IV.
Der Trainer wohnte in der Linienstraße, in jener Gegend von Berlin, die allen nivellierenden Einflüssen der Hauptstadt zum Trotz noch immer etwas von der Ungebundenheit des Quartier latin bewahrt hat. Dort hausen neben Geschäftsleuten und ehrsamen Bürgern Studenten, Artisten, Künstler, Modelle und Dirnen, dort finden sich originelle Artistenkneipen, Dirnenlokale und Verbrecherkeller, und typische Persönlichkeiten fallen hier weniger auf, als in anderen Stadtteilen.
Eberhard durchschritt die Einfahrt des Hauses, ging über den ersten Hof und durch ein Fabrikgebäude und kam auf den zweiten Hof, wo er den Trainer finden sollte. Dieser Hof inmitten der Stadt hatte einen ländlichen Charakter. Er war nicht durchweg mit Steinen gepflastert und mehrere Bäume standen darin. Eine Anzahl Hühner scharrten die Erde, ein Hofhund lag vor seiner Hütte und hinter einem Drahtgitter spielten ein halbes Dutzend Kaninchen. Aus dem Pferdestall zur rechten Seite kam eine Katze geschlichen und ging langsam an der Mauer entlang, während sie die Augen auf die Hühner gerichtet hielt. An der linken Hofseite stand aber ein vierstöckiges Wohnhaus. Dort wohnte zu ebener Erde der Trainer André Leroux.
Als Eberhard klingelte, rief eine laute Stimme: herein! Der junge Mann öffnete die Tür, trat ein und sah den Trainer mit eisernen Gewichtkugeln hantieren. Der Athlet legte seine Gewichte nicht fort; er sah nur flüchtig auf den Besucher hin und sagte: „Setzen Sie sich inzwischen,bitte; ich muß meine Übungen beenden.“ Eberhard setzte sich auf das alte, grüne Ripssofa und der Athlet fuhr mit seinen Übungen fort.
Eberhard sah sich ein wenig um. Er befand sich in einer großen Küche, die augenscheinlich als Wohngemach und auch zum Kochen benutzt wurde. Obwohl alles praktisch hergerichtet und ordentlich aufgeräumt war, trug der Raum doch das charakteristische Gepräge einer Junggesellenwirtschaft, welches das Fehlen einer Hausfrau verrät.
Die Wände waren sämtlich mit Bildern bedeckt. Plakate mit bunten Abbildungen von Ringern und Kraftmenschen waren mit Reißnägeln befestigt, über dem Sofa hingen gerahmte Photographien einzelner Athleten und ganzer Klubs; ein Kranz aus künstlichen Eichenblättern hing über einem Diplom, und zwischen den Athleten lächelten auch hier und da die Bildnisse von Damen, die dem Trainer mit ihrer Neigung auch ihr Bild geschenkt hatten... Trotz der späten Jahreszeit stand das Fenster weit offen. Ein breites Blumenbrett vor dem Fenster war ganz mit Blumentöpfen besetzt, in denen immergrüne Gewächse standen, dazwischen blühte noch ein rotes Geranium.
„Noch ’n Momang,“ sagte der Athlet zwischen seinen Übungen. „Bin jleich fertig.“ Und wieder hob er die Kugelgewichte bis zur Schulterhöhe und stieß die Arme abwechselnd kraftvoll hoch.
Er trug ein schwarzes, ärmelloses Trikot, welches auf der Brust mit einem gelben Stern benäht war. Die schwarzen Trikothosen reichten nur bis an die Knie, unter denen die festen, braunen Beine, die nackt in Sandalen steckten, hervorsahen. Die Mitte des Leibes war mit einem breiten Lederriemen eng umgürtet. Der Athlet hatte hübsch gewelltes, blondes Haar, muntere, graue Augen und einen überaus fröhlichen, herzförmigen, sehr roten Mund. Inseinem Gesichte wäre sonst nichts Auffälliges gewesen. Merkwürdig war allein die braune Tönung seiner Haut. Der ganze Körper des Athleten war tief dunkel, er hatte die eigentümliche, durchsichtige Farbe des braunen Bernsteins. Das Genick, die Oberarme, der Rücken und die Brust waren noch dunkler, als die übrige Haut. Dazu bildete das helle Haar einen seltsamen Kontrast.
