II
Die blauen Rouleaus waren heruntergelassen, nur die zwei Fenster nach der Schattenseite waren offen geblieben. Hinter ihnen sah man einen schmalen Kiesweg, eine dichte Hecke mit harten stachligen Blättern und ein Stück blauen Himmels. Die Luft stand kühl im Zimmer. Nur strichweise lag ein leiser Tapetengeruch. Das bläuliche Licht macht alles gleichgültig und nüchtern. Auf dem rechten Rouleau streckte sich der Schatten eines großen Efeublattes und glich einer Menschenhand, die den Pergamentstoff leise schaukelte. In dem goldenen Empirespiegel sah man wieder das Rouleau, das grünlichblau herübernickte, und davor den grauweißen Mullbeutel der Lampe, der mit Fliegenpunkten bedeckt war.
Draußen atmete ein Klingen, gleich einem Blinzeln der Sonnenhitze, die im Garten hing. Durch die Ritze zwischen der Fensterbank und der blauen Kante kam es herein und glitt auf dem Teppich müde hin und her. Es war eine Glocke, die am anderen Ende des Dorfes zu Frau Hellweges Begräbnis geläutet hatte und nun wieder einschlief. Auf der Diele erwachte ein verworrenes Geräusch von Stimmen. Ein Huhn gluckste, Schritte schlürften. Die Türklinke bewegte sich und wurde mit einem harten Ton heruntergedrückt. Das Rouleau bebte, schrak auf. Das Zimmer erwachte.
Die Tür öffnete sich. Eine Welle von gelbem Licht flutete herein. Marianne stand auf der Schwelle.
»Nein, diese Tante Laura!« sagte sie empört. »Hast du gesehen, Julie, wie sie die Tränen in den Augen zerdrückte!«
Julie trug einen Teller mit Butterkuchen herein.
»Das ist alles, was sie übergelassen haben.«
Julie verzog die Nase.
»Neben mir stand der junge Klattenberg, der roch nach Pomade! Ich mußte an dich denken.« Sie sah geradeaus. Die feine Linie um den Mund verschärfte sich; ihre Hand strich langsam vom Ohr über den bloßen Hals. »Jedenfalls ist mir über all dieser Unwahrheit meine eigene Trauer ganz verloren gegangen. Ich freute mich, wie der Sarg endlich hinuntergelassen war und ich die Stimme des Pastors nicht mehr zu hören brauchte.«
Gesche kam mit rotgeschwollenen Augen und brachte ein Teebrett. Julie setzte die Tassen auf den Tisch.
»Was hattest du eigentlich für eine lange Unterhaltung mit dem Schullehrer?« fragte sie.
Marianne wurde verlegen und sah weg. »Ach, nichts weiter! Er hat mir kondoliert.«
»Na,« lachte Julie zweifelnd. Und dann eine abwehrende Handbewegung: »Er hat so große Hände!«
Marianne wendete sich kurz ab.
»An dir ist doch auch nichts Ideales.«
Julie lachte.
Agnes Elisabeths ruhiges Gesicht und Evelyns blasse Wangen, auf denen noch Spuren von Tränen zu sehen waren, erschienen in der Tür.
»Ist alles fertig, Julie? Sie kommen gleich.«
»Ja, hoffentlich reicht der Kuchen. Weinen macht hungrig!« sagte Julie böse.
Evelyns verweintes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
Gesche öffnete die Tür. Der Vormund und seine Frau, dahinter Tante Laura, kamen gefühlvoll gebeugt herein. Auf ihren Gesichtern lag noch der letzte pietätvolle Satz zur Ehrung der Seligen.
Agnes Elisabeth gab den dreien die Hand und bat sie, Platz zu nehmen.
Tante Lauras Fülle versank im Sofa. Sie schaute schmerzvoll zur Decke hinauf.
Julie und Marianne gaben sich einen Ruck, standen auf, gossen Kaffee ein und setzten sich zu den andern.
