe kosten wird, liegt darin, daß, wie schon erwähnt, viele Ziegler die Abstellung der hervorgehobenen Uebelstände gar nicht wünschen, weil sie darin einen Schutz sehen. Insbesondere gilt dies von der Abkürzung der Arbeitszeit. Hinsichtlich deren mußte, um laut gewordene Bedenken zu beschwichtigen, in der ersten Generalversammlung ausdrücklich erklärt werden, daß man an eine Herabsetzung auf 12 oder gar 11 Stunden nicht denke; außerdem wurde der Ausdruck des Programmentwurfes „Verkürzung“ in „Regelung“ der Arbeitszeit umgeändert. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Ziegler in ihrer Mehrheit für eine gewerkschaftliche Bewegung noch nicht reif sind; die Frage, ob der neu gegründete Verein Bestand haben wird, ist deshalb wesentlich davon abhängig, ob es den leitenden Personen gelingen wird, einerseits auf diese Unreife die nötige Rücksicht zu nehmen und doch andrerseits auf eine allmähliche soziale Erziehung hinzuwirken.

Vielleicht ist der Verein in der nächsten Zeit vor eine schwere Kraftprobe gestellt hinsichtlich des bereits erwähnten Verhältnisses zu denZiegeleibesitzern. Diese haben sich 1897 in dem „Verband deutscher Thonindustrieller“ eine einheitliche Organisation für ganz Deutschland geschaffen. Getreu seinem Grundgedanken, ein gutes Verhältnis zu den Arbeitgebern aufrecht zu erhalten, hatte sich der Gewerkverein, als er den Plan eines Arbeitsnachweises in Angriff nahm, an den Verband mit der Aufforderung gewandt, Vertreter zu einer auf den 10. Dezember 1898 in Detmold angesetzten Besprechung zu entsenden, um nach dem Vorbilde des „Verbandes deutscher Arbeitsnachweise“ einen paritätischen Nachweis unter gleichmäßiger Beteiligung des Gewerkvereins und des Verbandes einzurichten. Aber obgleich der Vorstand des Verbandes hierauf insoweit einging, als er zu der vorgeschlagenen Besprechung zwei Vertreter entsandte, und obgleich es den Anschein hatte, als wenn eine grundsätzliche Verständigung erreicht sei, brachte das Organ des Verbandes, die „Thonindustriezeitung“, am 19. Dezember 1898 und 1. Januar 1899 zwei Artikel, in denen gegen den Gewerkverein die schwersten Beschuldigungen erhoben wurden, insbesondere daß er die christlich-patriotische Maske nur benutze, um seine in Wahrheit sozialdemokratischen Bestrebungen zu verdecken, die hauptsächlich darin hervorträten, daß der Verein nach seinen Statuten einen dem Werte der geleisteten Arbeit und der Lebenshaltung entsprechenden Lohn und eine der Gesundheit und dem geistigen Wohle der Ziegler angemessene Regelung der Arbeitszeit fordere, außerdem aber Erforschung und Feststellungvon gesetzwidrigen Mißständen auf Ziegeleien beabsichtige. Der Ziegeleibesitzer sei Herr in seinem Hause, und es sei ein trauriges Bestreben, die Arbeiter zu Denunziationen anzuregen. Eine Verminderung der Arbeitszeit sei ganz unmöglich, und wenn der Gewerkverein schon die Herabsetzung auf 14 Stunden durchgesetzt habe, so sei es die höchste Zeit, ihm energisch entgegenzutreten. Die Führer des Vereins seien systematisch bestrebt, den Arbeitern höhere Ansprüche an das Leben einzuimpfen und sie unzufrieden zu machen. Wenn die lippesche Regierung einen solchen Verein begünstige, so wisse sie gar nicht, daß sie damit Bestrebungen unterstütze, die darauf hinausliefen, die Mitglieder zu tüchtigen, zielbewußten Sozialdemokraten zu machen. Es schien angezeigt, diesen Angriff hier etwas genauer wiederzugeben, da er den Normaltypus bildet für alle ähnlichen, wie sie heute in den Kreisen eines engherzigen Unternehmertums gegen alle gewerkvereinliche Bestrebungen als solche erhoben werden, denn deren Grundgedanke ist nun einmal der, die Lebenshaltung der Arbeiterschaft zu erhöhen. Selbst die Sozialdemokratie, soweit sie nur dies thut, ist nicht Sozialdemokratie, sondern berechtigte Arbeiterbewegung. Wer solche Ziele bekämpft, bekämpft den Kulturfortschritt, wer es aber dadurch thut, daß er das Schlagwort „sozialdemokratisch“ hinwirft, versteht entweder nicht, was das Wort bedeutet, und sollte deshalb seinen Mund halten oder er will mit Bewußtsein die gegen die Sozialdemokratie im Volke bestehende Abneigung und Furcht als Hülfsmittel gegen eine Bewegung benutzen, die ihm von seinem egoistischen Standpunkte aus unangenehm ist, d. h. er betrügt.

