III.
Es schwirrte Eberhard vor den Augen, als er auf die Straße trat, und in seinen Gedanken war eine sonderbare Leere. Er hatte dieses Haus mit gar so anderen Hoffnungen und Wünschen betreten und wußte nun nicht, ob er besser oder schlechter dran war, als zuvor.
Im Hauseingange, nahe dem Tore, hing wieder das gelbe Plakat aus dem Theaterbureau. Vorher war es dem jungen Manne nicht aufgefallen, jetzt blieb er davor stehen. Zwei ganz junge Mädchen, die leichtfüßig durch den Torweg geschritten kamen, blieben ebenfalls stehen, lasen von den vierundzwanzig Ringkämpfern und lachten. Dann sagte die eine, sie habe noch nie Ringkämpfer gesehen; was das wohl für Leute sein möchten? Das andere Mädchen, welches Annette genannt wurde, machte bewundernde und schwärmerische Augen und erwiderte: „Natürlich sind sie schrecklich stark; furchtbar groß und breit; ungefähr zwei Meter groß oder so...“ „Ich bin ein Meter fünfundfünfzig,“ sagte die erste leise.
Eberhard fiel es ein, daß er zweihundertfünf Zentimeter hoch war, und er richtete sich unwillkürlich straff auf. Die jungen Mädchen aber hinter ihm mußten plötzlich auch seine Größe und Stärke bemerkt haben, denn ihr Lachen und Zwitschern brach jäh ab und sie gingen stumm von dannen.
Der junge Mann unterdrückte ein stolzes Lächeln und schritt festen, langsamen Ganges weiter. Ein merkwürdigesGefühl lag schwer und beruhigend in seinem Körper; er fühlte die Glieder so sonderbar fest und sicher in den Gelenken ruhen, er preßte die Fäuste zusammen und dachte: so viel Kraft, so viel Kraft, mit der man nichts beginnt...
Durch das grauweiße Gewölk des spätherbstlichen Himmels war die Sonne durchgebrochen und ihr warmes, gelbes Mittagsleuchten zauberte einen künstlichen Sommer auf der Straße hervor. Studenten kamen ihm entgegen, die ihre bunten Mützen und dreifarbigen Bänder im Sonnenschein spazieren führten, und andere, die Bücher unter dem Arme trugen. Eberhard Freidank mußte fortsehen und dann wieder gewaltsam hinsehen. Er gehörte ja doch zu ihnen, noch... und immer... Ihr Reich, das Reich des Geistes, der Pläne, Hoffnungen und Ideale, war auch sein Reich, ihr Streben war sein Streben, und die Schätze des Wissens waren der unversieglich reiche, ewig frische Born, aus dem auch er den Lebenstrank schöpfen wollte...
Er blieb an dem Schaufenster einer Buchhandlung stehen, in der er seine Bücher zu kaufen pflegte. Bis heute hatte er nur Augen für jene dickleibigen, schlichten Bände gehabt, die er zu seinem Studium brauchte, und für die modernen, farbenfrohen Umschläge der schönen Literatur. Jetzt eben sah er zum ersten Male die Bücher, die von Sport und Körperkultur handelten. Es waren ihrer allein in diesem Schaufenster fünf oder sechs. „Was ist das?“ fragte sich Eberhard mit flüchtigem, innerlichem Erschauern, „was ist das, daß in so vielen dieser Bücher die Lehre von der alleinseligmachenden Kraft ausgesprochen wird? Der Geist ist doch mehr, die Weisheit ist doch höher...“ Und er wendete sich dem Schaukasten an dem seitlichen Pfeiler zu. Dort waren Bilder und Reproduktionen auf Ansichtspostkarten ausgestellt. Eberhards Blick ging die Reihe der Karten entlang; es waren Nachbildungen antiker Marmorwerke auf schwarzem Grunde. Da stand der borghesische Fechter, da standen die florentinischen Ringer, der Apoxyomenos, die laufende Atalante....
