The Project Gutenberg eBook ofDie Kammerjungfer: Eine StadtgeschichteThis ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online atwww.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.Title: Die Kammerjungfer: Eine StadtgeschichteAuthor: Marie NathusiusRelease date: December 18, 2019 [eBook #60954]Most recently updated: October 17, 2024Language: GermanCredits: Produced by the Online Distributed Proofreading Team athttp://www.pgdp.net (This book was produced from scannedimages of public domain material from the Google Booksproject.)*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KAMMERJUNGFER: EINE STADTGESCHICHTE ***
This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online atwww.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.
Title: Die Kammerjungfer: Eine StadtgeschichteAuthor: Marie NathusiusRelease date: December 18, 2019 [eBook #60954]Most recently updated: October 17, 2024Language: GermanCredits: Produced by the Online Distributed Proofreading Team athttp://www.pgdp.net (This book was produced from scannedimages of public domain material from the Google Booksproject.)
Title: Die Kammerjungfer: Eine Stadtgeschichte
Author: Marie Nathusius
Author: Marie Nathusius
Release date: December 18, 2019 [eBook #60954]Most recently updated: October 17, 2024
Language: German
Credits: Produced by the Online Distributed Proofreading Team athttp://www.pgdp.net (This book was produced from scannedimages of public domain material from the Google Booksproject.)
*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KAMMERJUNGFER: EINE STADTGESCHICHTE ***
Eine Stadtgeschichte
von
Maria Nathusius,
Verfasserin der Dorfgeschichten:Martha die Stiefmutter,Lorenz der Freigemeindler, Vater, Sohn und Enkelu. s. w.
Halle,Verlag von Richard Mühlmann.1851.
Es bleibt dabei, ich vermiethe mich! sagte Klärchen zu ihrer Mutter. Eine Schneiderin führt ein trauriges Leben, ein Tag geht so grau und einförmig hin wie der andere, keinen vernünftigen Menschen kriegt man zu sehen, sitzen muß man vom Morgen bis zum Abend, und sitzen bleiben und eine alte Jungfer werden ist das Ende vom Liede.
Du weißt selbst nicht was Du willst, sagte ihre Mutter. Weißt Du noch, was Du sagtest vorigen Martinstag, wie Tante Rieke Dir den Rath gab, Du solltest in einen Dienst gehen? Da hast Du von Sklaverei gesprochen und die Nase gerümpft, und ich war's auch zufrieden: es wäre doch eine Sünde und Schande, wenn eine alte Frau allein wohnen müßte ohne Hülfe und Pflege. Aber ich sage: Du weißt nicht was du willst. Kannst Du's besser haben, wie Du's jetzt hast? Bist Dein eigner Herr, kannst thun was Du willst, und brauchst Dich nicht von fremden Leuten traktiren zu lassen. Ach, wenn ich anmeineJugend denke!
Ja, ja, Deine Jugend kenne ich, fiel ihr Klärchen schnippisch in das Wort; so dumm wie Du werde ich nicht sein, Du hättest den Rechtsgelehrten nur festhalten sollen. Tante Rieke sagte vorgestern sehr salbungsvoll, wie Deine Schönheit Dein Unglück gewesen; da hätte sie nur aufrichtig sagen sollen: Dein Ungeschick. Ich sage Dir aber,meineSchönheit sollglücklicher sein. – Hierbei lachte sie, hüpfte an den Spiegel und ordnete noch einmal zum Ueberfluß ihren Sonntagsstaat.
So gottvergessen wie Du habe ich nie geredet, entgegnete die Mutter, und das Unglück ist doch über mich gekommen, ich weiß nicht wie.
Das ist's eben, fiel ihr Klärchen wieder in die Rede: Du weißt nicht wie. Gerade das nicht Wissen das ist der Fehler, ich werde aber wissen! Und nun um alles in der Welt, höre auf zu jammern. Heute ist Sonntag. Ursach dazu hast Du nicht, und ich sehe nicht ein, warum ich zuhören sollte. Mir steht die ganze Welt offen, und die Welt ist schön, wunderschön! Ich vermiethe mich, oder ich vermiethe mich nicht, es muß immer gehen. Für jetzt ziehe ich zur alten Frau Generalin, da habe ichs gut, und Geld im Ueberfluß.
Und ich hungere, sagte die Mutter in weinerlichem Ton.
Dafür wird Tante Rieke sorgen müssen, die hat das Geld im Kasten liegen. Es ist schändlich genug, daß sie mich hat schneidern und sticheln lassen, damit ich ihre einzige Schwester ernähre. Das hört nun auf. Ich muß für meine Zukunft sorgen, mein Lohn wird gespart; wenn man das Geld in großen Partieen einnimmt, kann man's besser festhalten, die einzelnen Viergroschenstücke trudeln unter den Händen fort. Tante Rieke, die die christliche Barmherzigkeit immerfort im Munde führt, mag sich auch mal mit den Händen regen. Und kurz und gut, wenn kein Anderer da ist, ist sie die Nächste. Und Mutterchen (setzte Klärchenschmeichelnd hinzu), Du hast nur den Vortheil davon, wenn die Tante gepreßt wird; denn ich werde auch für Dich sorgen, da kommt's von zwei Seiten. Klage nur hübsch, und rühre ihr Herz; aber gegen mich höre auf damit (schloß sie lachend), ich kenne Deine Kniffe und bei mir helfen sie nichts mehr. – Bei diesen Worten zog sie eine schwarze seidene Mantille aus einer Schublade, und einige Geldstücke klapperten daneben. Sie warf der Mutter ein Zweigroschenstück in den Schooß und rief lachend: Hier, kaufe Dir Kuchen und feiere Sonntag; aber schicke Kleist's Dortchen, dann denkt der Becker, es ist für die Herrn Studenten. Du verstehst mich doch?
Kleiner Tausendsapperloter! sagte die schwache Mutter. Ihr Töchterchen hatte sie völlig beruhigt. Besonders war das Letzte ein wirksames Mittel; und auch die Bemerkung über die Tante Rieke war ganz richtig, diese mußte mehr geben, wenn Klärchen den Haushalt nicht unterhielt. Sie konnte es auch, sie war eine reiche Wittwe und hatte nur eine Pflegetochter; und wenn Klärchen dann im Stillen doch noch mit sorgte, wie es sich für eine gute Tochter geziemt, so stand die Mutter sich bei weitem besser.
Frau Krauter war die Wittwe eines Ginghan-Webers. Sie war in ihrer Jugend schön und leichtsinnig gewesen, und hatte nach vielen Abenteuern den Mann geheirathet, der schon damals innerlich und äußerlich ziemlich verkommen war. Es ward aber von Jahr zu Jahr schlechter mit ihm, und er starb, nachdem er beinahe zehn Jahr seine Frau in fortwährendem Jammer und in Noth erhalten hatte. Zum Glückblieb Klärchen ihr einziges Kind, und zum Glück hatte sie eine reiche Schwester, die ihr in der Noth eine Stütze war. Noth und Jammer aber hatten keinen Einfluß auf Frau Krauter geübt; sie war leichtsinnig geblieben, war faul, unordentlich und genußsüchtig, und wenn sie auch reichlich Thränen über sich und ihre Schicksale vergießen konnte, die Thränen kamen nicht tief aus dem Herzen; bei einer Tasse Kaffee und einem leichtfertigen Geschwätz war bald Alles vergessen. Klärchen war das Ebenbild der Mutter, nur daß sie noch schöner und zugleich schlauer war, und so der Welt und dem Verderben noch mehr Preiß gegeben.
Tante Rieke, auch Wittwe, und zwar die sehr wohlhabende Wittwe des seligen Seifensiedermeisters Bendler, war ganz das Gegentheil der Schwester. Sie war eine gottesfürchtige, achtbare, schlichte Bürgersfrau. Sie hatte vergeblich ihren Einfluß auf Mutter und Tochter zu üben gesucht; sie erlangte nur das eine, daß beide sich vor ihr scheuten und sich soviel als möglich von der besten Seite zeigten; und das war freilich schlimmer, als wenn sie sich in ihrer wahren Gestalt gezeigt hätten.
Nachdem Klärchen mit ihrer Mutter das mitgetheilte Zwiegespräch gehabt, rüstete sie sich singend zu ihrem Sonntagsvergnügen. Die seidene Mantille ward umgethan, und das Geld, das da herausgepoltert, in die Tasche gesteckt. Darauf suchte sie aus einem Wust anderer Sachen ein gesticktes baumwollenes Taschentuch hervor. Sie warf es wieder fort, denn ein langes Ende abgerissener Spitze hing daran. Siegriff nach einem zweiten, da waren einige Risse in der Mitte.
Die infamen baumwollenen Tücher halten für gar nichts! sagte sie ärgerlich.
Gieb her, Kind, ich hefte es gleich ein Bißchen zu! tröstete die Mutter, fädelte eine Nadel ein und zog mit langen Stichen die Risse zu. Während dessen suchte Klärchen aus einem Häufchen heller Glaceehandschuh das leidlichste Paar heraus.
Wo in aller Welt nur immer die rechten Handschuh bleiben! klagte Klärchen wieder. Linke habe ich wohl sechs, sieben, und rechte nur drei, und dumm genug habe ich vergessen sie waschen zu lassen, sie sehen aus wie die Mohren. Ach was! setzte sie entschlossen hinzu: ich hole ein Paar neue. Sechs Groschen mehr oder weniger! Zu meinem himmelblauen Musselin-Kleide gehören reine Handschuh.
Tante Rieke sagte am vergangenen Sonntag: Solltest lieber waschlederne Handschuh tragen wie Gretchen. Denke mal an, die hat ihre Confirmationshandschuh noch.
Wahrhaftig? staunte Klärchen; nein, das Mirakel muß ich meinen Freundinnen erzählen, es sieht aber akkurat aus wie Gretchen Bendler. Zur Kirche und höchstens zu einem ehrbaren Spaziergang in's Feld werden die Handschuh angezogen, aber eine Hand hat Gretchen in den waschledernen wie ein Eisbär. Nun gut, ein jeder sehe wie er's treibe, ein jeder sehe wo er bleibe, sagt Göthe. Auch sind die Gaben der Menschen verschieden. – Bei diesen Worten hatte sie die himmelblaue Hutschleife zugebunden, das geflickteTaschentuch geschickt über die schmutzigen Handschuh gelegt, und wollte nun mit einem leichten Adieu zur Thür hinaus.