Der Trainer stieß seine Gewichte noch zwanzigmal in die Höhe, legte sie dann auf den Boden und rieb sich die kleinen Schweißperlen von Hals und Armen mit einem groben Tuche ab. Dann reichte er Eberhard mit starkem Druck die Hand und sagte lächelnd:
„Sie müssen entschuldjen; Training is Training; darin lass’ ick mir nich störn! — Womit kann ick Ihn’ denn dien’?“
Eberhard nannte sein Begehren: in etwa einem Monate als Ringkämpfer ausgebildet zu werden. Der Trainer schwieg eine Weile und sagte dann:
„Also längstens fünf Wochen... Das is vadammt wenig ... Ringen will ich Ihn’ schon beibring’ in die Zeit. Aba die Kraft, die Se nich haben, kann ick Sie nich jeben... Wie schwer stemm’ Sie denn?“
Das wußte der junge Freidank nicht. „Was, Sie wissen nich mal, wieviel Sie stemmen könn’?“ fragte der Athlet mißbilligend, „na, denn ziehn Sie ’mal ’s Jackett aus und probiern Sie! Das is ’ne 30 Kilostange!“
Aber es ergab sich, daß die Stange viel zu leicht gewählt war. Nun brachte der Trainer eine verstellbare Stange, die er beschwerte, bis sie hundertdreißig Pfund wog. Er lächelte ironisch:
„Na, versuchen Se noch mal... Jetzt wird se Ihn’ woll schwer jenuch sind...“
Er dachte nicht anders, als daß Eberhard nicht imstande sein würde, das Gewicht aufzuheben. Eberhard faßte dieStange fest und drückte sie langsam, erst mit dem rechten, dann mit dem linken Arme, hoch...
Mit dieser Leistung hatte Eberhard sofort die Hochachtung des Trainers, der ihn bis dahin ein wenig von oben herab behandelt hatte, gewonnen. Nun setzte der Athlet sich gemütlich zu seinem Besucher, verabredete mit ihm die täglichen Übungsstunden und erzählte ihm allerhand von seinem Privatleben. — Er tat sich viel auf seine Abstammung aus einer französischen Emigrantenfamilie zugute und behauptete mit sichtbarem Vergnügen, er sei ein halber Franzos. Später fand sich aber, daß er trotz der gallischen Abstammung kein Wort Französisch verstand und selbst die technischen Bezeichnungen des Ringkampfs unglaublich falsch aussprach. Außerdem prunkte André Leroux mit seiner Bildung. Er hatte bei berühmten Bildhauern Modell gestanden und von ihnen allerhand Redebrocken aufgeschnappt, und der große Virchow hatte an seinem geradgewachsenen, schön ausgebildeten Körper oftmals seinem Auditorium die Anatomie demonstriert. Der Trainer zitierte nun Virchow jeden Augenblick und explizierte dem jungen Freidank mit einiger Fachkenntnis die Anatomie des Armes, wobei er ihm zeigte, welche Übungen den Biceps stärkten, und welche zur Ausbildung des Deltamuskels dienten... Er selbst hatte über seinen Körper eine solche Herrschaft erlangt, daß er willkürlich jede Muskelgruppe seines Armes nach Belieben spielen lassen konnte.
Alles dieses sagte der Halbfranzos im unverfälschten Berliner Dialekt; nur wenn er Virchow und andere Größen zitierte, sprach er hochdeutsch. Dabei kam es ihm auf die Echtheit der Zitate nicht so unbedingt an...
„Nich?“ sagte er, „det wundat Ihn’, det ick so braun bin, wie ’n leibhaftja Indjana? Det kommt allens von die Sonne... von die freie Natur... ‘Imma naturell!‘ sagteder sel’je Virchow. ‚Meine Herren!‘ sagte er, ‚an diesem Modell könn’ Sie sehen, was das naturelle Leben ausmacht...‘ Ja, ick lebe aba auch naturell!! In Somma, jeden Sonntach un jeden Nachmittach, wenn ’ck jrade nischt zu dun habe, raus in Wald... in Jottes freie Natua! Un denn Jacke aus, Hosen aus, Hemde aus... Hut ab... un nu Luftbeda! Un Sonn’beda! Un zwee Steine jesucht, oda zwee Holzkletza, un denn los mit meine Jebung’n! Det macht aba ooch jesund! Det jibbt Kraft, sowat! Kraft muß da Mensch haben, un jesund sind, allet andre kommt denn beinah von alleene! — ‚Wissen Se, Leroux,‘ hat Bejas mich schon manchmal jesacht, ‚det ha’m schon die ollen Jriechen jesacht, un da ha’m se Recht: die Kraft jeheert den Manne!‘ Un wat meen’ Se, ob ick jetzt in de Kälte meine Jebung’ vabummle? Nischt zu machen. Imma noch raus in Wald... Luftbeda...“
