VII.

Ende Kapitel VI

VII.

Es war anderthalb Wochen später, des Vormittags um elf. Fritzi war gerade aufgewacht. Sie lag auf der Seite, mit dem Kopf auf ihrem rechten Arm, und betrachtete blinzelnd die Tapete an der Wand. Sie überlegte, ob sie endgültig aufwachen oder versuchen sollte, noch einmal einzuschlafen. Da ging die Türe auf und wurde wieder geschlossen. Die Chansonette sah sich gar nicht erst um, denn das Klirren der Kaffeetasse auf einem Tablett verriet ihr, daß die Wirtin ins Zimmer getreten war. Und Fritzi war so faul!

„Fräulein!“ sagte die Witwe strengen Tones, „Fräulein, sind Sie schon munter?“

Das junge Mädchen zog vor, abzuwarten, ob sie für die Hausfrau schon aufgewacht sein sollte oder nicht und blieb unbeweglich liegen. Die Wirtin wartete den Erfolg ihrer Anrede ab und begann wieder:

„Ich meine Ihnen, Fräulein! Geben Sie doch Antwort, wenn man mit Sie redet! — Ich wollte Ihnen nur sagen: ich dulde es nicht länger, und es ist mir mit Sie schon längst zu dumm geworden! Nein, es paßt mir nicht mehr!“

Die Frau hätte noch lange weiterreden können, aber jetzt konnte die Chansonette zu ihrem Leidwesen das Lachen nicht mehr verhalten. Langsam und behaglich schob sie sich im Bette herum, dehnte sich und fragte, während sie sich mit beiden Fäustchen den Schlaf aus den Augen rieb, vergnügt:

„Was denn, Frau Krichelmann?“

„Was?“ versetzte entrüstet die Hausfrau, „das fragen Sie noch? Na, wenn Sie es durchaus hören wollen: Ihr Lebenswandel ist mir zu bunt! — Als der Herr Freidank die Stube für Ihn’ mietete, sagte er: „Meine Braut ist ein sehr anständiges junges Mädchen.“ Gut, sagte ich, soll mir lieb sein. Wenn ’n junges Mädchen ihren Bräutigam hat, dagegen ist nichts einzuwenden. Ich sage nichts gegen den Herrn Freidank, o nein! Der ist sehr anständig! Er hat mir Ihre Miete immer pünktlich bezahlt! — Aber mit Ihnen, Fräulein... Finden Sie das anständig, so oft Besuch zu kriegen und mitzubringen? — Und was bringen Sie sich alles mit! Ich habe gestern abend aufgepaßt... Einen Menschen, wie ’n Steinträger, anders nicht... Das müßte Ihr Bräut’jam wissen! — Ich sage Ihnen, es ist mir zu dumm, Fräulein. Ich will mein Haus rein halten! — Ich sage es Herrn Freidank, und Sie müssen ziehen! Für dreißig Mark werde ich meine Stube jeden Tag mit Kußhand los!“ —

Fritzi hatte den Redestrom nicht unterbrochen. Jetzt hörte sie endlich auf, in ihren Augen zu reiben, schüttelte die Locken, die sich wie lustige schwarze Schlangen um ihre Stirn ringelten, zurück und sagte mit strahlendem Lächeln nichts als:

„Ach nee?!“

„Das sagen Sie!“ erwiderte Frau Krichelmann empört, „aber ich sage: ach ja! — Was denken Sie von mich und meinem Haus? Ich habe eine anständige Pension und keinen Taubenschlag! Und darum bleibt es dabei, Sie ziehen!“

„Nun seien Sie mal gemütlich, Olleken!“ sagte die Chansonette mit ihrem niedlichen Kinderlächeln, indem sie die spitzigen Mäusezähnchen zeigte. „Ich gehe ohnehin bald fort, wenn Eberhard nach auswärts ins Engagement geht!... Aber bis dahin nicht! Ich habe Sie grade fragen wollen, ob Sie mir nicht lieber das Vorderzimmer vermieten wollen. Das ist ja leer geworden. Ich habe heute grade Zeit, meine Sachen umzuräumen!“

„Die Stube mit dem Flureingang?“ fragte die Hausfrau milder, „ja, die kostet aber sechszig Mark ins Monat! Das wird Herr Freidank wohl nicht bezahlen wollen!“

„Bisher kostete die Stube fünfzig Mark,“ konstatierte Fritzi, „aber es ist mir einerlei, ich zahle auch sechszig... Nein, Freidank braucht das nicht zu wissen, sonst wird er am Ende neugierig, wozu ich einen eigenen Eingang brauche ... Na, seien Sie vernünftig, Olleken! Wer wird denn gleich am frühen Morgen ’n Krach machen?“

„Das ist also abgemacht,“ sagte die vorsichtige Hausfrau nun ganz besänftigt, „Sie nehmen von heute ab das Flurzimmer! Ist mir schon recht, wer über’n Flur geht, geht mich nichts an... Na, Sie verstehen mich, Fräulein Fritzichen! Von Krach ist nicht die Rede... Übrigens trinken Sie jetzt mal Kaffee, Kindchen! Warten Sie einen Augenblick, ich habe noch ’n Stückchen Napfkuchen von gestern; das hole ich Ihnen schnell!“

