V.

V.

Es war am Vorabende des ersten Dezembers, an dem Eberhard zum ersten Male als einer der „vierundzwanzig Ringkämpfer“ vor die Öffentlichkeit treten sollte.

Eberhard ging des Nachmittages um die fünfte Stunde zu seiner Freundin. Fritzi hatte ihr Ausgehjäckchen an und setzte soeben vor dem Spiegel ihren Hut auf. „Ach, du bist’s,“ sagte sie und winkte grüßend mit der Hand, ohne sich in ihrer Beschäftigung stören zu lassen, „ich gehe eben fort, wie du siehst.“ „So begleite ich dich,“ sagte der junge Mann. „O,“ erwiderte das junge Mädchen, wie es ihm schien, in einiger Verlegenheit, „so wirst du nicht weit mitkommen können, denn ich gehe ins Theater.“ „In die Garderobe? Jetzt schon?“ fragte er, „es ist kaum fünf Uhr!“ „Es muß schon später sein,“ antwortete sie schnell, „und ich muß heute mindestens eine Stunde früher dort sein, da ich an einem Kostüme zu nähen habe.“

Dagegen war nichts einzuwenden. Trotzdem fragte Eberhard noch:

„Kannst du kein anderes Kostüm anziehen, Fritzi? Ich wäre so gerne noch ein Stündchen mit dir zusammen!“

„Gerade heute?“ lachte sie. „Aber es ist unmöglich! Es ist gerade mein schönstes Kostüm, das grüne, du weißt.. Der Agent kommt heute abend ins Theater, nur meinetwegen! — Aber hübsch wäre es, wenn du mir ein paar Mark auf Handschuhe geben wolltest; nach der Vorstellung bekomme ich erst Gage, und ich kann mich vor dem Agenten nur in eleganten Handschuhen sehen lassen!“

„Hast du auch dem Agenten zuliebe den neuen Hut gekauft?“ fragte Eberhard.

Sie zögerte einige Sekunden und sah sich nach ihm um, dann lachte sie hell: „Neuen Hut? Ein ganz, ganz alter, Eberhard!“

„Nun,“ sagte der junge Mann, „ich habe doch auch Augen im Kopfe... Soviel ich sehen kann, ist dies ein Hut nach der neuesten Mode, und ein sehr eleganter dazu!“

Da machte Fritzi ein böses Gesicht und erwiderte verstimmt:

„Nun gut, du hast recht, und ich lüge.... Du hast ja immer recht, natürlich.... Ist es so weit gekommen, daß du mir nicht mehr glaubst? Vielleicht schenkst du Frau Krichelmann, meiner Wirtin, mehr Glauben, als mir! Ihre Nichte ist in einem Putzgeschäft Verkäuferin und hat mir diese alte, vorjährige Hutfasson wieder aufgeputzt! Gehe doch hin und frage sie! Sie ist ja viel glaubwürdiger, als ich... O, du bist schlecht, Eberhard! Du verdächtigst mich wegen meines armseligen Hutes... Als wenn du mir Hüte kauftest! Liane hat seit Anfang des Winters schon mindestens acht Hüte bekommen... O, du bist geizig und schlecht! Du behauptest mich zu lieben und kaufst mir keine Hüte... O Gott, wie bin ich unglücklich!...“

Sie hatte sich so in Eifer hineingeredet, daß ihr nun wirklich einige Zornestränen in den Augen blinkten. Hastig wischte sie die Tropfen mit dem Tüchlein fort und fuhr mit der Puderquaste über Augenlider und Wangen. Eberhard aber, obwohl noch immer zweifelnd, war besiegt. Er fühlte sich im Unrecht und sagte gequält:

„Du weißt doch, Fritzi, ich konnte dir nichts kaufen in dieser Zeit... Wie gern hätte ich dir alles gegeben, wenn ich’s gehabt hätte! Aber du, du hast dich ja mit der Garderobe vom vorigen Winter behelfen können...Ich habe mich oft gewundert! Alles verstehst du so geschickt herzurichten, wie neu... Meine Fritzi sieht immer aus, wie nach der neuesten Mode gekleidet... Warte nur noch ein Weilchen, geliebtes Kind, so sollst du wieder alles haben!“

