XI.

XI.

Als Eberhard der Kraft untreu wurde und sich dem Geiste zuwendete, war er auf einige Monate hinaus vor quälenden Nahrungssorgen geschützt. Während der letzten drei Wochen der Konkurrenz, seit Beginn der Entscheidungskämpfe, hatte er täglich fünfzig Mark verdient, seine einfache Lebensweise aber nicht geändert, so daß er an siebenhundert Mark Ersparnisse besaß.

Als Thereses Bräutigam hatte er von Mama Ambrosius fortziehen müssen und nicht gar zu weit ein neues Logis gefunden. Nun gehörten seine Tage, wie vordem, der Arbeit und der Liebe. Die sechs Wochen voll von Triumphen, Erfahrungen und Leidenschaften lagen hinter ihm wie ein Traum. Er wollte auch nicht mehr denken an den Traum. Jedesmal, wenn sein Blick auf seine Hanteln traf, oder auf ein Stück seiner Bühnenkleidung, oder auf ein Bild, das ihn im Dreß darstellte, furchte sich seine Stirne und er hatte ein leise schmerzendes, bitteres Gefühl, als ob er einem guten Engel aus dem Wege gegangen sei. Wenn aber Therese ihm zur Seite war, ihre Augen ihn klug und freundlich ansahen und ihr Mund gescheit und lieblich plauderte, zerstob der kleine Schmerz.

Er schrieb ein Drama, und er stürzte sich mit temperamentvollem Eifer auf die Arbeit, als gelte es, das Werk in der allerkürzesten Zeit zu schaffen. Nach einigen Tagen besann er sich, daß sein Werk nicht vor dem Ende desSommers aufgeführt werden könnte. Nun teilte er die Arbeit ein, schrieb ruhig und planmäßig. Tagelang arbeitete er in Bibliotheken, um seinem Werke das richtige Kolorit und die lebendigen Züge des Zeitalters geben zu können.

War seine Kraft gewachsen? Hatte die Liebe ihn umgewandelt, daß alles, was er schrieb, unter seinen schaffenden Händen feste Formen annahm?

„Besinnen Sie sich auf Ihre Kraft!“ hatte ihm — es war ungefähr ein Jahr her! — ein erfahrener Theaterdirektor gesagt.

In der Zeit, die zwischen damals und heute lag, hatte der ungelenke und zähe Niedersachse sich auf seine ganze Kraft besonnen. Jetzt wurden seine Gedanken präzis und logisch, jetzt rundeten sich seine Sätze zu Fülle und Wohlklang, jetzt blühten kräftige, energische Bilder unter den Händen auf, die starke Gegner mit kühnen Griffen erfaßt und niedergeschleudert hatten.

Ein Bild vor allem war ihm im Gedächtnisse geblieben und hatte seine Gedanken also durchdrungen, daß er es auch in seine Arbeit verwob: das Bild jener Mordnacht bei Aloys Binder. Jetzt, da er still am Tische saß, um sein Werk zu schaffen, trat der Anblick des Ermordeten greifbar aus den Schatten der Erinnerung hervor:

Der Mann, der tot und starr auf dem buhlerischen Lager ruhte und das Mädchen, welches mit schwarzen, entsetzten Augen auf die Leiche stierte — und sich mit gedankenloser Lebenslust schon auf der Treppe wieder dem Lebendigen zuwendete, während der Tote oben allein in dem verschlossenen Zimmer schlief.

Und es stiegen Personen und Ereignisse aus der stolzen Zeit der italienischen Renaissance vor seinem Geiste auf. Welche Zeit war ein einziges Loblied auf die Kraft, wie diese? Wann hatten die Starken so selbstherrlich Gebrauchvon ihrer Kraft gemacht, wie die Mächtigen zur Zeit der Borgia und der Colonna?

Die Kraft wollte er verherrlichen, die Starken wollte er preisen, die über Leichen in ihre Freudengemächer eingehen! — Mit Therese besprach er Szene für Szene seines Stückes. Er arbeitete mit Fleiß und Inbrunst. Und als er dieses Mal das letzte Wort schrieb und nach ordentlicher Gewohnheit einen geraden Schlußstrich darunter zog, tat er es ohne Fieber und ohne Wildheit in dem ruhigen Bewußtsein, etwas Tüchtiges vollendet zu haben. —

Die Arbeit hatte ihm kaum Zeit gelassen, an die Unterbringung seines Stückes zu denken. Jetzt, da das Manuskript vollendet vor ihm lag, befiel ihn Schrecken über seine Sorglosigkeit, und sein Mut erschlaffte jählings. Wie? sollte auch dieses Werk nur geschrieben sein, um nach jedem Schritte vorwärts denselben Schritt nach rückwärts zu tun?