Sie war jetzt ganz Sorgfalt und mütterliche Fürsorge, brachte den Kuchen, goß Fritzi Kaffee ein, zog sich einen Stuhl ans Bett und während das junge Mädchen zu frühstücken begann, fragte Frau Krichelmann, den Oberkörper vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestüzt, vertraulich mit neugierigen Augen:

„Wer war denn nun der Herr von gestern Abend, Fräuleinchen?“

„Ach, Sie!“ sagte Fritzi mit ärgerlichem Lachen, indem sie den Kuchen in den Kaffee tauchte, „erst erzählen Sie mir was von Lebenswandel und so, und dann wollen Sie wieder alles wissen! —“

„Fritzichen!“ erwiderte die Wirtin, „mich kennen Sie doch! Ich nehme es doch einem hübschen, jungen Mädchen nicht übel, wenn sie sich amüsiert! Aber in meiner Wohnung .... Was nicht über meinen Korridor geht, sehe ich nicht!Davon weiß ich nichts! Sie wissen nicht, wie es mich freut, daß Sie das Zimmer zu sechszig genommen haben —! Na, nun erzählen Sie mal!“

„’n Ringkämpfer,“ sagte Fritzi einsilbig.

„Einer von Herrn Freidanks Bekannten aus’m Theater? Da nehmen Sie sich man in acht, Kindchen, daß Ihrer nicht dahinter kommt!“

„Nee, bloß aus der Ringkampfschule,“ vertraute das junge Mädchen nun der Wirtin an. „Er ringt in ’ner Bude, auf’m Rummel! Freidank kennt ihn aber! — Ich kann gar nicht begreifen, Frau Krichelmann, daß mein Bräutigam nichts von allem bemerkt hat! — Gestern war es ja ungefährlich; da ist er gleich nach der Vorstellung zu seinen Studenten auf die Kneipe gegangen. Seine Bekannten haben keine Ahnung, daß er jetzt Ringkämpfer ist! — Ja, sonst müssen wir schlauer sein, Justav und ich! Denn am ersten Abend waren wir zu unvorsichtig... Da hat er mir im Theater so viel zugesetzt, bis ich mit ihm losgegangen bin, ehe die Vorstellung zu Ende war. Freidank wollte mich aus der Loge abholen, aber als er mich suchen kam, bin ich längst mit Justav’n auf und davon gewesen! — Daß er davon nie ein Wort gesagt hat, nicht einmal gefragt, wo ich hingegangen war, das versteh’ ich nicht, Frau Krichelmann. Eberhard war an dem Abende zum ersten Male auf der Bühne, und das wollten wir doch zusammen feiern!“

„Vielleicht hat er sich selber an dem Abend etwas vorgenommen, was er Ihnen auch nicht sagen durfte!“ meinte die welterfahrene Wirtin nachdenklich. „Aber wie ist es denn mit Herrn Justav’n, bekommen Sie von dem auch was Reelles geschenkt?“

„Ach nein!“ lachte Fritzi belustigt. „Der tut so, als ob ich noch froh sein könnte, daß ich ihn überhaupt habe! — Da ist mein Bankier freilich anders... Wenn ich dennicht hätte, Frau Krichelmann! Gestern hat er mir wieder drei seidne Blusen und einen Hut gekauft —!“

Die Hausfrau packte neugierig die Kartons aus, bewunderte mit neidischem Staunen die Geschenke von Fritzis Kavalier und erkundigte sich:

„Nun, und Er? Merkt er das nicht?“

„Keine Spur,“ sagte Fritzi. „Sie wissen ja, Männer... Mitunter wird er mißtrauisch und fragt. Nun, ich gebe ihm immer die richtige Antwort, und sofort ist er wieder zufrieden... Jetzt zumal, Frau Krichelmann! Könnte er nicht froh sein, daß er eine gute Stelle hat, wo er so schön verdient? Nein, er grübelt fortwährend. Seine Stückeschreiberei steckt ihm im Kopfe und sein Studieren... Er redet fast nichts anderes! —“

„Komisch! — Und dabei ringt er so großartig, der Herr Freidank! Ich habe ihn doch nun schon dreimal gesehen! — Vorgestern, als er den dicken Menschen, der sich Herkules von Frankreich nennt...“

„François à la Crinière....“

„Na ja! — als er den herumwirbelte und auf die Matte schmiß, daß es ordentlich krachte, das war doch wirklich ’n Ding! — Mein Schwestersohn, aus dem Amateurklub „Jugendkraft“, sagte, das wäre ’n wunderbarer Armfallgriff mit Mühle gewesen! Das Herumwirbeln, bis einem schwindlig werden kann, nennen sie ’ne Mühle! — Und außerdem verdient er doch ordentlich —,“ sagte Frau Krichelmann und fuhr brutal fort: „Sonst, wenn es Ihnen nicht mehr paßt, lassen Sie ihn doch einfach laufen! Sie finden doch alle Tage ’n andern! Überhaupt, Fräulein Fritzi, ’n Ringkämpfer ... Nein, ich weiß nicht!“

Sie wiegte den Kopf mit dem graublonden Scheitel hin und her. Fritzi erwiderte:

„Grade das finde ich aber schön! Er hat doch zuerst durchaus nicht gewollt, aber ich habe ihm immer zugeredet! Nein, das ist zu hübsch, Athlet! Und so interessant! Und er verdient wirklich sehr schön! — Außerdem bin ich ihm doch auch gut,“ fügte sie hinzu.