Warte, Klärchen! rief die Mutter, da kömmt Dein Hemd an der Schulter zum Vorschein und gerade ein rechter Ratsch darin.
Stopf' es nur tief genug unter, sagte Klärchen gleichgültig, und nachdem das geschehen, ging sie fort.
Alle Schneiderinnen, sagt man, sind unordentlich, weil sie immer mit der Nadel für Andere beschäftigt, nie Zeit für ihre eigne Arbeit finden. Klärchen war es aber nicht allein als Schneiderin, sondern noch dazu als unordentliche Tochter einer unordentlichen Mutter, und als über ihren Stand hinaus verwöhnte und verbildete Jungfrau. Daß die Kleider sechs Ellen weit sein mußten und wo möglich den Staub auf der Straße kehren, war ihr von höchster Wichtigkeit; auch durften die Manschetten nicht fehlen, Mantillen, Kragen, gestickte Taschentücher und Unterröcke mit Frisuren. Ob ihr Hemd zerrissen, war ihr gleichgültig, ja, außerordentlich gleichgültig! Das sah ja Niemand. Unangenehmer war es schon, fehlte der Hacken im Strumpf, oder die Sohle am Schuh, aber auch das machte ihr nicht großes Bedenken, es wurde geschickt verborgen, die langen Kleider waren auch hier von Nutzen. Mit der Muhme Gretchen hatte sie neulich erst einen derben Strauß gehabt; denn war Gretchen auch nicht gebildet, so war sie doch gescheut und derb und kurz angebunden. Sie sah den Unterrock mit den breiten Frisuren, und sagte, das wäre ganz verrückt nun, gar an einem Unterrock den überflüssigenStaat. Klärchen aber erklärte sachverständig, daß eine ordentliche Toilette – bei diesem Worte hob Gretchen etwas höhnend Klärchens Arm in die Höhe und zeigte wie der Aermel halb aus den Nähten war; Klärchen fuhr nach einer kurzen Entschuldigung aber ärgerlich fort: daß zu einer ordentlichen Toilette solch ein Rock nothwendig sei, um die Kleider unten gehörig breit zu erhalten. Besonders, fügte sie schnippisch hinzu, paßt das für schlanke Leute; für Biertonnen ist's nun mal nicht nöthig. Gretchen wußte darauf keine verblümte Antwort zu geben, sie sagte aber kurz: Schäme Dich was mit Deinen Grobheiten, dafür setz' Dich hin und flicke und stopfe wo's Noth thut, und verthu' Dein Geld nicht unnütz; mit den Frisuren am Rock lockst Du keinen Hund aus dem Ofen, und ich sage Dir, Du wirst es noch mal bitterlich bereuen, daß Du so eine Thörin warest. Du hältst es so sehr mit der Welt, aber ich sage Dir, sie wird Dir noch mal ein X für ein U machen; und Du denkst, da ist Dein Himmelreich, aber ich sage Dir, das ist wo anders. – Ach Gott! jetzt kriegt' es Klärchen mit dem Schreck, gewiß wollte Gretchen mit ihrem Herrn und Heilande kommen, denn von dem sprach sie, als ob die Sache ganz ihre Richtigkeit hätte. Gretchen war überhaupt so sehr in der Zeit und Bildung zurück, sie kannte keine Romane, wußte nichts von Eugen Sue, von der George Sand und von keinem Musen- und Liebes-Almanach, kannte nur nothdürftig die Classiker ihres Vaterlandes dem Namen nach, und auch darüber spottete Tante Rieke. Mutter und Tochter lasen nur in der Bibel, in Andachtsbüchern, oder in andern Büchern,die ihnen vom Pastor an der Stephans-Kirche zugestellt wurden. Der Pastor an derselben war nämlich ein Erzpietist, der predigte nichts weiter als vom Heiland und machte den Leuten Himmel und Hölle heiß. Klärchen aber, als sie merkte, wo hinaus ihre Muhme jetzt wollte, schnitt das Gespräch ab und gab gütlich nach. Sie wollte es doch mit Gretchen ebenso wenig als mit Tante Rieke verderben, und beide hingen aneinander wie die Kletten. Klärchen dachte hochmüthig: Ein jeder sehe wie er's treibe, und: Eines schickt sich nicht für Alle. Gretchen ist nun mal ein hausbackenes Mädchen; sie mag sich drum gern ihre Hemden selber spinnen, dunkelblaue Strümpfe, hohe lederne Schnürschuhe und waschlederne Handschuh tragen, sie macht auch keine Ansprüche für die Zukunft und gehört so recht in den Handwerkerstand hinein. Dagegen Klärchen? Sie seufzt, – ihr Herz schlägt gewaltig, – was wird aus ihr wohl werden? jedenfalls etwas ganz Besonderes. O süße Zukunft: lachende Kleider, lachende Gesichter, Liebe, Lust und Wonne! Jetzt zog sie zur Frau Generalin: Da kam sie in feine Kreise, vornehme Personen gehen aus und ein, es ist so manches in der Welt passirt, es kann auch passiren, daß sie ihr Glück macht. Es kann? nein, es muß, es wird, sie hat eine selige Ahnung davon in ihrem Herzen. Die nächste Seligkeit, die zu erringen, ist ein seidenes Kleid, eine Brosche, ein unächter Shawl und ein Sammethut – dann aber kann es ihr ganz gewiß nicht fehlen; dann kommen die wunderbaren Begebenheiten! Und sie, die einem solchen Geschicke entgegen geht, sollte sich mit stopfen und flicken abgeben?ein jeder begreift die Richtigkeit, nur das hausbackene Gretchen nicht. Aber Gretchen ist nicht nur hausbacken, sie ist auch ungebildet, denn sie glaubt an einen Herrn und Heiland, und sagt, sie könne keine Stunde ohne ihn leben. Armes Gretchen! Klärchen hat den Heiland nicht nöthig, sie wüßte wahrlich in aller Welt nicht, wozu sie ihn nöthig hätte. Die Tante Rieke sagt zwar, er müßte uns von unserer Sünde erlösen, und wir gingen ohne ihn in Nacht, in Wüsten, in Unverstand und wie sie weiter sagt; aber das konnte Klärchen nicht fassen, sie wußte nichts von Sünde, von Nacht und Dunkelheit und gar von Unverstand. Eine Christin wollte sie auch sein; sie hatte, was nöthig war, gelernt, aber wozu, das sah sie noch nicht ein, es hatte sich noch keine Gelegenheit gefunden, um Gebrauch davon zu machen. Nur vom Einfachsten und Verständlichsten zu reden, von den zehn Geboten, wozu war das siebente für sie da: »Du sollst nicht stehlen?« Es fiel ihr gar nicht ein. Oder: »Du sollst nicht andere Götter haben neben mir?« Sie war doch keine Heidin, die an Jupiter und Mars glaubte. Oder: »Du sollst Vater und Mutter ehren?« Ei, sie that mehr als ihre Pflicht: Tag und Nacht so zu sagen quälte sie sich, um ihre Mutter zu ernähren. Nein, sie hatte gar Nichts an sich auszusetzen; um sie herum war Alles licht und helle und sie brauchte keinen Erlöser. An den lieben Gott glaubte sie wohl, sie verließ sich zwar nicht auf ihn, als ob er ihr Schicksal leiten und lenken könne, – das verlangte sie gar nicht, sie wollte das allein thun; sie war schön und jung und klug und gebildet, ihr Glück verstand sich vonselbst. Nur zuweilen kam es wie Furcht über sie. Vor nicht langer Zeit waren die schwarzen Pocken in ihrer Straße, ein großer Schreck fuhr in ihre Glieder, sie ließ sich aber schnell impfen und meinte nun wieder ruhig sein zu können. Als bald darauf die Cholera kam und in ihrer Nähe Jung und Alt dahinraffte, da ging das Bangen wieder an. So gut wie die sterben, kannst Du auch sterben, – das sah sie ein, und sterben war ein schrecklicher Gedanke. Was wird dann aus ihr? ja was? Tante Rieke unterließ es nicht, in der Zeit vom Sterben zu reden und von der Strafe und vom ewigen Verderben. Klärchen hörte solche Worte nicht gern, sie ward bänger und bänger, und war doch wieder wie gebannt zu lauschen. Sie konnt' es nicht fassen, daß die Tante und Gretchen so ruhig waren und vom Tode redeten als von gar nichts Fürchterlichem; denn wenn sie des Nachts aufwachte und so allein mit ihren Gedanken war, da befiel sie oft eine Angst, daß ihre Glieder bebten. Ob du wohl sterben mußt? dachte sie. Und was dann? Aber Gott sei Dank, die Zeit war vorüber, das Leben wieder rosenroth, Klärchen dachte nicht mehr an Tod und Gericht, und wenn die Tante jetzt von solchen Dingen redete, da hörte sie mit offenen Ohren nicht, sie senkte den Kopf auf die Arbeit, und ihre Gedanken gingen mit ihren tollsten Fantasien durch.
Als sie heut das Stübchen ihrer Mutter verlassen, ging sie einige Häuser weiter um eine Freundin abzuholen. Sie klopfte an ein niedriges Fenster parterre. Der Briefträger Vogler trank eben Kaffee und las die Zeitung dazu. Als er Klärchen sah, machte er das Fenster auf.
Nun Ihr Jüngferchens – wieder schwitisiren? sagte er spaßend.
Ei ja, ist man doch nur einmal jung! entgegnete Klärchen lustig.
Ja ihr Schelme! versetzte Vogler, ich wollte auch, ich wäre noch jung.
Ach, Sie sind ein Mann in Ihren besten Jahren, sagte Klärchen schmeichelnd.
Ich denke es auch manchmal; aber wenn ich denn meine Alte ansehe, wird mir schwarz vor den Augen, lachte Vogler und sah nach seiner Frau, die ihm gegenüber blaß und elend im Lehnstuhl saß.
Wenn ich todt bin, heirathest Du wieder, entgegnete diese bitter und holte dann schwerfällig Athem.