Er schwätzte abwechselnd vernünftiges und sinnloses Zeug. Eberhard hörte ihm höchst amüsiert und interessiert zu. Das war nun der erste, der ihm begegnete, aus jener Berufsklasse, der er selbst sich anschließen wollte. Der Trainer hätte noch lange weiter geredet, wenn ihm nicht eingefallen wäre, daß er heute abend die athletischen Übungen des Kraftsportklubs „Hermes“ zu leiten hatte. „Ein äußerst feiner Klub,“ erklärte er seinem zukünftigen Schüler, „lauter feine Herren! Alles Kaufleute un Buchhalters und so —! Ja, ein sehr nobler Klub!“ —
Das Trainierlokal befand sich auf einem schmalen, tiefen Grundstück der Fennstraße, welches nur mit Schuppen bebaut war. In den gegen die Straße hin gelegenen Schuppen lagerten Hölzer und Preßkohlen. Einen dieser Schuppen, der ganz am hinteren Ende des Grundstückes lag, hatte der Unternehmer als Übungsraum für Sportsleute eingerichtet und ihm den stolzen Namen „Training-Hall“ gegeben. Vormittags war er meist an Variété- und Zirkusartisten vermietet, die in dem hohen, weiten Raume genügend Platz hatten, um ungestört neue Tricks probieren zu können. Um die Mittagsstunde erschienen dann Berufs- und Amateurathleten, die unter Leitung André Leroux’ ihr Krafttraining vornahmen.
Eberhard war des Morgens noch schnell zu Fritzi hinaufgeeilt, um ihr zu sagen, wo er seine Übungen beginnen werde. Fritzi hatte ihn im Wohnzimmer der Wirtin empfangen. Sie war eben aus dem Bette gesprungen und hatte über das Nachthemd nur einen weichen, wolligen Morgenrock gezogen; über die nackten Füßchen hatte sie nur kleine Pantoffel gestreift. Sie hüpfte ihm nach ihrer Gewohnheit mit leichtsinniger Wildheit entgegen, so daß sie einen Pantoffel verlor, warf sich ungestüm eine Sekunde lang an Eberhards Brust und sprang sofort zurück, ihren Pantoffel zu suchen. Und wieder kam sie ihm unbeschreiblich naiv und reizend vor, hold und prickelnd zugleich mit dem vom Schlaf noch rosigen Gesichte und den wirren, dunklen Haaren. Das junge Mädchen fing sofort an zu betteln: „Ich darf doch hinkommen? Ich darf mir das doch ansehen?“ Er wußte nicht, was er ihr erwidern sollte. Er hätte es lieber gesehen, wenn sie nicht gekommen wäre. Aber da rief sie schon fröhlich: „O ja! o ja, ich komme! Sage, wann es anfängt, eine Stunde später bin ich da!“ Und sie hob, unwillkürlich, beide Arme, um ihren Zopf festzustecken, dessen Pfeilnadel sich gelöst hatte. Die weißen Ärmel glitten ihr über den Ellenbogen zurück, Eberhard sah die lieblich weiche, rosige Haut der Arme reizend aufleuchten und hatte nicht den Mut, ihr den Wunsch zu versagen... „Komme, Fritzi, und sieh dir alles an,“ sagte er, „es wird dir wohl nicht sehr gut gefallen!“ —
In der Trainierhalle waren mehrere kräftige junge Leutedamit beschäftigt, ärmellose Trikotjacken über den Oberkörper zu ziehen. Eberhard nahm den Hut ab und sagte guten Morgen. Die jungen Leute dankten ziemlich kollegialisch für den Gruß, einige musterten ihn mit spähenden Blicken und alle nahmen dann ihre Unterhaltung wieder auf, ohne sich um den Neuankömmling weiter zu kümmern. Sie sprachen von den geschäftlichen Erfolgen, die einer von ihnen den Sommer über im Zirkus Blumenfeld gehabt hatte. Dieser junge Mensch war ziemlich klein, hatte eine gelbbraune Haut und schwarze, widerspenstige Haare, die dem Versuche, sie in der Mitte zu scheiteln, trotzten. Er hatte sehr kurze Hände und plumpe Beine und Arme; sein Hals war überaus dick, fast ebenso dick wie der Kopf, was ihm den Anschein ungewöhnlicher Stärke gab. Man konnte nicht leicht auf den Gedanken kommen, daß dieser starke und dicke Zirkusathlet ein besonderer Liebling der Frauen sein könne; darum war Eberhard ein wenig überrascht, den jungen Mann von seinen Erfolgen erzählen zu hören. Der Athlet renommierte nicht einmal, sondern plauderte leichthin:
„Wirklich komisch, die Weiber; draußen in der Provinz sind sie toller als in Berlin! — In Posen hatte ich auch herausgefordert; da meldeten sich ein paar Leute zum Ringen, richt’ge Ochsen... Na, unter uns, regulär hätt’ ich sie nicht gekriegt... Ekelhaft starke Kerls! — Aber da habe ich ihnen unversehens eins mit der Handkante auf den Hals gegeben, auf die Schlagader... so ’n bisken Dschiu-Dschitsu! Da flogen sie ja gleich... Ach, die Briefchens alle, die da kamen! Rosarote, blaue, lila... alle Farben... Rochen so jut, wie ’ne janze Parfümfabrik. ... Ick hatte die Auswahl!!“
Er lachte leise in der Erinnerung an seine galanten Abenteuer mit Provinzdamen....
