IX.

IX.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht kam Aloys Binder aus dem Odeontheater und traf an der nächsten Straßenecke Fräulein Fritzi l’Alouette. Fritzi ging bereits seit einer vollen Stunde an dem Platze auf und ab und dachte daran, daß Eberhard sie niemals hatte warten lassen. Nur flüchtig kam ihr indessen der Gedanke, heim zu gehen und den Ringkämpfer im Stiche zu lassen. Sie fürchtete sich vor diesem Menschen, der doch gegen sie bisher nur sanft und freundlich gewesen war. So wartete sie mit einem seltsamen Gemisch von Zorn und Demut im Herzen. Als Binder endlich kam, machte Fritzi ihm nachträglich Vorwürfe. Er hörte sie schweigend an und sagte nach mehreren Minuten:

„Es wird Tauwetter, du kleine Katze!“

„Was hat das mit meinem Warten zu tun?“ fragte Fritzi verblüfft.

„Nichts!“ erwiderte Binder lächelnd, indem er die Zähne zeigte, „wie lange du gewartet hast, ist mir höchst gleichgültig, du schwarzes Kätzchen! Du mußt auf mich fünf Stunden warten, wenn es mir paßt, zehn Stunden, die ganze Nacht! — Oder würdest du nicht warten?“ fügte er drohend hinzu.

„Ja....“ sagte sie eingeschüchtert und blieb nahe an seiner Seite, während er weiterging. Sie trippelte schlank und zierlich neben ihm, dann hängte sie sich an seinen Arm:

„Sag’, wohin führst du mich, Aloys?“

„Zu mir, nach Hause!“ sagte der Mann inniger, als er sonst sprach, und preßte die kleine Mädchengestalt fest und inbrünstig an seinen starken Körper.

„In kein Lokal? In kein Café?“

Sie zwitscherte, wie ein zutrauliches Vöglein, sie war so kindlich-schlau, so naiv-kokett, daß der Athlet nicht imstande war, sie grob zu behandeln.

„Mein Kind,“ sagte er freundlich, „wir würden von Roland gesehen werden, darum mußt du mit mir kommen!“

„O, Aloys! — bist du ihm böse wegen deiner Niederlage? Ich habe das Publikum darüber sprechen hören, als es das Theater verließ! — Aber dein Fall war doch vorher ausgemacht?“

„Laß das, Fritzi,“ sagte der Ringkämpfer finster. „Natürlich war es ausgemacht... Meinst du, Roland wirft mich im Ernst?“

„Dich nicht,“ erwiderte Fritzi eifrig, „so viel verstehe ich auch schon davon!“

„Gar nichts verstehst du, du kleine Katze,“ beschloß Binder die Unterhaltung und gab seiner Begleiterin einen Kuß.

Sie standen vor der Haustür. Binder führte das Mädchen ins Haus. Fritzi überwand eine letzte Bangigkeit und flüsterte:

„Ist niemand oben? Werden wir ganz allein sein?“

Der Ringkämpfer würdigte sie einer Antwort:

„Celeste ist natürlich oben. Du kennst sie ja, Fritzi!“

Madame Celeste? Sie, die doch nur Binders Geliebte war, sie war Fritzi immerhin als ein Bild alles Reinen und Hohen erschienen. Die kleine, leichtfertige Chansonette, welche das zermalmende, brutale Leben noch nicht in all seiner Raffiniertheit und Roheit kennen gelernt hatte, zitterte unwillkürlich bei dem Gedanken, als eine Sünderinvor den ernsthaften, reinen Augen Madame Celestes zu stehen. Binder aber, in dem alle niedrigen Instinkte wieder munter geworden waren, als er mit Fritzi durch das dunkle Treppenhaus schritt, verstand ihr Zittern falsch:

„Sie tut dir nichts, mein schwarzes Kätzchen! O nein!“ er lachte höhnisch, „im Gegenteil! — Bedienen wird sie dich, Fritzi, sie wird tun, was du verlangst....“

Zwar war er seiner Sache nicht ganz sicher, betrat aber doch mit herrischer, siegesgewisser Miene an Fritzis Seite den kleinen Ecksalon. Er war leer, aber das Glühlicht der mehrarmigen Lampe leuchtete über einem weißgedeckten Tische mit freundlich angerichteten Erfrischungen.