Sie plauderten noch eine Weile. Die Chansonette erzählte, daß mehrere Ringer von der Konkurrenz ihr den Hof machten: Casimir Zabolotny, der dicke Pole, der Provençale Raymond Poing de Fer, schließlich Aloys Binder, der Münchener...

„Na, welcher ist es denn davon?“ erkundigte sich die Hausfrau, welche die Athleten schon mehrmals im Theater gesehen hatte, teilnehmend, „der Pole? nein? Also der stramme Franzose! Auch nicht? — Was, grade den frechen Bayer mit dem spitzen Kinn mögen Sie leiden? — Fräulein Fritzi, der könnte mir nicht gefallen! An dem werden Sie nicht viel Gutes erleben! Die Augen von dem Kerl... Nein, der hat keinen guten Blick! Da guckt der Herr Freidank aber ganz anders!“ —

„Da haben Sie recht,“ sagte die Chansonette und fügte leichtfertig hinzu: „Gott, ich habe ihn ja auch am allerliebsten —! Aber es ist doch nichts dabei, wenn man sich auch mal mit ’nem andern amüsiert! Zu gern, Frau Krichelmann, zu gern ginge ich mal zu Justav’n auf den Rummel! Da ringt er nämlich.“

„Wann ist das immer?“ fragte die Alte.

„Heute, am Sonntag, den ganzen Nachmittag,“ sagte Fritzi, „und an einigen andern Tagen des Abends. Glauben Sie, daß Freidank mit mir hingehen würde? Bewahre! Ich habe ihn gebeten, aber er hat es mir einfach abgeschlagen.“

„Da hat er ganz Recht,“ erwiderte die Hausfrau phlegmatisch, „aber Sie haben ebenso recht, wenn Sie einfachallein hingehen! Heut ist ja Sonntag, warum tun Sie es nicht, Fritzichen? Falls Herr Freidank kommen sollte, werde ich ihm sagen, daß Sie mit Fräulein Liane ausgegangen sind!“ —

Der Rat der alten Kupplerin ging Fritzi nicht aus dem Kopfe. Der Wunsch, die Budenringer zu sehen, brannte sich förmlich in ihre Sinne ein, während sie gemächlich Toilette machte. Der allabendliche Anblick der vierundzwanzig trefflichen Athleten genügte ihr nicht; sie wollte die unberühmten, ordinären Ringer, an denen sich das gewöhnliche Volk ergötzt, in ihrer Umgebung sehen. Diesen fühlte sie sich näher... Die großen Champions mit dem abweisenden Auftreten und den fürstlichen Einnahmen waren ihr fremd und unsympathisch. — Sie beschloß, zeitig zu speisen und Eberhard im Vorübergehen einen kurzen Besuch zu machen, um ihn ganz in Sicherheit zu wiegen. Dann wollte sie auf den Rummel gehen, von dem sie sich großes Vergnügen versprach. —

Eberhard Freidank hatte am Sonnabend die Kneipe wieder einmal aufgesucht, die er lange vernachlässigt hatte. Er gehörte einem literarischen Verein von Hochschülern an, dessen Mitglieder den schönen Künsten Interesse entgegenbrachten, ohne darum auf das ritterliche Dekorum der strengsten Vorschriften studentischer Ehre zu verzichten. Die Freunde hatten ihm über sein seltenes Erscheinen Vorwürfe gemacht und damit wieder den Zwiespalt in seiner Seele vermehrt. Er war sehr lustig gewesen, hatte viel getrunken und war erst als einer der letzten nach Hause gegangen. Als er in seinem Zimmer war, hatte er keine Lust, zu Bette zu gehen. Er wusch sich sehr ausgiebig, um sich nach der durchkneipten Nacht gründlich zu erfrischen, zog Trikot, eine Hausjoppe und Pantoffeln an und erwartete den Morgen, während er auf dem kleinen Kanapee saß unddie Zeitung las, die schon so früh ins Haus gebracht worden war. — Der sportliche Tagesbericht lobte ihn über alle Maßen, obwohl er am Sonnabend im Kampfe gegen Aloys Binder unterlegen war. Der Artikel rühmte die sympathische, kühne, germanische Draufgängerart, mit der er auf den berühmten und technisch immerhin weit überlegenen Münchner losgegangen war. Eberhard freute sich der Anerkennung nicht recht. Er fühlte den Riß in seiner Seele brennen, wie eine offene Wunde. —

Dann wurde es Morgen. Eberhard stand gähnend vom Sofa auf, ließ die frostige Morgenluft zum Fenster herein und spazierte pfeifend langsam im Zimmer herum, bis Frau Ambrosius ihm den dampfenden Kaffee brachte. Die Hausfrau schalt ihn gutmütig aus, daß sein Bett unberührt stand. Dann blieb sie noch ein wenig bei ihm stehen, unterhielt sich mit ihm und sah zu, wie dem jungen Manne, den sie fast mütterlich in ihr Herz geschlossen hatte, der Kaffee, die Butterbrötchen und die frischen Eier schmeckten. Eberhard erzählte lachend von den Brüdern Petrocchi-Cardo. Kürzlich war er zu ihnen gekommen und hatte sie beim ersten Frühstück gefunden. Zu dieser Mahlzeit hatten sie eine ganze Mandel Eier, fünfzehn Stück! über einem Spirituskocher selbst gekocht und sich, der eine sieben, der andere acht Eier in ein großes Bierseidel eingeschlagen! Er mußte noch in der Erinnerung an den Anblick dieses ungeheuren Appetits lachen.