„Na, jehste denn jetzt nich ’mal bei deine Adele...?“ fragte einer der herumstehenden jungen Leute den Zirkusathleten, „weißt doch, die Jelbseidne, Willi?“
„Bei so eene wer’ ick jehen!“ erwiderte der Ringer grob, „bei die jelbseidne Adele! — Nee, laßt mir mit die Berliner Mechens in Ruh! — Ja, wenn se allens abliefan wollten, wat se vadien’! Aba nee, is nich, wird imma Schmuh jemacht! Keile könn’ se kriejen, soviel man will, da jeben se ein’ doch nich allens ab! Imma ha’m se dann zu schlecht vadient! — Nee, laßt ma in Ruh, sach’ ick!“
Der ehemalige Zuhälter hatte sich in Eifer und damit in seinen ordinärsten Jargon hineingeredet. In dem Grade, wie er sich nun beruhigte, fing er wieder an, hochdeutsch zu sprechen und erklärte:
„Vom Zirkus aus, da kriegt man janz was andres... anständ’je Frauen, sage ich euch, Damen... Damen, die mitunter noch nie in’ Leben uff Seitenweje jegang’ sind. Aba wenn se unsaeen’ sehen, sind se futsch... Wenn se ’n Athleten vor sich haben, jeht die janze Anständigkeit zum Teufel! Offiziersdamen hab’ ich gehabt, jawohl... In Breslau hatt’ ich ne richtige Jräfin... Ach, Gott, wie hat mir die jeliebt! In ’ner Equipage ist sie immer mit mir ’rausgefahren nach einem Nest, was, glaub’ ich, Trebnitz heißt. Da sind wir spazierenjegang’ und sie hat lauter verliebte Wörter jered’t... Ach, ich bete dir an, hat sie immer jesacht, weil du mir vernichten könntest, wenn du wolltest! — I, wo wer’ ick denn sowas machen, mein Puppchen, hab’ ich ihr dann gesagt. Wer sollte mir denn seidne Taschentücher und seidne Strümpfe und Wäsche und die juten Zigaretten und alles schenken, wenn ich mein Puppchen vernichtete! — Dann hat sie gelacht und mir mit ihren weißen Pfötchen den Mund zugehalten und gesagt: ach, Willi, du sollst nicht immer so materiell reden! Du mußt mich doch um meiner selbst willen lieben und nicht an dietörichten Kleinigkeiten denken, die ich meinem starken Helden zu Füßen lege. — Sowas Komisches hat sie aller Augenblicke jeredet! — Und nicht nur die, sondern alle die feinen Damen! — Nee, das ist was andres als das Mädchenspack hier in Berlin! Dabei hat man von den feinen Weibern noch mehr, wie von die Mächens! Die jeben, was man verlangt! — Ich hab’ mir nun mal uff die anständ’jen Damen jeschmissen, und dabei bleib ich!“
Die jungen Leute belachten die harmlos gesagte Äußerung als einen rohen Witz. Während sie noch lachten und sich freuten, betrat André Leroux die Halle. Er war schlechter Laune und schimpfte; es waren ihm im „noblen Klub“ die Ringstiefel gestohlen worden. Der Zirkusathlet klopfte ihm so stark auf die Schulter, daß ein normaler Mensch davon zusammengebrochen wäre, und sagte tröstend: „Na, laß dir man von deine Lowise neue koofen... Ach so, du hast ja keene... Na, is ooch bessa! — Is aber zum Schreien, daß die Leute in diesen Sportklub ooch schon sonne Dinger machen un’ klauen... Sind doch bloß Amateure!“
Das ließ der Trainer nicht auf den Athleten sitzen.