Und so lange Du lebst, lasse ich Dich keifen, fügte Vogler wieder scherzend hinzu.
Wie ungebildet sind diese Leute, dachte Klärchen; wie kann ein Mann die Frau so roh behandeln! So aber hat es der Vater mit der Mutter auch gemacht. Aber ich, ich werde es einst anders haben, ich nehme mir einen vornehmen Mann, – und nun hinaus in den lachenden Kaffeegarten!
Auguste Vogler hatte sich während der Zeit fertig gemacht und ging nun etwas schwerfällig neben der leichtfüßigen Freundin her. Auguste war weder schön, noch klug, noch fein; sie hatte das plumpe rothe Gesicht ihres Vaters, grobe Manieren und sprach dabei unglaublich albern. Aber das war gerade eine Freundin für Klärchen. Sie war fügsam und folgsam, durchschaute nicht ihre Intriguen, war ganz zufriedenmit der Nebenrolle, und hatte dabei immer als verzogenes Kind ihres Vaters die Börse voll Geld.
Beide Mädchen verließen die Stadt und gingen auf der Chaussee entlang dem Orte ihres Vergnügens zu. Klärchen bemerkte, daß sie ein Gegenstand der Aufmerksamkeit für Vorübergehende war: aber die Leute waren ihr noch nicht die rechten, es waren meistens Gesellen, oder Soldaten, oder höchstens ein Handlungsdiener; sie gedachte höher hinaus. Bald kam ihnen eine Reihe Studenten entgegen, mitten darunter eine orangegelbe Mütze. Das war der rechte; sie nahm ihr ganzes Wesen zusammen und erwiederte den Gruß mit vieler Holdseligkeit. Auguste machte bald die Entdeckung, daß die Studenten umgekehrt waren und ihnen auf dem Fuße folgten. Klärchen zweifelte nicht, daß es um ihretwillen war, und Auguste gönnte der Freundin den Triumph; sie war zufrieden, an der augenblicklichen Lust theilnehmen zu können; feine Pläne für die Zukunft machte sie nicht. Nach einigen Minuten kam ihnen wieder ein junger Mann entgegen, der sie grüßte, aber sehr bescheidentlich mit nur halb hingewandten Augen. Wer war das nur? fragte Klärchen.
Ei das war ja Fritze Buchstein, der ist seit vorgestern aus der Fremde zurück, den mußt Du doch kennen, er wohnt ja neben Tante Rieke.
Daß es ein Geselle war, sah ich an seinen großen rothen Händen, lachte Klärchen, sonst ist's aber ein hübscher Mensch.
Aber in die Stephans-Kirche zu dem Pietisten geht er auch, ich habe ihn selbst heute Morgen herauskommen sehen.
Na, Tante Rieke, freue Dich! sagte Klärchen, das paßt ja wie die Butter aufs Brod, der nimmt die Grete, das ist klipp und klar. Eine Angst hatten sie immer, er möchte auf der Wanderschaft seinem Glauben untreu werden, und wenn er dann einen salbungsvollen Brief geschrieben, kam der alte Buchstein mit der großen Brille und er wurde gemeinschaftlich mit Thränen und Seufzen genossen. Nun, ich gönne ihr den Burschen, obgleich er eigentlich zu hübsch für die Grete ist; die müßte so was Kurzes, Handfestes haben, denn Schönheit hält sie mehr für ein Uebel als ein Glück,nota beneweil sie selber nicht schön ist.
Die Mädchen traten jetzt in den Garten. An einem Tisch fanden sie schon eine Bekannte, eine von den bescheidenen Putzmacherinnen, die in die Häuser der Damen gehen und Hüte und Hauben in Ordnung bringen, – und sie setzten sich zu ihr. Die Studenten nahmen einen Tisch ganz in ihrer Nähe, wurden beim bairischen Bier bald sehr laut, und begannen Blicke und Späße herüber zu senden. Doch der Orangegelbe blieb nicht dabei, er machte es sich bequemer und siedelte ganz und gar zu den Mädchen über. Klärchen wunderte sich nicht darüber, sie hatte schon längst mit ihm auf der Straße koquettirt, sie wußte auch, daß er in einem Hause mit der Frau Generalin, ihrer künftigen Herrin, wohnte, und er war eigentlich die heimliche Veranlassung zu ihrem Entschlusse, sich zu vermiethen, gewesen. Er war ein Mediziner und dazu ein Student von Bedeutung. Er hatte gute Wechsel, hielt sich einen großen Neufundländer Hund, ritt spaziren, oder fuhr auch seine Freunde in einemZweispänner. Er war Senior seiner Verbindung und überall zu finden, wo es lustig herging, oder wo Spektakel war. Seine Gestalt war groß und klobig, sein gelbes Haar hing schlicht an dem rothen Gesicht herunter, das breit und platt einen gewaltig rohen Ausdruck hatte. So wie seine Gestalt war auch sein Wesen und waren seine Reden. Er saß jetzt den Mädchen gegenüber; beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt, die blauen Dampfwolken aus seiner Cigarre blasend, machte er höchst unmanierliche Späße. Klärchen fand das nicht roh, nein, weil er reich und aus angesehener Familie war (sein Vater war Präsident), fand sie es nur pikant, und hielt sich nicht für zu gut, ihn zu amüsiren. Sie ward immer lebendiger und liebenswürdiger, und es war unverkennbar, daß ihre Schönheit auf ihn Eindruck machte, und sie in seinen Augen höher stieg, denn er nahm die Ellenbogen von dem Tisch und nahm sich in Wort und Wesen mehr zusammen. Für Klärchen war das ein neuer Triumph und die beiden Freundinnen bemerkten es mit Verwunderung. Die Putzmacherin kannte den Studenten längst, sie ging bei der Generalin aus und ein, und das war Gelegenheit genug, um eine Studenten-Bekanntschaft zu machen. Sie hätte ihm ihr leichtsinniges Herz gern selbst zu Füßen gelegt und beneidete jetzt die Gefährtin um diese bedeutende Eroberung, und Klärchen ward immer stolzer und glücklicher. Nur eines störte sie. Ihr gerade gegenüber in einer einsamen Laube saß Fritz Buchstein. Ja, unbegreiflicher Weise war er auch umgekehrt und ihnen in den Kaffeegarten gefolgt. Ob das wohl um ihretwillen war?Sie erinnerte sich aus ihrer Jugend, daß, wenn sie mit Greten in seine Tischlerwerkstatt kam, um Spielsachen zurecht zu leimen, er immer die ihrigen zuerst gemacht hatte und Grete oft darüber böse gewesen war. Also: damals hatte er sie bevorzugt, heute war er erstaunt über ihre Schönheit, – so kalkulirte sie, – und war ihr hierher gefolgt. Obgleich ihre Eitelkeit nicht ganz ungerührt von diesem Gedankengange blieb, so war ihr diesmal die Eroberung doch unangenehm. Erstens war er nicht der Aufmerksamkeit werth, und ihr Herz würde sich nie zu einem so gewöhnlichen Menschen herablassen; und dann fürchtete sie, wenn er einmal ihren Schritten folgte, er möchte den Spion spielen und die Tante Rieke davon benachrichtigen. Sie hatte sich so viel als möglich so gesetzt, daß er ihr nicht in das Gesicht sehen konnte: aber wenn sie unwillkürlich hinsah, begegnete sie jedesmal demselben bekümmerten und theilnehmenden Blicke, der ihr wie ein Stich durch das Herz ging.
Es ist unausstehlich! rief sie endlich und wandte sich heftig nach der anderen Seite. Der Student und die Freundinnen sahen sie verwundert an, und sie erklärte die Ursache ihres Aergers.
Der Mediziner lachte. Er fand es von dem Burschen ganz natürlich, einem hübschen Mädchen in das Gesicht sehen zu wollen, pflanzte aber darauf seine breite Gestalt so dazwischen, daß Klärchen vor den lästigen Blicken sicher war; und kurze Zeit darauf bemerkte Auguste, daß Fritz fortgegangen war. Jetzt fühlte sich Klärchen freier, und das Vergnügen ward immer lebhafter. Die Tanzmusik lockte, Alle gingenin den Saal, um in dem wilden Getümmel sich zu erhitzen und zu betäuben.