Der Verband der Thonindustriellen hat übrigens den Feldzug gegen den Gewerkverein bereits begonnen, indem er die Parole ausgegeben hat, Meister, die „agitatorisch“ thätig gewesen sind, nicht zu beschäftigen, ja auf die Tagesordnung der nächsten Generalversammlung ist ausdrücklich gesetzt: „die Bekämpfung des Gewerkvereins“. Man nimmt in Lippe an, daß dieser Haß durch die „Agenten“ geschürt sei, deren Treiben durch den Verein lahm gelegt ist. Gesetzt, es gelänge, durch Gewaltmaßregeln den noch jungen Gewerkverein zu vernichten, so könnte ja die weitere Entwickelung nicht zweifelhaft sein: die Sozialdemokratie, die bisher keinen Boden hat fassen können, würde dann bald besseren Erfolg haben. Das hat ja freilich den Vorzug, klare Verhältnisse zu schaffen, und der Verband der Thonindustriellen wird dies wünschen, aber man soll dann wenigstens auch darüber keine Unklarheit lassen, wer es ist, der die Sozialdemokratie begünstigt. Uebrigens ist das Lippe'sche Ministerium mit Nachdruck für den Gewerkverein eingetreten und hat durch sein Eingreifen den Verband der Thonindustriellen schließlich zum Nachgeben bewogen; es ist begreiflich, daß diese sozialpolitische Haltung, die mit derjenigen der Preußischen Regierung im schärfsten Gegensatze steht, allgemeines Aufsehen erregt hat.

Die berühmte Stahlwarenindustrie in Solingen begann im 15. Jahrhundert als handwerksmäßiger Betrieb und hat diese Form bis zum Beginne des 17. Jahrhunderts beibehalten. Verfertiger und Verkäufer der Waren waren dieselben Personen. Die einzelnen, nach der Gattung der Waren abgeteilten Gruppen hatten sich zu Bruderschaften verbunden, die vererblich und gegeneinander streng abgeschlossen waren. Man war bestrebt, eine möglichste Gleichheit des Einkommens unter den Mitgliedern herbeizuführen. Diesen Zweck verfolgten Maßnahmen, die heute in anderem Zusammenhange wieder aufgenommen sind, wie Verbot der Nacht- und Sonntagsarbeit, Festsetzung der Höchstzahl der Lehrlinge und des Höchstbetrages der Produktion.

Seit dem 17. Jahrhundert entwickelt sich die Form der Hausindustrie, indem die Vermehrung der Produktion und deren Absatz nach außerhalb dazu führt, daß die Verfertigung der Waren und deren Vertrieb sich sondern. Einzelne Mitglieder der Bruderschaften beschäftigen sich überwiegend mit dem Handel, es bildet sich ein besonderer Kaufmannsstand, und der nicht handeltreibende Meister sinkt immer mehr auf die Stufe des Lohnarbeiters herab. Es ist karakteristisch, daß schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts die Lohnfrage die gleiche Rolle spielt, wie heute. Lohnkämpfe zwischen Handwerkern und Kaufleuten beherrschen das 18. Jahrhundert und geben Anlaß dazu, obrigkeitliche Lohnsatzungen aufzustellen, in denen für die verschiedenen Gruppen Mindestlöhne festgesetzt werden. Damit Hand in Hand geht der Kampf gegen das Drucksystem. Die 1809 eingeführteGewerbefreiheit führte zu einer Verschlechterung der Lage der Arbeiter, und erst die mit der Gewerbeordnung von 1869 gewährte Koalitionsbefugnis gab das Hilfsmittel, sich hiergegen zu schützen. Zuerst traten 1871 die Messerschleifer zu einem Verein zusammen, stellten Preisverzeichnisse für die einzelnen Arbeitsgattungen auf und zwangen die Fabrikanten zu ihrer Annahme. Als auch die Scherenschleifer in gleicher Weise vorgingen, bildete sich zur Abwehr 1875 der Scherenfabrikantenverein, der es nach mehrmonatlichen Lohnkämpfen durchsetzte, daß gemeinsam vom Fabrikanten- und Schleiferverein ein Preisverzeichnis mit Mindestpreisen vereinbart wurde. Eine Aenderung kann nur durch dreimonatliche Kündigung herbeigeführt werden. Sowohl im Falle der Kündigung, wie bei Streitigkeiten über den bestehenden Tarif beschließt eine von beiden Teilen gewählte Vergleichskammer. Dieses System ist nach und nach von den meisten der übrigen Gruppen (Scherenhärter und -feiler, Tafelmesserschleifer, Gabelschleifer, Rasiermesserschleifer, Taschen- und Federmesserschleifer u. s. w.) angenommen.

In den in neuerer Zeit entstandenen Industrien (Regenschirmgarnituren-, Bügeleisen-, Stiefeleisenfabrikation u. s. w.) herrscht der fabrikmäßige Betrieb, der auch in die Schwert-, Messer- und Scherenfabrikation, wenn auch langsam so doch mehr und mehr eindringt, obgleich die Schleifer ihm durch Ausstände entgegenzuwirken suchen.

Ein sehr großer Teil der Arbeiter in der Stahlwarenindustrie gehört den Fachvereinen an, die ihrerseits Vereinbarungen über die Löhne mit den Fabrikanten geschlossen haben. Für die Arbeiter beruht der Vorteil hierbei vor allem darin, daß ihnen Schutz gegen die bei den kleineren Fabrikanten übliche Lohndrückerei gewährt wird, während die Fabrikanten durch diese Vereinbarungen gegen Preisunterbietungen geschützt werden.

Die Statuten der für die einzelnen Gruppen bestehenden Vereine stimmen fast wörtlich überein; es genügt deshalb, aus je einem derselben die wichtigsten Bestimmungen wiederzugeben.

I.Statut des Feder- und Taschenmesser-Fabrikantenvereins.

„Zweck des Vereins ist, das Interesse der Fabrikation in jeder Beziehung zu wahren und zu fördern und Uebergriffen seitens der Arbeitervereinigungen gemeinsam entgegenzutreten.

Mitglied kann jeder im Kreise Solingen wohnende Feder- und Taschenmesserfabrikant werden, der die vorgeschriebenen Verpflichtungen eingeht. Jedes Mitglied hat ein Eintrittsgeld zu zahlen, welches innerhalb der Grenzen von 150–1500 Mk. durch Vereinsbeschluß festgesetzt wird. Dasselbe dient dem Verein als Sicherheit für Innehaltung der gefaßten Beschlüsse; werden diese von einemMitgliede übertreten, so kann die Generalversammlung über dessen Einlage verfügen.