Tante Sophie, die Frau des Vormundes, zog Evelyn auf den Stuhl neben sich. Nach einer Weile strich der Vormund seinen rötlichblonden Schnurrbart, zog ein leise nach Kampfer riechendes Taschentuch heraus und schneuzte sich geräuschvoll.
Marianne streckte ihre runden Finger aus, befeuchtete sie und pickte langsam die Krumen vom Teller.
Der Vormund räusperte sich, schob seinen Stuhl zurück und begann:
»Da wir noch Zeit haben, liebe Agnes, würde ich gern mit dir besprechen, wie ihr euch nun eure nächste Zukunft denkt. Habt ihr schon irgendwelche Pläne?«
Agnes Elisabeth strich die Kaffeeserviette glatt.
»Nein, wir dachten alles beim alten zu lassen.«
Tante Laura bewegte ihren Kopf energisch hin und her.
»Nun, hier auf dem Lande könnt ihr doch unmöglich bleiben!«
Marianne hob träge den Kopf und sah zu der Tante hinüber.
»Denkst du denn, wir lassen unser Haus im Stich?!«
»Ihr könnt es ja als Sommerwohnung behalten,« meinte der Vormund, »wie es sich euer Vater auch anfänglich gedacht hat. Das Haus in der Stadt ist jetzt zwar noch vermietet; der Kontrakt läuft aber zum Oktober ab, und ich könnte am 1. Juli noch kündigen. Eure Verhältnisse sind ja, Gott sei Dank, so, daß ihr zwei Häuser bewohnen könnt. Und für Evelyns Stunden ist es doch überaus wünschenswert, daß ihr, wenigstens im Winter, in der Stadt wohnt.«
»Ich danke dir herzlich für deine Bemühungen, Onkel Wilhelm,« sagte Agnes Elisabeth. Sie legte den Kopf zurück und setzte in energischem Tone hinzu: »Wir wollen hier draußen bleiben! Mit Evelyn ist es ja bisher sehr gut gegangen; eine Änderung für dieses halbe Jahr ist wohl nicht nötig.«
Evelyn neigte den blonden Kopf ein wenig zur Seite. »Laß uns nur nicht weggehen!«
»Wir passen überhaupt nicht mehr in die Stadt!« warf Julie ein. »Hier kümmert sich kein Mensch um uns. Hier sind wir glücklich!«
Der Vormund wiegte den Kopf.
»Ihr seid sonderbare Geschöpfe! Warum wollt ihr euch denn so abschließen? Ihr habt hier ja nichts von eurem Leben! Euch fehlt jede Anregung!«
Julie richtete ihren Oberkörper straff auf und schob die Hände vor.
»Onkel Wilhelm!«
Tante Sophie nickte ihr begütigend zu.
Der Vormund wendete sich und sprach über die Schulter zu Julie: »Bestes Kind,washabt ihr denn? Moor, und nochmals Moor, Heide und endlose Wasserzüge. An Verkehr ...«
»Ungeschliffene, schmutzige Bauern!« ergänzte Tante Laura.
»Aber einen Pfarrer!« sagte Marianne; ihre weiße Hand machte eine kleine segnende Bewegung.
»Und einen Lehrer!« warf Julie mokant ein.
»Na ja, daß das sehr viel ist, könnt ihr doch wirklich nicht behaupten,« meinte der Vormund. »Habt ihr denn gar nicht einmal das Verlangen nach Konzerten ...?«
»Aber Herr Craner!« meinte Tante Laura vorwurfsvoll. »Bedenken Sie doch, jetzt im Trauerjahr! Eure liebe Mutter freilich ...«
»Die ist tot!« rief Julie ungeduldig. »Laß sie doch in Frieden!«
Tante Lauras Busen wogte vor Entrüstung. Die Jettkette klirrte hin und her.
»Na ja,« lenkte der Vormund ein; »wir können uns das ja noch überlegen! Solche Eile hat es ja nicht! Aber eine Hausdame müßt ihr unbedingt haben!«
Tante Laura hüstelte vom Sofa her.