Binder selbst war bei diesem Anblicke betroffen. Celeste war also seinem kaum ernstgemeinten, frechen Befehle, ein kleines Abendessen für ihn und eine Dame herzurichten, nachgekommen? Und ihre Unterwerfung rührte ihn nicht, sondern machte ihn nur übermütiger. Er zog ein Pfeifchen, um Celeste wie einen Hund herbeizupfeifen. Ehe er aber den Pfiff ausgestoßen hatte, trat Celeste selbst über die Schwelle des Schlafzimmers und begrüßte Binder mit seiner Begleiterin, ohne daß das Lächeln von ihren Lippen wich...

Wahrhaftig, Madame Celeste lächelte! Das Lächeln hielt ihre schönen Lippen geöffnet, so daß die blanken, schmalen Zähne sichtbar wurden. Sie hatte die dunkeln Ringe unter ihren Augen mit Schminke überdeckt. Wie der weiße Hauch auf üppig reifen Früchten lag ein zarter Puderschleier über ihrer Haut. Sie hatte das schwarze Haar zu einer hohen Frisur anmutig aufgebaut. Ihr hoher, schlanker Leib war heute in ein rotseidenes Kleid gehüllt, halb Hauskleid und halb Festgewand. Jung, schön, bizarr und phantastisch sah Madame Celeste aus, eine reizende, geschmückte Sklavin...

Binder starrte ihr mit unverschämter Siegermiene insGesicht und sah ihr unveränderliches, seltsames Lächeln. Sie lächelte, so meinte er, aus Verlegenheit... aus Scham .... O, sie sollte noch verlegener werden! Sie sollte noch tiefer gedemütigt werden! Jetzt war er über ihre Seele Herr geworden, nachdem er längst ihres Leibes Herr geworden war. Jetzt hatte er die Macht, die feine, stolze Seele bis zur letzten Erniedrigung zu zertreten! —

„Wir setzen uns auf das Ecksofa, Fritzi,“ sagte Binder. „Du, Celeste, darfst dich mit uns zu Tisch setzen... vorausgesetzt, daß du uns dabei alles nett servieren kannst...“

„O, du wirst zufrieden sein!“ erwiderte Celeste und hörte nicht auf, zu lächeln. „Der Tee, Aloys, ist frisch und heiß, der Sekt steht auf Eis.... Was befiehlst du?“

„Erst Tee, später Sekt,“ sagte Binder. „Liebe Fritzi, greife zu, meine kleine Katze! Nimm von diesen Kaviarbrötchen, die Celeste uns bereitet hat....“

Er geriet in vortreffliche Stimmung. Den Arm um Fritzis Taille gelegt, wurde er fröhlich und begann, über seinen Kampf und seine Niederlage gegen Roland zu scherzen. Celeste, der ein natürliches Rot die Wangen färbte, hielt mit. Fritzi allein konnte sich von einem rätselhaften Grauen nicht frei machen. Denn Madame Celeste — sie war schmiegsam und unterwürfig, lieblich ohne Koketterie, freundlich ohne Hohn, und sie lächelte, sie lächelte.... Ihr Lächeln war ein wenig starr, ein wenig seltsam, wie das Lächeln schöner Wachsköpfe. Aber immerhin: sie lächelte! —

Sie hatte längst den Teetisch abgeräumt. Nun goß sie den gelblichen, schäumenden Wein in die flachen Schalen.

„Ziehe doch den Kühler heran, Celeste!“ sagte der Ringkämpfer, „und fülle die Gläser auf dem Tische!“

„Verzeih!“ sagte Celeste lächelnd, „er ist zu schwer ... Ich kann ihn nicht allein heranschieben!“

„Auch gut,“ bemerkte Binder und wendete sich Fritzi wieder zu. Fritzi taute endlich auf; sie fing an zu schäkern, ließ die kleinen Künste ihrer Gefallsucht spielen und schlang die Arme mit allerliebster Zärtlichkeit um Binders Hals.