Therese war wieder die heitere, ermutigende Trösterin. Des Abends holte er sie vom Bureau ab und beide gingen Arm in Arm nach Hause, wo Mama Ambrosius sie mit dem bürgerlich bestellten Abendbrottische erwartete. Oft fühlte er sich müde, während ihre Augen trotz dem anstrengenden Dienst des ganzen Tages glänzten. Mit ihrer Fröhlichkeit, mit ihrer immer gleich bleibenden Zuversicht gewann sie langsam ein Übergewicht über den Mann, welches er lächelnd anerkannte.

„Ich bitte dich, Lieber,“ sagte sie, „geh selbst zu dem Theaterdirektor, der dich damals ermutigt hat, ihm später einmal ein neues Stück zu bringen.“

„Therese! Ich habe wenig Hoffnung. Anerkannte Größen arbeiten für seine Bühne. Wie käme er dazu, einen Neuen, Unbekannten einzuführen?“

„Hast du nicht auch bei Immermann Glück gehabt? Warst du als Athlet nicht ebenso unbekannt? Habe Mut, Eberhard! Wer soll denn das Glück zwingen, wenn es den Starken nicht gelingt!“

Therese behielt Recht mit ihrer hoffnungsvollen Zuversicht, daß dem Starken das Glück hold ist. Mit unruhigem Herzen kam Eberhard in die Theaterkanzlei und bat, zu dem Direktor vorgelassen zu werden.

„In welcher Angelegenheit?“ fragte der Sekretär gleichgültig und mechanisch.

„Um mein neues Drama vorzulegen,“ erwiderte der junge Mann und sagte seinen Namen.

Kurz darauf erschien der Sekretär unter den höflichsten Verbeugungen wieder und bat Eberhard, ihm zu dem Bühnenleiter zu folgen. —

Ein schlimmer Winter lag hinter dem Direktor. Mißerfolge über Mißerfolge hatte es gegeben. Stücke, an deren Erfolg der erfahrene Theatermann kaum leise gezweifelt hatte, hatten dem Publikum mißfallen. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen hatte er dann mit dem lauten Getön einer geschickten Reklame das Lustspiel eines gefeierten Dramatikers angekündigt. Dieser Dichter war einer von denen, deren Ruhm so anerkannt und festbegründet scheint, daß ein völliges Versagen ihrer Werke niemandem glaublich oder möglich vorkommt. — Kaum war die Ankündigung erlassen, so setzte eine eigentümliche, feindliche Bewegung gegen den Dichter ein. Ruhm ist wie die Wogen des Meeres, unberechenbar, neidisch, tückisch und treulos. Das treulose Meer seines Ruhmes wurde gegen den Dichter von Grund aus aufgewühlt. Jeder, der konnte, half mit, und am Abende der ersten Aufführung war die Atmosphäre im Theater wie vor einer Explosion. Noch eher, als man es hatte befürchten können, brach dann auch die große Woge der Feindschaftund Mißgunst über des Dichters Werk herein. Es wurde ein Theaterskandal, wie die Mauern des Theaters ihn noch nicht gesehen hatten.

Nach diesen Erlebnissen hatte Direktor Holderbaum Lust, einen homo novus zu entdecken, der ohne Feinde und ohne Freunde als ein Freier auf den Schlachtplan des Geistes trat, und es war ihm nicht unangenehm, als in dieser Vormittagsstunde der junge Freidank sich bei ihm melden ließ. — O, vielleicht brachte er es schon mit, das hoffnungsvolle Werk, welches die kommende Saison mit einem glücklichen Erfolge einleiten und einweihen sollte!

Nie hätte Eberhard auf einen so freundlichen Empfang gehofft, wie er ihn bei dem Leiter der berühmten Schaubühne fand.

„Also: was bringen Sie mir heute? Ein Trauerspiel? Ein Lustspiel?“

„Ein Schauspiel,“ sagte Eberhard mit erheucheltem Mute.