„Die Zeitung!“ rief Therese, die eben die Post abgenommen hatte, auf dem Korridor. „Komm ruhig herein,“ sagte Frau Ambrosius. Therese kam und brachte die Athleten-Fachzeitung für Eberhard. Sie war schon in Toilette. Sie sah sehr groß und vornehm aus in dem knappen, blauen Kleide, und er hatte wieder die Empfindung: eine Diana in modernem Gewande.

„Wie groß sind Sie eigentlich, Fräulein Ambrosius?“ fragte er unvermittelt.

Therese sagte lachend: „Ach, viel zu groß für eine Frau. Ein Meter siebzig! — Kein Vergleich mit Ihnen, aber doch zu groß...“

„Auf der Bühne müßten Sie schön aussehen,“ sagte Eberhard.

„Nun hören Sie auf, sonst werde ich böse!“ rief das Fräulein. „Ich habe aber keine Zeit, ärgerlich zu werden!“

„Müssen Sie wieder zum Dienst, Fräulein?“

„Nein,“ sagte Therese, „zur Kirche.“

Eberhard sah sie an und sagte lächelnd: „Bitte, Fräulein Ambrosius, beten Sie auch für mich!“

Das Mädchen richtete ihre braunen Augen auf ihn und sagte ernsthaft: „Ja, das werde ich tun. Das werde ich ganz gewiß tun.“

Tönnies kam um die Mittagsstunde zu Eberhard. Er fand ihn, nur mit Hosen, Schuhen und Strümpfen bekleidet, beim Hanteltraining.

„Ach, bist du wieder einmal beim Turnen?“ begrüßte er ihn gutmütig spöttisch, „ich glaube, du tust überhaupt nichts anderes mehr, Freidank! Mein Himmel — dort liegt ja sogar ein Kraftmenschenjournal!“

„Ich tue auch noch anderes,“ sagte Eberhard und schüttelte dem Freunde die Hand. „Aber alle Vormittage trainiere ich eine Stunde oder eine halbe... Du weißt, ich gehe nicht mehr auf den Paukboden.“

„Ja so,“ sprach Tönnies. „Du weißt, Eberhard, daß ich für alle diese Dinge wenig übrig habe.“

„Aber du schlägst gut, Adolf!“

„Das tut nichts dazu,“ erwiderte Tönnies. „Ich pauke, wie jeder andere, aber nicht gern... Ich habe auch für den Sport wenig Interesse... Denke dir ein Radrennen,Eberhard! Du siehst einige Fahrräder rund um die Bahn fliegen, darauf junge Leute in Trikot, so weit vornübergebeugt, daß sie fast schon liegen, in einer unmöglichen, unwahrscheinlichen, unhygienischen Stellung... Und der Endeffekt? Die Sieger mit Schweiß und Staub bedeckt, die Gesichter verzerrt wie von fürchterlichen Schmerzen... Ist das ein Ziel? Ist das eine Aufgabe? — Ich möchte mir nicht die Ringkämpfer im Odeon ansehen, Freidank! Alle Welt spricht von ihnen, ganz Berlin ist voll davon.... Alle Welt ist begeistert von einfacher, gewöhnlicher Roheit! — Brutale Kraft hat aber auch der Ochse.“

„Und die Ringer im Stadium zu Athen, Adolf? Und die Gladiatoren? — Die ausgedehnte antike Sportbetätigung?“

„Geschah unter ganz anderen Voraussetzungen, Eberhard! Damals hatten die Völker ein Interesse daran, daß jeder Mann im Einzelkampfe die möglichst höchste Leistungsfähigkeit besaß. Darum pflegten die Griechen den Sport! Es kam ihnen auf Erzielung der größten Kraft, des größten persönlichen Mutes an.“

„Tout comme chez nous!“ sagte Eberhard lächelnd.