„O, der Sekt macht dich mobil, du kleine Katze!“ rief Aloys, „wir hätten zum Essen schon Sekt trinken sollen .... Holla, mein Kind, das geht ins Blut! Celeste, stoß’ mit uns an!“

Er sprang auf und riß Fritzi mit sich in die Höhe. Er hielt die Schale in zitternder Hand, er schwang sie über den Tisch und lachte brutal:

„Stoß’ an, Celeste, auf die Liebe! Und auf ein langes, lustiges Leben!“

„Auf ein langes, lustiges Leben!“ sprach ihm Celeste nach, setzte das Glas an die Lippen und trank. Und als sie ausgetrunken hatte, setzte sie das Glas zurück, so daß der schlanke Stiel zerbrach und der Trank über den Tisch hinfloß.

„Ungeschicktes Ding!“ rief Binder grob, aber Celeste hatte von dem Mißgeschick nichts bemerkt. Ihre Leidenschaft, ihre Verzweiflung brachen eine Minute lang durch die lächelnde Maske; sie riß Binders Kopf in ihre Hände und küßte ihn wütend und fassungslos zwischen die dunklen, starken Augenbrauen....

„Nein, heute nicht! heute nicht, Celeste!“ rief Aloys, „siehst du nicht diese kleine Katze hier, die schon müde wird? Meinst du, ich habe mir die Fritzi nur zum Soupieren mitgebracht? O nein... Sie wird müde... Das eine Glas Sekt, komisch! Aber ich werde auch schon müde... Merkwürdig, Celeste!.... Schenk’ uns ein, Celeste, schenk’ ein!“

Und die junge Frau mußte wieder und abermals die Schalen füllen. —

Aber ein Geier mit grauen Flügeln breitete seine weiten Schwingen über dem Zimmer aus, bis sich das Licht vor den Augen des zechenden Liebespaares verdunkelte. Wie? brannte das Glühlicht so trübe oder sanken den Verliebten die Lider immer wieder über die Augen? Wer wird so müde nach einigen Gläsern Champagner? Celeste trank doch auch! Aber ihre Augen wurden immer heller; ihre schwarzen Augen brannten, wie von einem inneren Licht verklärt. Sie lächelte noch immer, das Lächeln war um ihre Lippen geschmiedet ....

„Hol’s der Teufel, ich kann nicht länger wachen!“ rief Binder und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Der Halunke, der Roland, ist schuld daran. Anders kann ich mir’s nicht erklären! — Aber wir wollen es wettmachen, wir wollen es ausgleichen.... wir wollen in seinem Revier pürschen... Wie, meine kleine Katze! mein kleiner Hase! bist du auch so müde wie ich? — Celeste, kleide die Kleine aus!“

Celeste stand langsam auf. O, sie tat auch das noch. Viel war es ja nicht mehr....

„Wird’s bald?“ schrie der Ringkämpfer grob, „oder willst du mir erst die Peitsche bringen?“

„Aber, Liebling!“ erwiderte Celeste lächelnd, „aber, Liebling! Warum sollte ich dir nicht den Gefallen tun?“

„Recht so, Celeste! O, ich habe immer gewußt, daß du gehorchen lernst! — Du bringst den kleinen Hasen auch zu Bett, Celeste!“

„Ja, ich bringe den kleinen Hasen auch zu Bett,“ wiederholte Celeste, „und dich bringe ich auch zu Bett, Aloys, dich auch!“

Diese Müdigkeit! Sie warf den starken Menschen einfach um. Aber ihm war pudelwohl dabei, so wohl! Blinzelnd sah er zu, wie Madame Celestes schlanke, gepflegte Hände die Chansonette auskleideten. Die schöne Aristokratin kniete ohne Zögern nieder, um Fritzis Knopfstiefel zu lösen, ihr die Strümpfe auszuziehen.... Sie holte eins von ihren eigenen Nachthemden aus mattweißer Waschseide herbei und zog es Fritzi l’Alouette an. Sie führte die Buhlerin ihres Geliebten selbst ins Schlafgemach ...