„Hoffentlich kein ultramodernes Stück, wie das letzte?“

„Gar nicht modern! — Aus der Renaissancezeit.“

„Renaissance? — Hm, vielleicht ganz gut.... Ist nicht zu oft da... Gibt eine prächtige Dekoration...,“ erwiderte der kleine, energische Bühnenmann, der in Gedanken blitzgeschwind die ganze Ausstattung des Dramas entwarf.

„Packen Sie aus, packen Sie aus, junger Dichter,“ fuhr der Direktor lebhaft fort, „geben Sie mir das Manuskript... setzen Sie sich mir gegenüber... und geben Sie mir so kurz wie möglich den Inhalt der einzelnen Akte an. Ich habe nur wenig Zeit... muß zur Probe. — Aber Ihr Stück interessiert mich... also sprechen Sie....“

Er warf einen Haufen Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtische lagen, beiseite, legte das Manuskript an ihreStelle und begann darin zu blättern, während er das scharfgeschnittene, geistvolle Gesicht dem Autor zuwendete, der den Inhalt der drei Akte zu erzählen begann. —

Astorre Braglione, der Sohn und Erbe der herrschenden Familie in Perugia, ist ein gütiger, nachdenklicher und schwacher Mensch. Wird er dereinst der rechte Mann sein, um das Erbe der Väter gegen alle Gewalt und List der feindlichen Nachbarn zu schützen? Ach, daß er dem jungen Filippo gliche, dem unehelichen Kinde seiner schönen, lasterhaften, herrschsüchtigen Tante Atalanta Braglione, von der Filippo die unbändige Stärke, die verführerische Schönheit und die kraftvolle Schändlichkeit geerbt hat! Nicht einmal gegen seinen Vetter Carlo Braglione kommt er auf, dem Bosheit und Scheelsucht aus den tiefliegenden, schwarzen Augen funkeln. Astorre kommt noch zu Lebzeiten seines greisen Vaters zur Herrschaft; die Feindseligkeiten Filippos, des Bastards, und Carlos, verbittern sein Leben, bis die eine, die ewige Liebe in sein Herz einzieht und mit ihrem Scheine alle Schatten vertreibt. Die schöne Lilie Roms, Lavinia Colonna, ist Astorres Braut geworden. Nun mögen Filippo und Carlo an sich reißen, wonach ihr böses Herz steht! Was tut ihm das, wenn erst die edle römische Lilie mit ihrer Pracht und ihrem Duft an seinem Herzen ruht. — Der alte Fürst Colonna gibt den Verlobten zu Ehren ein prunkvolles Maskenfest; Lavinia, nur mit kostbaren, flimmernden, rosenfarbenen Schleiern und mit dem wallenden Mantel ihres Haares geschmückt, lehnt als Venus an einer Marmorsäule. Da plötzlich — was erbleicht Lavinia, die herrliche Jungfrau? Warum greift sie mit der Hand zum Herzen, warum werden ihre Lippen blaß wie Narzissen? Filippo hat in der Tracht des Orpheus den Festsaal betreten. Sein Haupt ragt über die ganze Schar der Gäste hinaus, obwohl zahlreiche stattliche Edelleute sich auf dem glatten Fußboden bewegen. SeinArm hält die bekränzte Leier, Rosen krönen sein Haar. Er ist so groß, stark und brutal, seine Augen blicken so hart ... Seine Blicke treffen gerade in Lavinias Augen, werden weich und flammen dann begehrlich auf... Ihr ist, als ob ihre Seele versinkt in den Flammen dieser Augen.... Aber Astorre, der beglückte Bräutigam, tritt galant zu seiner Verlobten hin und legt die Hand auf ihren Arm. Lavinia zuckt zusammen, wie unter der Berührung eines eklen Gewürms, doch sie besinnt sich: immerhin — ihr Bräutigam ist der Herr von Perugia. Jener — er ist ihr ein Fremder; — sie wird ihn vielleicht niemals wiedersehen....

Und dann ist die Hochzeit in Perugia. Die Kavaliere und die edlen Damen, sie alle schwelgen in Lust und Übermut. Im schönsten Saale des Palastes Broglione ist dem jungen Paare das Hochzeitsbett bereitet, dessen hohes, geschnitztes Gestell ganz mit purem Golde überzogen ist. Die Neuvermählten werden unter Fackelglanz und Rosenregen ins Brautgemach geführt. Wer sieht den Stahl des Todes, der unter den Rosen der Liebe blitzt?