Falls der Verein durch Uebergriffe seitens der Arbeitervereinigungen sich gezwungen sehen sollte, zur Sperrung einzelner Arbeiter oder zur vollständigen Arbeitseinstellung zu schreiten, so ist jedes Mitglied bei Verlust seiner Einlage verpflichtet, die getroffenen Bestimmungen innezuhalten. Mitglieder, welche gegen die Beschlüsse oder Interessen des Vereins handeln, können unter Verlust ihrer Einlagen aus dem Verein ausgeschlossen werden.“

II.Statut des Rasiermesserschleifervereins.

„Der Verein hat den Zweck, die gewerkschaftlichen und materiellen Interessen der Mitglieder zu wahren und zu fördern. Mitglied kann jeder werden, der selbständig als Rasiermesserschleifer thätig ist. Jedes Mitglied zahlt 1 Mk. Eintrittsgeld und 50 Pf. Monatsbeitrag. Die Kasse des Vereins dient dazu, die entstandenen Ausgaben zu decken, die materiellen Interessen der Mitglieder zu wahren und dieselben bei Streiks zu unterstützen.

Jedes Mitglied ist verpflichtet, genau nach den bestehenden Preisverzeichnisse zu arbeiten, sowie etwaige Nichtbefolgungen von Seiten eines Mitgliedes oder eines Fabrikanten dem Vorstande mitzuteilen, auch zum Zwecke der Revision die Lieferzettel vorzuzeigen.

Der Verein gewährt den Hinterbliebenen eines verstorbenen Mitgliedes ein Sterbegeld von 50 Mk.“

Eingehende Bestimmungen sind über das Halten von Gesellen und Lehrlingen getroffen. Jedes Mitglied darf nur einen Lehrling halten und nicht unter fünf Jahre Lehrzeit. Kein Meister darf mehr als zwei Personen beschäftigen, entweder zwei Gesellen oder einen Gesellen und einen Lehrling. Eigene Söhne gelten als Gesellen oder Lehrlinge, doch darf der Meister alle seine Söhne beschäftigen. Kein Mitglied darf einen Lehrling in Arbeit nehmen, der einem andern Meister rechtswidrig entlaufen ist.

III.Tarifvertrag zwischen dem Scherenfabrikantenverein und dem Scherenschleiferverein.

Der Vertrag ist am 13. Februar 1872 geschlossen und hat ein Preisverzeichnis aufgestellt, dessen Sätze als Mindestpreise gelten. Kein Arbeitgeber darf niedrigere Preise bezahlen, und kein Arbeitnehmer darf zu geringeren Sätzen arbeiten. Bei Uebertretungen nach beiden Richtungen sind die Betreffenden, wenn sie Vereinsmitglieder sind, von ihrem Vorstande zu warnen und im Wiederholungsfall auszuschließen. Der Schleiferverein ist verpflichtet, dafür zu sorgen, daß seine Mitglieder für einen Fabrikanten, — ohne Unterschied, ob derselbeVereinsmitglied ist oder nicht — der nicht die festgesetzten Preise bezahlt, nicht arbeiten, wohingegen der Fabrikantenverein die Verpflichtung hat, dafür zu sorgen, daß keins seiner Mitglieder einen solchen unter dem festgesetzten Preise arbeitenden Schleifer beschäftigt.

Der Tarif kann nur durch die schriftliche Kündigung eines der beiden Vereine, die drei Monate zuvor zu erfolgen hat, außer Kraft gesetzt werden. Zur Ueberwachung der pünktlichen Ausführung und zur Beseitigung hervortretender Uebelstände besteht eine Vergleichskammer aus vierzehn Mitgliedern, von denen jeder Verein die Hälfte zu wählen hat. Derselben müssen alle streitigen Fälle, sei es zwischen den beiden Vereinen oder einem Mitgliede des einen und einem Mitgliede des andern Vereins zur Entscheidung vorgelegt werden. Kein Verein ist berechtigt, gegen Angehörige des anderen Vereins irgend welche Schritte einzuleiten, ohne von der Vergleichskammer dazu ermächtigt zu sein. Diese letztere beschließt endgültig, wobei es ihr überlassen ist, zu bestimmen, ob vorher eine Beratung in den Vereinen stattfinden soll, die jedoch nur vorbereitenden Karakter hat. Die Vorstände der Vereine sind verpflichtet, die Beschlüsse der Vergleichskammer zur Ausführung zu bringen, Verwarnungen zu erlassen oder den Ausschluß der Mitglieder zu Veranlassen. Die Kammer kann jederzeit die Preisfrage in Beratung ziehen und die ihr notwendig scheinenden Abänderungen der Vereinsstatuten in Vorschlag bringen.

Durch Beschlüsse beider Vereine vom 12. Juli 1880 ist bestimmt, daß jedes Mitglied des Schleifervereins verpflichtet ist, nur bei solchen Fabrikanten zu arbeiten, die Mitglieder des Fabrikantenvereins sind, und jedes Mitglied des letzteren nur solche Schleifer zu beschäftigen hat, die Mitglieder des Schleifervereins sind.

