Heine Peterles Brief.

Heine Peterles Brief.

Es war wieder einmal die Stunde gekommen, in der die meisten Oberheudorfer Kinder die Schule am liebsten hatten, – sie war nämlich aus. Die Schulglocke hatte geschwind und eilig gebimmelt, fast heiser war sie dabei geworden; dann hatte der Lehrer das Buch zugeklappt, und nun ging es laut und lustig auf der Dorfstraße zu. Und es war drollig: jene, die in der Schule immer ihren Mund hielten, wenn der Lehrer fragte, taten ihn hier draußen kaum zu. Zu diesen gehörte an diesem Tage auch Heine Peterle. In derSchule hatte er nichts gewußt, so wenig, daß es beinah zum Nachsitzen gekommen wäre, und draußen schwatzte er, als hätte er sich von der Jungfer Elster den Schnabel geborgt. Gerade wie der Lärm am größten war und die Kinder nun alle aus dem Schulhaus herausgekommen waren, schritt der Postbote durch das Dorf. Allzuviel hatte der immer nicht abzugeben, denn die Oberheudorfer waren keine großen Briefschreiber. Ihre Sippschaft saß meist in den Dörfern in der Nähe, und wenn ein Familienmitglied dem andern etwas sagen wollte, lief es lieber drei, vier oder fünf Stunden, ehe es einen Brief schrieb. Die Kinder bekamen erst recht keine Briefe, und so purzelten sämtliche Buben und Mädel vor Erstaunen beinahe um, als der Postbote auf die Kinder zukam, einen Brief hochhielt und rief: »Der ist für Heine Peterle Putzenkeller!«

Heine Peterle riß seinen Mund auf, als wollte er ein Fliegenschnapper werden, doch seine Gefährten brüllten gleich laut los: »Heine Peterle kriegt 'n Brief – 'n Briiiieef!«

»Na freilich, warum soll er nicht mal 'nen Brief kriegen?« Der Postbote schmunzelte und hielt dem Buben das Schreiben hin. »Da, nimm es doch!« Aber der sah es an, als wäre es ein glühender Plättstahl, er stöhnte ordentlich; der Gedanke einen Brief zu bekommen, war zu überwältigend.

»Nimm ihn doch, nimm, nimm!« forderten die andern auf. Anton Friedlich versetzte ihm einen Puff von links, Schulzens Jakob einen von rechts, und nun entschloß sich Heine Peterle endlich, den Brief zu nehmen. Er wurde feuerrot dabei und hielt das kleine weiße Ding zitternd in der Hand.

»Es ist von Friede Heller, auf der Rückseite steht's,« sagte der Postbote, »nu mach ihn nur auf!«

»Von Friede, oh von Friede,« schrieen die Buben und Mädel vergnügt, »dann ist der Brief für uns alle.«

»Nä, der ist for mich.« Heine Peterle preßte das Schreiben fest an seine Brust, denn Anton Friedlich griff schon danach. »Mach ihn doch auf!« mahnte der.

»Ja, mach'n auf, wir wollen wissen, was drin steht,« ermunterten auch die andern, und Annchen Amsee drängte sich dicht an Heine Peterle heran. »Uh je, geht das langsam!«

»Das is doch mein Brief,« rief der Bube patzig, »erst lese ich'n alleine. Nä, laß doch!«

Schulzens Jakob hatte versucht, den Brief zu greifen, und kaum hatte ihn Heine Peterle vor dem Griff geschützt, als der dicke Friede danach langte. »An mich ist er erst recht, ich heiße Friede!«

»Nä, mir gehört er!« Mit beiden Händen umklammerte Heine Peterle das weiße Ding, er puffte mit den Ellenbogen nach beiden Seiten und trotzte borstig auf: »Wenn ihr so seid, dann sag' ich nicht, was drinne steht.«

»Wie sind wir denn?« fragten die andern gekränkt. »Nä, pfui, wie du bist! Der Brief ist doch für uns alle!«

»Nä,« Heine Peterle stampfte mit dem Fuß auf, »der gehört mir, erst muß ich'n lesen.«

»Na, dann lies doch fix! O bist du'n Tranpeter!«

»Ihr laßt mich ja nicht lesen.« Heine Peterle wurde immer zorniger, immer röter, und trotzdem ein kühler, frischer Wind wehte und es gar nicht heiß war, traten ihm doch die Schweißperlen auf das Gesicht, denn immer dichter, immer enger umschloß ihn der Kinderkreis, er konnte sich kaum noch rühren. »Ichkann doch nicht aufmachen,« stöhnte er, »erst muß ich ein Messer haben!«