„Na, Willi!“ sagte er, indem seine starken, blonden Augenbrauen sich zornig zusammenzogen, „du willst doch nicht etwa behaupten, det alle Athleten klauen? Nee, det sind jrade bloß die dreckijen Amateure! Bei uns jibbt et sowat nich! Oda willst du etwa...?“
Während er dieses sagte, hatte er die Jacke ausgezogen, unter der er bereits das Trikot trug. Er streckte die muskulösen, kaffeebraunen Arme mit einer heftigen Bewegung von sich, als wollte er seine Kraft erproben... Dabei funkelten seine grauen, energischen Augen den Zirkusathleten eigentümlich an. Willi verglich flüchtig die braunen, gewaltigen Glieder des Trainers mit seinen eignen Armen, und der Vergleich mußte wohl zugunsten André Leroux’ ausfallen; denn er entschuldigte sich mit den Worten:
„Na, ’n jeder einzige klaut da nich un da nich —! Ick meente man!“ und wendete sich dem eisernen Gestell zu, von dem er eine Fünfundzwanzigkilostange herabnahm und seine Übungen begann. —
André Leroux trat zu Eberhard und schüttelte ihm mit fürchterlicher Gewalt die Hand:
„Na, ooch schon uff’n Posten? Un schon in Dreß? — Na, denn woll’n wa mal anfang’!“ —
Und nun fing er an, dem neuen Athleten die Griffe des Ringkampfs zu demonstrieren: Armfallgriff aus dem Stand, bei dem der Ringer seinen Gegner am Handgelenk und Unterarm mit einem Ruck zu Boden reißt, indem er selbst auf die Kniee fällt; Hüftschwung mit Kopfgriff oder mit Untergriff... Kopfschwung, bei dem der Gegner rücklings um den Hals gefaßt und in großem Bogen nach vorn geschleudert wird... Ausheber, Untergriff... Paraden... „Bei Ihre Jröße,“ sagte der Trainer mit einer Art von Bewunderung, „bei Ihre Jröße kenn’ Se se amende alle uff’n Ausheber kriejen... Et jibbt keen’ scheenan Jriff, als ’n Ausheber... Aber er ist bloß wat for jroße Ringer... Da is zum Beispiel Jankowsky — Se kenn’ doch Jankowsky’n? — na, der hat ne feine Spezialität von ’n Ausheber ausjeknobelt. Er tut, als wenn er Krawatte jreifen wollte, ja, — schiebt seine Arme aber plötzlich bis unter den Oberkörper des Jejners und drückt mit sein’ janzen Jewicht nach... So kriegt er erst ’mal jeden parterre... Finden Sie det scheen? Ich finde det jeistvoll... raffiniert... Dafor heißt der Jriff ooch mit Recht Krawattenausheber à la Jankowsky...“
Eberhard begann der Kopf von Fachausdrücken zu schwirren; er war froh, als das praktische Training begann.Von der Grenze der Ringmatte aus ging er auf den Trainer los, so daß sie sich in der Mitte trafen, reichte ihm flüchtig die Hand, wie er in der Arena von Ringern gesehen hatte und neigte sich ein wenig nach vorn, indem er mit beiden Händen nach den Handgelenken des Trainers griff...
„Ach, du hast schon Ringkampf trainiert,“ sagte einer der jungen Athleten, die zur Seite standen und dem Kampfe zusahen. „Du jehst jar nich erst in tiefe Jarde, bloß hohe... Mit deine Jröße aber auch... Mensch, du bist wohl ’n Zweemetermann?“ —
Es fand sich, daß Eberhard Freidank sich überaus schnell an die Technik des Kampfes gewöhnte. Ihm lag das ruhige Zuwarten und das blitzschnelle Einspringen im Blute. Seine Stärke machte ihn mutig, der Beifall der jungen Leute ermunterte ihn, und als Fritzi kam, merkte er es nicht einmal. Er hatte den Trainer zu Boden gerissen und bemühte sich, ihn mit einem der neuerlernten Griffe auf die Schultern zu drehen. Er kniete am Boden, einen Fuß aufgestellt, und überlegte mit leidenschaftlichem Eifer, innerlich glühend, wie er den kräftigen, braunen Menschen, der fest auf den Knieen und Händen hockte, umdrehen könnte. —
Fritzi trat heran, von den Kämpfenden nicht bemerkt, und reckte sich ein wenig auf den Fußspitzen auf, um den vor ihr stehenden Männern über die Schultern sehen zu können. Der Zirkusathlet wich einen Schritt zurück, um dem jungen Mädchen Platz zu machen, und sah ihr dabei mit Interesse ins Gesicht; seine Erfolge in der Provinz hatten ihn noch nicht so blasiert gemacht, daß er einem hübschen Mädchen keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt hätte. Sie gefiel ihm; er stellte sich dicht hinter sie und legte den Arm um ihre Taille. Fritzi bog den Körper zur Seite, aber Willi ließ nicht los und faßte sie nur noch fester. Sie drehte sich ärgerlich um; sie wollte dem jungen Menschen,der sie so keck umfaßte, sagen, daß er frech wäre. Aber als sie in sein gelbes, grob geschnittenes, rohes, dabei einigermaßen hübsches Gesicht blickte, fand sie seine Frechheit plötzlich amüsant und lachte ihn mit blitzenden Zähnchen an. Doch alsbald wurde ihr Blick wieder durch die Ringer gefesselt.