Aus dem am 2. Januar 1888 zwischen demTafelmesserfabrikantenvereinund demTafelmesserschleifvereinabgeschlossenen Vertrage, der sich im übrigen mit dem oben erwähnten deckt, insbesondere auch die Bestimmung enthält, daß die Schleifer nur bei Mitgliedern des Fabrikantenvereins arbeiten und diese keine Schleifer beschäftigen dürfen, die unter den Verbandspreisen gearbeitet haben, ist auch hervorzuheben, daß die Wirksamkeit des Vertrages von der Bedingung des seitens der Schleifer zu erbringenden Nachweises abhängig gemacht war, daß alle außerhalb des Vereins stehenden Fabrikanten sich zur Bezahlung desselben Preises bereit erklärt hätten. Für die Einigungskammer ist die Bestimmung getroffen, daß bei Abstimmungen, bei denen sich die Mitglieder beider Vereine geschlossen gegenüberstehen, die Sache auf die nächste Sitzung vertagt, in dieser aber, wenn sich das Gleiche wiederholt das Los entscheiden soll.

Wie man sieht, hat die Solinger Stahlwarenindustrie Einrichtungen geschaffen, die mit der Tarifgemeinschaft der Buchdrucker und dem Stickereiverbandegroße Aehnlichkeit haben; insbesondere hat man den Grundsatz des ausschließlichen Verbandsverkehrs übernommen. Die mehrfach geäußerten Bedenken, daß die Arbeiter Preise durchsetzen würden, bei denen die Solinger Industrie nicht bestehen könne, haben bisher durch die Erfahrung keine Bestätigung gefunden. Aber allerdings treffen bei dieser Industrie verschiedene Umstände zusammen, die besonders günstig wirken. Zunächst handelt es sich ausschließlich um gelernte Arbeiter, die schwer durch andere zu ersetzen sind. Diese Arbeiter stehen als Hausindustrielle auf einer höheren Stufe, als gewöhnliche Fabrikarbeiter, wohnen auf einem kleinen Gebiete zusammen und besitzen häufig auch ein eigenes Grundstück. Die Fabrikanten haben meist kleine Betriebe und sind deshalb nicht sehr widerstandsfähig. Endlich handelt es sich um eine im Aufblühen begriffene Industrie, die höhere Preise ertragen kann. Sollte noch mehr, als dies schon jetzt geschehen ist, die Hausindustrie durch den Fabrikbetrieb verdrängt werden, so würden diese Zustände schwer aufrecht zu erhalten sein, wie sie auch auf andere Industrien bis jetzt nicht übertragen sind.

Schon seit Anfang dieses Jahrhunderts hatte sich in dem bergischen Lande, vorzugsweise aber in Remscheid und im Kreise Lennep die Feilenhauerindustrie zu hoher Blüte entwickelt. Aber seit den 1890er Jahren trat infolge der Absperrungsmaßregeln in großen Absatzgebieten und starker ausländischer Konkurrenz ein Rückgang ein, der die ganze Industrie schwer schädigte, insbesondere aber die Löhne auf eine tiefe Stufe herabdrückte[308]. Die Arbeiter, die fast alle als Hausindustrielle thätig sind, hatten deshalb 1887 alles zu einem großen Streik vorbereitet, wandten sich aber zuvor durch ihre bestehende Innung an den Bürgermeister v.Bohlenmit der Bitte um Vermittelung. Dieser hörte zunächst einzelne Fabrikanten, und nachdem dieselben die Klagen als begründet anerkannt hatten, berief er eine größere Fabrikantenversammlung, in der man die schon vorher geplante Gründung beiderseitiger Vereine mit einer gemeinsamen Vergleichskammer für das beste Mittel der Abhilfe erklärte. Nachdem man auch den LandratKönigszugezogen hatte, da man sich überzeugte,daß die Organisation auf den ganzen Kreis ausgedehnt werden müsse, erfolgte die Gründung der Vereine und der Vergleichskammer am 24. August 1888, indem man sich in allen Beziehungen an das Beispiel der Scherenschleifer in Solingen anlehnte. Die Statuten entsprechen fast wörtlich denjenigen der letzteren[309].

Die Statuten desFabrikantenvereinsbezeichnen als Zweck, das Interesse der Fabrikanten in jeder Beziehung zu wahren, für ein gutes Verhältnis zu den Arbeitern zu sorgen, die Lohnsätze in einer beide Teile zufriedenstellenden Weise zu vereinbaren und Uebergriffen der Arbeitervereinigungen gemeinsam entgegenzutreten. Jedes Mitglied hat für jedes Schmiedefeuer einen eigenen Wechsel von 100 Mk. als Sicherheit zu hinterlegen. Die Lohnlisten, die von den beiden Vereinen gemeinschaftlich aufgeteilt wurden, enthalten die Mindestlöhne, unter denen kein Mitglied arbeiten lassen darf; höhere Löhne dürfen mit den einzelnen Arbeitern vereinbart werden. Die Mindestlöhne müssen allen im Kreise Lennep wohnenden Arbeitern gezahlt werden, ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu dem Feilenhauervereine. Falls der Verein sich durch Uebergriffe der Arbeitervereinigungen gezwungen sehen sollte, die Sperrung einzelner Arbeiter oder vollständige Arbeitseinstellung zu beschließen, so ist jedes Mitglied bei Verlust seiner hinterlegten Wechsel und einer Konventionalstrafe von 1000 Mk. zur Innehaltung der gefaßten Beschlüsse verpflichtet. Abgesehen von diesem Falle sind die Wechsel verwirkt, wenn ein Fabrikant unter den festgesetzten Mindestlöhnen arbeiten läßt, sei es auch nur durch sog. Strohmänner. Den Anordnungen der Vergleichskammer hat jedes Mitglied bei 1000 Mk. Strafe Folge zu leisten.