„Nein, bei uns ist es leider anders,“ antwortete der Student Tönnies. „Bei uns kommt es allein auf Rekordleistungen an, mag die eigentliche Kraft dabei zum Teufel gehen oder nicht! Ich mag gar nicht daran denken, Freidank. Ich bezweifle, daß so ein Rekordathlet, oder Rennfahrer, oder was sonst für ein Sportsmann, zu einer wirklichen, ausdauernden Arbeit fähig ist. Dazu reicht die gefeierte Kraft nicht aus!“

Er rollte zornig die runden, grauen Augen. Eberhard hatte immerfort Einwendungen machen wollen, hatte seinen Freund unterbrechen wollen; aber er brachte die Lippen nicht auseinander in der starrköpfigen Verschlossenheit des Norddeutschen, die nicht aus Furcht, sondern einfach ausTrotz manche Dinge für sich behalten muß. Als aber Tönnies noch einmal anfangen wollte, sagte er mit zerstreutem Lächeln:

„Was geht das nun dich und mich an, Tönnies? Wir sind ganz einer Meinung... Und du bist wahrhaftig auf dem besten Wege, dich über des Kaisers Bart aufzuregen!“

„Hast recht, Eberhard,“ sagte der junge Mann vergnügt, „sprechen wir von vernünftigeren Dingen... Ich kam heut eigentlich zu dir wegen... ich wollte... Nun, frei heraus! Ich habe deine filia hospitalis kennen gelernt! Auf einem Vereinsballe! Sie ist ein schönes Mädchen, Freidank, das schönste Mädchen, welches ich kenne!“

„Und dir das liebste Mädchen!“ vollendete Eberhard und fühlte, er wußte selbst nicht warum, einen Stich im Herzen.

„So schnell geht es nicht!“ rief Adolf Tönnies. „Aber denke dir, es hat sich herausgestellt, daß wir ein wenig verwandt sind... Sie ist so etwas, wie eine Cousine zweiten Grades... Soll ich, unter solchen Umständen, die Bekanntschaft wieder in Vergessenheit geraten lassen, Freidank? Ein Narr, der ich wäre!“

„Ich rate dir, den Damen jetzt deine Aufwartung zu machen,“ sagte Eberhard mißvergnügt. Er hätte am liebsten etwas ganz anderes gesagt, aber Therese ging ihn doch wirklich, wirklich nichts an...! Zumal, da sie seine Fritzi nicht leiden konnte. Sie hatte sich neulich gegen seine Freundin ausgesprochen. Nicht mit direkten Worten, o nein! Dazu war dieses „törichte Ding“ doch zu klug. Die Mißachtung hatte mehr im Ton der Stimme gelegen, in ganz flüchtigen Andeutungen, in einem und dem andern Wort, gleich als ob sie etwas Ungünstiges von Fritzi wußte und so verschwieg. Er hatte nicht gefragt, dazu war er zu stolz. Aber er hatte aus dieser Unterhaltung ein peinlichesGefühl davongetragen. Denn — eigentlich — war diese Therese Ambrosius... doch kein törichtes Ding, und ganz bestimmt nicht das Mädchen, welches ins Blaue hineinschwatzte ...

Als hätte Tönnies nur auf Eberhards Anregung gewartet, lief er davon und machte Mama Ambrosius und ihrer Tochter eine Visite. Eberhard kleidete sich, als sein Freund das Zimmer verlassen hatte, schnell an. Er war eben damit fertig, als er draußen in der hastigen Art schellen hörte, wie Fritzi bei ihren seltenen Besuchen anzuläuten pflegte. Er ging schnell hinaus, es war die Kleine; gerade trat auch Therese Ambrosius, die ebenfalls das Läuten vernommen hatte, aus ihrem Wohnzimmer und wollte öffnen. Doch als sie Fritzi bemerkte, zog sie sich sofort wieder zurück, mit beleidigender Eile, wie es Freidank schien...

Fritzi warf den Muff aufs Bett, die Handschuhe auf den Tisch, stellte sich auf den Zehenspitzen hoch, gab Eberhard mit gespitztem Mäulchen einen Kuß und fragte gleich, ob er nichts zu naschen für sie hätte. Ja, er hatte Konfekt für sie gekauft; sie sollte suchen! Sie stürzte sich auf ganz unmögliche Verstecke, zog den Kasten des Waschtisches auf, kramte in seiner Kragenschachtel und riß sogar das Stiefelschränkchen auf. „Aber Fritzi!“ sagte er, von ihrer Unvernunft entzückt, „welcher Mensch auf der ganzen Welt würde Konfekt an solche Orte stecken?“ Dann holte er aus der Manteltasche die kleine Schachtel, und Fritzi grub ihre niedlichen Zähne mit kindlicher Gier in die braune Schokolade ein.

„Gut, daß du kommst,“ sagte Eberhard, „wir hatten nichts für diesen Nachmittag verabredet.“

„Ich kam nur, um dir zu sagen, daß ich heute zu Liane Fanchon zum Kaffeeklatsch gehe! Sie hat den Geburtstag, mußt du wissen.“

Eberhard wollte ihr die Absicht ausreden. „Ich liebe nun Fräulein Fanchon durchaus nicht,“ sagte er.

„Um so besser, mein süßer Bär, sonst müßte ich eifersüchtig sein! Aber ich habe es so bestimmt versprochen,“ plauderte sie. „Es sind noch mehrere Kolleginnen aus der Variétéschule da, und kein einziger Herr! — Und du gibst mir auch Geld zu einem Geburtstagsgeschenk, bitte! bitte!“ bettelte sie in einem plötzlichen Anfall von Habgier.