Fritz Buchstein hatte auf seinem Spaziergange in dem schönen Mädchen das kleine Klärchen Krauter wieder erkannt, und die schönsten und süßesten Jugenderinnerungen gingen an seiner Seele vorüber. Jetzt noch dachte er mit inniger Bewegung daran, wie sie damals zu ihm in die Werkstatt kam, um irgend eine Kleinigkeit machen zu lassen, und wie es ihm, dem achtzehnjährigen Jüngling, ganz wunderbar ward, wenn er dem zwölfjährigen Mädchen in die dunkelblauen Augen sah. Er wollte es sich selbst nicht gestehen, aber es war seine erste Jugendliebe. Ihr Bild begleitete ihn auf der Wanderschaft, er schloß sie in sein Abend- und Morgengebet: der Herr möchte dies Blümlein schön und rein bewahren, es behüten vor dem Schmutze der Welt. Ob dies Blümlein einst für ihn blühen werde? das stand in Gottes Hand. Sein Herz war gesund, er hatte auch nicht Romane gelesen und hing nicht mit kränklicher Sehnsucht an seiner Liebe; frisch und fröhlich ging er durch die schöne Gottes-Welt, er sah Berge und Thäler und Flüsse und Fluren, manch große Stadt, manch lieblich Dörflein, schöne Kirchen und Schlösser und Burgen, schöne Bilder und Kunstwerke, und Alles nahm er mit Aufmerksamkeit in sich auf. Das war eine schöne Wanderung, die nicht getrübt wurde durch ungesunde Glieder, durch ein böses Gewissen, durch Armuth und Noth. Er hatte das Gelübde gethan, nie einen Schluck Brantweinzu trinken, hatte es mit Gottes Gnade und der Liebe seines Heilandes gehalten. Das bewahrte ihn vor manchem Elend und manchem Unheil des Wanderlebens. Es führte ihn nie dahin, wo wilde Gelage und Raufereien waren, er suchte nie seine Freunde unter dergleichen Gesellen; so blieb er an Leib und Seele rein, hatte auch immer Geld im Beutel, denn weil er ein braver Geselle war, fand er auch immer gute Meister. Und auch Freunde fand er, die mit ihm dieselbe Straße zogen, die mit ihm den Herrn lieb hatten; selten verließ er eine Stadt, daß er nicht mit Wehmuth darauf zurück sah, weil er Freunde für sein Herz und seine Fürbitte darin gewonnen. Und kam er zu Leuten, die ihn nicht verstanden, die seiner spotteten, ihn zu verführen suchten, so waren auch das heilsame Tage für ihn, Tage des Kummers und der Prüfung, in denen er noch mehr die Nähe des Trösters, seine Liebe und Gnade fühlte. So ward seine Seele immer fester, seine Erfahrung immer reicher, seine Hände immer geschickter. Und wie war es mit seinem Herzen? Das durfte sich auch zuweilen regen. Wenn er an einem schönen Sommerabend auf der Höhe am Rand des Waldes saß, die Sonne legte ihr Gold über die Gegend hin, Duft zog über Städte und Dörfer, die Abendluft wehte weich in den Zweigen und in den Blumen rund um, am Grasrain dort zog der Schäfer langsam mit der Heerde, und die Schwalben hoch oben am lichtblauen Himmel: – da ward es ihm so wunderbar sehnsuchtsvoll zu Sinne, und durch Abendgold und Duft und Schönheit und Stille schauten ihn die dunkelblauenAugen des kleinen Mädchens aus der Heimath an. So hatte er noch ganz kürzlich vor einer Höhe am Thüringer Walde gesessen; jetzt war er ja seiner Heimath so nahe, jetzt war aus dem Jüngling ein Mann geworden und er durfte an eine Gestaltung seiner Zukunft denken. Sein Vater war alt, seit vergangenem Winter plagte ihn dazu ein Brustübel, er konnte dem Handwerk nicht mehr vorstehen, es fehlte an allen Enden, und Fritz mußte des Vaters dringenden Aufforderungen zur Rückkehr folgen. Er that es auch gern, er war nun 25 Jahr alt, nach dem langen Umherwandern und heimathlosen Leben sollte es ihm zu Hause wohl behagen. Er sollte nun Meister werden und dem Haus, dem Acker und der Kundschaft allein vorstehen. Dazu gehörte auch nothwendig eine Hausfrau, undderGedanke war es, der ihm besonders an das Herz ging. Und als er sich diese Hausfrau dachte, so war sie schlank, mit lichtbraunem Haar und dunkelblauen Augen. Mit so schönen Ahnungen verließ er den Thüringer Wald und wanderte einige Tage später durch die Thore seiner Vaterstadt. Es war spät des Sonnabends Abends; sein Vater saß schwach und krank im Lehnstuhl, aber Dank- und Freudenthränen glänzten in seinen Augen, als der Sohn nach so langer Abwesenheit wieder in die Thür trat, und Fritz mußte ihm am selbigen Abend noch das Buch Hiob und den 136. Psalm vorlesen.
Der alte Vater war trotz der Brustschwäche sehr gesprächig, und in seiner Gesprächigkeit konnte er es nicht lassen, von seiner und der Frau Bendler liebsten Hoffnung zu reden, nämlich daß Gretchen möchte hierim Haus Frau Meisterin werden. Frau Bendler hatte Gretchen ganz und gar adoptirt, und mit Ausnahme einiger Legate sollte sie einst ihre alleinige Erbin sein.
Fritz ward es gar eng um das Herz als er das hörte, und hatte er schon vorher wenig Muth gehabt, nach Klärchen Krauter zu fragen, so wagte er es jetzt gar nicht. Am Sonntag nun sollte er hinüber zur Frau Nachbarin gehen, aber er bat den Vater, gar nicht von der Sache zu reden, da er nicht wisse, wie er dem Gretchen gefallen möchte. Der Vater schmunzelte. Das sei nicht gefährlich, meinte er, Gretchen habe bei seinen Briefen die schönsten Thränen geweint. Fritz schmunzelte nicht, sein Herz ward immer schwerer; denn wenn Gretchen auch ein braves Mädchen war, so hatte sie doch nicht dunkelblaue Augen, war nicht seine Jugendliebe, und hatte ihn nicht auf seiner ganzen Wanderschaft begleitet. Als er am Sonntag Morgen aus der Kirche kam und unter den Kirchgängern Frau Bendler in Begleitung einer jugendlichen Gestalt erkannte, konnte er sie unmöglich anreden; er schlich sich von der Seite, er hatte dem Vater auch nur versprochen, gegen Abend seine Bekanntschaft drüben zu erneuern. Am Nachmittag aber trieb ihn seine Unruhe und Sehnsucht vor Klärchens Fenster vorüber. Er konnte sie nicht entdecken, nur ihre Mutter saß am Fenster, und zum Glück schaute sie nicht auf, sonst hätte sie wohl seine Gedanken auf seiner Stirn lesen müssen. Er ging zum Thore hinaus, und kehrte, nachdem er eine Strecke auf der Chaussee entlang gegangen war, wieder um. Dakam ihm die Ersehnte wirklich entgegen. Es war ja noch dasselbe Kindergesicht, nur die Gestalt war aufgeschossen und hatte sich jungfräulich entfaltet. Er grüßte sie und sein Herz schlug vor Glück, aber nur wenige Augenblicke. Er sah die Schaar Studenten hinter ihr umkehren, er hörte ihre Witze und sah sie den Mädchen nachfolgen. Es würde ihm nie eingefallen sein, ebenfalls umzukehren; aber Spannung und Zorn trieben ihn. Im Nothfall wollte er die Mädchen schützen, er ahnete nicht, daß sie durch das Nachfolgen der Studenten mehr erfreut als geängstigt würden. Doch bald sollte er sich von der Wahrheit überzeugen. Er saß ihnen gegenüber und beobachtete der Mädchen leichtfertiges Spiel. Klärchen spielte die Hauptrolle dabei, bis sie ihn endlich durch ihre verächtlichen und erzürnten Blicke forttrieb. Mit welchen Gefühlen ging er nun nach Hause! Das Geschehene zerstörte zu hart seines Herzens Pläne. Die Freude an der Heimath, an der Meisterschaft, an Haus und Hof war zertrümmert; er hätte am liebsten den Wanderstab wieder in die Hand genommen. In dieser Stimmung konnte er unmöglich zu Frau Bendler gehen, nicht einmal in die Stube zum Vater; er ging leise an dem Dienstmädchen, die feiernd in der Hausthür saß, vorüber nach dem Garten und setzte sich in die Weinlaube an der Scheunenwand. Der Nachbarsgarten, der nur durch ein Stacket getrennt, war leer. Das war ihm gerade recht, und ungestört konnte er seinen Gedanken nachhängen. Wie war die Welt heut ganz anders als gestern! Die verwilderten Rosen und Goldveiglein hatten ihn gestern so traulich und heimlichangesehen, er hatte dabei gedacht: wenn erst Frauenhände hier walten, werdet ihr noch schöner blühen. Die düstere Weinlaube erschien ihm gar nicht düster, er dachte: bald wirst du nicht mehr allein hier sitzen. Heut war ihm Alles wüst und leer, und es lag ihm auch gar nichts daran, daß es anders sei. Er schaute durch die Weinranken hindurch zum blauen Himmel hinauf. Lieber himmlischer Vater, es wird ja wieder anders werden; jetzt aber erscheint das Kreuz meinem jungen Herzen schwer, und nun bitte ich Dich doch wieder und immer wieder: erlöse sie vom Uebel; wenn ich sie auch für mich aufgeben muß, laß Du sie nicht. Aufgeben? ja das ist wohl schwer, und daß es ihm so schwer ward, ward ihm auch zum Trost, denn wenn es seinem schwachen, menschlichen Herzen so schwer ward, mußte es ja dem Erlöser droben noch schwerer werden, eine geliebte Seele aufzugeben; und je tiefer er in den blauen Himmel schaute, je zuversichtlicher ward es ihm, und sein Schmerz lösete sich in feuchten Augen auf. Da hörte er plötzlich eine Stimme im Nachbarsgarten singen; hell und lieblich, und doch weich und wehmüthig drangen die Töne, und ganz deutlich die Worte zu ihm herüber:
Fritz lugte durch die Weinblätter hindurch und sah drüben auf dem alten schrägen Birnbaum Gretchen sitzen. Es war ihm, als ob er nur geträumt hätte von Wandern und Fortsein; als ob er wieder achtzehn Jahr, und Gretchen ein Kind sei. Damals war der alte Birnbaum den lieben Sommer über fast ihr alleiniger Wohnsitz. Des Nachmittags ging sie mit dem Strickzeug hinauf, und jedesmal wenn sie eine Tour herum gestrickt, rief sie es dem alten Benjamin zu. Benjamin aber war ein Flickschuster, der schon fast dreißig Jahr bei Buchsteins im Hinterhäuschen über der Werkstatt wohnte. Er war der Kinderfreund der Nachbarschaft, und Gretchen war sein besonderer Liebling. Für sie war ihm keine Mühe zu groß, und jedesmal, wenn sie ihm die Tour zurief, machte er einen Kreidestrich auf eine schwarze Tafel, und immer zählte er, wie viel noch fehlten an der Zahl; und wenn es so weit war, rief er: nun Gretchen mach Schicht! Gretchen wand sich dann an einem Bindfaden ein Körbchen mit dem Vesperbrod in die Höhe und meinte, da oben stricke und esse es sich besser. Benjamin legte auch den Pfriemen für ein Weilchen aus der Hand, schaute zum Fenster hinaus, sein Staarmatz schnarrte »Gretchen, so recht, so recht,« und sein Dompfaffesang »Lobe den Herrn o meine Seele«. Wenn dann Gretchens Kinderstimme einfiel, sagte Benjamin: »Gretchen, so recht,« und der Staarmatz schnarrte: »Gretchen, so recht.«
Auch jetzt sah Benjamins weißer Kopf zum Fenster hinaus; der Staarmatz aber rief: »Jungfer Gretchen,« und Fritz ward dadurch erinnert, daß es doch andere Zeiten seien.
Ei Gretchen, sagte Benjamin, Du singst einem heut ordentlich das Herze weich; was ist Dir denn?
