Chapter 8

Der Arbeiterbund hat aber trotzdem sein Ziel nicht fallen gelassen, sondern sich auch auf dem Arbeitertage in Winterthur (6. April 1896) wieder mit der Frage der obligatorischen Berufsgenossenschaften beschäftigt. Man beschloß, den obligatorischen Karakter insoweit zu mildern, als der Zwang von der Zustimmung der Mehrheit abhängig gemacht wird und deshalb ein Bundesgesetz mit folgenden Bestimmungen zu fordern:

Wenn in einem Berufszweige, der sich mit der Erzeugung von Waren beschäftigt — dadurch sollte der Handel ausgeschlossen sein — von bestehenden Organisationen der Arbeiter oder der Arbeitgeber die Bildung einer solchen Genossenschaft beantragt wird, so soll unter sämtlichen Beteiligten eine Abstimmung stattfinden. Hat in beiden Gruppen die Mehrheit sich für den Antrag erklärt, so sind zunächst in jeder Gemeinde Sektionen zu bilden, aus deren Wahl dann die unter Vorsitz eines Bundesbeamten tagende konstituierende Delegiertenversammlung aus gleicher Vertretung beider Gruppen hervorgeht. Beide Gruppen haben das Recht, sich selbständig zu konstituieren und ihre eigenen Angelegenheiten zu ordnen; ihre Beschlüsse sind für alle Arbeiter bezw. Arbeitgeber verbindlich. Keine Gruppe ist an die Beschlüsse der anderen gebunden; allgemeine Beschlüsse können nur von der Berufsgenossenschaft als Gesamtheit gefaßt werden, wobei stets erforderlich ist, daß die Mehrheit der Arbeiter und die Mehrheit der Arbeitgeber sich für die Maßregel erklärt. Die Berufsgenossenschaft ist befugt, alle Arbeitsverhältnisse in ihrem ganzen Geschäftsgebiete zu regeln, insbesondere kann sie Lohntarife aufstellen, die Arbeitszeit festsetzen, das Lehrlingswesen ordnen, die Verkaufspreise für die Erzeugnisse bestimmen, die Arbeit verteilen (kontingentieren), Betriebe selbst übernehmen, den Absatz genossenschaftlich organisieren und Vorkehrungen zur Sicherung der Existenz ihrer Angehörigen treffen. Gegen Beschlüsse der Berufsgenossenschaft, die nicht in beiden Gruppen mindestens 2/3 der Stimmen erhalten, findet Rekurs an den Bundesrat und die Bundesversammlung statt. Beide Instanzen können auch von Amtswegen einen Beschluß aufheben, wenn er die allgemeinen Interessen der Bevölkerung schädigt.

Neben der Frage der obligatorischen Berufsorganisation haben sich die Verhandlungen der Bundesversammlungen besonders bezogen auf die Reform des eidgenössischen Fabrikgesetzes, insbesondere einen besseren Arbeiterschutz, die Haftpflicht der Unternehmer, sowie die Kranken- und Unfallversicherung.

Aus dem von dem Bundesvorstande veröffentlichten Berichte für das Jahr 1897 ist hervorzuheben, daß sich in Zürich am 18. März 1897 eine Arbeitskammer aus dem dort bestehenden Arbeiterberufsverein auf politisch und religiös neutraler Grundlage gebildet hat, die bei ihrer Gründung 7000 Mitglieder umfaßte und ein eigenes Bureau besitzt. Ihr Hauptzweck ist neben organisatorischen Aufgaben die Auskunftserteilung. Man hat sich entschlossen, bei dem Bundesrate die Erhöhung des Bundeszuschusses von 25000 auf 30000 Frs. zu beantragen, um einen italienischen Gehülfen des Arbeitersekretärs anzustellen, wofür das Bedürfnis durch die sich lebhafter entwickelnde gewerkschaftliche Bewegung in Tessin gegeben ist.

Der am 3. April 1899 in Luzern abgehaltenefünfte schweizerische Arbeitertagbeschäftigte sich vor allem mit denGewerkschaften. Es ist von großer Bedeutung, daß beide Referenten, nämlich der christlich-soziale Prof.Beckwie der sozialdemokratische ArbeitersekretärGreulichin der Forderung, die Gewerkschaften auf politisch und religiös neutraler Grundlage aufzubauen, durchaus übereinstimmten, sodaß, nachdem ein Antrag, sie den sozialdemokratischen Grundsätzen anzupassen, gegen wenige Stimmen abgelehnt war, fast einstimmig beschlossen wurde, „in Erwägung, daß eine einheitliche gewerkschaftliche Organisation der großen Mehrheit der Arbeiter nur auf dem neutralen Boden der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse unter Ausschluß parteipolitischer oder religiöser Stellungnahme erzielt werden kann“, die Agitation für solche unpolitische Gewerkschaften zu empfehlen, um dadurch den Zusammenschluß aller Organisationen in dem Gewerkschaftsbunde herbeizuführen.

Daneben wurden die Fragen derArbeitslosenversicherungund desArbeitsnachweisesverhandelt und in letzterer Hinsicht beschlossen, es sei als Ideal ein Arbeitsnachweis anzustreben, der unter Kontrolle der Betriebsinhaber in den Händen der Arbeiter liege, wobei Streitigkeiten durch eine gemischte Kommission zu schlichten seien; solange dieses Ideal noch nicht erreicht sei, müßten paritätisch verwaltete Arbeitsnachweisebureaux geschaffen werden.

In den letzten Jahren ist übrigens auch für die Schweiz angeregt, nach dem französischen VorbildeArbeitsbörsenzu schaffen, insbesondere wird der Gedanke von den Züricher Metallarbeiterorganisationen vertreten und in der Sitzung der Züricher Arbeiterunion vom 8. März 1894 ist ein entsprechender Entwurf zur Annahme gelangt. Zweck der Arbeitsbörsen soll sein: Arbeitsvermittelung, sowie statistische Erhebungen über Wohnungsverhältnisse, Lohn,Lehrlingswesen, Lebensmittelpreise und Reiseunterstützung. Die Arbeitgeberverbände, die sich der Börse als ausschließlichen Arbeitsvermittelungsortes bedienen, sollen ein Kontrollrecht erhalten.

Fußnote:[50]Die wertvollste Quelle für die Schweiz bildet das Buch von Dr.Berghoff-Ising: Die sozialistische Arbeiterbewegung in der Schweiz. Leipzig 1895, Duncker & Humblot. Vgl. außerdemBechtle: Die Gewerkvereine in der Schweiz, Jena, 1888 undBücher: Die schweizerischen Arbeiterorganisationen in der Zeitschrift für die gesamt. Staatswissenschaft. Bd. XLIV (1888), S. 609–674. Das neuere Material ist mir von dem schweizerischen Arbeitersekretariate zur Verfügung gestellt.

Fußnote:

[50]Die wertvollste Quelle für die Schweiz bildet das Buch von Dr.Berghoff-Ising: Die sozialistische Arbeiterbewegung in der Schweiz. Leipzig 1895, Duncker & Humblot. Vgl. außerdemBechtle: Die Gewerkvereine in der Schweiz, Jena, 1888 undBücher: Die schweizerischen Arbeiterorganisationen in der Zeitschrift für die gesamt. Staatswissenschaft. Bd. XLIV (1888), S. 609–674. Das neuere Material ist mir von dem schweizerischen Arbeitersekretariate zur Verfügung gestellt.

[50]Die wertvollste Quelle für die Schweiz bildet das Buch von Dr.Berghoff-Ising: Die sozialistische Arbeiterbewegung in der Schweiz. Leipzig 1895, Duncker & Humblot. Vgl. außerdemBechtle: Die Gewerkvereine in der Schweiz, Jena, 1888 undBücher: Die schweizerischen Arbeiterorganisationen in der Zeitschrift für die gesamt. Staatswissenschaft. Bd. XLIV (1888), S. 609–674. Das neuere Material ist mir von dem schweizerischen Arbeitersekretariate zur Verfügung gestellt.