»Hier mein's!« »Nimm mein's!« »Nein, mein's ist schöner!« »Mein's schneidet am besten!« Die Buben suchten in ihren Taschen und holten Messer heraus. Die Mädel ärgerten sich, daß sie keine hatten, und Schulzens Röse rief beleidigt: »Zu so was nimmt man 'ne Stricknadel, Vater nimmt immer Muttern ihre.«

Einen Augenblick sahen die Buben betroffen drein; der Schulze bekam die meisten Briefe, und wenn der eine Stricknadel zum Öffnen nahm, mußte es wohl richtig sein. Aber dann brüllte Anton Friedlich: »Buben machen alles mit 'nem Messer, da ist mein's!«

»Das hat ja keine Klinge,« höhnte Schnipfelbauers Fritz und streckte seins schmeichelnd Heine Peterle hin: »Nimm mein's!«

»Nä, das is nie ordentlich scharf,« empörte sich der blaue Friede, »da guck mal meins!«

»Au!« brüllte Heine Peterle, denn im Eifer hatte ihn der andere mit dem angepriesenen Messer in die Hand geritzt.

»Ihr stecht ihn ja tot!« kreischte Bäckermeisters Mariele, die sehr ängstlich war; sie fing auch gleich an zu heulen, und Heine Peterle hatte nicht übel Lust, es ihr nachzumachen, denn seine Lage war nicht beneidenswert. Die Kinder drängten und drängten; er konntesich nun wirklich nicht mehr rühren, puffte mit den Ellenbogen, stieß mit den Füßen, alles half nichts. Endlich schrie er jammernd: »Laßt mich los – sonst – sonst – eß ich den Brief auf!«

Die Kinder schrieen allesamt laut auf vor Schreck, Bewunderung und Angst. Die Drohung machte einen solch ungeheuren Eindruck auf sie, daß sie den armen Heine Peterle beinahe zerquetschten. »Mach's nich, nä, mach's nich, der Brief ist doch for uns alle,« bettelten sie, und Heine Peterle hätte seine Drohung auch wirklich nicht ausführen können, er konnte nicht einmal mehr stoßen, so fest eingekeilt stand er da.

»Potztausend, ihr Kindervolk, was macht ihr heute wieder für'n Geschrei? 's ist ja, als wäre Krieg und die Feinde hätten euch aus der Schule hinausgeschmissen!« Der das sagte, war Hans Rumpf, der Nachtwächter und Ortspolizist. Er kam mit einem grimmigen Gesicht herbei, denn er ärgerte sich schon eine ganze Weile über die Kinder, die da mitten auf der Dorfstraße standen und standen und nicht heimgehen wollten. Seine barsche Frage scheuchte die Kinder diesmal aber nicht auseinander, sie blieben stehen und klagten: »Heine Peterle hat'n Brief bekommen und will ihn uns nicht lesen lassen. Er will ihn aufessen, und er ist vom Friede, und er ist doch für uns alle, und wir lassen ihn nicht aufessen.«

»Nä, er ist for mich alleine,« heulte Heine Peterle, dem jetzt die Geduld riß, »und ich – ich – esse ihn doch auf.«

»Das muß ich sagen, dies is nu nich scheene von dir,« sagte Hans Rumpf strafend. »Nä, Heine Peterle, das mußte nich machen, so ungefällig sein.«

»Nich wahr?« schrieen alle Kinder, und Schulzens Jakob griff wieder nach dem Brief. »Gib her, ich mach'n auf!«

»Nä!« Heine Peterle trampelte vor Wut mit den Füßen und wurde nun so fuchswild, daß er wie ein Ziegenböcklein mit dem Kopf den dicken Friede in sein Bäuchlein stieß. Der quiekte erschrocken, wollte flüchten und stieß in der Enge so derb an Annchen Amsee, daß die kreischend zu fliehen trachtete.

»Nich so hitzig! So was, das is nich scheene!« tadelte Hans Rumpf, aber seine Worte verhallten ungehört. Die Buben und Mädel stießen, schubbsten und drängten einander, teilten Püffe aus, suchten immer wieder Heine Peterles Brief zu fassen, quietschten, schrieen, heulten und kreischten, – es war ein fürchterlicher Lärm.