Wenn ich wußte, daß Du heim warst, hätte ich nicht gesungen, sagte Gretchen; ich glaubte, ich wäre ganz allein hier in der Welt. Jetzt komm aber herüber und bring die große Bilderbibel mit, ich weiß nicht recht, was ich so mutterseelen allein mit dem Sonntag-Nachmittag beginnen soll.
Gretchen war nämlich von ihrer Pflegemutter, die einige Krankenbesuche machen wollte, als sie Nachmittags aus der Kirche kamen, allein nach Hause geschickt; und weil sich Gretchen eigentlich gefreut hatte, zu verwandten Gärtnersleuten vor dem Thor zu gehen, so war ihr das zu Hause bleiben gar nicht recht. In der Stube war es ihr einsam, sie nahm mancherlei in die Hand, ein Buch, ein Arbeitszeug, – nichts behagte ihr. Der Nachmittag wollte nicht kürzer werden, und sie begriff nicht, warum sie so unruhig war. Sollte es sein, weil Fritz Buchstein sich zum Abend angemeldet hat? Sie ward feuerroth bei dem Gedanken. Warum aber sollte sie sich freuen ihn wieder zu sehen? sie war wenigstens begierig zu sehenwas aus ihm geworden, und ob er so aussähe wie sie sich ihn nach seinen Briefen gedacht. Sie ging in den Garten. Bei Buchsteins war alles still, und ungestört ging sie in dem geraden Stachelbeerwege auf und ab. Hinter den Büschen hatte sie als Kind mit Luischen Buchstein und anderen Freundinnen Schaf und Wolf gespielt; Luischen Buchstein war todt, die anderen Freundinnen zerstreut, und sie mußte zum Sonntag-Nachmittag so allein hier wandeln. Auf der Bank unter dem alten Birnenbaume hatte sie auch oft vergnügt gesessen, noch lieber aber oben auf dem Baum: da konnte sie doch ein Bischen weiter in die Welt schauen, in die Nachbarsgärten, einem Böttcher auf den Hof, dem Benjamin in die Stube. Nach der andern Seite hin war der Garten zwar durch eine hohe Mauer begränzt, aber sie sah doch die blühenden Flieder- und Goldregen-Wipfel, auch zuweilen die weiße Spitzenhaube der Frau Stadträthin und die bebänderten Strohhüte der Fräulein. Gretchen konnte nicht widerstehen; sie stieg auf den Baum. Heut war aber gar nichts zu sehen, an den Goldregen hing trockner Samen, die Fliederbüsche sahen dunkel und glanzlos aus, weder Haube noch Strohhüte ließen sich sehen, Stadtraths waren in ein Bad und die Fräulein längst verheirathet. In den anderen Nachbarsgärten war es auch still, nicht einmal Benjamin war am Fenster. Da ward es dem Gretchen immer enger um das Herz, immer sehnsüchtiger schaute sie zum Himmel hinauf. So ists. Wenn der Herr uns die Welt einsam und öde macht, so zieht er uns desto mächtiger zum Himmel hinauf. Undder Himmel war heute so licht, die Wolken daran von der sinkenden Sonne mit Gold umsäumt. Gretchen schaute, wie sie über den dunkelen Dächern am blauen Himmel langsam hinzogen und im Ziehen Gestalt und Farbe wechselten. Da zog ein Schwan, bald eine Rose, ein Schloß, bald Engelsflügel, bald gar eines Engels Angesicht. Sie dachte an ihre Eltern, an ihre Brüderlein, deren sie sich noch ganz leise aus frühester Jugend erinnern konnte, und mit sehnsuchtsvollem Herzen sang sie das Lied, das Benjamin an das Fenster lockte.
Benjamin kam mit der großen Bilderbibel herunter, schwang sich unten an der Scheuer und am alten Hollunderstamm noch ganz rüstig über das Stacket, und war nun in Bendlers Garten. Da trat Fritz aus der Laube, er wollte nicht schuldiger Weise den Horcher spielen. Gretchen erschrak, denn er hatte sie ja auf dem Baume gesehen und hatte sie singen hören; er aber reichte ihr freundlich die Hand über das Stacket hinüber. Das war nun Gretchen mit dem blonden Haar, den Sommerflecken, den runden braunen Augen und dem runden rothen Mund. Sie war nicht groß nicht klein, nicht schlank nicht stark, und stand mit dem braunen Kattunkleide und weißen Kragenstrich gar sittig vor ihm. Er sprach einige verlegene Worte des Willkommens, sie merkte seine Verlegenheit nicht, sie hörte kaum, was er sagte, so gewaltig schlug ihr Herz, aber einsam kam ihr die Welt nicht mehr vor; und als er fragte, ob er auch hinüber kommen dürfe, nickte sie ein freundliches Ja und machte einen höflichen Knix.
Aber nicht den Weg, den ich gekommen bin, scherzte Benjamin; jungen Burschen muß man solche Schliche nicht zeigen. Du gehst in die Hausthür, wie es sich gehört.
Fritz hatte gar nicht daran gedacht; denn wenn er auch ganz stattlich in der schwarzseidenen Weste, dem seidenen Halstuch und dem Sonntagsrock aussah, so hatte er doch die Mütze und die Handschuh im Hause liegen, und überhaupt mußte der erste Besuch etwas feierlich gemacht werden. Er kam aber nicht so bald als Gretchen gehofft hatte; sie hatte schon einen großen Theil der Bilderbibel mit Benjamin durchgesehen, als es an der Hausthür klopfte. Sie ging zu öffnen und fand außer Fritz auch noch die Mutter vor der Thür. Diese war beiden jungen Leuten sehr erwünscht. Gretchen hätte gar nicht gewußt wie sie als Wirthin thun sollte, und Fritz mochte mit seinem schweren Herzen dem Gretchen am wenigsten allein gegenüber sein. Frau Bendler übernahm nun das Sprecheramt, aber auch das Frageamt, und Fritz mußte wohl oder übel gesprächig werden. Daß es ihm schwer ward, merkte Frau Bendler nicht, wohl aber Gretchen. Der tiefe Ausdruck der Trauer, der ihm zuweilen unbewußt über die Züge glitt, ging ihr wie ein Schwert durch das Herz. Was mag er nur haben? ist er traurig, wieder daheim zu sein? zieht es ihn zurück in die Ferne? Wenn er nur nicht unglücklich ist! dachte sie bange, und wie mag es zugehen, da doch sein letzter Brief so fröhlich war? Als sie spät am Abend allein in ihrem Kämmerlein war, schaute sie hinauf zu den Sternen mit gefalteten Händen; hinein in ihr Abendgebet mischtesich Fritzens trauriges Gesicht, und sie empfahl es Dem, der da Freud und Leid auf die Herzen der Menschen legt.
Die Frau Generalin von Trautstein saß mit einer jüngeren Dame in eifrigem Gespräch.
Ich versichere Sie, sagte die jüngere, das Mädchen passt ganz besonders für Sie, und ich kann sie Ihnen mit vollem Herzen empfehlen. Seit zwei Jahren näht sie mir alle Kindersachen und sie ist wirklich die Liebe des ganzen Hauses, immer freundlich, gefällig, sehr gewandt und fleißig, und aus einer sehr rechtlichen Familie. Ihre Tante ist die Frau Bendler, die dem Wöchnerinnenverein an der Spitze steht, eine außerordentlich geachtete Frau. Von der ist Klärchen eigentlich erzogen, die hat sie auch das Schneidern lehren lassen, denn Klärchens Mutter ist kränklich.
Warum will sie sich aber vermiethen? fragte die Generalin.
Um einmal unter andern Leuten zu sein, war die Antwort. Ich finde es recht vernünftig. Die Mutter nämlich soll das Mädchen sehr beherrschen und ihr jeden Groschen aus dem Beutel nehmen. Sie deutete es mir neulich mit Thränen an, daß sie sehr schlecht mit der Wäsche bestellt sei, weil sie dazu kein Geld habe erübrigen können und nur immer froh gewesen sei, der Kundschaft wegen für das Aeußere zu sorgen.
Das sind eben meine Bedenken. Die Mutter soll unordentlich sein und gern jeden Groschen durch den Mund spediren; zweitens ist das Mädchen zujung und wird mir auch wahrscheinlich zu hübsch sein, – entgegnete die Generalin.
Die Jüngere lachte. Gerade darum wünsche ich sie Ihnen, weil sie so liebreizend ist. Bei jedem Unwohlsein wird sie Ihnen die angenehmste Gesellschaft sein; sie kann Ihnen vorlesen, denn sie spricht sehr hübsch; aber vor allen Dingen – Sie müssen sie sehen, theuerste Frau!
Die Sprecherin war die Lieutenant von Reisen, Klärchens besondere Gönnerin. Sie suchte ihr jetzt den Dienst bei der Generalin zu verschaffen und hatte Klärchen deßhalb hinbestellt; vorher aber bemühte sie sich sie in das beste Licht zu stellen. Es währte nicht lange, so wurde Klärchen gemeldet. Sehr nett angezogen, zugleich aber sehr bescheiden und anspruchslos stand sie vor den Damen. Die Generalin war wirklich erstaunt über die Schönheit des Mädchens, aber die Anmuth in Worten und Wesen machte jedes Bedenken verstummen – und sie schloß den Miethsvertrag. Vierzig Thaler Gehalt, ein Louisd'or zu Weihnachten, außerdem Geschenke, das war für Klärchen sehr erfreulich. Aber nicht allein das: der ganze Haushalt der Frau Generalin entzückte sie, ja so sehr, daß der Mediziner fast darüber vergessen ward. Die großen Zimmer, prächtigen Teppiche und Meubeln, Equipage und Dienerschaft, so etwas fand man nicht oft beisammen. In diesem Haus war sie als Kammerjungfer engagirt, so zu sagen als Kammerjungfer, denn eigentlich – redete sie sich vor – sollte sie doch Gesellschafterin der Dame sein, sie sollte ihr des Abends vorlesen und in traulichen Zirkeln den Thee serviren.Sie unterließ auch nicht, ihren Bekanntinnen die Sache so vorzustellen. Als sie zu Tante Rieke kam, machte die ein ernsthaftes Gesicht. Du hast nun meinen Wunsch erfüllt und Dich vermiethet, sagte sie, der Herr mag Dir Kraft zu Deinem neuen Berufe geben, den Du Dir nicht zu leicht denken mußt. – Klärchen, die voll der schönsten Hoffnungen und sehr guter Laune war, versprach alles Mögliche, und die Tante war zu gutmüthig, um das nicht glauben zu müssen. Auf die Fragen über den Zustand ihrer Wäsche, hatte sie geschickte Antworten; sie hätte unmöglich die Wahrheit sagen können, und ihre Angst war schon längst gewesen, die Tante möchte sich einmal selbst davon überzeugen wollen. Für das Nöthigste sei gesorgt, sagte sie, und sie freue sich, von dem schönen Lohn ganz besonders Wäsche anzuschaffen. Die Mutter muß sich einschränken lernen, fügte sie hinzu; Du weißt, wenn ich Geld hatte, konnte ich es als Tochter nicht abschlagen; wenn ich keines habe, kann ich keines geben; und bekomme ich mein Lohn, gebe ich ihr ein Theil, kann aber vom Uebrigen gleich ordentlich anschaffen. – Das klang vernünftig, und die Tante war damit einverstanden. Gretchen ging vor die Schublade und holte ein halbes Dutzend leinene Taschentücher und zwei Paar Strümpfe.