Belgien besitzt, nachdem 1830 die früheren Beschränkungen aufgehoben sind, ein völlig unbeschränktes Vereinsrecht; es ist deshalb wunderbar, daß trotzdem die Entwicklung des Gewerkschaftswesens sich noch in einem wenig fortgeschrittenen Zustande befindet. Die ersten Versuche wurden von der Internationale unternommen, aber die ins Leben gerufenen Vereine, die nicht nach Berufen gesondert waren und weniger wirtschaftliche als politische Zwecke verfolgten, sind nach 1870 rasch wieder verschwunden. Erst nach der 1885 erfolgten Gründung der unter sozialdemokratischem Einflusse stehenden Arbeiterpartei (Parti ouvrier) ist die Gewerkschaftsbewegung in lebhaften Fluß gekommen. Anfangs freilich beschäftigte sich auch die Arbeiterpartei mehr mit der Errichtung von „Kooperativgesellschaften“ (Genossenschaften), die sich zu großer Bedeutung entwickelt haben. Die bedeutendste, derVoruit, wurde 1880 gegründet und zählt jetzt, bei einem jährlichen Geschäftsumsatze von 16000000 Frs., über 5000 Mitglieder. DerProgrèsin Jolimont mit 6276 Mitgliedern betreibt eine Bäckerei mit einem Jahresumsatz von 8000000 kg Brot, zwei Schlachtereien, mehreren Apotheken und vier Gast- und Volkshäusern. DasMaison du Peuplein Brüssel mit einem Jahresumsatze von 2000000 Frs. liefert Brot, Kohlen, Kurzwaren und betreibt ebenfalls mehrere Wirtshäuser. Der Zusammenhang dieser Genossenschaften mit der Arbeiterpartei ist ein sehr enger, so daß sie sogar aus ihren Ueberschüssen Beiträge für Streikzwecke liefern. In der neueren Zeit hat man aber auch angefangen, eigentliche Gewerkvereine zu gründen.

Dem Beispiele der Sozialisten ist seit 1886 die katholische Partei gefolgtund hat katholisch-konservative und katholisch-demokratische Arbeitervereine geschaffen, die aber ebenfalls in erster Linie politische Zwecke verfolgen. Da sie den Grundsatz vertraten, daß die Arbeitgeber aus Gründen christlicher Liebe nicht berechtigt seien, ihre Sonderinteressen in einer den Arbeitern nachteiligen Weise zu verfolgen, so gelangen sie zu einer gewissen Interessenharmonie und haben deshalb überall Arbeiter und Arbeitgeber zu Mitgliedern.

Die Liberalen sind hinsichtlich der Arbeiterorganisation die letzten gewesen und haben bis jetzt am wenigsten Erfolge aufzuweisen; erst die 1893 geschaffene liberale Arbeiterpartei hat die Gründung von Gewerkvereinen in die Hand genommen.

Außer diesen Gruppen giebt es noch einige unabhängige Arbeiterorganisationen, z. B. die Buchdrucker und die Schneider.

Endlich haben die amerikanischen Ritter der Arbeit in Belgien einigen Anhang, doch haben sich die Bergarbeiter (fédération des mineurs) in neuerer Zeit von der amerikanischen Oberleitung unabhängig gemacht, so daß dieser jetzt nur noch die Glasarbeiter (Union verrière) mit 1120 Mitgliedern unterstellt sind.

Die Gesamtzahl dieser Vereine wird vonVanderveldeundMahaimübereinstimmend auf 180 mit etwa 60–70000 Mitgliedern geschätzt, was bei etwa 7–800000 männlichen Arbeitern einem Verhältnis von etwa 8% entspricht. In acht Gewerben haben sich die Vereine der einzelnen Orte miteinander zu Verbänden (fédérations) zusammengethan; es sind dies die Zigarrenmacher mit 6, die Holzarbeiter mit 12, die Buchdrucker mit 14, die Steinarbeiter mit 12, die Maler mit 3, die Bergarbeiter mit 27 und die Metallarbeiter mit 20 Ortsvereinen. Die stärksten Verbände sind die Bergarbeiter mit 23000 und die Buchdrucker mit 14000 Mitgliedern; 8 andere besitzen über 500, die meisten aber unter 200 Mitgliedern.

Etwa 100 Vereine gehören als „affiliés“ der Arbeiterpartei an. Im übrigen läßt sich das Stärkeverhältnis der Parteien annähernd ersehen aus den Ziffern für Gent, wo die Bewegung sich am stärksten entwickelt hat; hier besaßen 1897 die Sozialisten 14 Gewerkschaften mit 10195, die Antisozialisten 18 Gewerkschaften mit 2981 und die Liberalen 4 Gewerkschaften mit 884 Mitgliedern.

Im allgemeinen sind die Vereine noch zu schwach, um äußere Erfolge zu erzielen; die nach dem 1. Mai 1891 zahlreich unternommenen Streiks endigten überall mit Niederlagen und führten zu einem erheblichen Verluste von Mitgliedern.

Bei den meisten Vereinen steht der Kampfkarakter im Vordergrunde, und dies gilt nicht allein von den sozialistischen, sondern auch von den unabhängigenund den Rittern der Arbeit. Die Hauptform ist die der Vereine zur Behauptung des Lohnsatzes (Sociétés de maintien de prix).

Von allen belgischen Gewerkvereinen sind nach außen am meisten die Bergarbeiter hervorgetreten, die nicht allein an dem Londoner internationalen Gewerkschaftskongresse mit 15000 Mitgliedern teilnahmen, sondern auch seit 1892 ihre regelmäßigen öffentlichen Jahresversammlungen abhalten. Die dritte derselben, die am 8./9. April 1894 in La Louvière stattfand, hat eine Reihe wichtiger Forderungen aufgestellt, insbesondere die Verstaatlichung der Bergwerke und ihren Betrieb durch den Staat oder durch die Arbeitersyndikate, Festsetzung eines Minimallohnes, Abschaffung der Akkordarbeit, internationale Vereinbarung zur Einschränkung der Kohlenförderung behufs Vermeidung der Ueberproduktion. Auf dem am 20. Oktober 1896 gleichfalls in La Louvière abgehaltenen fünften Kongresse, auf dem 91 Gruppen vertreten waren, beschloß man, den Bergarbeitern frei zu stellen, ob sie sich den Gewerkschaften oder den Genossenschaften anschließen wollen. Am Eröffnungstage der Brüsseler Ausstellung hat ein großer Bergarbeiterkongreß stattgefunden. Ein am 10. Januar 1897 in Charleroi abgehaltener außerordentlicher Kongreß forderte eine Lohnerhöhung, lehnte aber für den Weigerungsfall ab, den Generalstreik zu beschließen.

Einen erheblichen Einfluß haben die Arbeitervereine auf die Gemeinden gewonnen, insbesondere seitdem bei den Gemeindewahlen am 19. November 1895 die Sozialisten in 19 Städten ausschließlich und in 29 anderen in Gemeinschaft mit den Radikalen die Verwaltung in die Hand bekommen haben. So haben sie es durchgesetzt, daß regelmäßig bei den städtischen Arbeitsverdingungen ein gewisser Mindestlohn zur Bedingung gemacht wird.

Die staatliche Gesetzgebung hat erst seit 1890 ihr Interesse den sozialen Fragen zugewandt. Das erste einschlägige Gesetz war dasjenige vom 9. August 1890 über die Einrichtung und Verwaltung von Arbeiterwohnungen.

Die Versuche, den Gewerkvereinen die Rechte der juristischen Persönlichkeit und des Eigentumserwerbes zu verschaffen, die schon am 7. August 1889 zur Einbringung einer Vorlage seitens des Ministers Lejeune und am 16. November 1894 zur Vorlegung eines neuen Gesetzentwurfes durch den Minister Bergerem geführt hatten, scheiterten lange an der Befürchtung, daß dadurch das „Eigentum der toten Hand“ begünstigt werden würde. Schließlich ist aber doch das Gesetz vom 31. Mai 1898 zur Verabschiedung gelangt, nach welchem den Berufsvereinen nach näher Bestimmung des Gesetzes die Rechte der juristischen Person zugesichert sind. Als Berufsverein ist anzusehen „eine Vereinigung, die ausschließlich zum Betriebe, zum Schutze und zur Entwicklung ihrer Berufsinteressen zwischen Personen gebildet ist, die in der Industrie, im Handel, in der Landwirtschaft oder in den freien Berufen mit einem Erwerbszwecke entwederdenselben oder ähnliche Berufe, entweder dasselbe Gewerbe oder solche ausüben, die auf die Herstellung derselben Produkte abzielen“. Vereine mit politischem Karakter sind ausgeschlossen. Die Anmeldung geschieht bei einer besonderen Behörde, die darüber zu entscheiden hat, ob der Verein den Bedingungen des Gesetzes entspricht. Eine Vorbedingung für die Anerkennung ist, daß der Verein die Verpflichtung übernimmt, „gemeinsam mit der Gegenpartei die Mittel und Wege aufzusuchen, um jede auf die Arbeitsbedingungen bezügliche Streitigkeit, bei welcher der Verein beteiligt ist, entweder durch Einigung oder durch ein Schiedsgericht beizulegen“. Jährlich muß der Verein eine Liste der Vorstandsmitglieder und ein Verzeichnis von Einnahmen und Ausgaben einreichen. Die Liste der Mitglieder muß öffentlich ausgelegt werden. Zur Annahme von Geschenken und Legaten kann der Verein durch königliche Verordnung ermächtigt werden. Vereine, die sich nicht im Rahmen des Gesetzes halten, insbesondere ihr Vermögen zu anderen als den im Gesetze zugelassenen Zwecken verwenden, werden aufgelöst. Ihr Vermögen wird nach den Bestimmungen des Gesetzes verwandt und die Vorstandsmitglieder bestraft.