Fritzi blickte sich schlaftrunken, mit lüstern geöffnetem Mündchen, um:

„Und du, Aloys?“

„Ich komme,“ sagte Binder, „Celeste muß mir auch helfen... mich auch bedienen... Ich bin zu müde...“

Fritzi sank auf die Kissen und schlief sofort. Celeste kehrte zu Binder zurück. Und da sie ihn nun allein sah, um den sie ihren Gatten, ihre Ehre, ihr Vermögen und alles geopfert hatte, wurde sie eine Sekunde lang weich. Wie vom Blitz getroffen, stürzte sie Binder zu Füßen, preßte ihre Lippen auf seine muskulösen Hände, beugte den Kopf auf seine Kniee...

„Was treibst du für Firlefanz!“ schrie Binder erbost. „Dummes Weib, was willst du von mir! Zieh’ mir die Stiefel aus, schnell...! Du bist meine Magd, du bist meine Sklavin... vergiß das doch nur nicht.... Zieh’ mir die Socken ab, Celeste....!“

Ihre Weichheit war erstarrt, wie glühendes Eisen, wenn es in kaltes Wasser fällt. Er wollte es nicht anders ... er wollte es nicht anders!

Er schlief schon fast, als er, auf ihren Arm gestüzt, ins Schlafzimmer trat. Die rosa Ampel erhellte das Gemach mit mildem Schein. Fritzi schlief sanft und unbeweglich. Celeste bettete Aloys an ihrer Seite und deckte beide Schläfer mit der seidenen Steppdecke zu.

Aloys Binder lag regungslos im Schlafe. Kein Zug desunschönen Gesichts bewegte sich. Madame Celeste hatte einst die starke, urwüchsige Raubtierähnlichkeit dieses Antlitzes geliebt. Jetzt betrachtete sie mit dem tiefsten Haß die schmale Stirn unter der kräftigen, braunen Haartolle, die groben Backenknochen, die spitze Nase, das spitze und doch starke Kinn, welches abnorm weit vorgeschoben war. Sie prägte das häßliche, hochmütige Gesicht in ihr Gedächtnis ein, wie man das spitze Eisen in die wächserne Schreibtafel drückt, und ihr tödlicher Haß grub unauslöschliche Linien in das Gedächtnis.....

Celestes Lächeln war nun erstorben. Die junge Frau ging in den Ecksalon, wo die schalen Reste des Weins in den Gläsern standen. Sie wollte einen Schluck trinken, aber sie vermochte es nicht. Sie ging ans Fenster, zog den Vorhang zurück, öffnete das Fenster und sah hinaus. Sie wußte nicht, daß Eberhard Freidank unten stand und mit heißen Blicken hinaufspähte.

Der Kopf war ihr schwer, die Haare lasteten ihr mit unnatürlicher Wucht auf dem Schädel. Celeste schloß das Fenster und ihre Ruhe kehrte zurück, als sie sich dem Zimmer wieder zuwendete. Dort im Champagnerkühler lagen die weißen Papierhüllen, aus denen sie Trional in den Wein geschüttet hatte. Sie kannte die unfehlbare Wirkung des Schlafmittels, welches den stärksten Menschen mit tödlicher Sicherheit in Morpheus’ Arme zwingt. Der Arzt hatte es ihr gegen Schlaflosigkeit verschrieben. Ach, ihre Schlaflosigkeit hatte Gründe gehabt, gegen die man nicht mit Trional ankämpft. In diesen langen, schlummerlosen Nächten voll Sehnsucht, Scham und Reue war Celestes Seele, die von sinnlicher Lust eingeschläfert war, grauenvoll erwacht. Sie war nun wach, so furchtbar wach, daß sie wußte, sie würde niemals mehr Ruhe finden. Nun sollte der Genosse ihrer Schuld schlafen, schlafen.

Die junge Frau zog die Haarnadeln aus ihrer Frisur und ließ die Haare lose niederhängen. Dann spürte sie die leise Reibung des Haares an ihrer bloßen Haut. Sie dachte daran, wie einst ihr Gatte, den sie verlassen hatte, und nach ihm Aloys Binder, das volle, schwarze Haar geliebt hatten. Wie hatte sie Aloys in heimlichen Stunden süßer, ehebrecherischer Zärtlichkeit in ihre Haare eingehüllt und eingesponnen, wie hatte sie ihm die schönen Strähnen um Hals und Arme gewickelt und die dunkle Woge ihres Haares als einen Schleier über ihn gebreitet! Jetzt war ihre Liebe zertreten und ihr Herz ausgebrannt. Celeste warf einen unwillkürlich flehenden Blick rund um sich her, sie bog die Kniee, sie lag auf den Knieen, rang die weißen Hände und schluchzte lautlos:

„O Gott, o Gott, ich kann nicht anders, ich darf nicht anders, nun hilf mir, Herr Gott!“

Es kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß sie Gott lästerte. Ihr war es, als wäre von dem lästerlichen Gebete Kraft von oben zum schweren Vollbringen in ihr Herz geflossen. Mit finsterem Entschlusse stand sie auf.