Das junge Weib lachte triumphierend. Wieder einmal war es ihr geglückt, seine Zweifel zu zerstreuen und den schönen, starken Menschen zu beruhigen! O, sie fand ihn so hübsch, so kräftig, so männlich, und dachte gar nicht daran, auf ihn zu verzichten! — Sie lief an den Tisch, steckte rasch das Fünfmarkstück, welches er für ihre Handschuhe gegeben hatte, in das silberne Kettentäschchen und hüpfte dann auf Eberhard zu, stellte sich auf die Fußspitzen und sah ihm lachend in die Augen:

„Nun, wollen wir uns zanken oder vertragen?“

Ihre dunklen Augensterne funkelten unter dem schmalen Strich der Brauen, die mit dem schwarzen Stifte noch schärfer und feiner nachgezogen waren. Gelblicher Puder lag auf der zarten Haut, der rosige Mund war noch röter, lockender geschminkt und glühte wie frische Erdbeeren... Er wollte sie küssen, sie aber sprang neckend fort:

„O, das gibt’s jetzt nicht! — Ein andermal! — Jetzt würdest du mir nur die Schminke verwischen! Und nun schnell, schnell, komm hinaus, ich muß in die Garderobe!“

Sie trippelte eilig auf der Straße neben ihm her. Bald war das Theater erreicht; Eberhard reichte ihr die Hand und ging fort. An der nächsten Straßenecke verglich er seine Taschenuhr mit dem großen Chronometer vor dem Laden eines Uhrmachers. Es fehlten in der Tat noch mehrere Minuten an fünf Uhr. Er schalt sich selbst aus. Nun hätte er noch lange Zeit gehabt, mit Fritzi zu plaudern! Am liebsten hätte er das junge Mädchen zurückgerufen. Er zauderte kurz, besann sich, ob er sie aus der Theatergarderobe noch einmal zu sich bitten sollte, wendete sich dann aber dennoch um und ging nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Fritzi an der Kassiererin des Variététheaters, die bereits in ihrem Verschlage saß, wieder vorbeistürmte, dem betreßten Portier, der ihr schnell eine Droschke besorgt hatte, ein Geldstück in die Hand drückte und eilends in den Wagen stieg, um ihr Rendezvous um fünf Uhr nicht zu versäumen... Der Portier schloß den Wagenschlag und das Gefährt rollte davon. Der Türhüter aber trat in seiner bunten Uniform wieder in den Hauseingang zurück und blinzelte die Kassiererin verständnisinnig an. Das Fräulein am Kassentische lächelte maliziös:

„Ja, die avanciert rasch! — Komisch, daß ihr Mensch nichts davon merkt, den großen Blonden meine ich! Den macht sie doch alle Tage zum Nulpen!“

„Er is ihr eben jut,“ sagte der Portier. „Amende meent er’s reell mit se und will ihr heiraten!“

Das belachten sie aber beide wie einen gelungenen Witz. —

Eberhard bog langsam in die Straße ein, in der er wohnte. Er hatte noch das bescheidene Studentenquartier inne, in dem er gelernt und gearbeitet, gedichtet, gehofft und gelitten hatte. Er dachte an den Abend des kommenden Tages und ein leichtes, nur von ihm selbst gefühltes Lächeln zog fröhlich, abenteuerlustig und verlegen um seine Lippen. Er ging langsam, den Kopf sehr gerade aufgerichtet, die Hände in den Manteltaschen. Es fiel ihm selber auf, wie schwer sein Schritt geworden war. Der ehemalige Turner, der seit Jahren gewöhnt war, die Zehen zuerst auf den Boden zu setzen, fing nun an, schwer und wuchtig mit der ganzen Fußsohle gleichzeitig aufzutreten. Sein Gang war breit, langsam und schwerfällig geworden, der Gang des Athleten, der gleichsam bei jedem Schritte seine Kraftund sein schweres Gewicht empfindet und beisammenhält. — Donnerwetter! sagte er zu sich selbst, bin ich wirklich nur noch im Trikot elastisch? — Und er ging durch die kühle Frische des Abends eilig den kurzen Rest des Weges nach Hause und sprang absichtlich behend die Treppen hinauf.

Er brauchte die Korridortür nicht aufzuschließen, sie war nur angelehnt. Er drückte die Tür hinter sich zu und trat rasch in seine Stube.