Zweck desFeilenhauervereinsist, die Ehre und die materiellen Interessen der Mitglieder zu fördern, für ein gutes Verhältnis zu den Arbeitgebern zu sorgen, die Lohnsätze in beide Teile zufriedenstellender Weise zu vereinbaren und Uebergriffen der Fabrikantenvereinigungen gemeinsam entgegenzutreten. Mitglied kann jeder Feilenhauer werden, der selbständig zu Hause oder in einer Fabrik arbeitet. Die Kasse des Vereins dient zur Deckung der Vereinsausgaben und zur Unterstützung bedürftiger Mitglieder. Niemand darf unter den Minimalpreisen arbeiten. Im Falle der Verein durch Uebergriffe der Fabrikantenvereinigungen sich gezwungen sehen sollte, zu Sperrung einzelner Arbeitgeber oder zu vollständiger Arbeitseinstellung überzugehen, hat jedes Mitglied den gefaßten Beschlüssen unbedingt Folge zu leisten, ebenso andrerseits aber auch den Anordnungen der Vergleichskammer.

Dasgemeinsame Statutbestimmt, daß kein Fabrikant weniger alsdie festgesetzten Löhne zahlen und kein Feilenhauer zu billigeren Löhnen arbeiten darf; beides ist nicht auf die Mitglieder der vertragschließenden Vereine beschränkt. In der aus je sieben Mitgliedern beider Vereine bestehenden Vergleichskammer führt ein unbeteiligter Dritter den Vorsitz[310].

Generelle Preisbestimmungen finden durch die Vergleichskammer nicht statt, sondern die Vereinbarung über einen neuen Preistarif kann nur von Verein zu Verein erfolgen. Findet zwischen den Vorständen der Vereine eine Einigung über streitige Fälle nicht statt, oder ist der eine Verein mit dem in der angerufenen Sache ergangenen Bescheide des anderen Vereins nicht zufrieden gestellt, dann steht demselben die Berufung an die Vergleichskammer offen; dieselbe hat dann über den betreffenden Fall endgültig zu entscheiden.

Die Vorstände der Vereine sind bei einer Konventionalstrafe bis zu 1000 Mark verpflichtet, die Beschlüsse der Vergleichskammer zur Ausführung zu bringen bezw. den Ausschluß von Mitgliedern zu verfügen. Zur Sicherung der Konventionalstrafe soll von jedem der beiden Vereine eine Kaution von 1000 Mk. hinterlegt werden.

Die etwa von seiten eines Vereins verwirkte Kaution fällt dem gemeinnützigen Bauverein in Remscheid zu.

Der vereinbarte Tarif gilt bis auf weiteres, sofern nicht drei Monate vorher von einem der beiden Teile die Kündigung erfolgt.

Ende 1889 wurde noch die Bestimmung hinzugefügt, daß die Mitglieder des Fabrikantenvereins nur Mitglieder des Feilenhauervereins beschäftigen und umgekehrt diese nur bei jenen arbeiten dürfen.

Die Gründung der beiden Vereine, und die Durchführung dieser Beschlüsse stieß auf Schwierigkeiten nicht sowohl bei den Arbeitern, von denen 800 sofort und die übrigen 700 in kurzer Zeit dem Vereine beitraten, sondern bei den Fabrikanten, von denen zunächst nur 70 sich anschlossen, während etwa 50 sich ablehnend verhielten, da sie überhaupt nicht geneigt waren, sich hinsichtlich der Löhne den Bestimmungen einer zur Hälfte aus Arbeitern gebildeten Vergleichskammer zu fügen, insbesondere aber geltend machten, daß die unter den Augen der Behörde sich vollziehende Organisation der Arbeiter eine Steigerung der Begehrlichkeit und eine Stärkung der Sozialdemokratie mit sich bringen werde. Da aber die Arbeiter das größte Gewicht darauf legten, daß alle Fabrikanten sich anschlössen, so griffen sie zu dem Mittel, den widerstrebenden mit Streik zu drohen, und da die Vergleichskammer hierbei natürlich neutral bleiben mußte, sahen sich fast alle noch rückständigen Fabrikanten bis auf verschwindende Ausnahmen gezwungen, dem Drucke nachzugeben und dem Vereine beizutreten.

Der Erfolg der geschaffenen Einrichtung war zunächst ein außerordentlich günstiger. Die beiderseitigen Mitglieder der Vergleichskammer befleißigten sich der strengsten Unparteilichkeit und die Beschlüsse wurden überwiegend einstimmig gefaßt. Häufig gaben Uebertretungen des Tarifs Veranlassung, gleichzeitig gegen die beteiligten Fabrikanten und Arbeiter Strafen zu verhängen, die der Ortskrankenkasse zuflossen. Im zweiten Jahre war sogar die Annäherung schon soweit gediehen, daß man beschloß, Streitigkeiten zunächst durch Verhandlungen von Verein zu Verein zu erledigen, so daß die Kammer nur ausnahmsweise zusammentreten mußte. Ebenso wurde ein gemeinsamer Arbeitsnachweis eingerichtet, dessen Leitung dem Vorsitzenden des Feilenhauervereins übertragen wurde. Dagegen erwies sich umgekehrt die im Statute für Aenderungen des Tarifs vorgesehene Verhandlung der beiden Vereine als nicht brauchbar, vielmehr gelang in solchen Fällen der Ausgleich nur mit Hülfe der Vergleichskammer. Von den beiden Beamten wird insbesondere den Vertretern der Arbeiter das günstigste Zeugnis ausgestellt, die, obgleich ausgesprochene Sozialdemokraten, doch nicht allein gegen ihre eigenen Genossen straffe Disziplin übten und, falls sie im Unrecht waren, mit großer Entschiedenheit gegen sie vorgingen, sondern insbesondere auch bei Streitigkeiten mit anerkennenswerter Mäßigung auftraten und erklärten, größeres Gewicht, als auf augenblickliche Lohnerhöhungen, auf ein geregeltes Verhältnis beider Teile zu legen. Ja, während bis dahin gerade die Feilenhauer das unruhigste und zu Streiks geneigteste Element der Arbeiterbevölkerung gebildet hatte, erklärten jetzt Arbeitgeber aus anderen Industrien, daß sie den beruhigenden Einfluß auch in ihren Gewerben verspürten.