Das Gesetz ist besonders von sozialdemokratischer Seite heftig bekämpft, und es ist zu erwarten, daß die Gewerkschaften dieser Richtung auf die hier gewährte Rechtsstellung verzichten und ihre Anmeldung nicht nachsuchen werden. Die Hauptangriffe stützen sich darauf, daß das Gesetz nur solche Vereine zuläßt, welche ausschließlich die Förderung der Interessen eines bestimmten Berufes bezwecken, daß aber alle allgemeinen Angelegenheiten, also nicht bloß politische, sondern insbesondere auch die Versicherungen gegen Krankheit, Unfälle, Alter, Arbeitslosigkeit u. s. w. ausgeschlossen sind. Auch Werkstätten für Arbeitslose dürfen sie nur für einen vorübergehenden Zeitraum errichten. Oertliche Verbände der Gewerkschaften sind untersagt. In der That scheint das Gesetz ein recht unvollkommener Versuch geblieben zu sein.

Die sozialdemokratische Partei hat sich auf ihrem im August 1898 abgehaltenen Parteitage eingehend mit den Gewerkschaften beschäftigt und ihre Stellung in einer umfassenden Resolution bezeichnet, aus der folgende Punkte hervorzuheben sind:

Jede Gewerkschaft soll alle Arbeiter des gesamten Berufes umfassen ohne Unterscheidung der Spezialfächer. Geschäftsführer und Schatzmeister sind zu besolden. Der Beitrag soll wöchentlich 50 Cts. für Männer und 15–25 Cts. für Frauen und Lehrlinge betragen. Jede Gewerkschaft soll eine Unterstützungskasse besitzen oder sich einer solchen anschließen, auch die Hälfte ihrer Einnahme hierauf verwenden. Aus der Kasse sollen hauptsächlich bei Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall Unterstützungen gewährt werden. Die andere Hälfte der Einnahmen ist für Verwaltungskosten und die Streikkassezu bestimmen. Jede Gewerkschaft soll eine Bibliothek einrichten und die Parteiblätter halten. Streiks sind nicht zu billigen, wenn die Gewerkschaft nicht stark genug ist, oder wenn Ueberfluß an Arbeitskräften besteht, oder wenn es sich darum handelt, die Wiederbeschäftigung eines Einzelnen zu erzwingen, falls dieser nicht seine Stelle im Kampfe für die Gewerkschaft verloren hat.

In neuester Zeit scheinen übrigens auch die Liberalen größere Anstrengungen zu machen, den Vorsprung ihrer sozialistischen und klerikalen Konkurrenten wieder einzuholen. Sie haben am 25./26. Dezember 1897 in Brüssel ihren ersten Kongreß abgehalten, auf dem 55 Vereine mit angeblich 300000 Mitgliedern durch 80 Abgeordnete vertreten waren. In dem aufgestellten Programme finden sich folgende Forderungen: Staatliche Organisation einer Alters- und Pensionskasse; Einrichtung von Arbeitsbörsen mit einen Schutzausschusse für die Arbeiter; allgemeine obligatorische Volksschule mit weltlichem und unentgeltlichem Unterricht; allgemeines gleiches Stimmrecht mit Proportionalvertretung, Mindestlöhne und Maximalarbeitszeit; Besteuerung des Kapitalbesitzes und des Einkommens; allmähliche Abschaffung der Eingangszölle, Umkehr der Beweispflicht bei Arbeitsunfällen, die dem Unternehmer zufallen soll.

Nach dem Vorbilde von Frankreich hat man in Belgien auchArbeitsbörsengeschaffen. Der erste Versuch wurde schon 1850 von Molinari in Brüssel unternommen, 1885 nahm der Bürgermeister vonBrüssel, Buls, den Gedanken wieder auf und rief 1889 neben dem bereits von Arbeitervereinigungen begründetenOeuvre du travaileine doppelte Einrichtung dieser Art: dasmaison du travailfür männliche und dascomptoir du travailfür weibliche Arbeiter ins Leben. InLüttichhat am 11. Februar 1888 die Handelskammer eine Arbeitsbörse mit gemeinsamer Verwaltung eines Arbeiters, eines Arbeitgebers und eines Vertreters der Stadt geschaffen. InGentist 1891 von dem „Handels- und Gewerbeverein“ eine ähnliche, von Stadt und Provinz unterstützte Einrichtung begründet.

Seit 1892 besteht auch zwischen den verschiedenen Börsen ein Verband, um eine Arbeitsvermittelung von Ort zu Ort für ganz Belgien herzustellen.

Uebrigens weichen die belgischen Arbeitsbörsen von ihrem französischen Vorbilde doch in ihrer Grundlage erheblich ab, indem sie sich streng auf das Ziel der Arbeitsvermittelung beschränken und hierbei eine volle Gleichberechtigung beider Parteien betonen, während jene sich zu einseitigen Kampforganisationen der Arbeiter entwickelt haben, die den Unternehmern keinerlei Einfluß gestatten.

Fußnote:[51]Die weitaus wichtigsten Quellen für die belgischen Gewerkschaften sind einerseits die Arbeit vonEmile Vandervelde: „Enquète sur les associations professionels d'ouvriers et d'artisans en Belgique“, 2 Bände, Brüssel 1891.Imprimerie des travaux publies(vgl. dazu die Besprechung vonBinckinBraun, Archiv für soziale Gesetzgebung VI, 627) und andererseitsErnest Mahaim:Etudes sur l'association professionelle, Lüttich 1891. Außerdem:Rapport sur les associations professionelles en Belgique,Bruxelles1889 undRapport sur le projet de loi accordant la personification civile aux unions professionelles,Bruxelles1889.

Fußnote:

[51]Die weitaus wichtigsten Quellen für die belgischen Gewerkschaften sind einerseits die Arbeit vonEmile Vandervelde: „Enquète sur les associations professionels d'ouvriers et d'artisans en Belgique“, 2 Bände, Brüssel 1891.Imprimerie des travaux publies(vgl. dazu die Besprechung vonBinckinBraun, Archiv für soziale Gesetzgebung VI, 627) und andererseitsErnest Mahaim:Etudes sur l'association professionelle, Lüttich 1891. Außerdem:Rapport sur les associations professionelles en Belgique,Bruxelles1889 undRapport sur le projet de loi accordant la personification civile aux unions professionelles,Bruxelles1889.

[51]Die weitaus wichtigsten Quellen für die belgischen Gewerkschaften sind einerseits die Arbeit vonEmile Vandervelde: „Enquète sur les associations professionels d'ouvriers et d'artisans en Belgique“, 2 Bände, Brüssel 1891.Imprimerie des travaux publies(vgl. dazu die Besprechung vonBinckinBraun, Archiv für soziale Gesetzgebung VI, 627) und andererseitsErnest Mahaim:Etudes sur l'association professionelle, Lüttich 1891. Außerdem:Rapport sur les associations professionelles en Belgique,Bruxelles1889 undRapport sur le projet de loi accordant la personification civile aux unions professionelles,Bruxelles1889.