Das darf ich Dir schenken, sagte sie; zum Stricken hast Du nicht viel Zeit gehabt, und die Taschentücher sind gesäumt und für Dich gezeichnet. Wenn Du zu uns kommst, nimmst Du nun aber auch die leinenen, scherzte Gretchen: Du weißt, wir können die baumwollenen nicht leiden.
Klärchen war gerührt von dieser Güte. Du meinst es doch wirklich gut! sagte sie herzlich.
Das kannst Du glauben, entgegnete Gretchen treuherzig, und beide Cousinen waren jetzt sehr freundlich auf einander gesonnen.
Am Michaelis-Tage zog Klärchen an. In ihrer Stube stand eine Kommode und ein Kleiderschrank, dahinein wurden ihre Sachen so weitläuftig als möglich geordnet. Einige Sommerkleider und dünne wollene Kleider, Mantillen, Mäntelchen, ein Frisuren-Unterrock in den Schrank; in die Kommode, außer der wenigen Wäsche, Bänder, Schleifen, Kragen, Handschuh, Taschentücher; die sechs leinenen Taschentücher und zwei Paar ganzen Strümpfe von Gretchen bildeten den guten Grund dieser leichten Gesellschaft. Außerdem aber stellte sie einige Blumentöpfe in das Fenster, hing ein Porzelan-Bildchen an die Scheiben, ein anderes Bild unter den Spiegel und eine Blumenvase auf die Kommode. Der Bediente hatte in die Stube gesehen und gegen die Köchin bemerkt: man sähe dem Geschmacke des Mädchens an, daß sie von guter Erziehung und Bildung sei; nur schlimm, daß das Stübchen im Nebenhaus, und der Mediziner gerade hineinsehen könne, da möcht' es am Ende eine Liebelei im Hause geben. Die Köchin aber nahm Klärchens Partie. Ihre Küche lag gerade gegenüber im anderen Seitenhaus; sie hatte gesehen wie Klärchen das Rouleau niederließ, als der Mediziner mit der langen Pfeife aus dem Fenster sah. Klärchen aber hatte die Köchin gesehen und gedacht: Du mußt dichin Respekt setzen, und etwas Sprödigkeit gegen den Mediziner kann nicht schaden.
Es kamen nun für sie unterhaltende Tage. Das Haus der Generalin war vielfach belebt, die verheirathete Tochter mit den Kindern 4 Wochen dort, und dies gab Gelegenheit zu mancher Geselligkeit. Außerdem ward Klärchen in die eleganten Läden der Stadt geschickt, um Besorgungen zu machen, und das war ihr besonders unterhaltend. Sie war bald mit allen Commis befreundet und hatte ihre leichte Commodengesellschaft um manches bereichert. Freilich waren ihre wenigen Groschen, die sie in den Dienst mitgebracht, auch ausgegeben, aber die Paar Groschen lohnten kaum der Mühe zum Sparen. Daneben ward das Spiel mit dem Mediziner gar eifrig betrieben. Die Generalin hatte meistens nur Damenverkehr: vonderSeite war also für ihre Zukunft nichts zu hoffen. Bald merkte sie, der Mediziner war in Feuer und Flammen und ein recht demüthiger Liebhaber. Wenn sie das Rouleau einen Tag nicht aufzog, sang er die schwermüthigsten Lieder; oder wenn sie sonst spröde gegen ihn war, nahmen seine rohen großen Züge einen gar sanften Ausdruck an. Sie that das mit Wohlbedacht, denn ehe er nicht in die rechte Höhe der Leidenschaft kam, würde er nicht Ernst aus der Sache machen. Sie berechnete freilich nicht, daß sie auch mit der Zeit warm wurde, und ein verliebtes Herz ist ein schwaches Herz, und der Mediziner war nicht ohne Erfahrung, das zu wissen und zu merken.
So war Weihnachten herangekommen, der Besuch der Generalin war abgereist und den unruhigen Tagenwaren ruhige gefolgt; aber immer war Klärchen gleich aufmerksam und liebenswürdig, und die Generalin versicherte ihre Freundinnen, eine ausgezeichnete Kammerjungfer zu haben, was ihr gern geglaubt wurde, da Klärchen ja gegen Jederman sich liebenswürdig zeigte. Nur schien es, als ob sie seit einiger Zeit etwas zerstreuter wäre und oft nicht ganz unbefangen aus den Augen sähe; doch tröstete sich die Generalin mit ihrer übertriebenen Angst vor Liebesgeschichten und ließ sich nichts merken, und Weihnachten ward Klärchen außerordentlich reich bedacht. Das war aber auch gut, denn Klärchen gebrauchte viel. Sie sah so manches bei den vornehmen Damen, das ihr gefiel und das sie haben mußte. So bemerkte sie mit Erstaunen, als sie ihre Schulden überschlug, daß vom Lohn und vom Louisd'or kaum etwas für ihre Mutter übrig blieb. Sie tröstete sich aber bald. Aller Anfang ist schwer, dachte sie, für Wäsche wird ein andermal gesorgt; hatte sie doch den unächten Shawl, die Brosche und den Sammethut sich wirklich angeschafft! Doch sollte das alte Jahr nicht hingehen um sie nicht ganz und gar von diesen kleinlichen Sorgen zu befreien. Als sie am Sylvesterabend von einer Besorgung in der Dämmerung zurückkam, sah sie eine wartende Gestalt unten im Hausflur. Sie erkannte bald den Mediziner. Sie hatte hier öfters mit ihm flüchtige Worte gewechselt, seit einiger Zeit hatten sie sich nie allein gefunden, und auch heute waren Schritte auf der Treppe hörbar. Er kam eilig auf sie zu, drückte ihr einen Brief in die Hand und eilte die Treppe voran. Klärchen konnte nicht schnell genug ihr Lämpchen anstecken, um dies Dokument zu lesen,ein Dokument wie Millionen geschrieben werden, um thörichte Mädchen zu täuschen und noch thörichter zu machen. Nichts ist lächerlicher als diese Art Liebesbriefe, einer ist dem andern wie aus den Augen geschnitten. Die Schreiber finden in jedem Mädchen eine Göttin, einen Engel, ein höheres Wesen; die Empfängerin aber meint, das passe nur ganz allein auf sie; ihre Brust hebt sich stolzer, denn sie ist vor vielen Tausenden beglückt. Ferner steht in den Briefen von heißer Liebe, von unerträglichen Qualen und ewigen Gefühlen. Das ist Alles sehr glaubwürdig, denn man ist ja wirklich so liebenswerth, man müßte aber ein Herz von Stein haben, den Armen so leiden zu sehen, man muß ihn wieder lieben. Schmerz oder Unglück kann sich nie nahen, denn seine Gefühle sind ewig, und ihr Glück wird auch ewig sein. Daß diese Ewigkeit der Liebesbriefe selten über ein Jahr hinaus reicht, glaubt man nicht; man hat zwar schon oft davon reden hören, aber diese Versicherungen, diese Schilderungen müssen Wahrheit sein. So glaubte auch Klärchen, als sie ihren Brief gelesen. Ihr Herz hüpfte vor Entzücken, durch ihre Klugheit hatte sie es so weit gebracht, daß er Ernst machte; nun wollte sie ihn auch nicht länger schmachten lassen und ihm ihre Liebe zeigen. Sie hätte gern gleich geantwortet, aber sie war heut Abend zu Tante Rieke eingeladen und hatte versprochen um 6 Uhr die Mutter abzuholen, und so ein Liebesbrief war keine Kleinigkeit, der mußte mit Bedacht geschrieben werden. Sie ging also, wenn auch in höchster Unruhe. Den empfangenen Brief trug sie natürlich auf dem Herzen.
Zum Sylvester war sie immer am liebsten zu Tante Rieke gegangen. Da gab es Punsch und Kuchen, und außerdem, daß man wohl ernsthaft sprach und sang, ging es doch auch sehr vergnüglich her, und für die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die Tante war trotz aller Pietisterei doch sehr heiter, konnte selbst recht drollig sein und hinderte die jungen Leute nicht, es ebenso zu machen. Heute war ihr das freilich ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweigsamkeit bemerkten, that sie etwas erschrocken, schmunzelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter müsse etwas stecken. Fritz Buchstein, der auch unter den Gästen war, sah sie scharf an bei diesen Scherzen, und der Blick war ihr wieder sehr fatal. Doch ward man lebhafter bei einem Gläschen Punsch und bemerkte Klärchens Schweigsamkeit nicht mehr. Selbst Fritz ward ungewöhnlich redselig und erzählte sehr unterhaltend von seiner Wanderschaft. Gretchen hing an jedem Worte, das er sagte: selbst Klärchen mußte gestehen, daß er ein ausgezeichneter Tischlergeselle sei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lippen, seine Augen waren lebendig, seine Wangen geröthet, sie wußte selbst nicht wie, aber es fielen ihr die Helden aus den Ritterromanen ein, wie sie beschrieben werden, so sanft und mild und dabei so edel und männlich. Sie begann fast, ihn dem Gretchen nicht zu gönnen, obgleich sie selbst himmelhoch über ihm stand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann, und solch einen Brief konnte er nicht schreiben, wie sie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte sie Recht, solch einen Brief konnte er nicht schreiben: er warnicht gewissenlos genug und hatte nie gewagt, einem Mädchen den Unverstand zuzutrauen, solchen Unsinn, der in jedem schlechten Romane zu finden ist, für Wahrheit zu nehmen. Mehrere Stunden waren so schnell vergangen, da erinnerte Vater Buchstein Frau Bendler an ihr Versprechen.