„Höre doch endlich, Freidank!“ sagte eine helle junge Männerstimme dicht neben ihm, daß Eberhard sich schnell umwendete. „Ich rufe dich schon zum dritten Male an! Wer steht denn am lichten Mittage so versunken da? Zu einer Zeit, wo jeder Mensch den Fleischtöpfen Egyptens zustrebt, wenn er den Mammon dazu hat?“
„Du bist es, Tönnies,“ sagte Eberhard. „Warum bist du also auch hier, anstatt nach den Fleischtöpfen zu eilen?“
„Ich sagte es ja,“ antwortete Tönnies mit verdrießlichem Lachen, „kein Geld... Und ich habe noch keinen Menschen gefunden, der mir etwas pumpen kann... Ich bitte dich, am Dreiundzwanzigsten noch Geld... Nein, das ist zu viel verlangt! Dir wird es nicht besser gehen! Oder...?“
„Komm mit,“ sagte Eberhard mit seinem ruhigen, fröhlichen Lachen, indem er den Arm des Kommilitonen unter den seinen zog. Der junge Tönnies sah mit seinen hellen, runden Augen erstaunt auf.
„Du hast?... Am Dreiundzwanzigsten?... Ja, wo schleppst du mich denn hin? Heut’, am Dreiundzwanzigsten?“ —
Gemeinsam betraten die jungen Männer eines jener Bierhäuser, in denen die akademische Jugend verkehrt. In diesem Augenblicke drängte es Eberhard förmlich, die Gemeinschaft anderer Studenten aufzusuchen, mit ihnen am Tische zu sitzen, mit ihnen zu essen und zu trinken! Er mußte sich selbst überzeugen, daß er einer der Ihren war; kein Ringkämpfer, sondern ein Strebender, ein Suchender, ein Werdender, einer vom jungen Deutschland....
Hin und her flog die Rede der jugendlichen Wissenssucher. Es wurde von den höchsten und den kleinlichsten Dingen gesprochen, von Goethe, von Gott und Vaterland, von jungen Mädchen und Mensuren, von einer fremden Burschenschaft und Kneipen. Man speiste mit gesundem Appetit, man schlug die zinnernen Deckel von den Seideln zurück und sprach dem Biere zu, man plauderte, philosophierte und urteilte....
„Du mußt eine Erbschaft gemacht haben,“ sagte Tönnies tiefsinnig zu Eberhard, „oder einen Einbruch begangen...“
„So ähnlich,“ sprach Freidank mit ruhigem Lächeln, „du mußt es ja wissen, Tönnies!“
Und er ließ seine Augen auf der Tischrunde der Kommilitonen ruhen und dachte mit einer stillen, starken Zufriedenheit im Herzen: „Hier bin ich — ich; unter meinesgleichen; an meinem Platze...“
„Du lieber Gott, halb drei!“ rief Tönnies plötzlich und sprang auf, „und um halb vier habe ich in Charlottenburg eine griechische Stunde zu geben... Bis zum Ersten — indessen nur vielen Dank, Eberhard! — — Du mußt doch eine Erbschaft gemacht haben, sonst hättest du nicht...“
„Am Dreiundzwanzigsten — ja,“ sagte Freidank und sah dem Freunde, der ihm lustig und dankbar derb die Hand schüttelte, lachend ins Gesicht. „Nun, auf Wiedersehen, Adolf!“
„Auf Wiedersehen!“ rief Tönnies, schon unterwegs.
Es war auch für Eberhard mittlerweile Zeit geworden, ins Café Prätorius zu Fritzi zu gehen. Er winkte den Kellner herbei, bezahlte — wieder gab es ihm einen Stich ins Herz — mit dem Gelde des Theaterdirektors, und ging davon.
Er ging mit langen, schnellen Schritten dorthin, wo seine Freundin Fritzi ihn wohl schon erwartete; denn Eberhard hatte sich gegen seine Gewohnheit um einige Minuten verspätet. Hastig trat er in das kleine, um diese Stundewenig besuchte Caféhaus ein und sprang die schmale Wendeltreppe ins obere Stockwerk empor, wo er die zierliche Gestalt der Freundin in eins der kleinen Ecksofas geschmiegt zu sehen erwartete. Aber Fritzi war noch nicht da, und der junge Mann hatte noch länger als eine Viertelstunde in Sehnsucht und Ungeduld an seinem Fensterplatze auszuharren, ehe er seine Freundin mit keck hochgehobenen Röcken über den Straßendamm hüpfen sah. Er wollte sich ein wenig über ihre Unpünktlichkeit ärgern, aber als er ihre flüchtigen Tritte auf der Stiege hörte, verging sein Herz vor Liebe und vor Freude, die Geliebte zu sehen...