Eberhard, dem in diesem Training die Rolle des Angreifers zufiel, während Leroux seine Griffe nur durch regelrechte Gegengriffe parierte, schob seinen rechten Arm unter der Schulter des Trainers durch und faßte das Genick fest mit der flachen Hand. — Fritzi wendete sich unwillkürlich wieder nach dem Zirkusathleten um, der ihr zuflüsterte: „Det ’s Halbnelson, Fräulein.“ — Eberhard zog mit seiner großen Kraft den Trainer am Genick; da gelang es Leroux, erst mit einem und dann mit dem andern Bein langsam aufzustehen. Es war ein spannender Moment; ohne daß Fritzi sich dessen bewußt wurde, schmiegte sie sich, wie schutzsuchend, in den nackten, braunen Arm des Athleten, der sie immer noch halb scherzhaft, halb verliebt umschlang. — Leroux stand auf, während Eberhard, mit der ungeschickten Kraft des Neulings, seinen Griff zu behaupten suchte. Plötzlich sprang der Trainer mit einem Ruck um, faßte Eberhard von der Seite um den Leib, hob ihn hoch und warf ihn auf den Rücken... Fritzi sank zurück, als sie ihren Freund fallen sah; und Willi, mit schneller, stürmischer Gewalt, riß das zarte Mädchen mit beiden Armen an seine breite Brust und küßte sie zweimal, dreimal voll Heftigkeit auf den blühenden Rosenmund. —
Er vergaß einige Sekunden lang in der Tat seine Umgebung, seine Augen waren geschlossen und seine Lippen bebten noch auf ihren, als sie schon einen schnellen Blick auf Eberhard warf, ob er auch nichts gesehen hätte... Nein, er hatte nichts bemerkt. Er hatte an nichts, als anseinen Kampf gedacht. Nach der Wucht des Falles stand er eben wieder jugendlich elastisch vom Boden auf und sah nun erst sein kleines Mädchen, das lächelnd und rosig auf ihn zuging und ihm die Hand reichte.
„Na, sind Sie gekommen, ’mal nachsehen, wie weit er schon is?“ fragte André Leroux, indem er dem jungen Mädchen die Wange streichelte, „na, das is recht! — Komm’ Se man öfta! — Junge Mechens sehn wa hier imma jern, überhaupt sonne nette, wie Sie!“ —
Fritzi lächelte verlegen und geschmeichelt. Eberhard aber runzelte die Stirne; er bereute, daß er Fritzi erlaubt hatte, an diesen Ort zu kommen, wo die neugierigen, zudringlichen Blicke, die naiven, rohen Vertraulichkeiten der Athleten die Geliebte beleidigten! Er sah sich um, ob es nirgends einen Platz gäbe, von dem aus Fritzi unbehelligt dem Training zusehen konnte. „Setze dich, bitte, auf jene Bank, Fritzi,“ sagte er so laut, daß die Athleten es hören mußten. „Du bist dort allein, und du siehst den Ringkampf ebensogut.“ Und er blickte mit zornigen Augen über die Athleten hin, die gleichgültig herumstanden. Fritzi setzte sich, und das Training begann von neuem.
Diesesmal rang Eberhard mit einem der Athleten, die vorher zugesehen hatten. Es war ein Budenringer, der an mehreren Abenden der Woche in einer Schaubude auf einem Volksvergnügungsplatze seine Kraftleistungen zeigte. Aber dieser Beruf befriedigte ihn nicht; er strebte nach Höherem. Er wollte sich an Ringkampfkonkurrenzen beteiligen. Er war ziemlich stark, aber mit seiner Ringkunst war es nicht weit her. Trotzdem hätte er leicht Engagements gefunden, da er hübsch und kräftig war, aber durch seine Budenringerei war er zu stark kompromittiert; kein Manager mochte ihn engagieren. Nun trainierte er jeden Tag, um seine technische Fertigkeit bis zur Vollendung auszubilden.Einem technisch vollkommenen Ringer gegenüber konnten nicht mehr jene Standesvorurteile gelten, die wie eine weite Kluft die Budenringer von der vornehmeren Klasse der Konkurrenzringer trennten...