In Agnes Elisabeths Augen kamen Tränen. Sie beugte sich weit vor. »Wir? In unser schönes stilles Haus ein fremdes Wesen, das immer da ist und uns nichts angeht!? Nein! Wir vier wollen allein bleiben!«
Tante Sophie legte leise ihre Hand auf Agnes Elisabeths Schulter.
»Wir wollen euch ja keine Fremde ins Haus bringen,« sagte sie herzlich. »Tante Laura hat sich erboten, Mutterstelle an euch zu vertreten.«
»W—w—was?« schrie Marianne ungezogen.
Der Vormund warf ihr einen verweisenden Blick zu.
Tante Laura setzte sich in Positur, wie ein aufgeplusterter Spatz. »Ihr wißt, ich habe eure gute Mutter so lieb gehabt!« sagte sie. »Es ist mir wie eine Aufgabe vom lieben Gott geworden, euch die Heimgegangene nach besten Kräften zu ersetzen. Darum will ich das Opfer bringen und ...«
Julie lachte.
Über Agnes Elisabeths Gesicht ging ein Unbehagen. Sie schloß hochmütig die Augen; ihre Stimme schien von weit dahinten zu kommen.
»Es ist sehr liebenswürdig von dir, Tante Laura, aber dieses Opfer nehmen wir natürlich unter keiner Bedingung an! Ich bin jetzt sechsundzwanzig Jahre und, glaube ich, alt genug, hier mit den Schwestern allein zu leben.«
Tante Lauras Augen schillerten hinter den roten Sammetpolstern ihrer Wangen. Sie spitzte den Mund zu einem milden Lächeln. »Nun, ich will mich nicht aufdrängen! Ich meinte es nur gut mit euch! Und ich weiß, ihr werdet noch einmal entbehren, was ihr heute von euch gewiesen habt.«
Tante Sophie machte eine gewandte Bewegung.
»Agnes Elisabeth hat wohl nicht so unrecht! Sieh mal, du als ältere Dame ...«
Der Vormund zog langsam das Augenlid herunter und faßte an seine Wimpern. »Tja, Agnes Elisabeth, da ist nicht viel zu machen, bei eurer Selbständigkeit! Versucht’s denn in Gottes Namen!«
Agnes Elisabeth lächelte befreit.
»Ich werde natürlich oft herauskommen und nach euch sehen! Hoffentlich geht alles gut! Und Evelyn ... Na ja, man muß sehen!«
»Evelyn kommt Ostern zu uns,« sagte Tante Sophie freundlich. »Das hat mir deine Mama noch versprochen, Evelyn. Kommst du auch gern?!«
Evelyn nickte.
»Dann können wir wohl gehen!« sagte Tante Laura, erhob sich schwerfällig und faßte nach ihrer Pelerine. Julie half ihr eilfertig.
»Dann machst du eine hübsche Reise mit uns!« sagte Tante Sophie zu Evelyn. »Wir werden uns schon gut vertragen.«
Tante Laura knöpfte an ihrer Pelerine. »Was macht ihr denn mit Mamas alten Sachen?« erkundigte sie sich bei Agnes Elisabeth.
»Das haben wir uns noch nicht überlegt!« gab diese gereizt zurück.
»Ich glaube, es ist nun Zeit,« meinte der Vormund, sah nach der Uhr und stand auf. »Ich komme nächstens einmal heraus. Wahrscheinlich schicke ich dir vorher noch einige Papiere, die du unterschreiben mußt. Mein Bruder bringt sie dir vielleicht; er wollte sowieso mal einen Ausflug ins Moor machen.«
»Es ist schrecklich, daß wir dir so viele Mühe machen, Onkel Wilhelm,« sagte Agnes Elisabeth.
»Na, na, ich tu’ es ja gern!« brummte er gutmütig. »Denn, ade, ihr Moorkatzen!« Er gab den Schwestern die Hand.
Tante Laura konnte es sich nicht versagen, der erschrockenen Evelyn einen lauten Kuß zu geben. Julie bog ihr noch geschickt aus.
Die Schwestern blieben im Zimmer. Agnes Elisabeth begleitete die Verwandten durch den Vorgarten.