Es war darin schon dunkel; nur das Fenster schimmerte noch weißlichgrau im letzten, matten Lichte des scheidenden kurzen Wintertages. Aber auf dem Tische brannte eine Kerze, und davor war, tief über ein Buch gebeugt, ein Mädchenkopf, der bei Eberhards Eintritt erschrocken auffuhr. Gleich darauf aber lächelte Fräulein Therese Ambrosius, die Tochter der Zimmerwirtin, und sagte in einiger Verlegenheit:

„Sie werden doch nicht böse sein, Herr Freidank, daß ich in Ihren Büchern gelesen habe? — Es war das erste Mal, wirklich!“ —

„Aber ich denke nicht daran, böse zu sein,“ erwiderte der junge Mann mit seinem ruhigen Lächeln, „warum sollte ich? — In der Tat, ich habe nie bemerkt, daß Sie hier gelesen haben... Ich bitte Sie, Fräulein Ambrosius, lesen Sie alles, was Ihnen Spaß macht! — Ich schlage diese Bücher nicht mehr auf, darum werden sie sich doppelt freuen, wenn sie in zarte Damenhände kommen,“ fügte er mit einem linkischen Versuche, zu scherzen, hinzu.

Er war es nicht gewöhnt, mit Frauen umzugehen; darum fühlte er, in Gegenwart von Frauen, eine sonderbare Bedrückung. Er wurde nicht verlegen und nicht verwirrt. Aber wenn er einem dieser zarten und empfindsamen Geschöpfe, als welche die Frauen ihm erschienen, gegenüberstand, war es ihm, als ob etwas Weiches, Schweres auf ihmlastete, welches ihn zwang, mit diesen andersgearteten Wesen überaus sanft, fein und behutsam zu verkehren. Über die Frauen, welche einen Beruf ausüben, hatte er sich noch keine dauernde Meinung bilden können, weil er keine kannte. Mitunter hatte er ein lebhaftes, peinliches Bedauern empfunden, wenn er Fräulein Ambrosius zu später Abendstunde vom Telephondienste nach Hause kommen hörte. Sie erschien ihm zugleich unweiblich und beklagenswert. —

Fräulein Therese klappte das Buch zu, legte es nieder, machte sich irgend etwas zu schaffen; dann blickte sie auf und sagte schnell:

„Ihr Schneider war hier, mit der Rechnung; er behauptete, daß er nicht länger warten könnte.“

Eberhard fragte: „Nun, und dennoch ist er fortgegangen?“

„Er mußte wohl,“ sagte Therese heiter. „Mutter ist nicht zuhause; ich fertigte ihn ab... In zwei Wochen, bestimmt aber in drei Wochen bekäme er, was ihm zusteht, versicherte ich ihm... O, ich habe noch hernach lachen müssen, wie mißtrauisch der Mann mich betrachtete! — Ist das aber auch gewiß wahr? fragte er immer wieder. Ei freilich! sagte ich ihm, wenn ich es Ihnen sage, so ist es ganz gewiß!“

Ihre geringe Befangenheit, die leichte Verlegenheit, weil er sie bei seinen Büchern überrascht hatte, war dahin.

Eberhard sah über das Mädchen weg und sagte, mehr zu sich selbst, als zu Therese:

„Das ist ja nun auch gewiß — endlich. O, vorher hatte ich fast niemals Gewißheit. Endlich wird die Misere ein Ende haben.“

Das Fenster war nun schon ganz dunkel. Eberhards Blick glitt von dem Himmel, der in den Finsternissen der Nacht verschwamm, hernieder zu dem Kopfe des jungenMädchens, der gerade von dem gelben Kerzenlichte bestrahlt war. Er hatte sie vorher eigentlich nie genau betrachtet. Der Dienst hielt sie meistens gerade in den Stunden fern, wenn er zuhause war. Nun sah er zum ersten Male mit Bewußtsein, daß die „filia hospitalis“ ein schönes, stolzes Gesicht hatte, welches von sanften, braunen Haarwellen umgeben war. Die beiden kräftigen Zöpfe waren in einen griechischen Knoten gesteckt. Tat es die Haartracht oder die edle Art, wie der schlanke Hals die Bürde des Hauptes trug, oder tat es das kühne Profil Thereses, daß sie ihm wie eine junge Diana erschien? Jedenfalls war sie hübsch und stolz, und ihr Kleid saß schmuck beim einfachsten Schnitt. Dies sah er mit natürlichem Wohlgefallen, plötzlich aber bemerkte er, daß das Fräulein ihn lächelnd und, wie er meinte, spöttisch ansah. Da sagte er, nun wirklich verwirrt:

„Pardon. O —, pardon. Ich bin ein schlechter Gesellschafter. Und dann, verzeihen Sie — ich kannte Sie ja eigentlich nicht, obwohl ich schon sieben Monate bei Ihnen wohne. Ich — hatte — Sie mir — ganz anders vorgestellt.“

Nun lachte Therese hell:

„Wie denn?“

„Sie werden mir auch sicherlich nicht zürnen? Nein? — Ich hatte Sie für emanzipiert gehalten.“

Sie bog den Kopf zur Seite, nach dem dunklen Fenster hin. Der junge Mann, der sie unverwandt beobachtete, sah einen leichten Schatten über ihre Stirn und ihre klaren Augen fliegen. Aber er wußte nicht, ob eine Verstimmung ihr die Augen verdunkelte und ihre weiße Stirne faltete, oder ob nur der Kerzenschein flackernd über ihr Gesicht hingehüpft war. Dann erwiderte sie gelassen:

„Nein! Emanzipiert bin ich nicht. Ich lasse mir keineRechte schenken... Ich habe sie, oder ich habe sie nicht .... Ich bin gesund, ich bin stark, ich kann arbeiten: das genügt mir... Das ist mir alles...“

Es war ein kurzes Schweigen zwischen den jungen Leuten. Eberhard drehte gedankenlos an dem Leuchter, so daß die Flamme unruhig an dem Dochte auf und nieder sprang. Therese fuhr fort:

„Aber Sie sind noch immer im Dunkeln; ich hole die Lampe!“

Sie lief hinaus und kam sehr schnell mit der brennenden Lampe in der Hand zurück. Nun schien das Licht durch die Glocke aus weißem Milchglas hell in alle Ecken. Therese zog geschäftig den Fenstervorhang zu; dann zögerte sie, faßte aber plötzlich einen Entschluß und sagte:

„Morgen also wird man Sie auf der Bühne sehen können?“

Er sah sie an, ungewiß, wie sie es meinte, und fing an zu spotten:

„Sagen Sie lieber gleich: bewundern, Fräulein Ambrosius!“

„Auch bewundern, gewiß,“ erwiderte sie freundlich. „Ich hätte Sie in der Tat gern gesehen...“

„O, wenn es das ist —!“ antwortete der junge Mann, „ich gebe Ihnen Karten... Wenn es Ihnen Spaß macht, Ringkämpfe zu sehen...“

Er zog die Brieftasche und nahm zwei Karten heraus. Die Theaterbilletts steckten neben Photographien. Er zog auch diese Photographien aus dem Fache, betrachtete sie einen Augenblick und legte sie dann auf den Tisch vor Fräulein Therese.

„Ach!“ sagte Therese fröhlich, „das sind Sie... Das sind Sie... O, hübsch, Herr Freidank!“

Mit naivem Vergnügen sah sie die beiden Bilder an,ohne ihr Interesse zu verhehlen. Sie stellten beide Eberhard im Sportanzuge dar. Im engen, dunklen Trikot mit bloßem Hals und nackten, gekreuzten Armen stand er gegen einen dunklen Hintergrund, von dem der kraftvolle Körper sich stark und plastisch abhob. Therese schaute auf die Photographien, dann auf den jungen Mann. Es war ein Zufall, daß Eberhard auch jetzt gerade mit verschränkten Armen dastand, genau wie auf einem der Bilder. Das weiße Lampenlicht fiel voll auf sein ruhiges, kluges Gesicht und seine schöne, hohe Gestalt. Die Blicke der jungen Leute begegneten sich, und voll Überraschung sah Eberhard über die ausdruckvollen Züge des Fräuleins ein Spiel lebhafter Empfindungen gehen, und dann ein starkes Erröten... Unfähig, ihren Eindruck zu verbergen, sagte sie mit einiger Heftigkeit:

„Ach, wie schade... wie schade...“

„Was ist schade, Fräulein Ambrosius?“ fragte er, während seine Brauen sich zusammenzogen.

Sie bereute ihren Ausruf, stockte und wollte ihn zurückziehen, aber es war zu spät; nun war sie ihm eine Antwort schuldig.

Das fremde, junge Mädchen hatte eine Wunde in ihm berührt, die er sich selbst noch nicht einmal eingestanden hatte. Wer war sie, daß sie gedankenlos den Schleier von seinen tiefsten, unausgesprochensten Heimlichkeiten ziehen durfte? Und heftig wiederholte er seine Frage:

„Um was ist es schade? — Um mich vielleicht?“

Es war zu spät; sie konnte nicht mehr zurück...