Freidank seufzte. Er wußte, er würde ihr wieder einmal nachgeben. „Aber du wirst wenigstens mit mir zusammen speisen?“ fragte er verdrießlich. „Gewiß!“ sagte Fritzi. „Zieh nur gleich deinen Mantel an und komme mit! Du weißt, ich muß vorher noch ein Geschenk für Liane kaufen. Gib mir schnell Geld!“ Sie überlegte blitzschnell, daß sie einen eleganten Toilettegegenstand kaufen würde, den sie selber brauchen konnte...

„Ja, du mußt vorausgehen, Fritzi,“ sagte Freidank. „Tönnies ist bei mir und ist eben nur im Zimmer drinnen bei Frau Ambrosius. Er wird wohl bald wiederkommen, aber vielleicht machst du inzwischen deinen Einkauf. Ich kann dir doch nicht kaufen helfen, weil ich nichts davon verstehe!“ — Sie ging mit einem Kusse.

Adolf Tönnies kehrte zurück und sagte, daß Frau Ambrosius die beiden Freunde, Freidank und Tönnies, auf den Nachmittag zum Kaffee eingeladen habe. Eberhard kam diese Aufforderung sehr gelegen, da seine Freundin zu Fräulein Liane gehen wollte, und er sagte gerne zu. Dann gingen die beiden jungen Männer miteinander fort. Fritzi erwartete Eberhard auf der Straße, sie gingen zum Diner und Adolf schloß sich ihnen an.

Fritzi hatte während des Mittagsmahles kleine Gewissensbisse. Sollte sie doch nicht zu dem Budenringer gehen? Sie überlegte noch, als Eberhard erzählte, daß ermit Adolf bei Frau Ambrosius den Kaffee nehmen würde. Da schwanden Fritzis letzte Bedenken. Um so besser, dort war er gut aufgehoben! Nun war eine Entdeckung ausgeschlossen! —

Nach Tisch begleiteten die jungen Männer Fritzi bis an Fräulein Lianes Wohnung. Unterwegs mußte Fritzi noch mit ihnen einkaufen gehen. Die Freunde hatten Frau Ambrosius um Erlaubnis gebeten, den Kuchen zum Kaffee mitbringen zu dürfen. — Eberhard raunte seiner Freundin noch ein „auf Wiedersehen im Theater“ zu.

Fritzi sprang die Treppen hinauf, um Freidank zu täuschen, blieb mit pochendem Herzen auf dem Flure stehen und stieg nach etlichen Minuten leise, wie eine Katze, wieder hinunter. Dann wagte sie es, vor die Haustüre zu treten. Die Freunde waren schon um die nächste Ecke verschwunden. Sie atmete auf, ging schnell in der entgegengesetzten Richtung davon und stieg in eine Straßenbahn.

Jetzt, kurz vor dem Tage der winterlichen Sonnenwende, brach schon um die vierte Stunde die frühe Dämmerung herein. Fritzi sah aus dem Fenster und erblickte durch die angelaufenen Scheiben in der Ferne einen Stern, der aus bunten Lampen gebildet war. Sie zog die Uhr; sie war bereits eine halbe Stunde gefahren. Kein Zweifel, das war ihr Ziel, der „Volksvergnügungspark Nordstern“.

Der Eingang dieses Jahrmarktsplatzes war durch ein weitoffenes, rohes Lattentor gebildet, durch welches eine große Menschenmenge hineinströmte: Soldaten, Arbeiter mit Frau und Kindern, sogar mit Säuglingen und Kleinen, die im Wagen gefahren wurden, junge Burschen und Mädchen. Die Chansonette blickte sich entzückt um. Sie vergaß ganz, daß sie in ihrer flotten Toilette, dem eleganten, pelzbesetzten Kostüm, unter den einfachen Leuten Aufsehen erregen mußte. Ach, hier mit einem Begleiter die Jahrmarktsherrlichkeiten genießen dürfen, wie schön mußte das sein! Fritzi dachte nicht mehr daran, daß sie äußerlich eine Dame geworden war; sie fühlte sich wieder ganz als das einfache Mädchen aus dem Volke, welches an Lärm, primitiven Schaustellungen und großen Menschenansammlungen seine Freude hat. Am Eingang des Platzes war eine ganze Wagenburg der grünen Wohnwagen aufgestellt. Inmitten des Platzes wogte und drängte sich das Volk; ringsum waren die Buden und die Stätten des Vergnügens. Jede einzelne Schaustellung war von entsetzlichem Lärm begleitet; alle Gassenhauer, Trompeten, Karussellmusik, Klappern und Pfeifen schollen wüst durcheinander. Fritzi blieb mit freudeglänzenden Augen vor dem elektrischen Karussell stehen und sah dem Kreistanz der bunten, hölzernen Tiere, auf denen junge Mädchen und Burschen saßen, zu. „Ist das nicht ’n Roland seine Braut?“ hörte sie plötzlich Roditscheff in seinem harten Russendeutsch fragen, „Servus, Pummel!“ „Sind Sie allein, Fräulein?“ erkundigte sich sein vorsichtiger Begleiter. „Ja? Ist das eine Freud’! Wir sind auf gut Glück hergekommen und finden gleich ein nettes Mad’l mit Lokalkenntnis ... Sie kennen doch den Dult dahier?“

