XIII.

XIII.

Sie lebten gemeinsam in jenem morgenfrischen Glück, das allein denen zuteil wird, die zum ersten Male in aller Reinheit und ohne Zagen den Kelch der Liebe an unentweihte Lippen führen. Der Mutter sandte Therese jeden Monat eine Summe Geldes, welche der gleichkam, die sie vorher im Amte verdient hatte. Sie schrieb auch Briefe. Wenn sie nun nichts von dem, was sie sandte, zurück erhielt, so bekam sie von der Mutter auch keine Antwort. Zu tief waren die mütterlichen Begriffe von dem, was man seinem Stande schuldig war, verletzt worden, als daß Frau Ambrosius in kurzer Zeit über die Flucht ihrer Tochter hinweggekommen wäre.

Die künftigen Wochen und Monate fanden Eberhard und Theresen fast immer beisammen in einer glücklichen Intimität, die sie beide noch nirgends kennen gelernt hatten. Therese ging an jedem Abend mit ihrem Geliebten in den Zirkus, in dem die Schar der Athleten ihre Kraft erprobte. Nach der Vorstellung verbrachten sie zuweilen Stunden und halbe Nächte mit den Freunden, mit denen Therese harmlos, wie eine Schwester, umging. Eine vertrauensvolle Einfalt ließ in Eberhard nicht einmal den Gedanken aufkommen, Therese von den Kollegen fernzuhalten. Ihre Gefühle waren viel zu einfach, ihre Liebe viel zu kräftig, um in Eifersucht auszuarten. Tagsüber waren sie lachend, scherzend und plaudernd beieinander, wie zärtliche und manchmal gar unvernünftige Geschwister. In der Nacht aber, wenn Eberhards Haupt auf dem blühenden Busen seiner Freundin ruhteund er durch das Nachtgewand hindurch das gleichmäßige Pochen ihres Herzens hörte, wurde seine Liebe so tief und groß, daß es ihnen beiden täglich von neuem schien, als sei dieses Heute der erste Tag ihres Lebens und der erste Tag der Schöpfung überhaupt, und als sei die ganze schöne, selige Welt nur geschaffen worden, um Eberhard und Therese zur Lust und Freude zu dienen.

Thereses Heiterkeit wurde sanfter, wandelte sich in Weichheit und Süßigkeit um. Es trat in die Reihe ihrer Empfindungen eine zarte, frische und naive Sinnlichkeit ein, die ihr ganzes Wesen durchdrang, untrennbar von der Summe ihres Daseins, doch nach einiger Zeit auch untrennbar selbst von der geringsten ihrer Gesten. Sie wußten in unschuldiger, verliebter Genügsamkeit beide nicht, daß Thereses sinnenfesselnde Schönheit einer reizend erblühten Rose Aufsehen und Bewunderung erregte.

Vier Wochen waren sie in Wien gewesen, dann einen Monat in Lemberg und einen und einen halben Monat in Warschau. Hier trennte sich Freidank von Thyssen, der auf Weihnachten in seine Heimat reiste, und trat alsbald in die Konkurrenz Gregor Kaufmanns ein, der zu Sankt Petersburg dreißig der größten Champions zum Kampfe um die Meisterschaft von Rußland vereinigt hatte. Im Laufe der Konkurrenz sollte zwischen einigen ausgewählten Ringern der Kaufmannschen Konkurrenz und einer anderen, die ein französischer Champion zusammengestellt hatte, ein Wettbewerb um das Championat von St. Petersburg ausgetragen werden.

Gregor Pawlowitsch Kaufmann selbst kam zu Roland ins Hotel, um die Gagebedingungen und die besonderen Abmachungen innerhalb der Konkurrenz mit ihm durch einen geschriebenen Kontrakt festzulegen. Er fand Eberhard und Therese am Frühstückstische, als er sehr ungeniert eintrat; Therese erhob sich alsbald in einer Verwirrung, die ihr ungemein anmutig stand; denn sie befand sich in einem lichten Morgenkleide, welches nur für den häuslichen Gebrauch bestimmt und mit seinem legeren Schnitte, der manche Reize des jungen Mädchens enthüllte, keineswegs für fremde Augen berechnet war.

„Bleiben Sie, Madame, bleiben Sie!“ rief Gregor Kaufmann in seinem harten Russendeutsch, „sonst, bei Gott, laufe ich Ihnen nach und schließe mit Ihnen den Kontrakt ab...“

„Bleibe, Therese!“ lächelte Freidank. Sie sah ihren Geliebten freundlich an und ließ sich leise wieder nieder, indem sie mit einer lieblich schamhaften Bewegung ein weißes Tüchlein, das ihr von den Schultern geglitten war, um den Hals zog und seine Enden vorne kreuzweise übereinander legte.

Der fremde Ringkämpfer sah ihr interessiert zu. Gewöhnt, daß die Frauen ihm zufielen, wie reife Äpfel beim Schütteln, fand er die wenigen Frauen, die sich nicht um ihn kümmerten, originell und begehrenswert. Ihm fiel übrigens soeben der Handel ein, der sich unter den Ringkämpfern herumgesprochen hatte, jene unbedenkliche Vereinbarung zwischen Freidank und Thyssen, bei der Freidank den dritten Platz in der Konkurrenz gegen Abtretung seiner Freundschaftsrechte auf Fräulein Fritzi l’Alouette erhalten hatte ... Eine sonderbare Gedankenverbindung durchkreuzte sein Hirn:

„Madame, wollen Sie, daß Roland Zweiter wird?“

„Habe ich das zu wollen?“

„Würde ich Sie sonst fragen, Madame?“

Sie sah ihn an, zweifelnd, ob er scherze. Aber er sah gar nicht scherzhaft aus. Er lehnte nachlässig an dem Kamine und rauchte eine dünne, parfümierte Zigarette.Seinen kurzgeschorenen Kopf mit dem scharfen Profil, dessen Züge gleichzeitig Begehrlichkeit, Übersättigung und gesunde Roheit verrieten, hatte er weit nach hinten auf das grüne Kachelsims gelegt. Er trug keine weiße Wäsche. Sein Hals ragte aus einem gleichgültig umgeschlungenen, baumwollenen Tuche empor, und seine Kleider sahen aus, als wenn sie nicht für ihn gemacht wären.