„Um Sie!“ sagte sie mit einem entschlossenen Blick in seine zornigen Augen, „jawohl, um Sie!“

„Ach, sehr freundlich!“ antwortete Eberhard, dessen Gesicht den Zornesausdruck verlor, verdrießlich und höhnisch. „Warum denn schade? — Vor einer Minute fandenSie das Bild hübsch... Ich bin nicht eitel genug, dieses Lob anzunehmen; aber warum die plötzliche Sinnesänderung?“

Da sagte Therese Ambrosius schnell:

„Ich kenne Sie ja nicht... Ich kenne Sie ja gar nicht näher... Und meine Meinung ist Ihnen auch ganz gleichgültig ... Aber mir scheint, es ist schade, daß Sie in Zukunft nichts tun wollen, als sich anschauen lassen... Von fremden, neugierigen Leuten... Daß Sie alle anderen Zukunftspläne so ohne Bedauern über Bord geworfen haben .... Das finde ich traurig...“

„Finden Sie? —“ fragte er, immer noch spöttisch. „Nun, wenn Sie meinen, daß ich mich einfach ausstellen lasse, wie eine Bestie im Käfig... Und der Sport, Fräulein Ambrosius? Den Sport rechnen Sie für gar nichts?“

Therese sah ihn unsicher an und sagte:

„Es war unrecht von mir, etwas zu sagen, da ich doch wohl nicht ausdrücken kann, was ich meine... Ich zähle den Sport schon mit! Ich habe ehrliche Freude an der Kraft und am Sport! — Nur, wenn die Kraft allein das Ziel des Lebens sein soll, das finde ich traurig... Ich hielt den Sport immer nur für ein Mittel zum Zweck... Zu dem Zwecke nämlich, gesund und arbeitsfreudig zu bleiben oder zu werden...“

„Ich nicht,“ sprach Eberhard Freidank trotzig, „ich nicht, Fräulein Ambrosius! Wer keine Kräfte hat, kann sie nicht anwenden... Ich habe sie, und ich gebrauche sie... Der Teufel hole die Arbeitsfreudigkeit! Ich habe sie nicht mehr. Ich bin von diesem Irrtume genesen. Ja, genesen.“

Er hatte es laut und fest und schnell gesagt, in einem starken, jugendlichen Trotze, mit dem er sich selbst überreden und das jähe Zagen und Schwanken seiner Seele beschwichtigen wollte. Und da er nun schwieg, vergaß er die Gegenwart des Mädchens und wußte nicht mehr, daß er nicht allein war. In seiner Haltung drückten sich Energie und Entschlossenheit aus; sein Haupt, das helle, blonde Niedersachsenhaupt, war zurückgebogen, die ernsthaften Lippen schmal zusammengepreßt. Ich bin von dem Irrtum genesen, sagte er noch einmal in Gedanken, während sein Mund fest geschlossen blieb. Und dann flog sein Geist doch nachdenklich zurück zu früherer stiller Arbeit in demselben Zimmer, aus dem er jetzt ausziehen wollte, um als ein neuer Siegfried, ein Held der Gliederkraft, die Welt zu erobern. Wie hatte es dem ruhig fröhlichen Norddeutschen so fern gelegen, mit der Schönheit und Stärke seiner Muskeln zu prunken! Das Gottesgeschenk seiner Kraft hatte er als eine selbstverständliche Gabe angenommen und sich ihrer erfreut, als eines unveräußerlichen Besitztums, so sicher, wie die Luft, die man atmet! — O, andere Ideale hatten sein Herz schneller und höher schlagen lassen; aus dieser stillen Stube hatten Werke des Geistes ausziehen sollen, die der Jüngling, über diesen Tisch gebeugt, in dem starken, wohlgebauten Schädel ersonnen und mit der großen kräftigen Rechten niedergeschrieben hatte! — Seine Blicke wurden dunkel, wie der Himmel, über den eine schwarze Wetterwand dahingezogen ist. Nun sah er sich um und entdeckte das Mädchen Therese, die kein Auge von ihm verwandt hatte.