Ei freilich! Heute lassen wir Schiffchen schwimmen, sagte diese scherzend; es liegt mir selber daran, zu wissen, wie es mit der Freundschaft meiner guten Freunde steht. Ich muß aber auch die Erste sein, weil ich doch wohl die Neugierigste bin.
Die jungen Leute stimmten fröhlich in den Vorschlag ein. Gretchen holte einen großen Napf mit Wasser, Wallnüsse und einen Wachsstock. Fritz theilte sehr geschickt die Nüsse auseinander, machte die Frucht heraus und klebte dafür kleine Wachslichte hinein. Gar niedlich tanzten die brennenden Lichterschiffchen auf dem Wasser, der Tante Schiffchen in der Mitte, die anderen stellten den Vater und Sohn Buchstein, die Frau Organistin und Gretchen und Klärchen vor; so war es von Frau Bendler bestimmt. Der Hauptspaß war nun, wie die anderen sich zur Hauptperson verhielten. Blieben sie fern so war es mit der Freundschaft schlecht bestellt. Und wirklich drückten sie sich alle ziemlich fern an den Seiten herum. Frau Bendler scherzte und neckte, bis plötzlich Fritzens Schiffchen, durch eine leise Wasserbewegung angeregt, auf die Tante zu schoß und nicht wieder von ihr ließ, was auch am Napfe gerüttelt und geschüttelt ward. Das Schütteln aber hatte zur Folge, daß die anderen vier Schiffe sich zu einem Häufchen gesellten, und nunwie zwei feindliche Parteien sich die Flotte gegenüber stand.
Weil der Fritz es so gut mit mir meint, soll er jetzt der Erste sein der die Herzen seiner Freunde prüft, sagte Frau Bendler. Fritz aber war gar nicht begierig danach, er wollte den Andern durchaus den Vorrang lassen; doch half es ihm nichts, die Alten übernahmen es, den Schiffchen Namen zu geben, und die Sache ging los. Gretchens Herz klopfte gewaltig, und sie besann sich schon, was für ein Gesicht sie machen wolle und was sagen, wenn das Schiffchen die Gedanken ihres Herzens verrathen sollte. Zwei andere junge Mädchen, die ganz unbefangen waren, scherzten mit Fritz und meinten: das passe sich gar nicht, wenn er da großartig in der Mitte stehe, und sie sollten sich um ihn bemühen, diese Prüfung sei eigentlich nur für Mädchen. Klärchen aber war ganz erhoben über diesen Spaß, ihre Gedanken waren längst nicht mehr hier; je später es wurde, je größer ward ihre Unruhe und Sehnsucht, den Brief zu beantworten. Doch seltsam genug, ihr Schiffchen nahete sich zuerst der Mitte, Fritz schien ihr auszuweichen, aber sie zog hinter ihm her, vereinigte sich mit ihm und schiffte dann mit ihm zusammen auf dem kleinen Meere umher. Das gab ein Lachen, aber Klärchen warf die Lippen auf und warf einen verächtlichen Seitenblick auf den Tischlergesellen, so daß Allen die Gesinnung ihres Herzens kund werden mußte. Gretchen ward vor Aerger ganz roth und hatte schon ein derbes Wort auf den Lippen, doch scheute sie sich vor Fritzens Gegenwart und wollte es sich lieber aufsparen. Die beiden andernMädchen stießen sich an, Klärchen hatte ihnen schon den ganzen Abend zu vornehm gethan, und die Frau Organistin sagte spitz: Ei Klärchen, brauchst den Mund nicht zu verziehen, bist in ganz guter Gesellschaft hier. Doch die Tante wollte keinen Ernst gemacht haben; sie entgegnete leicht: In der Hinsicht muß ein jedes Mädchen stolz und spröde thun, die jungen Burschen sollten sonst eitel werden. Dann wurden die Namen der Schiffchen wieder geändert, und die Sache war abgemacht. Fritz aber behielt den Stachel im Herzen. Wenn er auch längst Klärchens Besitz aufgegeben, so konnte er ihr doch heut nicht ohne innere Bewegung gegenüber sitzen, es war ihm, als ob aus ihrem Wesen bald ein guter bald ein böser Engel schaue; er hätte den guten so gern festhalten und in ihre Nähe bannen mögen. Die dunkelblauen Augen hatten ihn zuweilen so kindlich angeschaut, ganz so wie sie auf seiner Wanderschaft vor seiner Seele schwebten. Er wußte zwar mehr als alle die Anderen von ihrem Leben und Treiben – die Augen der Liebe sehen scharf –, auch wußte er daß der Mediziner im Hause der Generalin wohne, aber immer noch konnte er den guten Engel in ihr nicht aufgeben, und sein theilnehmendes und trauerndes Herz ward von ihrem verächtlichen Wesen schmerzlich berührt.
Die Zeit war mit den Späßen vergangen, es schlug zehn Uhr, man wurde ernsthafter. Die Alten erzählten, die Jungen hörten still zu. Fritzen war das sehr lieb, er war wahrlich nicht zur Freude aufgelegt und er übernahm es auch später gern, etwas aus der Bibel vorzulesen. Er begann mit dem 90. Psalm.Er las langsam und feierlich, seine Stimme ward immer voller, die Worte quollen immer mehr aus seinem Herzen. Als er die Worte las: Lehre uns bedenken daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden, – schaute er auf und sah Klärchen an. Niemandem fiel das auf, nur Klärchen konnte den Blick nicht vertragen und es wurden ihr dadurch die Worte erst bedeutsam. Dem Psalm folgte ein Abendgebet, auf den Jahresschluß passend, und dann das schöne Lied:
Klärchen bemühte sich so viel als möglich, nicht hinzuhören und sich mit anderen Gedanken zu zerstreuen; es war ihr aber unmöglich. Fritzens Stimme klang wie Glöckentöne in ihr Herz, so mächtig, so ernst, sie mußte hören, und je länger er las, desto aufmerksamer hören. Von Sterben – Grab – und Verblühen war die Rede, es ward ihr bange dabei, und ihr abergläubig Herz nahm die Bangigkeit für böse Ahnung. Nur nicht sterben! dachte sie. Der Heiland, von dem sie reden, hilft mir nichts, sein Reich reizt mich nicht und nicht die ewigen Hütten; nein, über den Tod hinaus geht keine Hoffnung. O, so häßliche Gedanken verbittern einem das schöne Leben,und gerade heute das anzuhören ist sehr störend. Die Andern sehen dabei so ruhig und freudig aus, als ob sie Recht hätten, und Fritz ist so voll von der Wahrheit, sein Gesicht leuchtet, und wie Gretchen so demüthig zu ihm aufschaut – solche Blicke müssen sein Herz rühren.
Es schlug zwölf. Alle falteten die Hände, beugten sich zum Gebet. Auch Klärchen mußte so thun, aber in ihrem Herzen war es dunkle Nacht, der Teufel hielt seine Hand über sie. Fort, fort von hier! seufzte sie, und der Liebesbrief zog sie gewaltig hinaus aus dem Ernst und dem Frieden in die Lust und Unruhe der Welt.
Beim Heimgehen fand es sich, daß Frau Krauter mit den Andern einen Weg hatte, und nur Klärchen allein nach einer ganz entgegengesetzten Seite mußte; es wurde beschlossen, Fritz sollte sie nach Hause führen. Sie aber sträubte sich, denn nichts wäre ihr drückender gewesen, als ein einsamer Weg mit diesem sonderbaren Menschen. Aber es half nichts. In der Sylvester-Nacht, wo der Trunkenbolde nicht wenige auf den Straßen zu finden sind, darf kein junges Mädchen allein gehen, hieß es, und Klärchen mußte sich fügen. Fritz war gar nicht verlegen, er hatte sich eben zu sehr in eine Gottes-Welt vertieft, als daß ihn die kleinen Bewegungen der irdischen Welt hätten berühren können. Er sah Klärchen ruhig und fest in die Augen und sprach zu ihr mit unbefangener Stimme: doch wehten außen Sturm und Regen so sehr, und Klärchen ging so rasch, daß er schweigen mußte. Jetzt standen sie vor der Hausthür. Klärchen nahmden Schlüssel und schloß auf. Der Mond brach eben durch Wolken und warf sein helles Licht auf Fritz und Klärchen, sie sah unwillkürlich auf zu ihm: da ruheten seine dunklen Augen so traurig auf ihrem frischen Gesicht, er reichte ihr die Hand, sie mußte ihre hineinlegen. Klärchen, sagte er mit bewegter Stimme, wir stehen jetzt am Anfang eines neuen Jahres. Der Herr wolle uns segnen, daß wir am Ende desselben mit reinem Herzen und ruhigem Gewissen und unbefleckter Ehre mögen darauf zurückschauen. Der Herr behüte Sie!
Er wandte sich schnell von ihr, sie trat in das Haus, aber mußte erst einige Augenblicke sich vom Schrecken erholen.