„Also bitte, Madame,“ sagte er zwischen zwei Zügen, ohne die Zigarette aus dem Munde zu nehmen.

„Gewiß,“ sagte Therese verlegen, „natürlich, Herr Kaufmann!“

„Sie hören es, Roland,“ sagte Gregor nonchalant, „ce que femme veut, Dieu le veut, Sie wissen...! Also ich engagier’ Sie als Zweiter. Championat von Sankt Petersburg gehört dazu. Unterschreiben Sie doch diesen Wisch da... Madame, sind Sie die junge Frau, die Roditscheff die „Thres’ Roland“ nennt?“

„Wenn Herr Roditscheff sich so ausdrückt,“ sagte Therese nun tief errötend, „so bin ich dieselbe....“

„Aha,“ sagte Kaufmann, ohne etwas hinzuzufügen, stülpte seine Kosakenmütze auf den kahlgeschorenen Schädel, fuhr in seinen dicken Pelz und verabschiedete sich, ohne ein weiteres Zeichen irgendwelcher Teilnahme zu geben.

— — Frühling wird zu Sommer, Tulpen, Narzissen und Hyazinthen müssen abblühen und die Flamme auch der höchsten Leidenschaft muß nach einer gewissen Zeit auf eine Weile kleiner und matter brennen: so will es ein ewiges Naturgesetz.

Die glühenden Tulpen, die fremdartig holden Narzissen und die duftgefüllten Hyazinthen in Eberhards und Thereses Liebesfrühling waren nun abgeblüht, ihres Sommers Rosen setzten noch kaum Knospen an und bis die Rosen ihrer Liebe sich vollblätterig öffnen sollten, mußte noch eine SpanneZeit verfließen... Diese Zeit zwischen ihrem Lenz und ihrem Sommer war jetzt gekommen. Es geschah ohne Verabredung und ohne die geringste Abkehr der Liebenden voneinander, daß Eberhard ab und zu ohne seine Freundin mit Kollegen oder fremden Herren einen Abend oder einen Teil der Nacht verbrachte. Therese ihrerseits schloß sich mit einiger Zuneigung an eine wunderschöne Tänzerin an, die den süßen und geheimnisvollen Namen führte: Nuit d’étoiles, das ist: Sternennacht. Sie war ein apartes Geschöpf, in Griechenland von einer französischen Mutter geboren und als Tänzerin erzogen. Die Tanzszene, die sie jeden Abend auf der Bühne als die letzte Programmnummer vor den Ringkämpfen aufführte, war von einer zarten, hinreißenden Schönheit. Sie tanzte einen phantastischen, von ihr selbst erfundenen Tanz, bei dem sie ganz in tiefblaue Schleier gehüllt erschien. Ihre Füße waren nackend. Sie schwang die Schleier mit wilder Grazie um ihren Kopf und ihren Körper, dann machte sie ergreifend feierliche, priesterliche Tanzschritte, während hinter ihrem Haupte eine große Mondesscheibe silbern aufzublühen begann, die Lichter des Theaters eins nach dem andern verlöscht wurden und endlich nichts mehr sichtbar war, als Nuit d’étoiles, von deren Schleiergewändern, erst langsam, dann immer schneller, ein silberner, blitzender Funkenregen niederzurieseln schien. Wie Kometen schossen einige stärkere Strahlen dazwischen. Und Nuit d’étoiles tanzte ihren himmlischen, märchenhaften Sternentanz, während hinter ihr die große Mondesscheibe silbern glühte und auch die Musikanten einer nach dem andern zu spielen aufhörten, bis es ganz stille war — und bis dann plötzlich wieder alle Lichter im Theater aufflammten und die süße, geheimnisvolle Sternennacht hinter dem Vorhange verschwunden war. Mit dieser jungen Frau, die im gewöhnlichen Leben Madame Chrysée genannt wurde, brachteTherese manche Tagesstunde zu und sah nie etwas anderes von ihr, als demütige Ehrbarkeit.

Aber niemals war Chrysée zu bewegen, mit der übrigen Künstlergesellschaft nach Schluß des Theaters in eines jener großen Vergnügungsetablissements zu fahren, in denen die Künstler und ihre reichen, vornehmen Freunde manche Nacht in Lust und lautem Jubel bei Liebe, Wein und Karten verbrachten.

War Chrysée in ihrer langen Theaterlaufbahn, die sie schon als halbes Kind begonnen hatte, so rein geblieben, daß ihr die Teilnahme an diesen Vergnügungen so tief zuwider war? Therese wußte es nicht. Aber wenn Chrysée ruhig und entschieden ablehnte, mit den andern im Schlitten fortzufahren, leuchtete so ein eigener, stiller und tiefer Glanz in ihren Augen... als ob Altarkerzen daraus hervorsahen ... Therese konnte dann nie auf ihrer Bitte, Chrysée möchte mitfahren, bestehen, und es war ihr, als müßte sie sich vor der Tänzerin schämen.