Fritzi langweilte sich; der Kampf Eberhards mit dem „schönen Adolf“ war ihr weniger interessant, als der Zirkusathlet, der sie vorhin so selbstverständlich umarmt und geküßt hatte. Sie fand ihn frech, natürlich; aber doch so interessant frech.... Ob er wohl auch nach ihr hin sah? Sie drehte das Köpfchen, wendete sich aber schnell wieder voll Verlegenheit ab, denn Willi sah sie ungeniert an und hatte sie gewiß schon eine ganze Weile beobachtet. Und, als ob er nur auf ihren Blick gewartet hätte, legte er ruhig seine Hanteln nieder, kam zu ihr und setzte sich neben sie. Und während der schöne Adolf sich die allergrößte Mühe gab, seinen großen und starken Gegner durch seine überlegene Technik zu werfen, hielt der Zirkusathlet Fritzi wieder mit seinem nackten Arm umfaßt und sagte ihr allerhand plumpe Liebesworte ins Ohr....
„Nein,“ sagte Fritzi lachend, „nein, sowas dürfen Sie nicht sagen... Das kann ich mir nicht gefallen lassen... Ich habe doch meinen Bräut’jam!“
„Den da?“ fragte der Athlet mit einem etwas unbehaglichen Gefühle, „den Großen, der heut das erstemal hier is? — Was is er denn? Ringt er professionell?“
„Natürlich,“ erwiderte Fritzi schnell, mit einem stolzen Blick auf ihren Freund.
„So!“ — fragte Willi, „Sonntags auch? — Sonst könnten wa doch ma’ zusamm’ ausjehn? — Er paßt doch nich imma uff Ihn’ uff!“
Ihre lachenden Augen sagten: o ja, das möchte ich wohl! — ihr Mund aber sprach zögernd, zweifelnd:
„Wohin denn?“...
„Na, ’n Sonntach, uff’n Rummel,“ erwiderte der Zirkusathlet, „da könn’ Se doch ma’ mitkomm’?“
„Ach nein,“ sagte Fritzi betrübt. „Da hab’ ich ja Nachmittagsvorstellung... Nein, das geht nicht! — Außerdem geh ich nicht ohne mein’ Bräut’jam aus.“
„Na, du bist ’n süßes Schaf,“ sagte Willi. „Wir wer’n uns schon noch bessa vastehn... Einstweilen jibb ma mal ’n Küßchen!“
Aber er hielt es für geraten, das Küßchen nicht zu geben, denn Eberhards Ringkampf mit dem schönen Adolf war soeben zu Ende und der junge Freidank sprang auf wie ein gereiztes Tier, als er seine Freundin wieder mit dem Athleten schäkern sah.
„Was tust du, Fritzi?“ fragte er, indem er dem Athleten empört ins Gesicht sah, „was tust du hier?“
„Du hast mich ja selbst hierher geschickt,“ antwortete sie kindlich. „Der Herr hat mir die Griffe erklärt...“
Der Zirkusathlet war selbst überrascht von ihrer schnellen Ausrede. Eberhards Gesicht aber wurde sofort freundlicher. Er wußte nicht, ob er nicht einen künftigen Kollegen vor sich hatte, gegen den er nicht ohne Grund grob sein durfte. „Das ist ’was andres,“ sagte er ruhiger.