Filippo hat seinen Hass und Neid nicht länger bändigen können. Es wird ihm nicht gelingen, in das hochzeitliche Gemach Astorres und Lavinias allein einzudringen. Aber wozu fremde Meuchelmörder dingen? Feinde genug hat Astorre in der eignen Familie: einer der ärgsten ist Carlo Braglione, der immer zurückgesetzte, ärmere Vetter des Bräutigams. Carlo zieht noch einen Todfeind der Braglione, Herrn Girolamo della Penna, in die Verschwörung. In der Nacht, als Amor das hochzeitliche Zimmer mit seinen höchsten Fröhlichkeiten erfüllt, dringen die drei ins Gemach, nachdem sie die Wächter, erprobte Diener der Braglione, niedergemetzelt haben. Astorre springt vom Lager auf, er sucht sein Schwert; da durchbohrt ihn von vorn der Damascener Dolch des furchtbaren Filippo, während Carloihm seinen Degen durch den Rücken rennt. Ein gewaltiges Getümmel entsteht; der greise Vater und der junge Bruder Astorres kommen zu Hilfe: Carlo und Girolamo schlachten beide in wilder Mordlust, sie schlachten und durchbohren, was vor ihre Klinge kommt. Filippo allein hat an dem einen Opfer genug. Heulend, wie ein wildes Tier, wirft er sich über Astorre, der im letzten Kampfe röchelt, reißt ihm die Brust auf, zerrt das blutende Herz hervor und beißt mit seinen Tigerzähnen in das blutende Herz. — Da ist seine Gier gestillt, nun kann er an die lebendige, blühende Beute denken. Es wird noch einen heißen Kampf kosten, Lavinia Braglione zu erobern! — Und das Unfaßliche geschieht, selbst dem Mörder unerwartet: Lavinia stürzt freiwillig in die Arme des Starken.... Mitten in dem Hochzeitsgemach, das mit Leichen angefüllt ist, steht die Jungvermählte und reicht Filippo die geöffneten Lippen zum Kuß....

„Ich werde es mir überlegen —,“ sagte Direktor Holderbaum, innerlich freudenvoll, „ich werde es mir überlegen ... Immerhin eine Idee darin. Der Triumph des Starken...“

„Über die Schwachen, ja,“ sagte Eberhard.

„Von Ihrem Stück abgesehen: glauben Sie, daß die Starken ein moralisches Recht haben, die Schwächern einfach niederzutreten?“

„Sie tun es doch....,“ erwiderte der junge Mann nachdenklich. „Wer fragt den Sieger nach Recht oder Unrecht?“

„Und unsere Religion, Herr Freidank, welche die Hilflosen schützt? Und unsere moderne Staatskunst?“

„Sie haben uns beide keinen Gefallen damit getan, Herr Holderbaum, daß sie die Minderwertigen protegieren. Diese Schwachen nehmen den Starken Platz weg.... Licht und Luft weg....“

— — Zwei Tage später wurde Eberhard wieder zu dem Theaterdirektor beschieden. Der kleine Mann tat heute ganzvertraut und familiär und zog Eberhard in sein Privatkabinett. Bei Wein und Zigarren plauderte er:

„Hören Sie an, mein lieber junger Dichter, was ich Ihnen sage! Ihr Stück ist gut. Es ist sogar sehr gut. Aber .... Nun gut, kommen wir zur Sache! — Ich selbst habe eine Idee! Eine brillante Idee! Für ein Theaterstück. Es soll, gewissermaßen, ein Sensationsstück werden. Ein Kassenstück! Die Kunst ist schön und erhaben, gewiß. Ich lebe nur für die Kunst! — — Aber was nutzt die beste Kunst, wenn mir mein Kassierer nicht bestätigen kann: Es ist eine gute, es ist eine einträgliche Kunst —!“

Auf solchen Umwegen kam er endlich zu dem Kern seiner Rede. Er hatte eine Lustspielidee. Es war eine banale, dabei aber tolle und verwickelte Handlung. Er brannte darauf, dieses Stück auf seine Bühne zu bringen. Dabei hatte er nicht den mindesten Autoren-Ehrgeiz, o nein! Er hätte das Stück nicht selbst schreiben können. Er wollte auch gar nicht als Verfasser gelten. Freidank sollte — o gewiß, das könnte er! — seiner Idee Worte und Ausdruck leihen. Schließlich rückte er mit seinem Vorschlage heraus:

Freidanks Renaissance-Schauspiel sollte zu Beginn der kommenden Saison aufgeführt werden. Als erste Winterneuheit, jawohl! — Er steckte nicht im Publikum und in der Kritik drin. Aber so viel glaubte er als erfahrener Bühnenmann heute schon sagen zu können? es würde ein literarischer Erfolg werden. Dadurch wären eine Reihe von Aufführungen gesichert.... Als nächste Neuheit sollte dann das Lustspiel nach Holderbaums Idee folgen. Wenn Freidank einverstanden wäre, dann wäre sein Drama angenommen. Jawohl, angenommen!

Freidank war einverstanden. Ach, es war ja alles so viel mehr Glück, als er hatte hoffen dürfen! — Als er auf die Straße hinaustrat, kamen ihm alle Menschen geputztvor. Ein kleines, armes Mädchen, welches ihm Blumen anbot, schien eine lächelnde, verschwenderische Fee zu sein. War keiner da, mit dem man reden konnte? Keiner, in dessen Gesellschaft man sein Glück feiern konnte? Freidank sah unwillkürlich die Straße entlang. Dort unten — oder täuschten ihn seine Augen? — dort kam Hermann Thyssen, die Hände in den Taschen, die schönen Augen über alle Menschen, die den großen, auffälligen Mann neugierig anstarrten, hinweg in die helle, sonnenscheindurchleuchtete Frühlingsluft gerichtet. Thyssen wollte ihn indessen vielleicht nicht mehr kennen, nachdem er seiner Laufbahn als Ringkämpfer so schnell den Rücken gekehrt hatte, ohne viele Gründe anzugeben? — Aber er irrte sich. Thyssen erblickte ihn einen Moment später. Seine dunkeln, hochmütigen Augen leuchteten flüchtig auf, als er lächelnd den „Dritten“ seiner großen Dezemberkonkurrenz begrüßte:

„Tag, Roland! Ausreißer müßt’ ich eigentlich sagen. Du bist also doch lieber bei deinem jeistigen Jeschäft jeblieben? Schade um dich. Du bist jute Klasse... wärst erste Klasse jeworden...“

Nachdenklich sah er Eberhard an.

„Na, du bist wohl jetzt unter den Berliner Amateurringern Hecht im Karpfenteich?“ fragte Thyssen.

„Auch das nicht,“ sagte Eberhard betrübt. Es war plötzlich eine Freude in ihm klirrend zersprungen, wie eine Geigensaite. Beim Anblick des stolzen Champions, der die kleinen Menschen auf der Straße überragte, wie die Tanne das Unterholz, schien ihm mit einem Male, daß er einen schlechten Tausch gemacht hätte. Die große Freude, die ihn kurz vorher erfüllt hatte, war seltsam matt geworden...

„Wollen ’mal ’n lütten Frühschoppen machen, allright?“ schlug Thyssen vor. „Hast doch Zeit, Roland?“

Er hatte Zeit. In der farbigen Dämmerung der altenWeinstube saßen sie bei den Römern und redeten über leichte und ernste Dinge.

„Von Nizza komm’ ich. Gott, da unten haben sie einen Enthusiasmus — —! Obwohl es den Französ’chen nicht gerade gefiel, daß ich alle ihre Landsleute aufs Kreuz legte, waren sie doch... Nein, das ist unbeschreiblich! Das muß man gesehen haben! — Hernach ist man dann doch froh, wenn man zu Hause in Deutschland gerade in den herben Frühling hineinkommt.“

„Und wohin reist du jetzt, Thyssen?“

„Nach Kölle —!“ sagte der Champion lächelnd im wohlklingenden, schleppenden Dialekt seiner Heimat. „Da unten bin ich doch am liebsten. Ich hab’ überall gerungen, nicht wahr. In London, in Paris — in Rußland — in Persien — in der Türkei — nun überall... Ich hab’ über hundert Meisterschaften. Aber in Köln — —! Wenn ich nach Kölle komm’, sagt jeder köll’sche Jung’: verdammt, dat Hermännche ist wieder da — —!“

Er schlug lachend und ein wenig verlegen mit der starken Faust auf den Tisch. Gewiß, er war stolz auf seine Kraft und seine Volkstümlichkeit. Aber wie liebenswürdig war er in diesem natürlichen Selbstbewußtsein! Wahrlich, er hatte Grund, stolz auf sich zu halten!