In Holland ist es sehr schwer, über Arbeiterverhältnisse etwas zu erfahren. Bis vor wenigen Jahren hatte man keine amtliche Statistik, sondern überließ diese Thätigkeit einer Privatgesellschaft, der „Vereinigung für Statistik“, deren Erfolge sehr gering waren. Im Jahre 1889 wurde bei Gelegenheit der Beratung eines Gesetzes über Frauen- und Kinderarbeit die Einsetzung einer staatlichen statistischen Kommission angeregt, und 1892 wurde in der That durch königliche Verfügung eine solche unter dem Namen „Zentralkommission für Statistik“ geschaffen, in die man unter anderem auch einen bekannten Sozialdemokraten, R.van Zinderen-Bakker, berief. Die Kommission begann ihre Thätigkeit damit, daß sie außer an die Gemeindebehörden auch an die bestehenden vier großen Arbeiterverbände: 1. den allgemeinen niederländischen Arbeiterverband (Het algemeen nederlandsch werklieden verbond), 2. den niederländischen römisch-katholischen Volksbund (De nederlandsche roomsch-katholicke volksbond), 3. den niederländischen Arbeiterverband „Patrimonium“ (Het nederlandsch werklieden verbond „Patrimonium“), 4. den sozialdemokratischen Bund (De socialdemocratische Bond) Fragebogen schickte. Allein die unter 2 und 4 genannten Vereinigungen lehnten die Antwort ab, und da auch von den 1149 Arbeitervereinen, die nach den Berichten der Bürgermeister bestanden, nur 693 Auskunft gaben, so ist das Ergebnis der Erhebungen durchaus ungenügend. Das Wesentlichste aus dem von der Kommission erstatteten und im Jahre 1894 veröffentlichten Berichte ist im folgenden wiedergegeben.

Vor 1811 bestanden in Holland keine Arbeitervereine. Von 1811–1855, wo das Koalitionsverbot aufgehoben wurde, sind 13, von 1855–1865 8, von 1865–1878 65, von 1878–1885 72 und von 1885–1894 271 derartige Vereinigungen gegründet.

Die Mitgliederzahl, soweit sie genau ermittelt wurde, betrug:

Doch sind diese Zahlen wesentlich zu hoch, da viele Mitglieder mehreren dieser Vereinigungen angehören. Die Gesamtzahl der bestehenden Gewerkschaften wurde auf 226 ermittelt. Am stärksten und am besten organisiert sind der Typographen- und der Zigarrenmacherbund, sowie der Verein der Eisenbahnarbeiter.

Von den erwähnten vier Verbänden zählte der erste 23 Zweigvereine mit 2500 Mitgliedern, der zweite 12 Zweigvereine mit 11000 Mitgliedern, der dritte 160 Zweigvereine mit 12000 Mitgliedern und der vierte 99 Zweigvereine, deren Mitgliederzahl absichtlich geheim gehalten wird.

Die holländischen Gewerkschaften schwimmen durchaus im sozialdemokratischen Fahrwasser, und zwar verfolgt die holländische Sozialdemokratie unter ihrem allmächtigen FührerDomela Nieuwenhuiseine völlig andere Richtung, als diejenige der meisten übrigen Länder, insbesondere die deutsche, und steht zu derselben in einem schroffen Gegensatze, der sich auf dem internationalen Kongresse in London 1896 in der entschiedensten Form geltend machte. Der Standpunkt der holländischen Sozialdemokraten ist etwa derselbe, den die deutschen sog. „Jungen“ oder „Unabhängigen“ vertreten: sie verwerfen die Vertretung ihrer Ansicht im Parlamente und die Mitwirkung an der Gesetzgebung, und obgleich nach dem bei den letzten Wahlen (Juni 1897) in Kraft getretenen Wahlgesetze eine Erweiterung des Wahlrechts von 290000 auf 580000 Wähler (bei 5 Millionen Einwohnern) eingetreten ist, so besteht doch der Beschluß des Weihnachten 1893 abgehaltenen Parteitages in Groningen, unter keinen Umständen an den Wahlen teilzunehmen, auch jetzt noch in Kraft. Thatsächlich ist freilich diese Enthaltungspolitik bei den Wahlen keineswegs durchgeführt, vielmehr sind vier sozialdemokratische Abgeordnete gewählt, während insgesamt 15000 sozialdemokratische Stimmen abgegeben sind[53]. Obgleich nun diese antiparlamentarische Richtung der Sozialdemokratie die Gewerkschaften durchaus begünstigt und ihnen geneigter gegenübersteht, als die parlamentarische, die in ihr eine Konkurrenz sieht, so ist die holländische Gewerkschaftsbewegung dennoch bisher schwach und wenig entwickelt, was sich daraus erklären mag, daß die Bevölkerung vorzugsweise aus Landarbeitern, Kleinbürgern, Handels- und Seeleuten besteht und die Industrie wenig vertreten ist.

Dagegen ist es jetzt gelungen, einen Zusammenschluß der gewerkschaftlichen Organisationen in demArbeitersekretariatzu schaffen, welches thatsächlich die Stellung einer obersten Gewerkschaftsinstanz besitzt. Die Anregung hierzu war zunächst von dem „Sozialdemokratischen Bunde“ auf seiner Hauptversammlung in Amsterdam 1891 gegeben; es zeigte sich jedoch bald, daß die Uebernahme der Sache seitens der sozialdemokratischen Partei nicht der richtige Weg war, und so wurde auf der Hauptversammlung in Zwolle 1892 beschlossen, zunächst eine Verständigung mit den gewerkschaftlichen Zentralverbänden zu suchen. Dieser Anregung entsprechend fand eine auf den 9. Juli 1893 einberufene Zusammenkunft von Gewerkschaftsvertretern statt, die zwar über den Grundgedanken sich einigte, jedoch beschloß, zu einer neuen Konferenz am 27. August 1893 nicht nur die sozialistischen, sondern alle Arbeiterorganisationen einzuladen, „welche davon überzeugt sind, daß die Arbeiter gegenüber dem geschlossenen Vorgehen der Arbeitgeber gemeinsame Sache machen müssen“. Obgleich einzelne Vereinigungen dieser Aufforderung keine Folge leisteten, so war doch diese neue Konferenz so zahlreich besucht, daß man zur Gründung des „Nationalen Arbeitersekretariats“ schreiten konnte. Dessen Zweck ist nach dem Organisationsstatut die Verbindung der bestehenden Arbeitervereinigungen untereinander, das Sammeln und Veröffentlichen statistischer Daten und die Korrespondenz mit Arbeitersekretariaten anderer Länder. Dasselbe besteht aus je einem Vertreter der beteiligten Verbände. Eine Versammlung der Zentralvorstandsmitglieder aller angeschlossenen Verbände wird nach Ermessen vom Sekretariate einberufen. Nach dem ersten im Februar 1893 veröffentlichten Berichte des Sekretariates umfaßte dasselbe damals 22 Fachverbände und allgemeine Arbeiterorganisationen mit zusammen 330 Abteilungen, 15728 Mitgliedern und Fachorganen. Der Vorschlag, ein gemeinsames Organ seitens des Sekretariates herauszugeben, ist zunächst abgelehnt. Auf der am 23. Februar 1896 in Haarlem abgehaltenen zweiten Jahresversammlung, auf der 22 Verbände vertreten waren, wurde mitgeteilt, daß sich im Jahre 1895 15 neue Organisationen dem Sekretariat angeschlossen hätten und dasselbe Ende 1895 31 Verbände und Vereine mit 18700 Mitgliedern umfaßte; doch scheint die Mitgliederzahl infolge von Doppelzählungen zu hoch gegriffen. Die 31 Organisationen sind folgende: 1. Allgemeiner Möbelarbeiterbund, 2. Internationaler Maler- und Anstreicherbund, 3. Niederländischer internationaler Tabak- und Zigarrenarbeiterbund, 4. Sozialistenbund, 5. Niederländischer Bürstenmacherbund, 6. Kalk- und Steinarbeiterbund, 7. Schneiderverein, 8. Metallarbeiterbund, 9. Erd- und Bergarbeiterverein, 10. Allgemeiner niederländischer Schriftsetzer(Typographen-)bund, 11. Allgemeiner niederländischer Holzarbeiterbund, 12. Niederländischer Bund der Eisenbahn- und Tramarbeiter, 13. Korkschneiderverein, 14. Steinhauerbund, 15. Neutraler SchmiedegesellenvereinAmsterdam, 16. Handlangerverein, 17. Blei- und Zinkarbeiterverein, 18. Verein der Arbeiter für Pfahlarbeiten, 19. Weber- und Spinnerbund, 20. Schneiderverein in Heerenveen, 21. Maschinisten- und Heizerbund, 22. Kombinierter Fachverein in Appeldoorn, 23. Verein der Schmiedegesellen und verwandter Fächer, 24. Oelschlägerverein in Zaandyk, 25. Sozialdemokratische Arbeiterpartei, 26. Kupfer- und Blecharbeiterbund, 27. Zuckerbäckerbund, 28. Spiegel- und Leistenmacherverein, 29. Bäckergesellenbund, 30. Arbeitersekretariat Maastricht, 31. Feldarbeiterverein.