»Hollah, fort von der Straße!« Des Schulzen Oberknecht kam mit einem Wagen angefahren, hinter ihm her kamen noch zwei Wagen. Die Leute hatten Dünger auf das Feld gefahren und kehrten nun heim.»Hollah, aus dem Wege!« Der Oberknecht ließ die Peitsche knallen, und nun flüchteten die Kinder und stoben auseinander wie ein Krähenschwarm, in den ein Schuß gefallen ist. Dabei versuchten Schulzens Jakob, Anton Friedlich und etliche andere aber doch noch Heine Peterle den Brief zu entreißen. Der wehrte sich. »Mein Brief, mein Brief,« brüllte er.

»Hollah, aus dem Wege, unnützes Bubenpack!« brüllte der Oberknecht wieder; seine Peitsche sauste, und Anton Friedlich bekam eins über den Rücken. Mit einem lauten Schrei riß er aus, stieß an Heine Peterle an, der verlor das Gleichgewicht, purzelte hin, sprang aber geschwind wieder auf, denn dicht vor ihm standen die Pferde, und einen Augenblick später wäre er unter ihre Hufe gekommen.

»Potzwetter noch einmal,« schrie der Oberknecht erschrocken, »am hellichten Tage kann man hier nicht ruhig fahren, weil einem die Buben in den Weg laufen.« Srrr, srrr, sauste seine Peitsche durch die Luft, und hier gab es einen Schlag, dort einen. Die Kinder jammerten, denn die Peitschenhiebe waren nicht sanft, aber alles Klagen und Jammern übertönte plötzlich laut Heine Peterles Stimme. »Mein Brief ist weg, huhuhuhu, ich habe meinen Brief verloren.«

Die Wagen rollten vorbei, die Knechte schalten, Hans Rumpf schalt, die Kinder sollten nach Hausegehen, aber die blieben auf der Dorfstraße stehen und fragten und klagten untereinander: »Wer hat ihn denn?«

»Ihr habt ihn mir genommen, mein Brief, huhuh, mein Brief!«

»Er hat ihn doch aufgegessen!«

»Nä, ich hab'n nich gegessen, mein Brief, huhuh, mein Brief!«

»Hier liegt er!« Annchen Amsee, die Luchsaugen hatte und alles sah, was andere nicht sahen, hob ein schwarzes, triefendes Ding von der Straße auf: in einer Pfütze hatte es gelegen, und ein Wagen war darüber hingegangen.

Entsetzt starrten die Kinder den verunstalteten Brief an, von dem eine schwärzliche Tunke herniederrann, und jetzt streckten sich die Hände nicht nach ihm aus. Schulzens Jakob sagte kleinlaut: »Den kann man doch nicht mehr lesen!«

»Erst muß er ganz trocken sein,« riefen zwei, drei Stimmen.

»Ich weiß was!« Bäckermeisters Mariele schob sich wichtig vor und griff mit spitzen Fingern nach dem schmutzigen Ding. »Ich hab' mal mein Buch in den Schmutz geworfen und es hernach im Backofen fein getrocknet, dann konnte ich wieder alles lesen. Kommt, wir woll'n den Brief auch trocknen!«

»Fein,« riefen die andern, »und nachher lesen wir unsern Brief.«

»'s ist doch mein Brief,« schluchzte Heine Peterle, und auf einmal empfanden etliche der Mädel herzliches Mitleid mit dem Kameraden. Sie trösteten ihn, nahmen ihn in ihre Mitte, und Mariele sagte gnädig: »Wenn er trocken ist, bekommst du ihn zuerst.«

Alle miteinander zogen nach der Bäckerei. Das war nun keine Bäckerei, wie die etwa in einer Stadt ist. Abseits von dem Wohnhaus in einem Grasgarten stand das Backhäuschen, darin waren der Ofen und eine Backstube nebenan. Die war jetzt leer, aber der Ofen war warm, denn am Nachmittag wollten ein paar Bauersfrauen Striezel backen, und darum hatte Marieles Vater schon geheizt.

»Hier auf den Schieber müssen wir den Brief legen,« wisperte Mariele eifrig. Dann erschrak sie aber selbst, als sie das schmutzige Ding ansah.

»Leg meine Schürze unter!« Annchen Amsee hatte so geschwind, wie sie alles tat, Schwatzen, Essen und besonders Lachen, auch so rasch ihr Schürzchen abgebunden, das merkwürdig sauber war. Darauf wurde sorgsam der Brief gelegt und wie ein Brot in den Ofen geschoben.