Im Schlafzimmer goß die Ampel ihr sanftes Rosenlicht auf Aloys und Fritzi l’Alouette. Fritzi hielt noch im Schlafe kokett den Arm erhoben, auf dem ihr zierliches Haupt ruhte. Binder schlief nach seiner Gewohnheit auf dem Bauche liegend.

Celeste griff — sie hatte es so lange überlegt! — nach einem der damastenen Handtücher und legte es mit Händen, die nicht zitterten, um Aloys Binders Hals. Dann knüpfte sie die Enden zusammen. Sie wollte ihn in der Handtuchschlinge erwürgen. Sie fing an zu drehen. Binder schlief so fest, todesähnlich... Er spürte nicht, daß sie ihn würgte.... Dann ließ die Kraft ihrer Hände nach, sie suchte nach einem Knebel. Ein buchener Kleiderbügel, derzufällig auf dem Nachttische lag, war ein passender Knebel zum Drehen der Schlinge. Celeste drehte mit wilder Kraft, denn jetzt — jetzt zuckte Aloys Binder, jetzt erwachte er unter dem mörderischen Drucke der Schlinge, jetzt setzte seine Gegenwehr ein..... Oder waren es nur die konvulsivischen Zuckungen des Todeskampfes?

Die kleinen, tückischen Augen! sie quollen groß aus den Höhlen, sie schauten auf Celeste mit einem gräßlichen Blick; Schaum trat aus dem Munde, und unter einem fürchterlichen, knarrenden Gurgeln ging die bläuliche Zunge des Erwürgten aus dem Halse hervor. Celeste wendete sich ab und drehte, drehte.... drehte die Schlinge.... drehte.....

***

In der Morgenfrühe wurde wild an Aloys Binders Wohnungstür geklingelt. Eberhard stand draußen und riß fast die Schelle ab. Niemand öffnete ihm. Der helle Ton sprang von dem Korridor in die Zimmer, hüpfte auf das breite Doppelbett im Schlafzimmer und weckte Fritzi aus törichten, lüsternen Träumen. Schon Morgen? — Und wo — wo war denn Aloys Binder? Hier war er, neben ihr... Er hatte geschlafen, wie sie....

Fritzi rieb sich die Augen, richtete sich auf und sah mit ihrem ersten klaren Blick gerade in die erstarrten, offenen Totenaugen des Erwürgten. Sie stieß einen entsetzlichen, gellenden Schrei aus und sank, von allen Schauern des Todes gepackt, auf das Bett zurück. Sie wagte nicht einmal, sich von der Leiche fort zu rühren. Sie hatte die Beine an den Leib gezogen und lag halb kauernd auf dem Spitzenkissen, während ein mörderisches Grauen ihre Glieder und ihre Zunge lähmte. Käme doch nur noch einmal der Klingelton, so würde sie wagen, sich aufzuraffen! Alles blieb still...

Dann wurde draußen die Tür vom Schlosser geöffnet. Eberhard hatte die Wirtin, welche den gräßlichen Schrei vernommen hatte, herbeigerufen, und man hatte die nahe Polizei alarmiert. Ein Polizeiwachtmeister kam mit zwei Schutzleuten. Ihre harten Schritte schallten über den Flur und stampften in den Ecksalon hinein.

„Im Namen des Königs!“ rief der Polizeiwachtmeister laut und drang mit seinen Untergebenen in das Schlafzimmer ein. Eberhard und die Wirtsfrau folgten ihnen.