Was will er nur? dachte sie. Meine Ehre? da will ich selbst für sorgen. Und das Gewissen? ich werde doch kein Verbrechen begehen? – Sie suchte mit Gewalt den Eindruck von Fritzens Worten abzuschütteln, und das sollte ihr leider nicht schwer werden. Als sie die erste Treppe hinauf war und eben den Zugang, der zur Etage bei Generalin führte, öffnen wollte, kam Jemand von oben herunter. Sie zögerte, – ja es war der Mediziner. Er hatte den Sylvester-Abend etwas lauter und wilder gefeiert als Klärchen, sein Gesicht glühte von Wein und Punsch, und seit geraumer Zeit hatte er mit Ungeduld auf Klärchens Rückkehr gewartet. Jetzt flossen ihm die Worte wie Feuer von den Lippen. Diese Liebes- und Treueversicherungen, diese Ausdrücke von erhabenen Gefühlen – Klärchen konnte nicht widerstehen. Sie erwiederte flüsternd süße Liebesphrasen, duldete, daß er sie küßte, und als siesich endlich losriß, mußte sie ihm das Versprechen geben, für eine recht baldige ungestörte Zusammenkunft zu sorgen. Das war gar nicht schwer, bei ihrer Mutter konnten sie das haben; denn die wird dem Glück der Tochter nichts entgegensetzen. Und, fügte Klärchen hinzu, es ist auch nöthig daß wir besprechen, wie es mit unserer Verlobung werden soll, es ist doch da manches zu thun. –
Närrchen! unterbrach sie der Mediziner, wer wird denn an so alberne Dinge denken? Wir leben in der Gegenwart, das andere fügen die Götter. – Dann fügte er einige zärtliche Worte hinzu und ging die Treppe hinauf.
Diese letzten Worte gingen Klärchen eisig über die grünen Auen ihres Glückes, doch dachte sie nicht weiter darüber nach und legte sich in süßer Betäubung zur Ruhe.
Am anderen Morgen wachte sie später auf als gewöhnlich. Ihre gütige Dame hatte sie nicht zur gewöhnlichen Zeit wecken lassen, damit sie den versäumten Schlaf nachholen möge. Und dennoch konnte sie sich nicht zurecht finden. Es war ihr so wüst im Kopfe und so nüchtern im Herzen, sie mußte sich ordentlich erst klar machen, daß sie sehr glücklich sei, und trotz des Vorredens blieb sie unruhig. Wird er Ernst machen? Wird er sich öffentlich verloben? Wird er es seinen Eltern sagen? Solche Fragen war sie thöricht genug sich vorzulegen, und es galt von ihrer Seite immer noch große Vorsicht, das Alles zu erreichen. So dumm wie ihre Mutter, der der Rechtsgelehrte unter den Händen entwischt ist, wollte sienicht sein, dachte Klärchen; und so denken alle thörichten Mädchen, die leichsinnige Liebschaften anknüpfen. Sie sehen zwar rund um sich, wie die Sachen meistens ablaufen, aber sie wollen es schon anders zu Ende bringen, bis ihnen dann das reine Herz, Ehre, und gutes Gewissen sammt dem Liebhaber unter den Händen entschlüpft sind.
Als Klärchen zur Frau Generalin ging, um ihr wie gewöhnlich bei der Toilette behülflich zu sein, fand sie dieselbe schon fertig angekleidet beim Frühstück, und neben ihr saß bei demselben ein junger schöner schlanker Mann in Gardeuniform. Klärchen entschuldigte sich wegen des späten Kommens; die Generalin aber war sehr freundlich und sagte nebenbei: Ich habe gestern Abend auch eine große Ueberraschung gehabt, mein Sohn kam unerwartet an. – Der junge Mann war bei Klärchens Eintreten aufgestanden, ihre Schönheit und ihr feines Wesen bestimmten ihn, höflicher zu grüßen, als er es gethan haben würde, hätte er gewußt daß seiner Mutter Kammerjungfer vor ihm stand. Jetzt ward er etwas verlegen, Klärchen merkte Alles, – ein koquettes Mädchen ist sehr feinfühlend in solchen Dingen – und ihr ganzes Benehmen wurde augenblicklich dem jungen Manne angepaßt. Sie ging ordnend im Zimmer hin und her, that, was in der Schlafstube nebenan zu thun war, und ging dann um Sonntagstoilette zu machen. Sie wußte selbst nicht recht wie sie dazu kam, aber sie begann Vergleiche zu machen zwischen dem Gardelieutenant und dem Mediziner. Der Mediziner war wirklich häßlich dagegen zu nennen, undwie plump war seine Sprache und sein ganzes Wesen! Freilich, tröstete sie sich, er ist ein Student, und die meinen, sie müssen burschikos sein; wenn er bei seiner Mutter, der Frau Präsidentin sitzt, wird er auch anders sein. Aber er soll auch gegen mich anders sein, dachte sie weiter, er soll fein und nobel werden wie der Gardelieutenant!
Das Haus war durch die Neujahrs-Glückwünschenden so belebt, daß es dem Mediziner unmöglich ward, Klärchen zu sehen. Auch den Abend war große Gesellschaft, der Flur hell erleuchtet und fast immerfort Bewegung auf der Treppe. Er war sehr ungeduldig und wußte kaum wie er die Zeit hinbringen sollte. Klärchen ging es nicht so, sie war heut so beschäftigt und hingenommen, daß sie kaum Zeit hatte an ihre Liebe zu denken. Bis jetzt hatte sie fast nur alten Damen den Thee servirt, heute aber waren junge Herren, die Freunde des Lieutenants, in der Gesellschaft. Klärchen, im hellblauen Musselin-Kleide mit freiem Hals und freien Armen, stand vor der singenden Theemaschine und schwebte dann in den hell erleuchteten und wohl durchdufteten Zimmern hin und her. Ein solcher Triumph war ihr noch nie geworden: die Blicke der jungen Leute folgten ihr, wohin sie ging, bis leider die Generalin sehr ernste Blicke auf sie warf und ihr huldreich sagte, sie möchte sich nicht weiter bemühen, der Bediente solle allein aufwarten. Sie ging, und trat erhitzt und aufgeregt in ihre Stube. Kaum hatte der Mediziner Licht darinnen gesehen, als er sein Fenster öffnete und leise mit den Händen klappte. Klärchen hatte eigentlich nicht große Lust ihn jetzt zusprechen, sie sah aber ihr Bild im Spiegel und fand sich gar zu schön, der Mediziner mußte sie sehen, mußte sich überzeugen, daß sie mit ihrer Erscheinung in die Salons einer Präsidentin passe, ja ihr Hochmuth und ihre Eitelkeit waren heut so sehr gewachsen, daß sie meinte, er müsse sich glücklich schätzen sie zu gewinnen. Man konnte gar nicht wissen ob ihr nicht noch ein größeres Glück bestimmt gewesen. Der junge Graf, der heut mit in der Gesellschaft war, hatte sie nicht aus den Augen gelassen, und der Generalin Sohn, der außer seinem Lieutenantsgehalt noch ein Gut in Schlesien hatte, dazu adelig war, hatte sich gewiß schon sterblich in sie verliebt. Klärchen hatte viel Romane gelesen, sie wußte, daß nicht selten arme Mädchen vornehme Partien machen, und sie hatte die bestimmte Ahnung einer großen Zukunft. Mit solchen Gedanken trat sie auf den Flur, der Mediziner stand schon unten an der Treppe. Als er ihr vornehmes, herablassendes Wesen sah, dazu ihre Schönheit, verschluckte er die groben ungeduldigen Liebesvorwürfe, die ihm in der Kehle staken, und beklagte sich nur, daß er sie heut den ganzen Tag nicht gesehen. Klärchen entgegnete, dies sei ein unschicklicher Platz sich zu sprechen, und beschied ihn zum nächsten Abend zu ihrer Mutter. Daß er sie küßte und zärtlich ward, litt sie wohl; Hochmuth und Eitelkeit schützen nicht vor bösen Herzensgelüsten, nein, es sind gerade sehr verträgliche Schwestern, die sich gegenseitig hegen und pflegen.
Am andern Morgen saß Klärchen, wie gewöhnlich, nähend im Vorzimmer. Der Lieutenant trat einund bat sie, einige Maschen an seiner Geldbörse wieder zu befestigen. Während sie es mit den feinen geschickten Händen that, stand er schweigend vor ihr. Auch Klärchen schwieg, aber ihr ganzes Wesen redete. Wie sie den Kopf hielt, wie sie die Finger bewegte, wie sie aufschaute, ihm dann die Börse gab – es mußte das Alles das Herz des Lieutenants bestürmen. Klärchen merkte, daß er gern eine Unterhaltung mit ihr angeknüpft hätte, doch die Schritte der Generalin waren im Nebenzimmer hörbar, und er verließ sie mit einem kurzen verbindlichen Danke.
Der Tag verging mit Plänen für heut Abend; und wenn auch das Bild des Lieutenants sich zuweilen dazwischen drängte, so schob sie es mit Gewalt zurück. Der Mediziner muß sich heut Abend feierlich mit dir verloben, wo möglich müssen wir heut Abend noch Brautvisite bei Tante Rieke machen. Was wird die sagen! Und Grete! Nun, sie werden Respekt bekommen vor der Schwiegertochter einer Frau Präsidentin. Der Mediziner mußte morgen früh selbst die Frau Generalin um ihre Entlassung bitten, oder wenigstens ihr eine andere Stellung geben; die Hälfte des Wechsels mußte er ihr gleich überlassen, um für Toilette und Wäsche zu sorgen; sie war nun aus aller Noth, konnte sich die Hemden Dutzendweis fertig kaufen und so alle Sachen. In dieser Weise flogen ihre Gedanken, sie konnte kaum den Abend erwarten, und es war ihr recht unangenehm, daß sie ihrer Herrin noch von 6 bis 7 Uhr vorlesen sollte. Die Frau Generalin aber war ganz allein, erwartete den Sohn erst zum Abend zurück, und Klärchen mußte wie gewöhnlichihr auf diese Weise die Zeit vertreiben. Sie las heut besonders schlecht, und die Generalin war eben im Begriff, dies zu tadeln, als die Thür sich öffnete und der Sohn eintrat. Er winkte, setzte sich in eine dunkle Ecke, und die Mutter bemerkte: sie wolle nur dies kurze Kapitel auslesen lassen. In Klärchen schien plötzlich eine andere Kraft gefahren, sie las besonders schön und mit ganz anderer, bewegter Stimme. Der Lieutenant wandte keinen Blick von ihr, und die Generalin sah sie bedenklich an. Als sie das Zimmer verlassen, wandte sich diese zu ihrem Sohne.
Lieber Alfred, sagte sie lächelnd, ich glaube, so lange Ihr jungen, leichtfertigen Leute hier bei mir ein- und ausgeht, muß ich das Mädchen aus dem Haus thun.