Immerhin gab es in der Gesellschaft von Sportsleuten und Sportverehrern angeregte, lustige Stunden, die Theresen, welche nie über die bescheidenen Grenzen ihres kleinen Heims hinausgekommen war, mit verlockender Macht in ihre bunten Kreise zogen. An Bewunderern fehlte es nicht. Das schöne, große „Mädchen aus der Fremde“, wie sie sie nannten, das aus einer ganz andern Sphäre kam und dennoch jedem die Gaben ihrer Fröhlichkeit und Anmut lieblich auszuteilen wußte, reizte manchen Kavalier zu mehr oder minder verhüllten Anträgen. Thereses Staunen, als sie zum erstenmal den Sinn eines solchen Antrages begriff, war unbeschreiblich; voll Schrecken teilte sie Freidank ihr Erlebnis mit. „Aber, Närrchen!“ lachte Eberhard, „was ficht dich dabei an? Laß die Schwätzer reden! Du bleibst meine schöne, stolze Liebe, du kehrst dich nicht an das Geschwätz undwirst selbst am besten verstehen, die Zudringlichen in ihre Schranken zu weisen...“

„Das sagst du?“ fragte Therese, „das sagst du? — Du bist ein Anderer geworden, als der du warst, o Eberhard!“

„Ich bin nicht anders geworden,“ sagte er und zog ihren Kopf an seine Brust. „Nur — ich nehme diese Kleinigkeiten nicht mehr recht ernst... Was liegt daran, ob einer, der weiß, was schön ist, sich für mein unerreichbares liebes Weib interessiert? Das nehm’ ich ihm nicht übel. Im Gegenteil: ich freue mich. Denn ich sehe daraus, der Mann hat Geschmack. Gregor Kaufmann, zum Beispiel. Ich wette, daß er dich reizend findet!“

Sie wußte es längst, aber sie bestritt es:

„Nun, Eberhard! Er wäre töricht, dieser Vielgeliebte, wenn er einen Funken Gefühl an mich verschwenden wollte! Andere bringen ihm entgegen, was er bei mir nie finden würde...“

„Unter anderen deine Freundin Nuit d’étoiles...“

„Ich bitte dich, Eberhard, wo denkst du hin? Chrysée lebt wie eine Lilie unter uns. Ihr Leben gehört allein ihren beiden Kindern, für die sie arbeitet, und dem Andenken ihres toten Gatten...“

„Bei Tage, ja, wenn du bei ihr bist, meine liebe Therese. Aber des Nachts nur so lange, wie es Gregor Pawlowitsch gefällt...“

„Das sagst du von Chrysée?“ fragte sie erschrocken.

„Nun, was wäre dabei?“

„Gregor Pawlowitsch ist verheiratet...“

„Wenn schon,“ sagte Freidank kurz. „Chrysée ist eine hübsche Frau. Es lohnt sich immerhin, sie einmal ans Herz zu drücken...“

„Solche Dinge sprichst du aus?“

„Warum nicht,“ sagte Eberhard und lachte. „Ich sage: Nuit d’étoiles ist eine hübsche, sogar eine interessante Person. Nun, vielleicht findest du Gregor Pawlowitsch hübsch und interessant... Was könnte ich dagegen einzuwenden haben?“ —

Sie hatte dergleichen leichtfertige Reden noch nie aus seinem Munde vernommen und war davon so betroffen, daß sie ihren Freund am Abende dringend bat, nach dem Theater mit ihr nach Hause zu gehen und nicht nach Strelna hinauszufahren. Aber er lachte ihr ins Gesicht:

„Warum denn gerade heute, mein Kind? Wenn wir zurückkehren, haben wir noch genug Zeit, einander in den Armen zu liegen... Gerade heute, Therese, müssen wir unbedingt hinausfahren. Die Schlitten stehen schon vor dem Hause. Iwan Lejkin, der Generaldirektor der Kurskschen Elektrizitätswerke, gibt sein Abschiedssouper... Du sollst in Leikins Troika fahren, du —! Der gute Iwan Iwanowitsch scheint ein Auge auf dich geworfen zu haben... Sei freundlich mit ihm, Therese! Ich hoffe, ein sehr gutes Geschäft mit Iwan Lejkin abschließen zu können... heute abend...“

Therese fragte nicht nach dem Geschäft. Zorn und Trotz übermannten sie. Um irgendwelcher Geschäfte willen sollte sie einem fremden Finanzmanne freundlich entgegenkommen!

„Tue, was du willst,“ sagte sie kühl. „Ich — ich werde nur mitfahren, wenn Chrysée mitfährt..!“

Chrysée war in ihrer Garderobe. Sie hatte schon das dunkelblaue Sternengewand an. Ihre Augen waren verweint, und sie deckte die Tränenspuren immer wieder mit Puder und Schminke zu. Therese trat hastig ein und sagte:

„Ach, ich wollte Sie nur etwas fragen.. Aber Sie weinen, Chrysée! O, warum weinen Sie, Chrysée?“

„Sie würden es nicht begreifen, Liebe! Es ist auch nur eine große Torheit... Was wollen Sie fragen?“

„Nun habe ich eigentlich gar keine Lust mehr zu fragen... Würden Sie heut’ abend mit uns nach Strelna fahren? Wir feiern Iwan Lejkins Abschied... Er reist morgen nach Italien...“

„Wer ist sonst von der Partie?“

„Alle!... Der Fürst Nemetzki... die Radewskaja ... Roditscheff... Gregor Pawlowitsch....“

„So?...“ unterbrach Nuit d’étoiles mit Ungestüm, „nun, ich werde heute abend mitfahren, Liebe!“

Iwan Lejkins Troika stand vor dem Eingange. Der Generaldirektor wartete voll Ungeduld auf Therese Ambrosius, mit der er seinen Schlitten besteigen und nach Strelna davonfahren wollte. Ein Teil der Schlittengesellschaft war schon vorausgefahren. Auf der Bühne hatten Roland und Gregor Kaufmann als letztes Kämpferpaar unentschieden miteinander gerungen. Nun wartete Chrysée mit Theresen, Chrysée ganz von der leidenschaftlichen Hoffnung erfüllt, daß es ihr gelingen werde, einen Schlitten mit Gregor Pawlowitsch zu erhalten. Lejkin, in seinem kostbaren Zobelpelz, stand und fluchte, daß Therese nicht kam. Nun würde er sie schließlich trotz aller Mühe nicht auf der Fahrt allein für sich haben! Endlich kam die Gesellschaft herbei. Kaufmann und Freidank waren in lebhaftem Gespräch. Mit jedem Moment sah Nuit d’étoiles ihre Hoffnung auf ein ungestörtes Beisammensein mit dem Champion mehr schwinden ... Es gab noch zwei Schlitten. Die Troika bot ausreichend Platz für drei Menschen, der andere Schlitten nur für zwei. Chrysée gelang es, Gregor Pawlowitsch unbemerkt zuzuflüstern:

„Fahr’ mit mir, ich bitt’ dich, Gregor, ich bitte dich...“

„Sei nicht so zudringlich!“ sagte er halblaut über seine Schulter hin, und laut:

„Väterchen Iwan Iwanowitsch hat den Vortritt! Wirüberlassen ihm unsere Damen... la belle Nuit d’étoiles und die allerschönste Thres’.... Wir verzichten beide...“

Innerlich fluchend, mußte Generaldirektor Lejkin mit beiden Damen seinen Schlitten besteigen. Die beiden Ringkämpfer stiegen in den Mietsschlitten. Die Pferde zogen an, die abgestimmten Schellen erklangen, und sausend jagten die Schlitten über den schimmernden Schnee der nächtlichen Straßen dahin. Dann blieben die belebten Straßen hinter ihnen. Die Troika fuhr wie der Sturm dahin und überholte eine Menge anderer Schlitten, die dasselbe Ziel hatten. Die drei Insassen saßen dicht nebeneinander, Chrysée in der Mitte. Noch hatte keiner ein Wort gesprochen. Da griff Lejkin, ärgerlich, daß er Theresen nicht neben sich hatte, unter der Pelzdecke nach Madame Chrysées Hand, um sich an ihr einigermaßen schadlos zu halten. Bei seiner Berührung zuckte Chrysée zusammen, brach jäh in bittere Tränen aus und weinte haltlos:

„O, mein Gott, er hat mich verraten! Der Entsetzliche, der Treulose — er will nichts mehr von mir wissen! — So lange er mich brauchte, früher, in Südrußland, zu Anfang seiner Karriere, da tat er, als ob er mich liebte! — Alles, was ich hatte, habe ich ihm gegeben! Alles! — Aber es ist nicht um das... Es ist nur um seine Liebe...“

Der kalte Wind fuhr Nuit d’étoiles ins Gesicht und ließ die Tränen auf ihren Wangen zu Eis erstarren...

„Wer denn? Von wem reden Sie denn?“ fragte Therese mitleidig und erschrocken, während Lejkin, der schon viele stürmische Szenen mit Theaterprinzessinnen erlebt hatte, ziemlich gleichmütig zuhörte.

„... Gregor Pawlowitsch!“ weinte Chrysée herzbrechend.

„Ja, weshalb denn!“ sagte Therese und fuhr in der Absicht, zu trösten, ahnungslos fort: „Warum läßt sich das nicht wieder ändern? nicht gutmachen?“

Chrysée stieß unter Tränen hervor: „Um Ihretwillen! — um Ihretwillen kann er mich nicht mehr leiden... stößt er mich weg...“

„Um meinetwillen? — O Gott, welch’ ein Irrtum!“

Therese konnte kein Wort hervorbringen; sie konnte nichts gegen Nuit d’étoiles Behauptung sagen. Sie hielt die kleine, zerbrechliche Hand der Griechin in ihren warmen Händen, während Chrysée in ihren schluchzenden Bekenntnissen fortfuhr:

„Um Sie näher kennen zu lernen, verkehrte ich mit Ihnen... Sie taten nichts Schlechtes, Thres’; Sie sind gut... O, Thres’, aber ich liebe Gregor Pawlowitsch! Nehmen Sie mir Gregor Pawlowitsch nicht weg!“ —

Der Schlitten hielt an, das Vergnügungsetablissement war erreicht. Diener in altrussischer Tracht nahmen den Herrschaften die Pelze ab; alle begaben sich in den kleinen Palmensaal, der für Lejkins Gesellschaft reserviert war. Lejkin selbst führte Therese zur Tafel, stolz, wie ein König seine Königin. Er war sterblich in das schöne Mädchen verliebt. Jeder einzelne mußte es bemerken. Auch Nuit d’étoiles, die die Tränenspuren nach Möglichkeit verwischt hatte, hätte blind sein müssen, wenn sie seine offenkundigen Huldigungen nicht gesehen hätte. Diese Beobachtung tröstete sie ein wenig, zumal als sie bemerkte, daß Therese die Bewunderung des reichen Generaldirektors Lejkin nicht ungern zu sehen schien....

Eine kleine Kapelle geputzter Zigeunerinnen spielte pikante, ins Ohr fallende Melodien. Die Primgeigerin, eine prächtige Ungarin, war in Sergej Roditscheff verschossen. Sie wollte durchaus mit ihm nach Hause fahren.

„Wenn ich dir doch sage: ich mag nicht, Mütterchen Ilonka!“ rief Roditscheff lachend, „ich werde dir aber einen anderen Verehrer besorgen, tiens!“

Er ging hinaus. Im großen Kameliensaale des Etablissements wurde an einzelnen Tischen soupiert. Herren aus der Aristokratie und der reichen Börsenwelt suchten lustige Gesellschaft oder hatten sie bereits gefunden. Ein hübscher, bartloser junger Offizier und sein Vetter, ein hoher Ministerialbeamter, stürzten auf den Ringkämpfer zu und flehten ihn an, an ihren Tisch zu kommen. Der Ministerialbeamte, der von der leidenschaftlichen Schwärmerei seines Vetters für Sergej Roditscheff wußte, versuchte, ihn durch ein Kleinod, welches er von seiner Uhrkette abhängte und an Roditscheffs Berlockenring befestigte, umzustimmen. Aber er erreichte nur, daß Sergej die beiden Herren bat, zu seiner Gesellschaft in den Palmensaal zu kommen.