Auf seiten der Fabrikanten war die Stimmung geteilt. Die meisten erkannten an, daß durch die neue Einrichtung nicht allein die für die Arbeiter schädliche Lohndrückerei beseitigt, sondern dadurch auch dem Arbeitgeber die Möglichkeit gesicherter Berechnung geschaffen und das Interesse der ganzen Industrie gewahrt sei. Dagegen konnte die Minderheit den gegen sie geübten Zwang und die Beeinträchtigung ihrer Herrscherstellung nicht verwinden und betrachtete die in den Vergleichskammern geschaffene Gleichstellung als ein entwürdigendes Zugeständnis an die Begehrlichkeit und eine Auflehnung gegen die soziale Ordnung.

Zunächst wurde freilich diese Minderheit von der Mehrheit in Schach gehalten, aber auf die Dauer konnte das geschaffene Werk diesen inneren Zwiespalt nicht ertragen. Schon am 16. August 1889 mußten 46 Mitglieder des Fabrikantenvereins wegen Nichtzahlung ihrer Beiträge ausgeschlossen werden, so daß der Bestand auf 75 herunterging. In derselben Versammlung waren allerdings die von dem Feilenhauerverein geforderten Aenderungen des Tarifesabgelehnt, aber nachdem dieser Verein hierauf den Tarif gekündigt hatte, machte der Fabrikantenverein seinen Beschluß rückgängig und erteilte seine Zustimmung.

Im Mai 1890 erhob der Feilenhauerverein die Forderung einer Lohnerhöhung unter Kündigung des bestehenden Tarifs. Nachdem das Angebot der Fabrikanten von 1/3 der geforderten Erhöhung seitens des Feilenhauervereins abgelehnt, von dem Vorstande aber durch Androhung seines Rücktrittes die Ermäßigung auf 2/3 durchgesetzt war, erklärte der Fabrikantenverein, sich dieser Forderung freilich nicht ungünstig gegenüberzustellen, aber die Erfüllung bis zum Eintritte besserer Geschäftsverhältnisse verschieben zu müssen. Auf Rat der mehrfach genannten Beamten nahmen die Feilenhauer, die bei dieser Gelegenheit jede Ungesetzlichkeit streng vermieden hatten, die inzwischen niedergelegte Arbeit zu den alten Bedingungen wieder auf; aber leider hatte in dem Fabrikantenverein diejenige Richtung die Oberhand gewonnen, die unter dem Einflusse der durch den bisherigen Zusammenschluß erlangten Kräftigung glaubte, das augenblicklich durch die ungünstige Konjunktur verursachte Uebergewicht ausnutzen zu sollen, und so gelang es nicht, die mit der Kündigung hinfällig gewordene gemeinsame Organisation wieder ins Leben zu rufen.

Die beiderseitigen Vereine bestehen noch fort, haben aber in den letzten Jahren eine besondere Thätigkeit nicht entwickelt, was insbesondere darauf zurückzuführen ist, daß infolge der zunehmenden Einführung der Feilenhaumaschine die ganze Industrie sich zur Zeit in einem Uebergangsstadium befindet und immer mehr vom hausindustriellen zum fabrikmäßigen Betriebe übergeht.

Infolge der schlechten Geschäftsjahre 1890/91 sanken die Arbeitslöhne in der Bandindustrie in dem Maße, daß die Innung der Bandwirkermeister in Elberfeld Anfang Februar 1892 beschloß, mit den Fabrikanten wegen Festsetzung einer Liste von Minimallöhnen in Verbindung zu treten. Nach längeren Verhandlungen gelang dies hinsichtlich der Damenhutbänder, so daß die vereinbarte Lohnliste am 1. Juli 1892 in Kraft trat. Schwieriger erwies sich die Erreichung dieses Zieles hinsichtlich der Herrenhutbänder, für die es erstnach langen Verhandlungen und scheinbarem Scheitern gelang, eine Liste zur Annahme zu bringen, die mit dem 1. April 1893 zur Einführung gelangte. Die Schwierigkeiten bestanden insbesondere darin, daß auch die zur Annahme geneigten Fabrikanten sich nur unter der Voraussetzung binden wollten, daß alle ihre Kollegen sich beteiligen würden, und daß es anfangs nicht möglich schien, dies zu erwirken. Am 29. November 1895 wurde eine neue Lohnliste vereinbart, die noch jetzt in Kraft besteht, und das anfangs erhobene Bedenken, daß beim Eintritt ungünstiger Konjunkturen die Liste nicht durchführbar sein würde, hat sich nicht allein als unbegründet erwiesen, sondern in der bald nach Einführung der neuen Einrichtung eingetretenen ungewöhnlich schlechten Geschäftslage hat sich dieselbe so bewährt, daß beide Teile sie als einen Segen für die Industrie bezeichneten, indem sie der Herabsetzung der Preise einen Riegel vorschob.