„Liebe Fritzi!“ sagte er alsbald, „sage mir, wozu du das Geld so notwendig brauchst, und... ich werde es beschaffen, wahrhaftig, ich werde es beschaffen... Zwanzig Mark wolltest du... Ich habe sie nicht, Fritzi... Oder vielmehr, ich habe sie, aber sie sind, sozusagen, nicht mein... sie sind fremdes Geld... für einen bestimmten Zweck mir übergeben...“
Fritzi lächelte kindlich: „Wieviel kannst du mir geben, Ebi?“
„... Fünf Mark,“ sagte Freidank nach einem kurzen, heftigen Kampfe mit sich selbst. Er hatte das Geld aus der Tasche reißen, hatte es Fritzi geben wollen; aber dann hatte doch die Anstandspflicht gesiegt, die ihm befahl, das Geld entweder zu dem Zwecke zu gebrauchen, zu dem er es von Immermann erhalten hatte, oder es zurückzugeben.
„... Fünf Mark, Fritzi,“ wiederholte Eberhard. „Aber, wenn es durchaus sein muß, so...“
„Ach Gott, nein!“ sagte das junge Mädchen, indem es drollig die Lippen verzog, „wenn es nicht geht, Ebi.... Gieb mir inzwischen die fünf Mark.... danke.... Sage mir, wann verkaufst du das Theaterstück? Bekommst du sehr viel Geld dafür?“
Der Student besann sich einen Augenblick, trank aus dem dünnen, hohen Bierkelche, blickte auf die Straße hinaus und wieder auf Fritzi hin: er wollte ihr alles mit einem Male sagen, denn er liebte nicht das Versteckenspielen und die halben Erzählungen. Er sagte ihr also in den einfachsten Worten das, was sich heute zugetragen hatte und fragte sie, was sie dazu meinte, wenn er nun in der Zukunft ein Ringkämpfer sein würde. Aber er sagte nur die Tatsachen und verschwieg seine heimliche Angst vor einem Schritte, der ihn für immer aus den Reihen der Werdenden, der akademischen Jugend hinausziehen würde.
Fritzi, die in die Sofaecke gedrückt dagesessen hatte, bog sich vor Erstaunen und Vergnügen weit vor, sie schob ihre Kaffeetasse mit energischer Bewegung fort, legte beide Arme auf den Tisch und fragte leise und fröhlich:
„Das ist wahr? — Ein Ringkämpfer? — So stark bist du?“
„Ich weiß nicht, Fritzi! Ich denke wohl! So stark, — o ja! — Und sonst — sonst hättest du nichts dagegen einzuwenden, gar nichts? — Schließlich ist es doch ein ganz — ganz anderer Beruf...“
„Beruf! Beruf!“ schrie Fritzi entzückt, „ein himmlischer Beruf ist es! — Aber natürlich, Eberhard, du wirst Ringkämpfer! Ist doch ein besserer Beruf als Student?“
Es lag in ihrem fröhlichen, strahlenden Gesichtchen etwas Primitives, die Unfähigkeit, zu unterscheiden, Differenzen zu fühlen... Wie jung ist sie! dachte Eberhard, sie kennt nichts, sie weiß noch nichts, sie sieht kaum die Unterschiede im Leben... Er fragte, von ihrer Munterkeit ergriffen, selbst etwas heiterer und sicherer:
„Das ist alles, was du darüber zu sagen hast? — Du bist also eigentlich ganz einverstanden?“ —
„Aber, Eberhard!“ sagte die kleine Brünette, „warumsollte ich wohl nicht einverstanden sein? — Bedenke doch: du verdienst viel Geld... sehr viel Geld wahrscheinlich... du kannst auftreten... du hast Erfolg... O, und nun kann ich auch außerhalb Berlins ins Engagement gehen! Wir können natürlich immer zusammen bleiben! Ich lasse mich einfach immer in derselben Stadt engagieren, wo du sein wirst! Wir bleiben zusammen, und du verdienst sehr viel Geld!“
So weit waren seine Zukunftsträume noch gar nicht geflogen. Er sah ein, daß sie darin recht hatte. Gewiß, sie konnten zusammen bleiben, und er würde dem süßen, schwarzhaarigen Kinde wieder jeden Wunsch erfüllen können. Jetzt, da sie um seinetwillen nur in Berlin Engagements annahm, war er ihr ja sogar im Wege... er versperrte ihr die Karriere... Wenn er über alle anderen Bedenken hinwegkommen könnte...