Nun mischte sich die Gesellschaft Lejkins allmählich mit anderen Gästen. Der junge Offizier trank mit der Primgeigerin aus einem Glase, die Radewskaja, eine Sängerin, saß einem reichen, lustigen sibirischen Fellhändler, einem Mann mit schneeweißem Apostelkopfe, auf dem Schoße und ließ sich unaufhörlich Goldstücke in den Kleiderausschnitt werfen, Chrysée wollte Gregor Kaufmann eifersüchtig machen und verschwendete darum ihre Liebenswürdigkeit an Freidank, und Lejkin stand ganz in Flammen für Therese. Er führte sie hinter eine Palmengruppe und wollte sie zum Trinken aufmuntern:

„Auf Ihr Wohl, gnädiges Fräulein! Ihr Wohl und meines zusammen...“

Therese lachte und schlug ihn mit dem Handschuh. Ihr kühngeschnittenes, stolzes Dianengesicht hob sich wie eine Gemme von dem dunklen Hintergrunde der samtenen Wandbekleidung ab.

„Ich liebe Sie, gnädiges Fräulein,“ sagte Lejkin, der sich nicht länger beherrschen konnte, indem er einen Kniefall tat.

„Mein Gott, was denken Sie, Iwan Iwanowitsch? Wissen Sie nicht, daß Roland mein Bräutigam ist?“

„Nun, Fräulein, lassen Sie uns ein offenes Wort miteinander reden!“ sprach der Generaldirektor und erhob sich von den Knieen. „Sehen Sie: ich kenne das Leben. Junges Blut ist entzückt von Ringkämpfern, Athleten — kurz: Kraftmenschen. Sie mögen mir glauben oder nicht, das ist nichts für die Dauer... nicht fürs Leben...“

„Auf wie lange das ist...,“ sagte Therese stolz, „das müßte doch wohl meine Sorge sein!“

„.... Nein, laufen Sie nicht fort!“ rief Lejkin, als sie Miene machte, aufzustehen, „bleiben Sie, ich bitte Sie! Und lassen Sie uns ein verständiges Wort miteinander reden! — Ihr Freund tröstet inzwischen die verlassene Nuit d’étoiles... Gnädiges Fräulein! liebe Therese! — ich würde Ihnen einen annehmbaren Vorschlag machen. Für die Zukunft ... fürs ganze Leben... Ich würde Sie auf Händen tragen, Therese! Ich reise... morgen... ab... Ich reise nach der Riviera, dann weiter... Liebe, schöne Therese, kommen Sie mit mir! O Therese, Sie würden es nicht bereuen!“

Therese war von einer humoristischen Stimmung erfaßt. Sie wollte diesen Mann mit seinen ungeheuerlichen Wünschen, gegen den sie nach Eberhards Wunsch recht freundlich sein sollte, wenigstens bis zu Ende anhören.

„Und mein Freund?“ sagte sie.

„Ihr Freund, Therese!... Glauben Sie mir, Nuit d’étoiles ist schon bereit, seinen Trennungsschmerz zu lindern. Halten Sie Ihren Ringkämpfer im Ernst für einen guten Menschen?“

„Ach — gut!“ sagte sie geringschätzig. „Er ist einfach zu stolz, um schlecht zu sein. Er ist zu stark, um kleinlich und miserabel zu sein!“

„Weiter haben Sie nichts vom Leben erhofft, Therese? Sie haben nicht einen Gefährten gesucht zur gemeinsamen Weiterbildung, zu gemeinsamem Genießen idealer Herrlichkeiten? O, Therese!“ —

„Hören Sie auf, Iwan Iwanowitsch,“ sprach Therese bebend. „Ich hätte Ihnen nie gestattet, dies alles zu sagen, wenn ich Sie nicht für einen braven Menschen hielte... neben Ihrem Gelde... Denn Ihr Geld imponiert mir nicht. Mir nicht, Herr Lejkin!“

„Ihrem Freunde desto mehr!“ rief Lejkin nicht ohne Schadenfreude. „Ihr Freund hat mit mir — eine Art Geschäft vor. Ich will ihm die Mittel geben, ein eignes Ringkampfwettstreit-Unternehmen zu begründen. Nun, Therese, ich wollte nicht wie ein Räuber sein, der im Dunkeln in Nachbars Haus einbricht. Herr Roland hat mir gewissermaßen erlaubt, Ihnen... so etwas... wie die Cour zu machen. Ich gebe ihm achttausend Rubel für seine Ringkampfkonkurrenz. Und Sie... Sie reisen... morgen... mit mir, Therese... liebe, schöne Therese...“

Sie hörte ihn nicht mehr. Sie war aufgesprungen, um von der Stimme des Versuchers weg zu ihrem Freunde zu eilen. Roland saß auf einem niedrigen Bänkchen. Chrysée saß an seiner Seite. Sie saß kaum mehr; halb lag sie auf der Erde, hielt seine große, feste Hand in ihren schmächtigen Fingern und drückte heiße Küsse auf die Hand des Ringkämpfers. Gregor Kaufmann ging gerade allein vorbei, die Hände in den Hosentaschen, das wollene Halstuch noch nachlässiger wie gewöhnlich umgeschlungen.

„Chrysée!“ rief er laut, „es ist ein Vergnügen für mich, dich so gut versorgt zu sehen!“

Chrysée geriet bei dem Klang seiner Stimme in wahre Raserei. „O, nicht ihn meinte ich! Dich lieb’ ich, dich! Wer kann mir dich ersetzen?“

„Rege dich nicht auf, meine Liebe,“ sagte er zynisch. „Wenn du sie haben willst, Roland, so kannst du sie behalten!“

Mit harten Schritten ging er in ein Nebengemach. Nuit d’étoiles sprang auf und flog ihm nach. Sie wollte ihn um jeden Preis zurückgewinnen...