Elf dieser Verbände haben ein eigenes Fachorgan.

Auf der am 28. Februar 1897 abgehaltenen dritten Jahresversammlung hatte sich die Anzahl der zugehörigen Vereine von 31 auf 44 erhöht, die Zahl der Mitglieder aber wird, auf Grund genauerer Zählungen, auf 17553 angegeben. Die Einnahmen betrugen 832,80 fl., die Ausgaben 658,81 fl. Die Streikkasse hatte 14923,70 fl. Einnahme und 15119,1 fl. Ausgabe.

Die Thätigkeit des Sekretariates hat sich bisher vorwiegend auf Organisationsfragen und die Behandlung der Streiks beschränkt. Eine am 23. Juni 1895 abgehaltene Versammlung der Hauptvorstände der Organisationen lehnte den Vorschlag der Begründung eines gemeinsamen Streikfonds ab, beschloß aber ein allgemeines Streikreglement und forderte die Vereine auf, sich bei Streiks gegenseitig zu unterstützen. Der Jahresbeitrag der Verbände für das Sekretariat wurde von 1 fl. auf 2½ fl. für je 100 Mitglieder erhöht. Als Aufgabe des Sekretariates wurde vor allem die Schaffung einer möglichst genauen Arbeitsstatistik bezeichnet.

In der bereits erwähnten Hauptversammlung vom 28. Februar 1897 wurde die Herausgabe einer monatlich erscheinenden gemeinsamen Zeitung wiederholt abgelehnt. Unter die Stellung der politischen Parteien zu dem Sekretariate einigte man sich dahin, daß deren Vertreter als solche auszuschließen seien, dagegen sich als Privatpersonen beteiligen könnten.

Unter den Verbänden der einzelnen Gewerbe ist der bedeutendste derjenige derDiamantarbeiter, der Anfang 1898 7500 Mitglieder zählte, eine jährliche Einnahme von 93630 fl. und eine Ausgabe von 104545 fl. hatte. Von den Ausgaben entfielen 68269 fl. auf Unterstützungen. —

DerTypographenbundzählte 1716 Mitglieder; die Einnahme betrug 2581 fl., die Ausgabe 2528 fl. Das Fachblatt hatte eine Auflage von 3700. Die im Januar 1898 abgehaltene Generalversammlung beschloß die Gründung einer Krankenkasse. Die Buchdrucker haben aber Anfang 1898 auch einen allgemeinen Kongreß unter Beteiligung aller Richtungen, insbesondere auch der katholischen Vereine, abgehalten, auf dem man einen einheitlichen Tarif aufstellte und dessen Durchführung mittels gemeinsamen Vorgehens beschloß;die Errichtung eines föderativen Zentralverbandes wurde ins Auge gefaßt.

Der Bund der Post- und Telegraphenbeamten zählt 55 Vereine mit 1850 Mitgliedern.

Der Bund der Weber und Spinner zählt 9 Vereine mit 1000 Mitgliedern und besitzt ein gemeinsames Fachblatt. Die Einnahme betrug 673 fl., die Ausgabe 624 fl.

Es besteht auch noch seit 28 Jahren ein allgemeiner niederländischer Arbeiterbund mit 3600 Mitgliedern und einer Jahreseinnahme von 2196 fl. Derselbe besitzt eine Begräbniskasse, an der auch andere Arbeiter teilnehmen können, mit 9870 Mitgliedern.

Uebrigens beginnt jetzt auch die holländische Regierung den sozialen Dingen ein größeres Interesse zuzuwenden. Ein am 23. Mai 1897 von der Regentin vollzogenes Gesetz über Errichtung von Arbeitskammern ist das erste greifbare Ergebnis dieser Politik.

In Zukunft können durch königliche Verordnung in einer Gemeinde oder in einer Gruppe von Gemeinden für ein jedes oder für mehrere verwandte Gewerbe gemeinsam Arbeitskammern errichtet werden. Diesen Kammern soll eine gleiche Anzahl von Arbeitgebern und Arbeitern angehören. Eine vierfache Aufgabe wird ihnen zugedacht, nämlich 1. das Sammeln von Informationen über Arbeiterangelegenheiten, 2. das Erstatten von Gutachten an die staatlichen, provinziellen oder städtischen Behörden in Bezug auf alle Fragen, welche die Interessen von Arbeit und Arbeitern berühren, 3. das Erstatten von Gutachten und das Ausarbeiten von Verträgen und Regelungen, wenn von einer bei Arbeiterangelegenheiten beteiligten privaten Seite ein derartiges Gesuch erfolgt, endlich 4. das Verhindern oder Beilegen von Arbeitsstreitigkeiten entweder durch direkte Vermittlung oder durch das Anraten zur Anrufung eines Schiedsgerichts.

Die Kammer soll mindestens jährlich viermal zusammentreten und außerdem auf Verlangen des Vorstandes oder eines Drittels der Mitglieder. Wähler ist jeder Niederländer, männlich oder weiblich, Arbeiter oder Arbeitgeber, der 30 Jahr alt ist. Wahlberechtigt sind alle männliche oder weibliche Personen, die im letzten Kalenderjahre in ihrem Bezirke den Beruf als Arbeitgeber oder Arbeiter ausgeübt haben und 25 Jahr alt sind. Die Kammer hat einen Vorstand, bestehend aus einem unparteiischen Vorsitzenden, zwei Beisitzern als Vertreter von Arbeitern und Arbeitgebern und einen Sekretär. Die Art der Beilegung von Streitigkeiten ist genau geordnet.

Auch die auf Grund der Neuwahlen im Juni 1897 zusammengetretene II. Kammer ist für soziale Reformen günstig gestimmt, insbesondere ist dietreibende Kraft in sozialpolitischer Richtung die neu gebildete „Liberale Union“, die bei den letzten Wahlen 30 Abgeordnete durchgesetzt hat und mit Nachdruck für soziale Verbesserungen eintritt. Aus dem im November 1896 veröffentlichten Programme sind folgende Punkte hervorzuheben: Erweiterung des Wahlrechts, insbesondere Befreiung vom Zensus, Arbeitskammern, Regelung des Arbeitsvertrages, Einschränkung übermäßiger Arbeitszeit auch für erwachsene Männer, Sonntagsruhe, Zwangsversicherung gegen Unfall, Krankheit, Invalidität und Alter mit Staatszuschuß, Wohnungsgesetz, Neuordnung des Armenwesens.

Demgemäß hat auch das auf Grund der Kammerwahlen neu gebildete Ministerium Pierson-Gormann-Borgesius die Bahn der Sozialreform eingeschlagen und die Thronrede, mit der die Kammer am 21. September 1897 eröffnet wurde, bezeichnet als Vorlagen u. a. ein Arbeiterschutzgesetz für Kinder und jugendliche Arbeiter, ein Gesetz über obligatorische Unfallversicherung und eine Regelung der Wohnungsfrage.

Fußnoten:[52]Die wichtigste Quelle für Holland ist der im Texte erwähnte Bericht der „Zentralkommission für Statistik“, der unter dem Titel:Statistik der Arbeidervereenigingen, utgeven door de Centrale Commission voor de statistik, s'Gravenhage 1894, van Weelden en Mingelen, im Buchhandel erschienen ist. Vgl. außerdem H.Polakin der „Neuen Zeit“ 1894/95, Nr. 2. S. 54 ff.Falkenbergu.MayerinBraun, Archiv f. soz. Ges. XI, 750. Endlich veröffentlicht das „Nationaal Arbeids-Secretariaat in Nederland“ seit 1893 jährliche Berichte. Die Adresse des Arbeitersekretärs ist: G. vanErkel, Amsterdam, Rozenstraat 155.[53]Gewählt sind: 17 Altliberale (früher 38), 30 Sozialliberale (früher 20), 4 Radikale (früher 2), 22 Antirevolutionäre (früher 15), 22 Katholiken (früher 25), 4 Sozialdemokraten, 1 Christlich-Historischer.