Die Durchführung dieser Maßregel war nur möglich durch Schaffung beiderseitiger Vereine. Schon im April 1892 bildeten sich Bandwirkervereine in 7 Orten, die sich dann zu dem „Verbande Bergischer Bandwirkermeister“ zusammenschlossen. Derselbe bezweckt, die Interessen seiner Mitglieder zu wahren, für ein gutes Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu sorgen, die Lohnsätze in einer beide zufriedenstellenden Weise mit den Arbeitgebern zu vereinbaren und Uebergriffen seitens derselben entgegen zu treten. Religiöse und politische Erörterungen sind ausgeschlossen. Aus der Verbandskasse kann Mitgliedern, welche durch die Vereinbarung und deren Wirksamkeit Schaden erleiden, eine angemessene Unterstützung bewilligt werden. Der Verband besitzt einen aus Vertretern aller Lokalvereine bestehenden Ausschuß, der die Aufgabe hat, die Lohnliste mit den Fabrikanten zu vereinbaren und das gute Verhältnis mit den letztern aufrecht zu erhalten. Die Mitglieder dürfen bei Vermeidung des Ausschlusses aus dem Verbande unter den festgesetzten Minimallöhnen nicht arbeiten. Sollte der Verband beschließen, daß für einen Fabrikanten, der die Liste nicht innehält, nicht mehr gearbeitet werden darf, so sind die dadurch arbeitslos werdenden Mitglieder zu unterstützen.

In gleicher Weise haben dieFabrikanteneinen Verein gebildet, und außerdem besteht eine aus Vertretern beider Organisationen bestehendeVergleichskammer, die unter einem kein Gewerbe betreibenden Vorsitzenden tagt und die Aufgabe hat, die zwischen den beiderseitigen Vereinen oder einzelnen Mitgliedern derselben entstehenden Streitigkeiten zu schlichten oder zu entscheiden, für die Interessen beider Teile anregend zu wirken und dahin zu streben, daß das gute Einvernehmen zwischen den Vereinen und ihren Mitgliedern erhalten bleibt. Den Beschlüssen der Vergleichskammer ist bedingungslos Folge zu leisten. In der vereinbarten Lohnliste ist ausdrücklich festgesetzt, daß unter diesenSätzen kein Fabrikant arbeiten lassen und kein Meister Arbeit annehmen darf. „Sollte das eine oder das andere dennoch geschehen, so übernehmen die Bandwirkermeister die Verpflichtung, für den die Vereinbarung übertretenden Fabrikanten nicht mehr zu arbeiten, wogegen die Fabrikanten sich verpflichten, einen unter dem vereinbarten Lohne arbeitenden Bandwirkermeister nicht mehr zu beschäftigen.“

Dem Fabrikantenvereine sind alle Fabrikanten, etwa 100 an der Zahl beigetreten, der Verband der Bandwirkermeister zählt 9 Ortsvereine mit 1730 Mitgliedern und etwa 3000 Bandstühlen; ein Teil der Meister, die unter sozialdemokratischem Einflusse stehen, haben sich bis jetzt fern gehalten. Die Erklärungen beider Organisationen Stimmen dahin überein, daß sich die bestehende Einrichtung durchaus bewährt hat; alle Streitigkeiten sind bisher gütlich beigelegt.

Versuche des Fabrikantenvereins, auch eine gemeinsame Festsetzung der Verkaufspreise für die hergestellten Erzeugnisse herbeizuführen, haben bisher keinen Erfolg gehabt.

Im Jahre 1890 bildete sich in Remscheid ein Verein der Schlittschuhfabrikanten, der den Zweck hatte, die Verkaufspreise bei allen Mitgliedern gleich zu stellen und der verhängnisvollen Preisdrückerei entgegenzuwirken. Aber schon nach zweijährigem Bestehen zeigte sich die Unmöglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, indem die vielfachen Umgehungen der getroffenen Verabredungen und die Nichtbeteiligung eines Teiles der Fabrikanten für diejenigen Mitglieder, die sich streng an das Abkommen hielten, starke Beeinträchtigung ihrer Kundschaft zur Folge hatte. Der Verein löste sich deshalb auf.

Gleichzeitig mit dem Fabrikantenverein war auch einSchlittschuharbeitervereingegründet, der den Zweck verfolgte, einen gleichmäßigen Lohntarif bei allen Fabrikanten herbeizuführen. Nachdem es anfangs, wenngleich nur mit Hilfe von Streikandrohungen gelungen war, die meisten Fabrikanten zu entsprechenden Zusagen zu bewegen, verloren durch die Auflösung des Fabrikantenvereins auch diese Bestrebungen ihren Boden und ist der Schlittschuharbeiterverein in Vergessenheit geraten.

Wie oben[313]ausgeführt, war die alte Organisation der Zünfte, die eine Vereinigung von Meistern und Gesellen darstellte, durch die Revolutionsgesetzgebung zerstört. Allerdings hatten sich einzelne Vereinigungen, wie diejenige der Bäcker in Paris, dem Gesetze zum Trotz erhalten, ebenso hatten sich bereits längere Zeit vor dem Gesetze von 1884 Vereine von Arbeitern einerseits und von Arbeitgebern andererseits (chambres syndicales) gebildet. Bei Erlaß des Syndikatsgesetzes gab es an Vereinen der Arbeitgeber in Paris 185 mit 25000 Mitgliedern, in der Provinz 103, die auf 52 Orte verteilt waren. Arbeitersyndikate bestanden in Paris 237 mit etwa 50000 Mitgliedern, in der Provinz über 600[314].