Willi nahm seinen Vorteil wahr: „Sie jehn aba jut los! — Det ’s natierlich nich det erste Mal, heute?“ —
Eberhard war noch ein wenig mißtrauisch. Er gab dem Athleten eine unverständliche, mürrische Antwort und kehrte verdrießlich an sein Training zurück, indem er beschloß, Fritzi ein für allemal das Betreten dieses Ortes zu verbieten. —
Eberhard war sehr erschöpft, als André Leroux ihm endlich erklärte, daß es für heute genug sei. In der Tat war der junge Mann blaß und seine Gesichtszüge waren erschlafft, wie nach einem starken, körperlichen Schmerz.Leroux hieß ihn sich auf eine Bank legen und massierte ihm noch den ganzen Körper; indessen war Fritzi mit Willi und dem schönen Adolf in der großen Halle allein... Der Trainer rieb ihm mit einer starken Spirituslösung die heftig schmerzenden Muskeln ein, dann mußte Eberhard sich schnell ankleiden. In seinen Kleidern merkte er erst, wie steif ihm alle Gelenke waren. — Fritzi war ganz allein, als Eberhard die Halle wieder betrat. Ehe er etwas sagen konnte, rief sie ihm entgegen:
„Komm schnell mit mir fort! — Ich friere so sehr!“
Er faßte sie bei der Hand; ihre Hand war weich und warm, und sie fror gar nicht... Warum also log sie? Um ihn abzulenken?... Er sah sich um; die beiden Athleten, mit denen er sie zuletzt hatte stehen sehen, waren nicht mehr da. „Nach wem siehst du dich um?“ fragte Fritzi schnell, „nach den Herren? Die sind schon längst fortgegangen!“
Er suchte voll Verdruß und Mißtrauen in ihrem Gesichte etwas, irgend etwas... und fand nicht... Sie lächelte ihn mit ihrem hübschen, kindlichen Lächeln an, wie immer. Nein, ihr konnte er keinen Vorwurf machen! „Gehen wir, Fritzi,“ sagte er, indem er den Arm des jungen Mädchens unter den seinen schob. Im Hinausgehen sagte er dann leichthin: „.... Das sind übrigens keine Herren, Fritzi....“
„Nicht?“ fragte sie erstaunt, „was denn sonst? Das sind dochauchRingkämpfer?“
„Auch Ringkämpfer,“ erwiderte er bitter, „wie ich, nicht wahr? Das meinst du doch wohl? Nun, ich bin es aber noch nicht, und ich kann noch immer etwas anderes werden.... irgend etwas.... Privatsekretär... oder sonst etwas... Es ist alles einerlei....“
Er schwieg; die Gedanken drängten sich in seinemKopfe. Schweigend gingen sie fünfzig, hundert Schritte weiter Arm in Arm der Stadt zu. Dann kam ihm mit einem Male die liebliche Wärme, das leichte Gewicht ihres schlanken Körpers, der an seinem Arme hing, zum Bewußtsein; er sah sie voller Liebe an. Sie machte ein verdrießliches Gesicht, als sich aber ihre Augen trafen, lächelte sie und sagte:
„Das wirst du doch nicht tun?.... Ich hatte mich schon so sehr gefreut!“
„Auf was, Fritzi?“
„Dich als Ringkämpfer zu sehen,“ sagte sie verliebt und schmeichelnd. „O, wie hübsch wirst du aussehen!... Versprich mir, daß du nichts anderes werden willst!“
Da drückte er ihren Arm und neigte sich tief herab zu ihr und sagte mit dunkler Leidenschaft in der Stimme:
„Aber ich will dich allein haben, Fritzi, begreif das doch, begreif das doch... Sie sollen dich mir nicht wegnehmen. Nein, Fritzi, verzeih mir, ich rede ja Wahnsinn! Du läßt dich ja nicht mir wegnehmen, du bist mir ja gut... Aber schon um ihrer Blicke willen könnte ich sie niederschlagen, ich könnte sie ohrfeigen um ihrer frechen Worte willen... O Fritzi, das kannst du nicht verstehen... Ich will dich doch nur ganz allein haben...“
Fritzi verstand ihn nicht. Er sagte ihr öfter solche Worte, die erfüllt waren von einer exklusiven, eifersüchtigen Zärtlichkeit. Sie wußte, daß er sie am liebsten eingesperrt, vor aller Welt verschlossen gehalten hätte, damit kein fremder Blick ihr huldigte. Sie konnte es nicht begreifen, aber ein weiblicher Instinkt sagte dem unerfahrenen, leichtfertigen Mädchen, daß sie dieses tiefe Empfinden nicht zurückstoßen dürfe.
„Ich verstehe dich nicht, Ebi,“ sagte sie langsam. „Ich weiß nicht, was du willst... Du hast mich allein...Konnte ich dafür, daß der freche Athlet mich ansah? Ich habe es nicht gewollt, ich habe ihm zu verstehen gegeben, daß ich nichts von ihm wissen wollte... Ich finde, er ist ein Ekel!“
„So, findest du?“ erwiderte Eberhard erheitert. Er hatte noch nicht die Erfahrung gemacht, daß junge Mädchen in den stärksten Ausdrücken über die Männer schimpfen, welche ihnen gefallen, und fuhr vergnügt fort: „Das freut mich! — Nun, hast du es ja nicht nötig, wieder hinzugehen!“
„Warum nicht?“ fragte sie harmlos. „Wegen dieses Menschen? Ach, dann glaubte er am Ende, daß ich mich vor ihm fürchte... Nein, Eberhard, das sollen sie nicht denken!.... Ich komme doch wieder hin!.... Ich will dich doch sehen! — Ich bin ja so froh, daß du Ringkämpfer wirst!“
Ende Kapitel IV