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Lange nach Mitternacht schloß Eberhard Freidank die Augen zu jenem kurzen, leichten und fieberigen Schlummer, der nach anhaltender, angespannter Anstrengung aller Geisteskräfte nicht eigentliche Erquickung bringt, sondern nur das Bewußtsein trübt, indes alle Glieder regungslos und wie zerschlagen daliegen. Als er nach einer Zeit, die ihm unglaublich kurz gewesen zu sein schien, erwachte, war schon der weißgraue Spätoktobermorgen am Himmel heraufgezogen und blickte matt hinein in das bescheidene Studentenstübchen, in dem Schlaf und Wachsein um Eberhard Freidank kämpften. Dieser Streit wurde aber alsbald entschieden durch den Briefträger, der eben die Treppen hinaufstieg und für Eberhard ein Briefchen brachte.

Der junge Mann wurde ganz wach, betrachtete das längliche Briefchen mit überaus freundlichen Augen und übersah durchaus, daß die Adresse von flüchtiger, ungeübter Hand geschrieben und daß die Marke schräg über Eck geklebt war; denn er liebte Fritzi l’Alouette, die den Brief gesandt hatte, und sie schrieb ihm nur in seltenen Fällen. Er öffnete den Brief mit liebevoller Hand und las:

„Liebster Ebi! Warum hast Du mich heute abend nicht vom Theater abgeholt? Ich hatte Dir gerade etwas Eiliges zu sagen. Ich bin nämlich in eine schreckliche Klemme geraten, und Du mußt mich unbedingt herausreißen. Bis morgen nachmittag muß ich unter allen Umständen zwanzigMark haben. Ich brauche sie furchtbar notwendig, und Du mußt sie mir ganz bestimmt beschaffen, aber hörst Du, ganz bestimmt. Jetzt, wo Du Dein Stück fertig hast, ist Dir das ja eine Kleinigkeit. Lieber, süßer Ebi, lasse mich keinesfalls im Stich. Du hast mich doch so lieb und wirst Deiner kleinen Fritzi die Bitte nicht abschlagen. Komme um drei Uhr ins Café Prätorius und bringe mir das Geld mit. Es grüßt und küßt Dich Deine treue Fritzi.“

Du lieber Gott, sprach Eberhard erschrocken zu sich selbst, du lieber Gott, woher, in aller Welt, nehme ich bis heute nachmittag zwanzig Mark, um sie Fritzi zu bringen? Denn bringen muß ich sie; das eine ist ganz klar. Aber woher?

Er nahm das magere Portemonnaie aus der Hosentasche, öffnete es, obwohl er genau wußte, wie viel, oder richtiger, wie wenig darin war, und zählte melancholisch: eins, zwei, — sieben Groschen; und hier, in dem Extrafache, noch eine Mark; fehlten achtzehn Mark und dreißig Pfennige. Ein erheiterndes Rechenexempel!

„Deine treue Fritzi“, las er noch einmal und dachte betrübt: Das liebe Kind! sie hat auf mich gewartet, um mir ihre Verlegenheit zu klagen! sie hat endlich eingesehen, daß ich nicht gekommen war, und ist traurig allein nach Hause gegangen, während ich Barbar an diesem Tischchen saß, um mein Stück zu beenden! Das gute, ahnungslose Kind: mein Stück, so denkt sie in ihrem herzigen Vertrauen, wird uns beide sofort, da es kaum fertig ist, mit Reichtümern überschütten!

Eberhard griff halb schüchtern, halb stolz nach dem dicken Schreibbuche in schwarzem Wachstucheinband und betrachtete es mit der lächelnden, freudenvollen Befangenheit des jungen Autors, der ein Erstlingswerk vollendet und viel fröhliche Pläne und hochfliegende Hoffnungen, viel jugendliche Zaghaftigkeit, viel Jünglingssehnsucht und Träume von Ruhm und Glück in die sorgsam beschriebenen Linien eingeschlossen hat. Er schlug das Manuskript auf und lächelte mit seinem frischen, gesunden und naiven Lächeln wohlgefällig den Titel an, welcher also lautete: Ein Kind der Straße. Volksschauspiel in vier Akten von Eberhard Freidank.