„Setz’ dich einmal neben mich,“ sagte Fritzi mit einer Zärtlichkeit, die er sonst nicht an ihr gewohnt war. Und als er an ihrer Seite saß, fühlte er mit innigem Erschauern den jungen, zierlichen Mädchenkörper, der sich herzhaft an ihn preßte; warme Hände suchten die seinen, und eine zärtliche Stimme sagte flüsternd:
„Athlet wirst du sein, nicht wahr? Stärker als alle andern... Ach, wie werde ich dich lieb haben, wenn du die andern besiegst!“
Er sah ein Flackern in ihren Augen, jenen Glanz, der bei dem Anblick brutaler männlicher Kraft in Frauenaugen aufleuchtet. Sie wollte ihn betören, ihn entzücken mit ihrer weichen, schmeichelnden Bewegung, und doch wurde Eberhard ein wenig verstimmt und fragte:
„Du wirst mich mehr lieben, Fritzi? Kann das sein?“
„Was stellst du für Fragen!“ erwiderte das junge Mädchen lachend, „mehr... weniger... Ich bin dir gut, dasist doch genug... du fragst immer so komisch, Eberhard!“
Eberhard war erregt; seine Gedanken flatterten hierhin und dorthin:
„Gute Fritzi! — hast gar nichts mehr von dem Gelde gesagt; brauchst du es sehr notwendig, Fritzi? Vielleicht ... in einigen Tagen... könnte ich...“
„Ach, laß!“ sagte Fritzi leichthin, „im Augenblick, na ... Ich habe mir... von einer Kollegin zwanzig Mark geborgt, ja...“
Der junge Mann hob überrascht den Kopf: „Von einer Kollegin? Aber, du — das mußt du doch so schnell wie möglich wiedergeben!“
„Es eilt nicht so,“ antwortete Fritzi schnell, und dann, als sie sein erstauntes Gesicht sah, fuhr sie fort: „Sie braucht es nicht so notwendig... Es ist die Liane Fanchon ... Die hat immer! Die ist nie in Verlegenheit!“ Dabei seufzte Fritzi leise.
Eberhard sah das junge Mädchen an; sein Blick blieb, ohne daß er selbst es wußte, auf der schmalen, modernen Nadel haften, mit der ihr Kleid am Halse geschlossen war. Ohne daß er etwas dabei dachte, wurde sein Auge durch das vielfarbige Glitzern mehrerer wasserheller Steine gefangen. Aber er sah das Schmuckstück erst, als Fritzi in einiger Verlegenheit mit der Hand danach griff und hastig fragte:
„Ach — du siehst die Brosche an? Ich habe sie gekauft ... vorhin... als ich mit Liane aus der Probe kam... Sie ist niedlich und glänzt beinahe wie echt...“
Jetzt erst wurde Eberhard aufmerksam. Es war eine schöne Nadel, auf der drei klare Steine funkelten. „Das ist unecht, Fritzi?“ fragte er langsam, zögernd, indes ein feiner Strahl des Mißtrauens spitz und scharf aus den blitzenden Steinen fuhr und sich in sein Herz bohrte. Die Chansonette fühlte seinen unausgesprochenen Zweifel... „Etwa echt?“ fragte sie heftig, „etwa echt? Woher sollte ich denn das haben? Von dir etwa?“ Und dann, schnell und lustig: „Du, ob echt oder unecht, ist mir doch ganz gleich! Wenn ich irgendeine Brosche habe, bin ich zufrieden... Ich hatte keine... Liane war dabei...“
Eberhard wußte nichts darauf zu sagen. Er dachte, es sei verwunderlich, aber doch... Fritzi log nicht... Wer übrigens hätte ihr eine so kostbare Nadel schenken sollen? Untreu... nein, Fritzi war ihm nicht untreu...
„Ich muß nun gehen, Liebste,“ sagte er sehr sanft. „Da du auch meinst, daß ich... Ja, da muß ich zu einem Trainer gehen. Je eher ich anfange, desto mehr Hoffnung hab’ ich, in den wenigen Wochen ringen zu lernen. Ich hole dich heute abend aus der Vorstellung ab, Fritzi. Bis dahin, Geliebte...“
Er schlang den Arm um ihren Leib’ und wollte sie küssen, sie aber wehrte lachend: „Aber Ebi! Wenn das die Leute sehen!“
„Sollen sie doch,“ sagte Eberhard. „Mir soll nur einer kommen... Ich werde ihn schon... Liebe Fritzi, auf Wiedersehn!“
Ende Kapitel III