Fußnoten:

[52]Die wichtigste Quelle für Holland ist der im Texte erwähnte Bericht der „Zentralkommission für Statistik“, der unter dem Titel:Statistik der Arbeidervereenigingen, utgeven door de Centrale Commission voor de statistik, s'Gravenhage 1894, van Weelden en Mingelen, im Buchhandel erschienen ist. Vgl. außerdem H.Polakin der „Neuen Zeit“ 1894/95, Nr. 2. S. 54 ff.Falkenbergu.MayerinBraun, Archiv f. soz. Ges. XI, 750. Endlich veröffentlicht das „Nationaal Arbeids-Secretariaat in Nederland“ seit 1893 jährliche Berichte. Die Adresse des Arbeitersekretärs ist: G. vanErkel, Amsterdam, Rozenstraat 155.

[52]Die wichtigste Quelle für Holland ist der im Texte erwähnte Bericht der „Zentralkommission für Statistik“, der unter dem Titel:Statistik der Arbeidervereenigingen, utgeven door de Centrale Commission voor de statistik, s'Gravenhage 1894, van Weelden en Mingelen, im Buchhandel erschienen ist. Vgl. außerdem H.Polakin der „Neuen Zeit“ 1894/95, Nr. 2. S. 54 ff.Falkenbergu.MayerinBraun, Archiv f. soz. Ges. XI, 750. Endlich veröffentlicht das „Nationaal Arbeids-Secretariaat in Nederland“ seit 1893 jährliche Berichte. Die Adresse des Arbeitersekretärs ist: G. vanErkel, Amsterdam, Rozenstraat 155.

[53]Gewählt sind: 17 Altliberale (früher 38), 30 Sozialliberale (früher 20), 4 Radikale (früher 2), 22 Antirevolutionäre (früher 15), 22 Katholiken (früher 25), 4 Sozialdemokraten, 1 Christlich-Historischer.

[53]Gewählt sind: 17 Altliberale (früher 38), 30 Sozialliberale (früher 20), 4 Radikale (früher 2), 22 Antirevolutionäre (früher 15), 22 Katholiken (früher 25), 4 Sozialdemokraten, 1 Christlich-Historischer.

In Italien ist das Vereinsleben von je her stark entwickelt gewesen, wie die Neigung zu Geheimbünden beweist; auch das Klubleben umfaßt größtenteils nicht nur die höheren Klassen, sondern auch die Arbeiter. Vereinigungen der letzteren sind die über ganz Italien verbreiteten und mitgliederreichen fasci, die man als eine Zwischenstufe zwischen Bildungsvereinen und Gewerkvereinen Hirsch-Duncker'scher Richtung bezeichnen kann; sie stehen nicht allein nicht auf dem Boden des Klassenkampfes, sondern werden sogar häufig von Nichtarbeitern, insbesondere auch von den Arbeitgebern geleitet.

Eine besondere, mit den übrigen Arbeitervereinigungen des Landes nicht in organischer Verbindung stehende Organisation bilden diefasci dei lavoratoriin Sizilien, insbesondere in den Provinzen Palermo, Catania und Girgenti. Dieselben werden geleitet durch einen Ausschuß von 9 Personen, an deren Spitze der in den Zeitungen öfters genannte Buchhalter der Volkbank in Palermo,Garibaldi Bosco, steht. Die Vereinigungen, aus Männern und Frauen bestehend, haben das allgemeine Ziel der Erringung besserer Arbeitsbedingungen, sehen von politischen Forderungen ab und sind deshalb als gewerkschaftliche zu betrachten, obgleich die italienische Regierung sie als sozialistische bekämpft. Einige haben Lebensversicherungseinrichtungen, andere betreiben Kranken- und Unterstützungskassen, Vorschuß- und Konsumvereine.

Einen ähnlichen Karakter tragen dieHilfs- undUnterstützungsvereine(società di mutuo soccorso), die eine Unterstützung in einzelnen Notfällen des Lebens bezwecken, insbesondere bieten sie eine Versicherung gegen die aus Krankheit und Todesfall erwachsenden Vermögensnachteile, doch unterstützen sie auch im Falle von Arbeitslosigkeit und insbesondere auch bei Streiks und nähern sich dadurch dem gewerkschaftlichen Gebiete. Lebenslängliche Renten zu gewähren ist ihnen durch das Gesetz vom 15. April 1886 verboten. Die Mehrzahl der Mitglieder sind Handwerker und Kleingewerbetreibende, auch Kleinbauern; deshalb tragen die Vereine im ganzen einen kleinbürgerlichen Karakter, doch haben sie sich überwiegend der in den letzten Jahren gebildeten selbständigen Arbeiterpartei angeschlossen. Ueber die Ausbreitung dieser Vereine fehlen neuere Nachrichten; nach der amtlichen Statistik von 1885 gab es damals 4971 mit 804000 Mitgliedern und 32 Millionen Lire Vermögen.

Die eigentlichenGewerkvereine, die im Gegensatze zu der Unterstützung in einzelnen Notfällen die Hebung des Arbeiterstandes im allgemeinen und insbesondere die Verbesserung der Arbeitsbedingungen bezwecken, nennen sich in Italiensocietà di resistenzaund bezeichnen so ihren Kampfkarakter und ihre Hauptaufgabe des Eingreifens bei Streiks. Obgleich durch den erst 1890 aufgehobenen Art. 386 descodice penale italianojede Verständigung der Arbeiter untereinander zu dem Zwecke, „ohne vernünftigen Grund“ (senza ragionevole causa) die Arbeit einzustellen, zu verhindern oder Lohnsteigerungen herbeizuführen, mit Gefängnis bis zu 3 Monaten bestraft wurde, so haben doch schon früh einzelne Arbeitervereinigungen auch auf diesem Gebiete eine Thätigkeit entfaltet. Der allererste Verein dieser Art ist derHutmacherverband(federazione dei cappellai), doch ist die Verbindung der einzelnen Vereine untereinander sehr lose; der Vorschlag, die lokalen Organisationen zu zentralisieren, wurde auf dem Hutmacherkongreß in Intra 1885 von der Mehrheit abgelehnt. Die Zahl der zum Verbande gehörigen Vereine betrug 1891 85mit etwa 5000 Mitgliedern, was bei einer Gesamtzahl von 17292 Hutmachern (nach der Statistik von 1881) ein Verhältnis von 29 % bedeutet.

Der wichtigste Gewerkverein ist derjenige derBuchdrucker, der seit Anfang der 70er Jahre besteht. Die einzelnen Vereine haben freilich keine gemeinschaftliche Streikkasse, entrichten aber doch an das Zentralkomitee eine nach der Zahl der Mitglieder bemessene Steuer, aus der ausständigen Genossen ein Zuschuß gewährt wird. Der Hauptzweck, den der Verband verfolgt, ist Aufrechthaltung eines für Italien gemeinsam aufgestellten Tarifs. Die Zahl der Mitglieder betrug 1878: 2238, 1881: 2958, 1885: 3752, was bei einer Gesamtzahl von 14317 Buchdruckergehilfen ein Verhältnis von 26 % bedeutet.

Eine Frucht des großen Ausstandes im Jahre 1891 ist der Gewerkverein derMetallarbeiterin Mailand (federazione di resistenza agli operai metallurgici di Milano), der trotz polizeilichen Verbotes fortbesteht und sich neuerdings stark ausbreitet.

Endlich hat sich auf dem am 27. April 1894 in Mailand abgehaltenen Kongresse sämtlicher italienischerEisenbahnarbeitervereinigungenein Gewerkverein unter dem NamenLega dei ferrovierigebildet, der den Zweck der moralischen und materiellen Hebung der Klasse verfolgt, während die gegenseitige Hilfeleistung zunächst noch den einzelnen Vereinen überlassen bleibt. Zugleich wurde der Anschluß an die Arbeiterpartei beschlossen. Sie besitzt ein eigenes Fachblatt „Il Treno“ (der Zug). So haben wir hier den Abschluß einer Entwicklung: der altefascio ferrovieriostand durchaus auf dem Boden der oben bezeichneten Auffassung derfasci, konnte also als G.-V. nicht angesehen werden. Die später im Gegensatze dazu gegründeteUnione ferrovierivertrat den gewerkschaftlichen Standpunkt, lehnte aber anfangs politische Bestrebungen ab, bis diese auch in ihr das Uebergewicht erlangten und sie nun diese auch in die Kreise des altenfasciübertrug.