Das „Kind der Straße“ hatte auch schon eine kleine Tragödie hinter sich, die Tragödie der Ungedruckten und Unaufgeführten, die kein Mensch bedauert. Als es in Eberhard Freidanks Kopfe geboren wurde, stand es schon in seinen Umrissen fix und fertig da, und es sollte ein feines, nachdenkliches Drama voller Geist und Psychologie werden. So wollte es der junge Freidank. Als aber das Manuskript fertig vor ihm lag, glich es dann doch nicht der Lichtgestalt seiner Träume; die Glut seiner Gedanken war auf dem weißen, empfindungslosen Schreibpapier verblaßt, und die Worte standen so steif und leblos da. Immerhin sandte er sein Werk voll Zweifel und Hoffen an die Intendantur der königlichen Schauspiele. Nach einer langen Zeit, während deren er sich vergeblich einzureden versuchte, daß ihn das Schicksal seines Manuskriptes nicht im geringsten interessiere, bekam er es zurück. Da hatte er es umgearbeitet, hatte moderne, übermoderne Züge hineinverwebt und es einem intelligenten Theaterdirektor eingereicht, der gern Talente entdeckte. Nach vierzehn Tagen ließ der Direktor den Mann kommen, dessen unbrauchbare Arbeit den gewissen, ahnungsvollen Bühneninstinkt verriet. Als Eberhard das Bureau betrat, sah ihn der Bühnengewaltige von oben bis unten an und lachte dann hell auf: „So sehen Sie aus? So kerngesund, so unwahrscheinlich gesund, ein rotbäckiger Germane, direkt Athlet, und schreiben diffizile, pathologische Stücke? — Junger Dichter, wenn Sie denRat eines alten Praktikers nicht übel nehmen, so lassen Sie sich sagen: Besinnen Sie sich erst auf sich selbst, auf Ihre eigne Kraft, und dann schreiben Sie ein neues Stück und bringen es mir.“ — Da hatte der junge Mann pikante Verwickelungen hineingebracht und es einem Theater eingereicht, welches französische Ehebruchsdramen aufführte. Aber der biedere, fröhliche, von Herzensgrund reine und gesunde Jüngling hatte keine Pikanterie schaffen können, und wieder kehrte das Stück zu ihm zurück.

Nun zürnte Eberhard sich selbst, wollte niemals wieder schreiben und tat sich selber leid, daß er in langen Winternächten mühsam die schwarzen Buchstaben aneinander gereiht hatte, anstatt sich von des Tages Arbeit auszuschlafen; denn er hatte einen Tag wie den andern am Morgen Kollegs gehört und nachmittags Privatstunden gegeben, um seine bescheidenen Einkünfte zu vermehren. Die Enttäuschung bewirkte nun, daß er die ganze Arbeit, das Studieren und Schreiben, aus tiefster Seele haßte. Zehnmal des Tages reckte er seine langen, starken Glieder, deren Kraft zu nichts gebraucht wurde, sehnte sich, schwere Arbeit zu verrichten, und wenn er einen Steinträger unter seiner Bürde keuchen sah, hätte er ihm am liebsten die Last abgenommen. Um jene Zeit ging er wieder zum Turnen und Fechten, machte weite Spaziergänge und ging oftmals zu Fuß nach Potsdam, statt in das Kolleg. Privatstunden hörten auf: er suchte keine neuen. Sie hätten ihm zu viel Zeit geraubt, denn inzwischen hatte er Fritzi kennen gelernt, Fritzi, die Chansonette.

Sie war kein großer Stern, sondern nur eines von den ganz kleinen Sternchen. Als Eberhard sie kennen lernte, machte sie gerade den unsicheren Sprung aus der Variétéschule ins erste Engagement. Er sah sie bei ihrem ersten Debüt, und wie sie mit ihrem muntern Stimmchen sang,mit zierlich schlanken, rotbestrumpften Beinchen tanzte und mit lieblichem Munde und blitzenden Augen lachte, sang, tanzte und lächelte sie sich geradenwegs in das ehrliche Herz des großen, starken Studenten hinein.

Da fing ein fröhlicher Frühling leichtlebiger junger Liebe an, die das Heute genießt, ohne der grauen Zukunft zu gedenken. Für ihre Gage hätte Fritzi sich nicht einmal die bunten, flatternden Kleidchen kaufen können, in denen sie abends über die Bühne hüpfte. Eberhard sorgte für alles, und Fritzi war ihm dafür gut. Der Jüngling dachte nie daran, daß sein kleines Erbe einmal aufgezehrt sein könnte, und ein wunderlicher Schreck, mehr Staunen als Entsetzen, durchzuckte ihn an jenem Tage, an dem der Bankier ihm die letzten zweihundert Mark seines Kapitals nebst einer Schlußabrechnung sandte. —

Er mußte nun in kurzer Zeit Geld verdienen, um für sich und Fritzi sorgen zu können. Zufällig fanden sich nicht sogleich Privatstunden. Was tun, um schnell zu verdienen? Man schreibt etwas; ein Buch, ein Stück... Da wurde triumphierend das alte, verstaubte und vergilbte Manuskript hervorgesucht und kritisch, mit der naiven Überlegenheit des Menschen, der inzwischen zwei Jahre älter geworden, von neuem studiert.

Gerade in diesen Tagen machte Eberhard die Bekanntschaft des Direktors vom Odeontheater. Den hat der Himmel mir geschickt, dachte Eberhard. Dem fröhlichen, jovialen Manne, der abends am Artistentische ein so angenehmer Kneipgenosse war, würde er sein Stück anbieten und sicher keine Ablehnung erfahren. Das Drama, welches schon so viele Metamorphosen erlebt hatte, sollte aus dieser letzten Häutung als Volksschauspiel in vier Akten erstehen, grausig und rührend, pomphaft und populär, wie das Publikum des Odeontheaters es liebte. Ohne Furcht sah nun der jungeFreidank seine Barschaft auf die Neige gehen und war nur traurig, daß er Fritzi ein wenig knapper halten mußte. Aber nur erst fertig sein, dann würde schnell der Umschwung zum Guten kommen! Er arbeitete fieberhaft, mit fliegender Feder, und gerade am Abende, ehe Fritzis Brief ankam, hatte Eberhard, bebend vor Stolz und Hoffnung, den Schlußstrich unter dem „Kind der Straße“ gezogen.

Ende Kapitel I


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