„Und du?“ fragte Thyssen jetzt, die Augen fest auf Freidank gerichtet. „Examen gemacht? — Schulmeister in spe?“

„Ich hab’ ein Stück geschrieben,“ sagte Freidank.

„Ach?! Wann wird es denn aufgeführt?“

„Ende August, hoff’ ich.“

„Laß’ mal sehen,“ überlegte Thyssen. „Ich werde vielleicht zu dieser Zeit hier sein. Im Juli bin ich in Ostende... im Dezember in Wien... Ich werde also bei der Premiere klatschen helfen können...“

„Wenn mein Stück nicht durchfällt!“ scherzte Eberhard.

„Das wär’ auch kein besond’res Malheur,“ sagte der Champion, der schon viel Glück und Leid hatte aufblühen und vergehen sehen, freundlich. Er, der so stark und ruhig war, nahm die Widerwärtigkeiten des Lebens, die zu jeder Zeit auch an ihn herantraten, nicht recht ernst. Mit seinen starken Händen und seinem ausgeglichenen Charakter schob er Menschen und Schicksale, die sich ihm hindernd in den Weg stellten, mit ruhiger Rücksichtslosigkeit beiseite. „Kein besond’res Malheur,“ wiederholte er gleichmütig. „Dann wirst du einfach wieder Ringkämpfer. Ich kenn’ kein Malheur außer Krankheit — — Alles andre läßt sich schieben... entweder, oder...“

Da war er, der harte, hochmütige Zug in dem schönen Gesichte, der Hermann Thyssen manchen Feind gemacht hatte. Jetzt wußte Freidank, weshalb man ihn anfeindete. Die Schwachen, die dem Schicksal und seinen Launen hilflos unterworfen waren, sie beneideten den Starken, der ein Meister nicht nur im Ringkampf war, sondern auch ein Herr und Meister im Leben...

„Ich wette,“ sagte Thyssen jetzt mit klugem Lächeln, „ich wette, daß ein Mädchen dich damals festgehalten hat?“

„Ein Mädchen,“ sprach der junge Mann.

„Sie sind schlimm, die Mädchen! Man muß sich vor ihnen in Acht nehmen,“ scherzte Thyssen. „Fräulein Fritzi l’Alouette zum Beispiel — mein Gott, schlank, niedlich und kindlich war siedoch! — hab’ ich leider schon in Amsterdam nach vierzehn Tagen verloren. Sie bevorzugte meinen schwarzen Diener und Masseur gar zu auffällig... Vierzehn Tage treu zu bleiben ist eine harte Aufgabe für ein hübsches Mädchen!“ fügte er mit heiterem Spott hinzu.

Auch nachdem Eberhard sich von Thyssen getrennt hatte, hielt die Freude über die Begegnung an. Eine merkwürdige Heiterkeit, die sein Lebensgefühl aufs Angenehmste erhöhte, verklärte ihm heute selbst gleichgültige Handlungen. Am abend, als er Therese abholte, war ihm dann mit einem Male, als ob er dem Mädchen durch diese Freudigkeit ein kleines Unrecht zugefügt hätte. Da versuchte er sich selbst glauben zu machen, daß die Annahme seines Schauspiels ihm die glückliche Stimmung gegeben habe und stellte durch diesen bescheidenen Selbstbetrug sein Gleichgewicht wieder her.

An diesem Abende überschüttete er Theresen mit dem Reichtume seines Gefühls und trug diesen Überschwang auch in die nächsten Monate hinein. Er behandelte nun seine Braut mit um so größerer Güte, als er sich selbst im stillen fortwährend Vorwürfe machte. Der plötzliche Übergang aus einer Periode lebhafter Denk-Arbeit in eine fast beschäftigungslose Zeit hatte seinen Geist erregt und beunruhigt. Dazu kam, daß er nach der Begegnung mit Thyssen an seine Ringkämpferlaufbahn mit dem süßen und bitteren Schmerz einer unglücklichen Liebe zu denken begann. Der süße und bittere Schmerz steigerte sich nicht bis zu ernsten Leiden, nicht einmal bis zur Sehnsucht; aber er war immerfort da und brannte, als wäre seine Haut mit glühendem Eisen in Berührung gekommen. Um zu vergessen, übernahm er ab und zu kleine Arbeiten, die eine Spanne Zeit ausfüllten und ihm ein wenig Geld einbrachten.