»Nicht so rasch,« warnte Mariele ängstlich, denn die Buben schoben gleich sehr kräftig zu, sie dachten: »Viel hilft viel.«

Ein Weilchen standen die Kinder alle miteinander wartend in der Backstube, sie blieben aber nicht lange allein. Die Magd hatte sie durch den Grasgarten laufen sehen, und weil sie wußte, daß es verboten war, in das Backhäuschen zu gehen, meldete sie es rasch der Hausfrau. Diese rief ihren Mann, und der rannte denn auch ärgerlich nach dem Backhaus hinüber, riß dort die Türe auf und rief scheltend: »Na was soll denn das, was macht ihr denn hier alle in meinem Backhaus? Ei der Tausend, solche Gäste könnte ich hier gerade brauchen!«

Der Bäcker war ein gutmütiger Mann, darum klang sein Schelten auch nicht sonderlich böse, und ein paar von den Buben hatten auch den Mut, ihm die ganze Geschichte zu erzählen.

»Potz Weißbrot und Striezel, ihr seid doch ein närrisches Volk,« sagte der Bäcker, »backt 'n Brief in meinem Backofen. Na, woll'n mal sehen, ob er schon eine Butterbretzel geworden ist!«

»Das wär' fein,« schmunzelte der dicke Friede, der gleich Hunger bekam, wenn er nur das Wort »Butterbretzel« hörte.

Der Bäcker hatte unterdessen in seinen Ofen geschaut, aber er sah weder Annchen Amsees Schürze noch Heine Peterles Brief. Er fuhr suchend mit einem Stock im Ofen herum. »Meiner Seel',« rief er endlich,»das ist aber mal 'ne kuriose Butterbretzel geworden!« Er zog ein kleines Häufchen Zunder aus der Tiefe hervor: Schürze und Brief waren der Glut zu nahe gekommen und verbrannt.

»Mein Brief,« brüllte Heine Peterle, und Annchen Amsee weinte: »Meine Schürze, sie war ganz neu!« Doch alles Klagen und Weinen, alles Jammergeschrei half nichts, Brief und Schürze blieben verbrannt. Traurig, mit gesenkten Köpfen zogen alle miteinander heimwärts; wie die begossenen Pudelchen kamen sie einher, und wer die Buben und Mädel sah, schüttelte den Kopf und meinte: »Na, da hat's was in der Schule gegeben.«

Heine Peterle war ganz entzwei vor Kummer um den verlorenen Brief, er hätte doch so himmelgern gewußt, was darin gestanden hatte. Selbst Muhme Lenelies, die zum erstenmal bitterböse auf die Kinder war, denn auch sie hätte zu gern den Inhalt des Briefes gewußt, tröstete schließlich den armen Buben und versprach ihm, sie würde ihm Friedes nächsten Brief vorlesen. Das beruhigte Heine Peterle aber nur halb, und er stieg an diesem Abend mit dem Gedanken ins Bett: »Wenn ich nur wüßte, was in dem Brief gestanden hatte!« Auf einmal, er war schon völlig ausgekleidet, wutschte er zur Kammer hinaus, raste die Treppe hinunter, riß unten die Wohnstubentüre auf und brüllte: »Ich weiß, der Friede hat mich eingeladen!«

Schwapp, hatte er einen Katzenkopf weg. »Dummer Bengel,« rief sein Vater, »was soll das Geschrei? Man denkt ja, es brennt im Hause!«

So endete dieser Tag, der eigentlich wunderschön hätte sein müssen, trübe für den armen Heine Peterle. Es war nur gut, daß ein freundlicher Traum kam, sich an sein Bett setzte und ihm die prächtigsten Dinge erzählte. Als der Bube am nächsten Morgen aufwachte, war aller Kummer weg, wie weggeblasen, und als er in seine Höschen fuhr, sagte er höchst vergnügt zu Muhme Rese, die ihn geweckt hatte: »Aber mein war doch der Brief, mein Name hat drauf gestanden.«

Und ein wenig später ging er steif und stolz wie ein Gockel zur Schule und rief seinen Kameraden wichtig zu: »Etsch, ihr habt noch nie 'nen Brief gekriegt, aber ich!«

Da sahen ihn die andern betroffen an, seufzten und dachten: »Ja, recht hat der Heine Peterle schon, gekriegt hatte er den Brief, und das Lesen – – ja, das Lesen war schließlich doch Nebensache. Lesen konnte jeder einen Brief, aber kriegen nicht.«


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