Die Hauptforderungen derlegasind: gesetzliche Regelung der Arbeitszeit und der Sonntagsruhe, Lohnminimum bei gleichem Lohne für Frauen und Männer, besondere Gewerbegerichte und Schiedsämter (probi viri) für die Eisenbahnen, Verstaatlichung der Eisenbahnen, Teilnahme der Arbeiterschaft an den Wohlfahrtseinrichtungen.

Einen sehr erheblichen Aufschwung der gewerkschaftlichen Entwicklung haben dieArbeiterkammern(camere di lavoro) herbeigeführt, eine Einrichtung, die mit den französischen Arbeitsbörsen und den Arbeitersekretariaten Verwandtschaft hat. Nachdem ein von dem (Mazzini'schen) XIV. allgemeinen Arbeiterkongreß in Genua 1876 gefaßter Beschluß, entsprechend den Handelsgerichten und Handelskammern auch Arbeitergerichte und Arbeiterkammern zu errichten, ohne weitere Wirkung geblieben war, wurde der Gedanke unter demEinflusse der am 28. April 1887 erfolgten Begründung der Arbeitsbörse in Paris insbesondere von dem Buchdruckerverbande wieder aufgenommen und es gelang zuerst in Mailand am 22. September 1891 eine Arbeiterkammer zu errichten. In den beiden folgenden Jahren folgten Bologna, Brescia, Cremona, Florenz, Monza, Parma, Pavia, Piacenza, Rom, Turin, Venedig, Neapel, Padua und San Pier d'Arena. Auf dem 1893 in Parma abgehaltenen ersten Delegiertenkongreß wurde die Begründung einesGesamtverbandes(Federazione italiana delle Camere del Lavoro) und die Einrichtung einesArbeitersekretariates(Segretariato nazionale del Lavoro) beschlossen. Die hier gleichfalls ins Leben gerufene und zuerst am 1. Januar 1894 erschienene eigeneZeitschrift(Giornale delle Camere del Lavoro), die in Mailand monatlich herausgegeben wurde, ist bereits nach neun Nummern wieder eingegangen. Die Spitze des Gesamtverbandes bildet dasZentralkomitee(comitato centrale), das zuerst seinen Sitz in Mailand hatte, denselben aber am 21. März 1895 nach Bologna verlegte. Jährlich finden Delegiertenkonferenzen statt, in denen die maßgebenden Beschlüsse gefaßt werden.

Die Arbeiterkammern sind nach ihrem Grundgedanken selbständige Klassenvertretungen der Arbeiterschaft. Sie erhalten von den Gemeinderäten jährliche widerrufliche Zuschüsse von 500–15000 Lire und haben dagegen jährliche Berichte zu erstatten. Dagegen sind sie, abgesehen davon, daß sie keine politische Thätigkeit betreiben dürfen, durchaus unabhängig. Ihre Aufgabe ist im allgemeinen die Vertretung der Interessen der Arbeiter. Im einzelnen werden in den Statuten aufgeführt: 1. die Sammlung von Nachrichten, insbesondere über die Lage des Arbeitsmarktes, 2. die Errichtung von Arbeitsnachweisen, 3. Einflußnahme auf die soziale Gesetzgebung, insbesondere Ausdehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung und Ueberwachung der bestehenden Gesetze, 4. Verhandlungen mit den Unternehmern, insbesondere bei Feststellung der Lehrlingsverträge und Herbeiführung einheitlicher Lohntarife, 5. Thätigkeit als Schiedsgerichte und Einigungsämter, 6. Förderung des Genossenschaftswesens, 7. Pflege der geistigen Interessen, insbesondere der Bildung in den Arbeiterkreisen durch Vorträge, Unterrichtskurse, Lesehallen, Bibliotheken u. s. w. Politische und religiöse Fragen sind allgemein ausgeschlossen.

Ueber die Abgrenzung der Mitgliedschaft ist bei der ersten Entstehung von Arbeiterkammern viel gestritten, insbesondere ob man ausschließlich Arbeiter oder auch andere Personen zulassen sollte, wobei in Betracht kommt, daß in den meisten bestehenden Arbeitervereinen auch Arbeitgeber vertreten sind, so daß man bei deren Ausschließung den Beitritt der Vereine als solcher nicht hätte gestatten dürfen. Obgleich die Regelung in den einzelnen Städten verschieden ist, so werden doch im allgemeinen sowohl Einzelpersonen als Vereine zurMitgliedschaft zugelassen, aber man hat dadurch eine gewerkschaftliche Organisation und eine allmähliche Ausscheidung der nicht zu der Arbeiterklasse gehörenden Elemente herbeigeführt, daß in den Kammern besondereFachabteilungengebildet sind, deren Mitgliedschaft mehr oder weniger weitgehende Rechte innerhalb der Kammer begründet.

Ueber den Mitgliederbestand der einzelnen Kammern liegen nur Zahlen aus dem Jahre 1895 vor. Damals gab es in Bologna 9628, in Cremona 4494, in Florenz 4000, in Mailand 12000, in Neapel 2600, in Parma 1800, in Pavia 1134, in Rom 10782, in Turin 4806, in Venedig 9163 Mitglieder. Zu den meisten Kammern stehen die Unterstützungsvereine, die Kampfvereine und die Genossenschaften in dem Verhältnis als „società aderenti“.

Das Verhältnis zu den städtischen Behörden war durchweg ein durchaus freundliches; obgleich vielfach ausgesprochene Sozialdemokraten an der Spitze der Kammer standen, aber gerade indem die italienischen Arbeiter, schon bevor die Sozialdemokratie eine ausschließliche Herrschaft erlangt hat, zu einer geordneten praktischen Mitarbeit und Vertretung ihrer Interessen herangezogen werden, ist vorgesorgt, daß die Arbeiterverhältnisse sich in gesunden Bahnen entwickeln.

Aber der reaktionäre Wind, der in den letzten Jahren in anderen Staaten zur Herrschaft gelangt ist, hat auch in Italien die viel versprechende Schöpfung gestört. Nach § 260 des Gesetzes über die Gemeindeverwaltung dürfen die Gemeinden Ausgaben nur für gemeinnützige Zwecke beschließen. Der Minister erforderte nun ein Gutachten des Staatsrates darüber, ob die in den oben genannten Städten in den Etat aufgenommenen Zuschüsse für die Arbeiterkammern als gemeinnützige Ausgaben angesehen werden könnten, und in der Sitzung vom 12. November 1896 entschied der Staatsrat dahin, daß die Arbeiterkammern, selbst wenn sie sich durchaus auf ihre legalen Aufgaben beschränkten, doch nur als Einrichtungen im Interesse einer bestimmten Klasse von Personen anzusehen seien. Der Minister hat nicht allein durch Erlaß vom 28. November 1896 dieses Gutachten den Präfekten zur Nachachtung mitgeteilt, sondern ist noch weiter gegangen und hat kurz darauf die Arbeiterkammern völlig aufgehoben mit der Begründung, daß sie nicht wirtschaftliche, sondern ausschließlich politische Zwecke verfolgten. So wird also auch Italien vor dem Schicksale nicht verschont bleiben, daß alle eingreifenden sozialen Reformen erst durch den Einfluß der erstarkten Sozialdemokratie erzwungen werden müssen.

Bis zu dieser jüngsten Aera wandelte die italienische Gesetzgebung auf der Bahn der sozialen Reform. Nicht allein wurde durch Gesetz vom 8. Juli 1883 eine nationale Kasse für Versicherung gegen Betriebsunfälle begründet,sondern durch Gesetz vom 15. April 1886 sind auch die Verhältnisse der freien Hülfskassen (Società di mutuo soccorso) dahin geregelt, daß Unterstützungsvereine der Arbeiter, die sich aber auch mit Bildungszwecken befassen dürfen, durch Eintragung die Rechte der juristischen Persönlichkeit erlangen. Endlich ist am 15. Juni 1893 ein Gesetz über Gewerbeschiedsgerichte und Einigungsämter (Collegii dei probi viri) erlassen.