Er mußte sich einen Augenblick besinnen, was sie in seinem Zimmer wollte; dann sagte er finster:

„Wie sehen Sie mich an? Bin ich ein Meerwunder? — Ach, Sie brauchen nicht rot zu werden... Genieren Sie sich nur nicht, mein Fräulein! Ich weiß nun Ihre Ansicht, sie ist nicht sehr schmeichelhaft... Sie finden den Sport verächtlich, allright... Bureaumenschen gefallen Ihnenwahrscheinlich besser... Nun, nichts für ungut, Fräulein Ambrosius! Ein jeder hat seinen besonderen Geschmack. Bei den modernen Damen ist er sogar sehr ausgesprochen..“

Er lachte sein gutes, verlegenes, jugendliches Lachen. Er schämte sich, das fremde Fräulein mit einiger Heftigkeit aufgezogen zu haben. Wie kam man auch dazu, mit einem dieser gebrechlichen Wesen über ernsthafte Dinge zu reden? Wie dieses Mädchen jetzt vor ihm stand... Gewiß, er hatte sie beleidigt...

Therese Ambrosius sah betrübt und ernsthaft aus. Die dunklen Augen standen groß und verwundert in dem weißen Gesicht.

„O,“ sagte sie langsam, „o, Sie haben mich mit Absicht falsch verstanden. Sie wissen das auch... Gute Nacht, Herr Freidank.“

Sie neigte leicht den Kopf und wollte an ihm vorüber zur Tür. Im nämlichen Momente flog ein schriller Klingelton durch die Wohnung. Frau Ambrosius kehrte von ihrem Ausgange zurück. Als Eberhard das Glockenzeichen hörte, war er mit einem Sprunge neben dem Mädchen. Nein, zornig brauchte sie nicht von ihm zu gehen! Er reichte ihr impulsiv die große Hand und flüsterte schnell:

„Fräulein — Fräulein Therese — habe ich Ihnen weh getan?“

Da schlug das Mädchen die Augen auf und erwiderte, gegen ihren Willen lächelnd:

„Mir — nein. O nein, mir nicht. — Doch nun, gute Nacht! Ich muß der Mutter öffnen...“

Während sie eilends hinausschlüpfte, sah sie Eberhard noch einmal bedeutungsvoll an, indem sie den Zeigefinger auf den Mund legte. Dann hatte sich die Tür geschlossen und Eberhard war allein.

Er trat an den Tisch zurück, nahm die Photographienauf und barg sie, ohne sie anzusehen, wieder in der Brieftasche. Das Werk, in dem Fräulein Therese Ambrosius gelesen hatte, lag auch noch auf dem Tische, gerade in dem gelben Lichtkreise der Lampe. Er stellte das Buch an seinen Platz auf dem bescheidenen Regal zurück. Dabei fiel ihm etwas ein: er sah sich um, ob nicht eine Kiste im Zimmer stände, oder sein Koffer, worin er alle Bücher, die ihm vordem zum Studium gedient hatten, verschließen konnte. Der Anblick dieser schlichtgebundenen Werke im schwarzen Kalikorücken war ihm plötzlich zuwider. Morgen, dachte er, morgen, oder in den nächsten Tagen, werde ich eine Kiste kommen lassen. —

Er ging noch einmal an das Fenster, öffnete es und sah hinaus in die Novembernacht. Draußen hatte ein leichter Schneefall begonnen. Der Schneehauch kühlte Eberhards Gesicht und strich ihm angenehm über die Haare hin. Eberhard fühlte plötzlich ein Verlangen nach dieser Kälte; er zog die Jacke aus, tat den steifleinenen Halskragen ab und stand in Hemdsärmeln mit bloßem Halse am Fenster. Der Schnee fiel dichter, wie ein flimmernder, beweglicher Vorhang vor einem unergründlichen Hintergründe....

Er stand lange, und dunkle, fragende, ahnungsvolle Gedanken, denen er keine Worte hätte leihen können, tauchten aus dem Grunde seiner Seele auf. Aber der leise, ununterbrochene Schneefall lenkte ihn immer wieder ab, zog seine Blicke hernieder, hernieder in den Tanz der wirbelnden Flocken.

Die leichte Kälte wehte an seine heiße Brust, er knöpfte das Hemd über der Brust auf und bot seinen warmen Leib der winterlichen Nachtluft, indes er langsam den Körper wohlig ausreckte....

Dann schloß er das Fenster, ging in das Zimmer zurück, löschte die Lampe aus und ging im Finstern schlafen, während er ohne große Verdrießlichkeit, aber ein wenig unsicher dachte:

„Was versteht sie davon, sie ist ein törichtes Ding, — jawohl, ein törichtes Ding, — und außerdem, was geht sie mich an...“

Ende Kapitel V


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