„Nette Familienszene, nicht?“ sagte Eberhard lachend zu Theresen, die blaß vor Zorn zu ihm trat. Aber Therese war viel zu sehr erregt, um sich jetzt um Chrysée zu kümmern. Sie sah auch nicht, daß Freidank zu viel des schweren Weins genossen hatte; sie flüsterte hastig:

„Komme fort von hier... gleich... Wenn du wüßtest! Er... Lejkin hat mir....“

Sie erzählte alles, verschwieg kein Wort, welches gesprochen worden war. Eberhard hörte ihr zu. Er gab kein Zeichen von Entrüstung, zog die Augenbrauen hoch und sagte:

„Was tut das? — Gewiß, er ist unverschämt... Aber ich muß das Geld von ihm haben! Ich muß! — Therese, versteh das doch: mit diesem Gelde werde ich mein eigner Herr sein! Gehe scheinbar auf seine Vorschläge ein.... sage zu allem Ja... bis ich das Geld habe...“

„Und zu einer so schmachvollen Komödie soll ich mich herleihen?“

„Therese, welche exaltierten Worte! Tu’ es um meinetwillen ... tu’ es mir zu Liebe!“

Therese wollte hinausgehen, um sich zu verstecken... irgendwo... Aber sie lief dem Generaldirektor grade in die Hände.

„Therese! Meine Diana! O, ich wußte, daß Sie mich nicht fliehen werden! O Therese, sagen Sie ein Wort, daß Sie mit mir kommen werden!“

„Ja,“ sagte Therese tonlos und mit niedergeschlagenen Augen, „ja, Iwan Iwanowitsch, ich werde mit Ihnen gehen.“

„Therese,“ sagte er, ergriff ihre Hand und seine Stimme klang feierlich, „Gott weiß, Therese, daß ich alles tun werde, um Ihren Lebensweg süß und freundlich zu machen. Was Kunst und Wissenschaft bieten... was auf der schönen Erde zu sehen ist... was in meinen Kräften steht, soll Ihr eigen sein...“

Seine Worte erstickten in echter Bewegung. Therese sagte flüsternd:

„Ja, Iwan Iwanowitsch... morgen... aber jetzt... lassen Sie mich allein... Ich denke, Sie haben noch mit Roland über ein Geschäft zu reden...“

Sie mußte an sich halten, sie entlief, um nicht laut aufzuweinen. O, welche Komödie war das, welch ein doppelter Betrug!

Freidank, der Lejkin allein stehen sah, kam mit den schwankenden Schritten des Trunkenen auf ihn zu.

„Sie haben sich mit meiner Freundin unterhalten,“ sagte er lachend, „hoffentlich haben Sie sich gut unterhalten...“

„Ausgezeichnet!“ sagte der Generaldirektor. Er war voll bebender Freude, das schöne Mädchen überredet zu haben. „Ausgezeichnet, Herr Roland! — Und wir haben uns auch noch zu unterhalten, nicht wahr? Es ist eine Kleinigkeit... Ein Geschäft... etwas der Art... Also rund heraus, Herr Roland! Nicht wahr, Sie brauchen achttausend Rubel?“

Sie sprachen flüsternd an einem der kostbar gedeckten Tischchen, während rings um sie her der Lärm der lustigen Gesellschaft tobte. Iwan Lejkin legte sein Notizbuch offen auf den Tisch und ein langes, schmales Buch, welches Scheckformulare enthielt, daneben. Eberhards Gesicht glühte vom Weine und vor Erregung. So schnell schüttete ihm das Schicksal ein Glück in den Schoß, welches andere nur nach jahrelanger Mühe erreichen! — Lejkins kleines, klugesGesicht war sehr bleich. Er wollte den Ringkämpfer jetzt beschwichtigen, ihn taub, blind und stumm machen... um jeden Preis...

„Achttausend Rubel...,“ sagte Freidank mit ein wenig schwerer Zunge. „Wenn es zehntausend sein könnten, Iwan Iwanowitsch! Ich zahle sie Ihnen zurück... gewiß zahle ich sie Ihnen zurück...“

„Zehntausend Rubel,“ schrieb Lejkin auf das Scheckformular und sprach die Worte, die er schrieb, laut nach. Er, setzte in zierlicher, feiner Kaufmannschrift seinen Namen darunter, riß das gewichtige Blatt aus dem Buche und reichte es dem Athleten.

„Einen Schuldschein —,“ sagte Roland, trotz seinem Rausche, erschüttert durch den Anblick der Geldanweisung, welche ihm Selbständigkeit und vielleicht Ruhm und Reichtum sicherte. „Schreiben Sie mir, Iwan Iwanowitsch, einen Schuldschein in der gesetzlichen Form vor, daß ich meinen Namen darunter setze.“

Der Generaldirektor schrieb den Schuldschein aus, während ein unmerkliches Lächeln um seine Lippen zuckte. Eberhard unterschrieb mit Feierlichkeit und sagte:

„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Iwan Iwanowitsch! Sie werden sehen, daß...“

„Ach, es ist ein Geschäft, wie jedes andere!“ wehrte der Generaldirektor ab und beschrieb mit der rechten Hand einen weiten, leichten Bogen. „Ich erhalte ja auch das Meinige... ich auch, Roland Alexandrowitsch...“

Er hatte jetzt die ganze Überlegenheit des großen Finanzmannes wiedergefunden, die auf der Überzeugung ruht, daß alles käuflich ist und daß niemand den Willen hat, der gewaltigen Sprache des Goldes zu widersetzen. Therese allein war unter all’ diesen Habgierigen am schwersten zu durchschauen. Denn warum sie mit ihmging, die bei dem Ringkämpfer kaum etwas entbehrt hatte... das wußte er nicht... Aber sie ging... sie hatte es versprochen... O, diese Diana! —

Chrysée war Gregor Kaufmann, der in ein kleines, zufällig leerstehendes Souperzimmer hineingegangen war, nachgeeilt. Der Ringkämpfer wollte sich gerade lang auf dem Sofa ausstrecken, als er die Frau bemerkte.