Schon mehrfach hatte man auch den Versuch gemacht, eine gemeinsame Organisation herzustellen, aber nur in einem einzigen Falle war dies gelungen, indem in Paris die beidenchambres syndicalesder Buntpapierfabrikation sich zu einerchambre mixtevereinigt hatten, die nicht allein die Regelung der Löhne, sondern auch das Lehrlingswesen und die des gewerblichen Unterrichts zum Gegenstande ihrer Wirksamkeit machte. Dieses Beispiel fand mehrfach Beachtung, und insbesondere die katholisch-soziale Richtung, die sich in demOeuvre des cercles catholiques d'ouvrierseine Organisation geschaffen und sich das Ziel gesteckt hatte, „dem verhängnisvollen Gegensatze zwischen Arbeitgeber und Arbeiter entgegenzuwirken und die im Interesse des sozialen Friedens und des nationalen Gedeihens unabweisliche Verständigung beider Faktoren der Produktion herbeizuführen“, warf sich, nachdem das Gesetz von 1884 die Grundlage dafür geschaffen hatte, mit Eifer auf die Gründung vonsyndicats mixtes. Allerdings war es erst im Parlament gelungen, dem Gesetzentwurfe, der nur Syndikate der Unternehmer und solche der Arbeiter kannte, diesyndicats mixtesebenso wie diesyndicats agricoleseinzufügen, aber ein Antrag des Grafen de Mun, ihnen besondere Vorrechte, insbesondere das Recht des Grunderwerbes beizulegen, war aus Furcht vor dem Besitze der „toten Hand“ abgelehnt. Der Zweck dessyndicat mixtewird von seinen Verteidigern dahin bezeichnet, „auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Produktion den Zustand der Anarchie und des Gegensatzes zu ersetzen durch die Organisation und den Familiensinn“. Dabeimacht man kein Hehl aus der Auffassung, daß der Arbeitgeber der natürliche Berater und Schützer des Arbeiters sein müsse und hält dem Einwande, daß der Arbeiter sich nicht mehr als unmündiges Kind behandeln lassen wolle, entgegen, daß dem Arbeitgeber freilich nicht die Stellung eines Vaters, aber doch diejenige eines älteren Bruders zukommen müsse. Endlich tritt überall das religiöse Element stark hervor, z. B. schon in der Wahl der Namen für die Organisationen, die sich regelmäßig an irgend einen Heiligen anlehnen.

Das hauptsächlichste Wirkungsgebiet dersyndicats mixtesist die Großindustrie. Die Grundlage der Organisation ist das einzelne Unternehmen. Um die typische Form zu zeigen, mögen hier die Einrichtungen desVal de boiskurz erläutert werden, da sie gewissermaßen das Muster des ganzen Systems darstellen. Das Unternehmen wurde am 2. August 1885 unter dem Namen „Corporation chrétienne“ gegründet und ist von seinem Urheber,Harmel, in einem besonderen Buche beschrieben. Dassyndicat mixtesetzt sich zusammen aus den Geschäftsinhabern und den höheren Beamten (Direktoren, Ingenieuren) einerseits und den Arbeitern, Arbeiterinnen und anderen Angestellten andrerseits. Das gemeinsame Organ ist derconseil syndical, der sich alle Monate versammelt. Innerhalb desselben bestehen zwei Gruppen, nämlich einerseits die Geschäftsinhaber nebst den von ihnen bestimmten Beamten unter dem Namen descomité, und andrerseits eine gleiche Anzahl durch die Arbeiter erwählte Vertreter, dasconseil intérieur. Beide Gruppen versammeln sich wöchentlich; sie sollen durchaus gleichberechtigt und von einander unabhängig sein.

Dasconseil syndicalhat die gemeinsamen Einrichtungen zu beschließen. Als solche bestehen eine Unterstützungskasse, eine Genossenschaft, die in mehreren Abteilungen für Bäckerei, Kleidungsstücke, Schmuck, Wäsche, Hüte u. s. w. zerfällt, eine Vorschuß- und Darlehnskasse, eine Sparkasse, eine Auskunftstelle, eine Unterkunft für junge Leute, eine Bibliothek und Anstalten für religiöse Interessen und Erbauung, endlich eine Familienkasse, die kinderreichen Familien entsprechende Zuschüsse zum Lohne gewährt. Die Arbeiter haben einen jährlichen Beitrag von 25 Cts. zu zahlen; die Prinzipale leisten freiwillige Zuschüsse. Die erzielten Erfolge sind durchaus befriedigend.

Aber so wichtig die gemeinsame Organisation in dem einzelnen Unternehmen als Grundlage für dassyndicat mixteist, so bildet sie doch nur das eine der beiden Elemente, zu dem das andere, nämlich die Verbindung einer größeren Anzahl solcher Einzelorganisationen hinzukommen muß, und wenn inVal de boisfür die dortige Einrichtung der Namesyndicat mixtein Anspruch genommen ist, so ist dies nicht völlig berechtigt, denn man versteht hierunter eine einheitliche Organisation fürmehrereindustrielle Unternehmungen.Der Hauptsitz dersyndicats mixtesist der Norden Frankreichs, insbesondere Lille, Douai, Roubaix, Tourcoing, Fourmies und Armentières. Alle dort bestehenden Syndikate sind das Werk der am 15. August 1884 von einem Geistlichen Alet gegründetenAssociation catholique des patrons de la région du Nord de la France. Von etwa 20 Teilnehmern stieg die Zahl bald auf 44; im September 1896 betrug sie 110. Zwei Jahre später wurde die Vereinigung, da sie dem gesetzlichen Verbote zuwider auch Nichtfranzosen aufgenommen hatte, polizeilich aufgelöst, doch ihre Schöpfungen wurden dadurch nicht berührt.

Die Organisation ist eine doppelte, eine innere und eine äußere. Die innere, die sich auf ein einzelnes Unternehmen beschränkt, ist ähnlich der inVal de bois. Die Arbeiter bilden Zehnerschaften, deren jede ihren Vertreter wählt. Diese Vertreter bilden denconseil intérieur, der unter dem Vorsitze des Prinzipals berät. Seine Ergänzung findet er in demconseil patronal, der aus dem Prinzipal und den höheren Beamten besteht. An der Spitze der äußeren Organisation dessyndicat mixtesteht derconseil syndical, zu dem jede Fabrik zwei Mitglieder entsendet, nämlich den Prinzipal und einen von den Zehnerschaften der Arbeiter erwählten Vertreter. Den Vorsitz in demconseil syndicalführt ein von seinen Kollegen gewählter Prinzipal.


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