Sie hatte in der Tat durch Zufall Roditscheff und Aloys Binder getroffen. Die Ringkämpfer nahmen sie sofort in die Mitte. Sie sagte, es wäre kein Dult, sondern ein Rummel, und sie möchte würfeln gehen. Arm in Arm zogen alle drei nach der Würfelbude, würfelten und gewannen nichts. Dann setzten sie sich in ein großes Schiff, welches an einem hohen Gerüst hin und her schaukelte, und trieben darin Allotria. Dann zog ein unartikuliertes Geheul, wie von Wilden, Fritzis Aufmerksamkeit an, und die Athleten waren gleich bereit, mit ihr in die Bretterbude, welche die Aufschrift „Wildafrika“ trug, hineinzugehen. In der jammervollen, halbdunklen Bude, die über der bloßen Erde stand, war ein dickerDunst von Holzkohlen und Petroleumqualm; ein einziger magerer, frierender Neger sprang unter eintönigem Geschrei von einem Fuß auf den andern, und ein heiserer junger Bursche behauptete, daß der Wilde Kriegstänze aufführte. Fritzi war in ihrem Elemente. Sie schrie und lachte und klatschte in die Hände, während Binder und Roditscheff ihr die Wangen streichelten und sie verliebt in die Arme zwickten. Endlich war sie der Schaubuden müde und wollte nun zu den Ringkämpfern. Lachend kamen die Athleten auch diesem Wunsche der Chansonette nach.

Ein rundes Leinwandzelt bildete den Zirkus, in dem die Kraftmenschen zu sehen waren. Gartenstühle, die von Lehrlingen und Burschen eingenommen waren, schlossen die Arena ab. Das Zelt war nur durch Petroleumlampen erhellt, und statt der Ringmatte gab es nur ein wenig Lohe. Als die drei das Zelt betraten, waren die in schmutzige, geflickte Trikots gekleideten Kraftkünstler gerade damit beschäftigt, Gewichtstangen mit übermäßig großen hohlen Kugeln zu stemmen. Das dankbare Publikum, welches die Gewichte für echt hielt, jauchzte den vermeintlichen enormen Leistungen leidenschaftlich zu... Dann kam der zweite Teil der Vorführung. Gustav, Fritzis Freund, ließ die Stangen und Gewichte aus dem Wege räumen und hielt eine kleine Ansprache an das Publikum. Er war bei weitem der hübscheste, stärkste und ansehnlichste Athlet unter seinen vier Kollegen, die mit ihm in dieser primitiven Arena standen. Anstatt aber die wirklichen Namen der jungen Leute, die sämtlich dem Athletenklub „Deutsche Eiche“ angehörten, zu nennen, rief er hochklingende und berühmte Namen auf:

„Winzer, Hamburg! — Franz Sauerer, München! — Albert Sturm, Berlin! — Lassartesse, Frankreich! —“

Er kam nicht weiter; Binder und Roditscheff warenin dröhnendes Gelächter ausgebrochen, und Roditscheff schrie, stoßweise, unter Lachen:

„Ach, du freches Tier! — Der Sauerer! — Der Sturm! — Der Lassartesse! — Die müßten dich auf den Hintern setzen, hier, auf deinem Rummel! —“

Das Publikum, welches nicht wußte, um was es sich handelte und in den laut lachenden Herren nur Störenfriede sah, begann zu murren. Der Ringer Gustav aber, der mit einem Blicke die Situation übersehen hatte, war mit einem Sprunge, wie ein Tiger, außerhalb des Zuschauerringes bei den Champions und flehte sie leise und hastig an, ihn nicht zu kompromittieren. „Nein, nein! ist allright!“ versicherten Roditscheff und Binder. Gustav schleuderte einen wuterfüllten Blick auf Fritzi, raunte ihr aber zu, daß sie sofort nach dem Ringkampfe hinter dem Zelt sein sollte; er müßte ihr etwas sagen. Fritzi nickte, und schon war er wieder in seiner Arena. Das Publikum applaudierte in der Meinung, daß er die Störenfriede beruhigt hätte. Nun konnte der Ringkampf endlich anfangen!

Gustav verkündete laut die hier geltenden Kampfregeln: jeder Kampf sollte drei Minuten dauern. Seine Stimme klang rauh und heiser vor Wut. Wer anders, als Fritzi, hatte die beiden Athleten, vor denen er sich mit der von ihm geleiteten kleinen Truppe lächerlich gemacht hatte, indem er die Namenlosen mit klangvollen Namen schmückte, hierher auf den Rummel geschleppt? — Mit heiserer Stimme, Zorn und Rache im Herzen, erklärte er nach Ablauf der drei Minuten, daß der Kampf als unentschieden abgebrochen sei. Nun führten zwei der jungen Budenringer eine offenbar vorbereitete Komödie auf. Derjenige, der hier unter dem Namen des Hamburger Athleten Winzer figurierte, nannte den schwarzlockigen, jungen Menschen, dem der Name Lassartesse beigelegt wurde, einen „Schieber“ und forderteihn zu einem Match heraus. Einen Taler sollte der Einsatz von beiden Seiten betragen! Der junge Mensch, der das Deutsche übertrieben radebrechte, erklärte sich dazu bereit. In unternehmender Haltung traten sie zum Kampfe an und ehe zwei Minuten um waren, lag der echte oder scheinbare Franzose auf dem Rücken. Nach Ansicht des Publikums hatte der Deutsche einen schwerwiegenden Sieg errungen und einen Taler dazu! —