Die beschnittenen Linden breiteten sich schwer und duftend vor der Giebelseite des Hauses. Unter ihnen, gegen die weißgetünchte Hauswand gelehnt, standen links und rechts zwei grüne Bänke, neben ihnen in weißen Kübeln schlanke Lorbeerbäumchen. Der schmale buchsbaumgefaßte Kiesweg führte abschüssig nach dem weißen Holzgitter, mitten durch grünen Rasen, vorbei an tiefroten und rosaweißen Malvenstöcken.
»Wie hübsch sauber ihr alles habt!« meinte Tante Sophie im Vorübergehen.
»Habt noch vielen Dank!« sagte Agnes Elisabeth und klinkte die Pforte hinter ihnen wieder ein. Durch den mehligen Staub der Chaussee, an den großen Bauernhöfen vorüber, gingen nun die drei. Breitgewachsene Kastanien waren zu beiden Seiten postiert. Ihre eiförmigen grünen Schatten lagen in regelmäßigen Abständen auf dem farblosen Grund; mit den sonnenbeschienenen Zwischenräumen bildeten sie eine Kette von Langeweile.
Tante Laura stöhnte.
Wilhelm Craner seufzte; dann pfiff er vor sich hin.
»Von Trauer war da nicht viel zu merken!«
»Du weißt ja, sie sind anders, als andere Menschen,« meinte Sophie.
Laura Bassemanns Sonnenschirm entfaltete sich.
»Wie das noch enden soll! Die Julie ist schon ganz von Agnes Elisabeths verrückten Ideen angesteckt.«
»Das ist schließlich Schuld der Mutter,« meinte der Rechtsanwalt. »Ich habe ihr oft genug vorgestellt, sie solle die Kinder nicht hier in die Einsamkeit vergraben. Aber sie konnte von ihrem kleinen Haus nicht lassen.«
Sophie Craner nahm ihr Kleid höher. »Die beste Lösung wäre, Agnes Elisabeth verheiratete sich.«
»Ihr Bruder, Herr Craner,« meinte Laura Bassemann geschwätzig. »Sollte das nicht was sein!?«
Craner hörte nicht auf sie.
Das Dorf lag hinter ihnen. Links und rechts von der Chaussee streckte sich die Heide, die endlose, flimmernde Heide. Stahlblaue verglaste Gräben mit fetter Moorerde an den Rändern, kleine Getreidestriche, hin und wieder eine Birke, die ihre weißen Glieder dehnte. Darüber der Himmel wie eine riesige, in weißer Glut schwingende Glocke. Craner sah sich um.
»So unrecht haben die Mädels eigentlich nicht, wenn sie sich von diesem Fleck Erde nicht trennen wollen!«
Es kam keine Antwort. Nur Sophies Kleid rauschte.
Das Stationsgebäude träumte abseits an einem Seitenwege. Davor ein Laternenpfahl, über und über mit Rosen bewuchert, darunter ein kläffender Köter, auf der Bank vor dem Haus eine eingenickte Bauernfrau, in der Tür würdig der Vorsteher.
»Hier sieht es allerdings sehr nach Anregung aus!« meinte Laura Bassemann. »Sie werden schon noch verkommen.«
»Sie hätten sie auch nicht davor bewahrt!« sagte der Rechtsanwalt gereizt.
Fräulein Bassemann hob ihren Kleiderrock hoch, daß man die weißen baumwollenen Strümpfe leuchten sah, und beguckte sich ihren steifgestärkten Unterrock.
»Netter Staub!«
Dann kam die Sekundärbahn lärmend durch die Heide daher. Die drei stiegen ein. Sophies ruhiges Gesicht sah noch einmal durch das Coupéfenster. Dann setzte sich die kleine Maschine wieder in Bewegung. Die vier Wagen klapperten einträchtig hintereinander her. Die Heide nahm sie auf. Eine weiße Wolke nickte noch einmal herüber. Der Vorsteher schob die rote Mütze zurück und trat ins Haus. Die Sonne schien weiter.