Die Aufgaben, welche in anderen Ländern die Gewerkschaften übernommen haben, sind bisher den politischen Parteien zugefallen. Insbesondere ist die bürgerliche Demokratie, die unter der Fahne des fast als Nationalheiligen verehrtenMazzinikämpft, von je her stark mit sozialem Oele gesalbt gewesen. Der vonMazziniselbst begründetePatto di fratellanzahat schon seit mehreren Jahren sich mit anderen ihm nicht angehörenden, aber nahe stehenden Vereinen zur Abhaltung gemeinsamer Arbeiterkongresse verbunden, die deshalb den Namencongresso operaio italiano delle società affratellate ed aderentehaben. Der XVIII. Kongreß dieser Art, der Ende Mai 1892 in Palermo abgehalten und von 415 Brudervereinen und 274 Anschlußvereinen durch insgesamt 217 Abgeordnete beschickt wurde, führte zu lebhaften Auseinandersetzungen zwischen Kollektivisten und Individualisten, und während der Kongreß von Neapel 1889 die individualistische Tagesordnung angenommen hatte, entschied man sich hier für eine neutrale Resolution, die lediglich die Notwendigkeit einer vollständigen politischen und sozialen Emanzipation betont. Zugleich beschloß man die Bildung einer umfassenden Arbeiterpartei und setzte einen Ausschuß ein, um innerhalb sechs Monaten mit den übrigen nationalen und regionalen Arbeiterverbänden einefederazione dei lavoratori d'Italiains Leben zu rufen auf Grundlage der Erwägung, daß „das moderne Leben sich ausdrückt im Kampfe des Proletariats gegen den Kapitalismus zur Erlangung wirtschaftlicher Gerechtigkeit“.

Aber in diesen Bestrebungen ist die bürgerliche von der sozialen Demokratie überflügelt. Bisher hatte die letztere in Italien keine erheblichen Erfolge aufzuweisen, zumal sie an dem Anarchismus einen starken Gegner hatte. Den Kern der sozialistischen Bewegung bildete bisher dieLega socialistain Mailand unter der geistigen Leitung des Herausgebers derCritica socialedes AdvokatenTurati. Diese berief auf den 2. und 3. August 1891 nach Mailand einen italienischen Arbeiterkongreß, auf dem gleichfalls beschlossen wurde, eine italienische Arbeiterpartei zu begründen. Der eingesetzte Ausschuß hat dann nach umfangreichen Vorarbeiten eine konstituierende Versammlung (congresso per l'organizatione operaia italiano) ausgeschrieben, die am 14. und 15. August 1892 in Genua zusammentrat. Da man alle Arbeitervereinigungen zugelassen hatte, so war es begreiflich, daß es zu einer Auseinandersetzung zwischen Sozialistenund Anarchisten kommen mußte, und obgleich die Präsidentenwahl, bei der für die ersteren 106, für die letzteren 46 Stimmen abgegeben wurden, das Uebergewicht der Sozialisten ergeben hatte, so räumten dieselben doch das Feld und eröffneten am 15. August einen neuen Kongreß, auf welchem die Gründung eineritalienischen Arbeiterpartei(partito dei lavoratori italiani) erfolgte. Das Organ derselben ist „La Lotta di Classe“. Auf dem Kongresse waren 192 Arbeiterorganisationen vertreten, unter ihnen auch 450società affratellate.

Vom 8. bis 10. September 1893 ist in Reggio (Emilia) der zweite Parteitag abgehalten, auf dem 164 Abgeordnete anwesend waren.

Die Partei ist zweifellos als politische zu betrachten, da sie nicht allein die Vergesellschaftung der Arbeitsmittel und der Produktion in ihr Programm aufgenommen hat, sondern dies Ziel auch dadurch erreichen will, daß sie sich in Besitz der staatlichen Macht setzt. Immerhin hat sie auch rein gewerkschaftliche Zwecke, will aber diese im Rahmen des Parteiverbandes durch besondere Organisationen verfolgen, indem sie als Aufgaben bezeichnet:

1. den gewerkschaftlichen Kampf zur unmittelbaren Verbesserung der Lebenslage des Arbeiters hinsichtlich der Arbeitszeit, des Lohnes, der Fabrikordnungen u. dgl., ein Kampf, dessen Leitung den Arbeiterkammern und den Gewerkvereinen übertragen wird;

2. einen umfassenderen Kampf zur Eroberung der politischen Machtstellung.

Gewerkschaftliche Angelegenheiten sollen nur von den G.-V. behandelt werden, und Mitglieder der letzteren dürfen nur Handarbeiter sein, während an der politischen Organisation auch andere Personen teilnehmen können.

Bei der geringen Entwickelung der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterverbände ist es von Interesse, daß sich in Italien eine eigenartige Ausbildung desGenossenschaftswesensvollzogen hat, die sich an die russischen Kartelle anlehnt. Diesocietà cooperative di lavorohaben den Zweck, unmittelbar vom Staate, den Gemeinden und auch Privatleuten Arbeiten zu übernehmen und so den Verdienst der Zwischenpersonen auszuschließen. Die Mitglieder sind sämtlich Arbeiter. Von den erzielten Ueberschüssen werden gewöhnlich erhebliche Beträge in Reservefonds für Pensions-, Kranken- und Invalidenkassen zurückgelegt, der Rest wird verteilt. Durch das Gesetz vom 11. Juni 1889 wird die Gründung solcher Genossenschaften begünstigt, die denn auch bereits unter den Pflasterarbeitern, Fuhrleuten, Handlangern, Maurern, Steinhauern, Bildhauern, Malern, Lackierern u. s. w. ins Leben getreten sind. Von 1889–1894 wurden an 146 Arbeitsgenossenschaften Arbeiten im Betrage von 9½ Millionen Mark vergeben. Ende 1894 bestanden 530 anerkannte Genossenschaften. Einige derselben haben sich auch zu größeren Verbänden zusammengeschlossen.

Eine Zeit der heftigsten Verfolgung der Partei begann, als Crispi Ende 1893 zum zweiten Male das Ministerpräsidium übernahm. In Veranlassung der Unruhen in Sizilien, für die man die Partei verantwortlich machte, beschloß Anfang Juli 1894 die Kammer auf Vorschlag der Regierung eine Reihe von Gesetzen, die der Regierung das Recht gaben, alle Versammlungen der Partei zu verbieten, und sogar die Führer in bestimmten Orten zu internieren. Am 22. Oktober 1894 wurde darauf die „sozialistische Arbeiterpartei“ durch Beschluß der Regierung aufgelöst.

Aber trotz des Verbotes gelang es, am 13. Januar 1895 einen Kongreß nach Parma einzuberufen und im geheimen abzuhalten. Hier wurde der Name „Italienische sozialistische Partei“ angenommen und beschlossen, daß nicht mehr Vereine als solche, sondern nur noch Einzelmitglieder der Partei angehören können. Bei den Parlamentswahlen, die am 26. Mai und 2. Juni 1895 stattfanden, erhielt die Partei 80000 Stimmen gegen 27000 im Jahre 1892, und obgleich man 20–25000 als Unterstützung der Radikalen abziehen muß, so bedeutet dies doch eine starke Verdoppelung innerhalb drei Jahren. Die Anzahl der Abgeordneten stieg von 5 auf 12.

Die Niederlage der italienischen Truppen in Adua Anfang März 1896 führte dann zum Sturze Crispis, und da auch die Verlängerung des mit Ende 1895 ablaufenden Internierungsgesetzes von der Kammer abgelehnt war, so war damit der Höhepunkt der Verfolgung überschritten. Der am 11.–13. Juni 1896 abgehaltene Kongreß von Florenz zeigte eine neue Stärkung der Partei, denn während in Reggio nur 294 Vereine in 209 Orten vertreten gewesen waren, zählte man jetzt 450 in 420 Orten. Allerdings war die Mitgliederzahl von 107830 in Reggio auf 28000 herabgegangen, aber dies war nur die Folge des Grundsatzes der unmittelbaren Mitgliedschaft, und die 21000 waren ausschließlich solche Personen, die eingeschrieben waren und regelmäßig ihre Beiträge gezahlt hatten. Die Partei verfügt über 27 Zeitungen, von denen einige, wie „La Lotta di Classe“, „Battaglia“, „Giustizia“, bis zu 7500 Auflage haben. Das wissenschaftliche Organ der Partei ist die „Critica Sociale“.


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