„Zum Teufel, was willst du von mir!“ rief er grob und richtete sich mit einer brüsken Bewegung auf, „siehst du nicht, daß ich ein wenig ruhen will?“

„Das ist mir einerlei!“ rief die Tänzerin hitzig. Sie hatte zu viel Champagner getrunken, war berauscht und überlegte nicht mehr, was sie redete. „Du bist schlecht zu mir... du vernachlässigst mich... du läufst andern nach...“

Gregor Kaufmann hob den Kopf und sah das zornige, kleine Geschöpf aus halbgeschlossenen Augen hohnlächelnd an: „Hab’ ich dazu ein Recht, mein Kind, oder nicht?“

Sofort schlug ihre Stimmung um; sie lief zu ihm hin, stürzte ihm zu Füßen und weinte wie ein Kind:

„Ach, liebe mich doch! Gregor Pawlowitsch, liebe mich doch! Ich werde alles ertragen, auch daß du mich betrügst ... Du tust es ja ohnehin... Ich werde dir alles geben, was ich verdiene...“

Sie umschlang seine Kniee mit ihren hübschen, zarten Armen, ihr schmächtiger Körper zitterte vor Leidenschaft und unter heißen Tränen rief sie wild und fast schreiend immer wieder:

„Ach, liebe mich doch, liebe mich doch, Gregor — —!“

„Oh —,“ sagte der Champion kaltblütig und stand auf, „jetzt wird es mir zu bunt, meine liebe Chrysée. Versuche einmal, dich ein halbes Jahr ohne mich zu behelfen. Eswird vorzüglich gehen, tu verras... Du bist mir so entsetzlich langweilig geworden...!“

Sie ließ seine Kniee nicht los und wiederholte nur:

„Liebe mich doch, du...!“

Gregor Kaufmann, halb ärgerlich, halb amüsiert, löste mit einer schroffen Bewegung die Umklammerung ihrer Hände und stieß die Tänzerin mit dem Fuße fort:

„Nein, Chrysée! Mein letztes Wort! — Laß mich allein!“

Lejkin war in den kleinen Palmensaal zurückgekehrt. Es war Zeit zum Aufbruch nach der Stadt geworden. Aber vorher hatte der Generaldirektor noch das Bedürfnis, mit allen denen, die hier seine Gäste gewesen waren, auf ein Glück anzustoßen, welches doch sein innerstes Geheimnis war... Er ließ neuen Champagner kommen. Alle sollten ihre Gläser an seines klingen lassen, auch Therese, mit der er sich im Einverständnis glaubte, auch Roland, den er mit den zehntausend Rubeln erkauft zu haben meinte, auch Gregor Pawlowitsch, der Nuit d’étoiles nicht mehr ansah und der schönen Therese ungeniert ins Gesicht starrte.

„Keinen Trunk mehr aus den Gläsern nach diesem Trunk!“ schrie Lejkin in die Schar seiner Gäste hinein und schmetterte den kristallenen Kelch zu Boden. Die berauschten Gäste taten ihm jubelnd nach. Chrysée griff unsinnig nach den Scherben von Gregor Kaufmanns zerbrochenem Glase, zerschnitt sich die Finger und ein dünner, heller Blutstrom lief über ihre kleine Hand. Freidank griff sofort zu und drückte ihr die Schnittwunde fest zusammen. Chrysée, in wilder Erregung, wußte nicht mehr, was sie tat. Unter trunkenen, hysterischen Tränen warf sie sich Roland an den Hals und rief:

„O Roland, du bist gut zu mir! Ich liebe dich! Fahr’ mich nach Hause, Roland... fahr’ mit mir im Schlitten... Ich fürchte mich so sehr!“

„Tun Sie es ohne Sorge!“ rief Lejkin fröhlich. „Das gnädige Fräulein fährt gut und sicher in meinem Schlitten!“

Die ganze Gesellschaft fuhr unter großem Lärm und Jubel ab. Die Peitschen knallten, die vielen Schellen läuteten, und heim ging es unter Geschrei und Jauchzen durch die totenstille Wintersnacht. Nur das dumpfe Aufschlagen der Pferdehufe scholl matt durch die frostklare Luft, die den Schall nicht trug, nur der Klang der Schellen und das Kreischen der betrunkenen Zigeunerinnen.

Allen Schlitten vorauf flog Lejkins Prachtgespann. Jetzt saß der Generaldirektor allein neben der schönen Freundin des Ringkämpfers, aber er hatte sich diese erste Fahrt anders vorgestellt. Nicht einen Schritt kam sie seinem verliebten Begehren entgegen. Die süße, helle Sinnlichkeit, die wie Mittagssonnenschein auf ihrem Wesen und ihren Zügen geruht hatte, war ausgelöscht, und Therese schien wieder kühl und jungfräulich, wie eine Landschaft im Frühlicht. Lejkin versuchte sie um die Taille zu fassen und nahm mehrmals ihre Hand. Aber mit sanfter Entschiedenheit machte Therese sich jedesmal wieder frei:

„Heute nicht, Iwan Iwanowitsch. Wenn Sie es wirklich gut mit mir meinen, so wird es Ihnen ein Leichtes sein, bis morgen zu warten....“

Und dann schwieg sie wieder weite Strecken lang. Sie fühlte sich wie die erbärmlichste Kreatur, schlechter wie eine Verbrecherin, weil sie ihn belog, weil sie ihn in dem Glauben ließ, daß sie mit ihm nach Italien fahren würde, während sie fest entschlossen war, ihrem Freunde treu zu bleiben... obwohl sie Freidank bitter zürnte, daß er sie um schnöden Geldes willen zu dieser Komödie veranlaßt hatte... obwohl er vor allen Leuten Madame Chryséein die Arme genommen hatte... Therese schlug den Schleier, der ihr Gesicht bedeckte, zurück und Lejkin blickte fortwährend mit Begeisterung auf ihr klares, kühnes Profil. War keine Hoffnung, sie schon heute abend zu entführen?