Seine Liebe zu Therese gewann durch den Aufschwung seiner Gefühle an Inbrunst und Tiefe. Die zeitweilige Trennung und die keuschen abendlichen Zusammenkünfte unter den Augen der Mutter, bei denen niemals mehr etwas geschah, was den Brautleuten nicht erlaubt war, hielten seine Sehnsucht beständig wach. Dennoch trug er aus diesen Wochen keinen Gewinn davon, da eine Spannung, die niemals nachließ, ihn quälte und in Ruhelosigkeit versetzte.

Es war für ihn eine Erlösung aus müder, unfruchtbarer Zeit, als die Proben zu seinem Schauspiel auf der Höhe des Sommers einsetzten. Direktor Holderbaum hatte die Proben frühzeitig begonnen, um durch einen moralischen Druck zu erreichen, was seinem Drängen bisher nicht gelungen war, nämlich die Ausarbeitung seiner eigenen Lustspiel-Idee. In der Tat ging Eberhard sofort an dieses Werk mit einem gewissen Ungestüm, welches so kräftig war, daß es alle seine Unlust und seine Bedenken gegen die Arbeit überwand. In kaum drei Wochen vollendete er das Stück. In diesen drei Wochen war es seinem Herzen nicht um einen Schritt näher gekommen, wiewohl es in seinen Gedanken fortwährend gelebt hatte. Herr Holderbaum war von dem Gewande, welches Freidank seinem Geisteskindlein gegeben hatte, so entzückt, daß er nichts lieber getan hätte, als das Lustspiel zuerst aufzuführen und das Schauspiel später folgen zu lassen. Aber diesmal bestand Freidank starrköpfig auf seinem Kontrakte. Nun begann Holderbaum, an einzelnen Szenen des Dramas zu mäkeln. Wie? Filippo reißt dem Astorre das Herz aus der Brust und zerfleischt es mit seinen Zähnen? Und Lippen, die rot vom Herzensblut des jungen Gatten sind, soll Lavinia küssen? Welchem Publikum könne man so entsetzliche, bluttriefende Szenen zumuten?

Eberhard bestand weder auf seiner wörtlichen Fassung, noch auf der historischen Treue. Er gab nach, wo nachzugeben war, er ließ streichen, was gestrichen werden sollte. Aber in der Hauptsache blieb er zäh. Sein Schauspiel sollte die Reihe der Neuheiten einleiten. Dann konnte man das Lustspiel aufführen... oder was man sonst wollte...

Er hatte früher nie gedacht, daß die Aufführung eines Schauspieles so viele unerfreuliche Stunden, so kleinlicheVerdrießlichkeiten und langwierige Verhandlungen mit sich bringt. Oft kam er verärgert von der Probe nach Hause, und eines Abends erklärte er Theresen leidenschaftlich, daß er nun vor der öffentlichen Aufführung keinen Fuß mehr in das Theater setzen werde. Irgend jemand hatte irgend etwas von seiner kurzen Athletenkarriere aufgeschnappt und kolportiert. Nun gab es hier und dort törichte Anspielungen und hinterhältige Bemerkungen, die dem ehrlichen, schweigsamen Menschen das Blut in den Kopf trieben. Mit der Feder, ja, und mit der Faust wollte er jeden Halunken bedienen, der ihm übel wollte. Aber wer kam gegen die verschleierten Stachelreden dieser Zwergenzunft auf?

Therese lachte über seinen Zorn:

„Ist das möglich, daß mein lieber großer Roland so viel Ärger aufbringt, so lang und stark wie er ist? Du hast keine Ursache, beleidigt zu sein, Eberhard! Wenn dich jemand verletzen will, so höre nicht darauf... Oder noch besser: bleibe den Verdrießlichkeiten fern. Tu’ irgend etwas anderes...“

Er sah über sie hin und sagte, wie beiläufig:

„Wäre ich Ringkämpfer geblieben, auch du wärest besser d’ran...“

Sie blickte ihm ernsthaft ins Gesicht, welches seit einigen Wochen oft müde und verdrießlich aussah. Ein Gedanke kam ihr:

„Was hindert dich, Eberhard, zu deinem Vergnügen zu trainieren? du hast Zeit genug. Es wird dir gut tun. Trainiere bei André Leroux, Eberhard!“ —

André Leroux war stolz, daß Roland, der sich damals mit einem Schlage in den Sportkreisen einen Namen gemacht hatte, wieder zu ihm kam. Er hatte sich inzwischen mit einem jungen, vermögenden Mädchen verheiratet und konnte nun der Sportleidenschaft, die sein Herz fast ganz ausfüllte, in größerem Maßstabe huldigen. Er hatte sich den sehnlichen Wunsch erfüllt, die Trainierhalle auf längere Zeit zu pachten und mit modernen hygienischen Einrichtungen nach englischem Muster und eigenen Ideen auszustatten.

Mit wahrer Schöpferfreude führte er Freidank herum. Es gab jetzt in André Leroux’ Trainierhalle warme und kalte Bäder und Douchen, Feldbettstellen mit wollenen Decken und einen elektrischen Massage-Apparat. Herren und Damen konnten jetzt jede sportliche Bequemlichkeit bei ihm haben!

„Damen?“ fragte Freidank, „Artistinnen haben doch schon immer hier geübt?“

„Nee, Damens! Feine Damens! ’n janzer Damen-Ringkampfklub!“ versicherte Leroux, freudestrahlend, daß er auch das weibliche Geschlecht für den athletischen Sport zu interessieren gewußt hatte. „Meine Frau, Lina heißt sie, trainiert die jung’ Damens. Eine Freude, sach’ ick Ihn’! Eine Lust, wie die junge Meechens ringen! Ringen und stemmen besser wie die Kerls, wahrhaftig... Es ist ’ne Schande für die junge Kerls, aba et is wahr! Meine Frau is aba ooch ’n Trainer, der sich jewaschen hat! Ooch naturell... Imma liejt se in de liebe Sonne, wie ick... Na, Sie müssen ihr seh’n! Braunjebrannt is se... dajejen sehe ick weiß wie’n Eisbär aus... Se is direkt schwarz... wie ’n Neja..., wie so ’n kleena Affe... Na, ick hab’ et jut jetroffen mit se, det muß wahr sind!... Aba nu woll’n wa ma’ ranjehn, Herr Roland —!“

Der Trainer sah übrigens, als er seine Jacke auszog und sich im ausgeschnittenen Trikot präsentierte, durchaus nicht „weiß wie ein Eisbär“ aus, sondern seine Haut glänzte in einem tiefen, natürlichen Braun. Er brauchte seit seiner Verheiratung nicht mehr Modell zu stehen und da er seineganze Zeit auf die Pflege seines Körpers verwendete, war er noch kräftiger und elastischer geworden. Mit seiner glühenden Sportbegeisterung, seiner Munterkeit und seinen im Grunde vernünftigen Ansichten, die er drastisch und unter allerhand drolligen, sinnlosen Redensarten vortrug, war er ein idealer Trainer, der jeden, der sich ihm anvertraute, bis zur denkbar größten Höhe körperlicher und sportlicher Entwickelung führte.

Er ging mit Freidank äußerst scharf ins Training und erreichte damit, daß der junge Mann sich schon nach wenigen Tagen wieder frisch und lebhaft zu fühlen begann. Die Verdrießlichkeiten der jüngsten Zeit traten in den Hintergrund; er sprach nicht mehr davon und lachte sorglos, wenn Therese das Gespräch auf die nahe Aufführung brachte.

In dem Maße, in welchem der junge Mann sich der wiedergewonnenen Lebenslust überließ, wurde indessen Therese nachdenklicher und wohl auch sorgenvoller. Sie wußte, daß die nächste und auch die fernere Zukunft von der Aufnahme des Schauspieles abhing. Diese Verschiedenheit ihrer Sorgen und ihrer Auffassung von dem, was eine Entscheidung und Wendung in ihrem Leben bezeichnen sollte, führte eine unausgesprochene, stille und bittere Entfremdung zwischen den Brautleuten herbei, die Theresen tagsüber mitten unter dem Lärm und Klappern ihres Telephondienstes schmerzhaft quälte und ihren Nächten den Schlummer nahm und dafür die einsamen, heimlichen Tränen gab.

Ende Kapitel XI


Back to IndexNext