Gustav kündigte an, daß nach einer Pause von fünf Minuten die nächste Vorstellung stattfinden werde, und ging, ehe die Zuschauer das Zelt verließen, noch mit dem Teller sammeln. Roditscheff und Binder warfen zwischen die Nickelstücke jeder einen Taler, für die Gustav, innerlich fast erstickend vor Wut, noch eine Verbeugung machen mußte... Als die Champions das Zelt verließen, blickten sie sich nach ihrer kleinen Begleiterin um. Fritzi war verschwunden. „Ach, der Pummel wird schon wiederkommen!“ meinte Sergej, „wir gehen langsam weiter, Aloys.“

Fritzi war geschwind, wie eine Eidechse, hinter das Zelt geschlüpft. Auch sie ahnte nichts von der Ursache des Intermezzos. Gustav stand schon da, eine Jacke über das apfelgrüne Trikot gezogen. Die Chansonette sprang flüchtigen Fußes zu ihm hin, aber ehe sie ein Wort, eine Frage aussprechen konnte, trat Gustav mit verzerrtem Gesicht einen Schritt vor und hieb ihr rechts und links mit den großen Tatzen fürchterliche Ohrfeigen, während er ihr heiser zuflüsterte:

„Du Dirne! — du! — mußtest auch noch mit diesen Kerlen anfangen —! mir zum Possen, du Bestie! — Lasse dich nie wieder vor mir blicken, sonst schlag’ ich dich tot! —“

Sie wollte eine Erklärung haben, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen, und als er eine Sekunde von ihr abließ,lief sie heulend, wie gehetzt, davon. Gustav tat einige Schritte hinter ihr her, kehrte aber alsbald wieder um. Wenigstens hatte er seine Rache an ihr gekühlt! „Gemeines, schamloses Frauenzimmer,“ murmelte er zwischen den Zähnen und kehrte in sein Zelt zurück. —

Binder hatte Fritzi inzwischen erspäht; sie stand schluchzend abseits und hielt das Taschentuch vors Gesicht.

„Was hast du denn?“ fragten die Athleten.

Fritzi antwortete nichts und weinte nur noch stärker. Roditscheff, mit seiner starken, lächelnden Gutmütigkeit, zog ihr die Hände weg. Sie sahen das niedliche Mädchengesicht von Tränen des Zornes und Schmerzes überströmt und die zarten Wangen geschwollen und brennend gerötet. Beide wußten sofort, was geschehen war und ahnten den Zusammenhang. „Na, Mäderl —!“ tröstete Aloys, „mach’ dir nichts aus dem frechen Kerl und höre auf zu weinen... Wenn ich ihn wieder treffe, spreche ich noch ein Wörtchen mit ihm; dann kann er sich die Ecke aussuchen, in die er fliegen will —! komm her, mein Kätzchen, sei wieder lustig! wir lassen uns zusammen photographieren! —“

Langsam beruhigte sie sich. Alle drei spazierten nach der Bude des Momentphotographen. Vorher machten sie an einer Würstelbude Station, und während sie mit Appetit mehrere Paar Würstchen verzehrte, fand die kleine, eitle Person noch Zeit, ein Pudernecessaire herauszuziehen und das Gesichtchen weiß zu pudern. Noch ein Strich mit dem roten Taschenstift über die zitternden Lippen; nun trug ihr Antlitz fast keine Spuren der Ohrfeigen und der hastig geweinten Tränen mehr. Sie lächelte schon wieder, als sie die Photographenbude betraten.

Sie stellten sich nebeneinander auf, Fritzi in der Mitte. Während der Photograph seinen Apparat einstellte, griff Aloys Binder der Chansonette von hinten um die Taille,suchte ihren Busen mit der Hand... In diesem Augenblicke flammte das Blitzlicht des Photographen auf. — —

Es war für die Athleten Zeit geworden, sich zur Vorstellung in die Stadt zu begeben. Sie fuhren im geschlossenen Wagen, eng aneinandergedrängt. Schwül hing die Glut der Sinnlichkeit zwischen dem Athleten und dem jungen, lebensgierigen Weibe. Fritzi saß auf Binders Schoß. Er hatte ihr den Kopf mit dem zierlichen Pelzbarett weit hintenübergebeugt und drückte wilde Küsse auf ihren schmachtend geöffneten Mund. Fritzi hatte eine seltsame Empfindung, als ob sie in ein weiches, lauwarmes Meer hinabgleite. Immer tiefer, immer tiefer.... Jetzt gab es schon gar keinen Widerstand mehr...

Roditscheff pfiff leise die melancholische Melodie eines russischen Volksliedes durch die Zähne. Er hatte den Kopf von dem Paare abgewendet und betrachtete beim wechselnden Scheine der am Wagenfenster vorüberfliegenden Straßenlaternen nachdenklich das verräterische photographische Momentbild.

Ende Kapitel VII


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