Auf dem Bette kauerte Fritzi wie erstarrt, mit glühenden Augen, und neben ihr lag, wie ein verendetes Tier, die Leiche Aloys Binders. Das Gesicht des Ringkämpfers war mit blauen Flecken bedeckt, sein Haar stand borstig in die Höhe und zwischen den blauen Lippen hing die Zunge, zerbissen und blutig.

Auf dem Teppich vor dem Bette hockte Madame Celeste. Sie hatte ihrem Opfer die Totenwache gehalten. Die Nacht lang, bis der Morgen graute, hatte sie sich an dem Anblick des entstellten Gesichts geweidet. Merkwürdig, wie dieses Antlitz sich verändert hatte, als gegen Morgen die Ampel blasser brannte und der graue Tag auf die scharfen, unschönen Züge fiel! Celeste hatte kein Auge von Binders Angesichte abgewendet. Sie spürte nichts, als die gewaltige, satte Befriedigung des Raubtieres, welches seine Gier in Blut gestillt hat.

Ein höherer Polizeibeamter trat ein, er brachte den kleinen Pendelschlag des Alltags in die große Tragödie. Er kam, um festzustellen, zu vernehmen....

Fritzi hatte eine Bettdecke um ihren schlanken Leib gezogen: sie zitterte vor Frost, blickte aus entsetzten Augen auf die fremden Menschen, konnte all das Grauen noch kaum fassen und schluchzte wie ein Kind. Sie schämte sich... vor Eberhard... vor den Beamten... vor denfremden Männern.... aber am allermeisten vor Eberhard ....

Madame Celeste allein saß ruhig mit untergeschlagenen Beinen auf dem geblümten Bettvorleger. Ihr Kleid floß weich und unzerzaust um ihre Gestalt. Die Haare hingen wie dünne Schlangen um ihre Schultern. In dem schmerzverwüsteten Gesicht lebten nur noch die Augen, die trauerten, daß ihnen ein großes Unrecht geschehen war.

Sie sprach auch nicht anders, als daß ihr Unrecht angetan war:

„Meinen Namen? Den wissen Sie ja. — Ob ich....? Ja. Ich habe ihn... ihn... Aloys Binder... erdrosselt. Ja. Warum? Was geht das Sie an? Es war nur Revanche ... Revanche.... Erst hat er mich erdrosselt.... dann habe ich ihn erdrosselt. Sie glauben das wieder nicht, weil ich mit Ihnen rede. Aber er hat mich erdrosselt, seit Jahren schon.... Mehr als das. Zertreten hat er mich, in Stücke gerissen... Was wollen Sie wissen? —.... Streit?... Wir haben keinen Streit gehabt, nein. Ich habe ihn mit seiner Geliebten zu Bett gebracht.... erst die Geliebte, dann ihn... und dann... habe ich ihn erwürgt, ja. — Ich? Reue?....“

Celeste lachte, ein schreckliches, klirrendes Lachen.

Sie hatte den Verstand verloren.

Dann waren sie alle fort. Man hatte Fritzi l’Alouette gestattet, sich anzukleiden und in ihre Wohnung zu gehen. Selbst schwankend, wie ein Trunkener, ergriff Eberhard Freidank Fritzis Arm und führte sie fort.

„Eberhard!“ begann sie schüchtern, indem sie sich wie ein Kätzchen an seinem Ärmel rieb, „Ebi... lasse dir erklären ...“

„Spare deine Erklärungen,“ sagte er langsam. „Dazu ist es zu spät. Ich bin dir nicht böse. Du bist eben eineDirne... Du hast eben einen ganz erbärmlichen, jämmerlichen Charakter... Darüber ist nichts zu heulen, Fritzi! Ich nehm’ dich, wie du bist.... Es wäre dumm, dir aus deiner Niederträchtigkeit einen Vorwurf zu machen....“

„Der Aloys....,“ sprach Fritzi weinend, „der Binder....“

„Hör’ auf!“ unterbrach der Ringkämpfer sie brutal. „Der Binder.... er ist tot.... Verstehst du, Fritzi, er ist tot für mich! Ich will ihn nie mehr in deinem Munde hören.... Du erbärmliches, niedriges Ding! Du Nichts! Du Dirne!! —“ er rüttelte mit seinen Eisenfäusten an ihrer schlanken Schulter, „versteh’ mich, der Binder ist tot!“

Ende Kapitel IX


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