„Heute abend? O nein!“ sagte Therese und ihre Augen blitzten zornig auf. „Wir haben von morgen gesprochen, nicht von heute...“

Lejkin mußte sich fügen. Sie waren nicht mehr fern vom Hotel. Der Generaldirektor sah das Mädchen, das ihm kaum einen Blick schenkte, mit sehr herzlichen Gefühlen an und sprach ernsthaft:

„Ich begreife, daß Sie ihm noch diese Stunden schenken wollen... wenn er kommt, Therese. Wenn er nicht bei der trostbedürftigen Nuit d’étoiles....“

„Nein! o nein! das kann er nicht! das darf er nicht!“ rief Therese zum erstenmal in heller Verzweiflung. Was sie selbst gefürchtet hatte, hatte sie dennoch nicht einmal vor sich selbst in Worte kleiden mögen...

Lejkin sprach über diese Sache kein Wort mehr und fuhr fort:

„Wann Sie kommen, Therese, sind Sie erwartet und willkommen. Sie sollen nichts haben, Sie sollen nichts mitbringen. Am Nachmittage fahren wir aus und kaufen alles, was Sie zur Reise brauchen... Und haben Sie Vertrauen zu mir, Therese!“ sagte er beschwörend. „Ich werde Sie glücklich machen, soweit es in der Macht eines Menschen, dem Manches zugänglich ist, liegt...“

„Auf Wiedersehen, Iwan Iwanowitsch...“ flüsterte Therese, sprang aus dem Schlitten und eilte die Treppe des Hotels hinauf, ohne sich umzusehen...

Dann brannten in dem Hotelzimmer die elektrischen Birnen und verbreiteten Tageshelle, aber in Thereses Seele war schwarze Nacht. Eberhard kam nicht. —

Er kam nicht! — Er hatte sich nicht von der Tänzerin trennen können, die schmachtend und girrend an seinem Halse gehangen und um seine Liebe gebettelt hatte. Und das hatte er gerade an dem Abende getan, wo sie ihrer Liebe das größte Opfer gebracht hatte. —

Er kam nicht. — Sie ging nicht zu Bett. Sie wartete, bis die Nacht grau und blaß wurde und der Morgen zu dämmern begann. Da verblaßte allmählich auch ihre nächtliche Verzweiflung und wurde zu spöttischer Abkehr von dem Freunde ihres Herzens.

Zur gewohnten Stunde brachte man das Frühstück. Sie fror und trank eine Tasse Tee, aber sie konnte keinen Bissen von dem Brote genießen. Sie wettete zornig und stolz mit sich selber: „Eine halbe Stunde werde ich noch auf ihn warten. Wenn er dann nicht hier ist.....“ Als er dann noch nicht da war, gab sie wieder Zeit zu....

Um zwölf Uhr wurde sie von unsäglicher Wut gepackt. Sie schellte nach Schreibzeug und schrieb hastig auf den Bogen:

„Du hast mir keine Enttäuschung bereitet. Nachdem Du mir gestern abend im Ernst eine so unwürdige Verstellung zugemutet hast, mache ich nun Ernst — ganz ohne Verstellung. Du darfst nicht denken, daß ich Dir zürne, o nein. Ich wundere mich nicht einmal. Du hast dein Geld, ich habe einen reichen Verehrer gewonnen: wir haben beide von dem Handel profitiert. Viel Vergnügen, mein teurer Freund! Th. A.“

Sie kleidete sich zum Ausfahren an, bestieg einen der vor dem Hotel haltenden Mietsschlitten und fuhr in die Wohnung des Generaldirektors Lejkin. Er war in aller Frühe noch einmal in seinem Bureau gewesen und sehr bald zurückgekehrt, um Therese nicht eine Minute warten zu lassen. Nun wartete er, das kleine, intelligente Gesicht in finstereFalten gelegt, voll Unruhe und einer Sehnsucht, die ihm bisher fremd gewesen war. Er hatte in seinem Leben schon auf viele Frauen gewartet, aber so unruhig, mit soviel Zweifeln und Wünschen auf keine...

Wieder blickte er auf seine Taschenuhr; sie zeigte halb Eins....

Sein Diener Alexander klopfte an, trat ein:

„Gnädiger Herr... die Dame, welche der gnädige Herr erwarten, ist soeben gekommen. Sie beliebt im Bibliothekzimmer zu sein...“

Der Generaldirektor schritt an dem ehrfurchtsvoll dastehenden Bedienten so hastig vorbei, daß der Diener ihm nicht einmal mehr die Zimmertür öffnen konnte. In der Bibliothek stand Therese, das stolze Profil hell beleuchtet.

„Therese —!“ sagte er und bedeckte ihre Hände mit Küssen.

Von einem der großen Magazine aus gelang es ihr, unbemerkt von Lejkin, der nicht mehr von ihrer Seite wich, noch einmal in das Hotel zu telephonieren, wo sie mit Freidank logierte. — Herr Roland sei noch nicht gekommen, wohl aber habe er vom Hotel de Suède aus telephonisch sagen lassen, daß er mit Geschäftsfreunden zusammengetroffen sei und daß Madame ihn nicht zum Diner erwarten möge...

Um acht Uhr trug der Luxus-Expreß Therese und Lejkin in die sonnige Ferne.

Ende Kapitel XIII


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