5
Frida Lämke war nun eingesegnet, sie trug den Rock fast bis zur Erde, und als sie Wolfgang Schlieben nach langer Zeit wieder zum ersten Mal begegnete, war ihr Gruß nicht mehr das vertraulich-bekannte Nicken der Kindheit. Aber sie blieb bei dem früheren Spielgefährten stehen.
»Na, Wolfgang,« sagte sie lachend und zugleich ein bißchen von oben herab – sie kam sich so unendlich überlegen vor –, »na, was machste denn?«
»Gut!« Er setzte eine unternehmende Miene auf, die nicht ganz zu dem Blick seiner Augen paßte.
Sie musterte ihn: war der Wolfgang ein Kerl geworden! Aber er hielt sich so schlecht, so vornüber! »Halt dir doch jrade,« ermahnte sie und reckte ihre eigne binsengleiche Schlankheit. »Warum machste denn so ’n Buckel?! Und mit den Augen blinkerste, als wärste kurzsichtig. Na, warte man, du solltest mal bei meine Prinzipalin kommen – au weih, diewürde dir schön zurechtstutzen!« Sie kicherte in sich hinein, ihre ganze schmale Figur schüttelte sich vor heimlicher Lachlust.
»Du bist so vergnügt,« sagte er langsam.
»Na, warum denn nich? Meinste, so’n oller Drache kann mir die Laune verderben? Na, so dumm! Wenn sie schimpft, duck ich mir, ich sage kein Wort, aber innerlich amüsiere ich mir! Haha!« Ihre helle Stimme klang unendlich heiter.
Wie hübsch sie war! Des Knaben dunkle Augen hefteten sich auf Frida Lämke, als hätte er sie noch nie gesehn. Auf ihrem blonden Haar, das sie nicht mehr in einem langen Zopf trug, sondern im Nacken in einem dicken Knoten, schimmerte die Sonne. Ihr Gesicht war so rund, so blühend!
»Du kommst nie mehr zu mir,« sagte er.
»Wie kann ich denn?!« Die Achsel zuckend, tat sie wichtig. »Was meinste wohl, was ich zu tun habe! Morgens schon vor achte ’rein mit die Stadtbahn, un denn nur zwei Stunden Tischzeit – immer ’rein, ’raus – un abends bin ich meist nie vor zehne zu Hause, oft auch noch später. Dann bin ich so müde, dann schlafe ich wie ’ne Ratze. Aber Sonntags, dann läßt mir die Mutter mal ausschlafen, und nachmittags jehe ich mit Arturn und Flebbe los, wir –«
»Wo geht ihr hin?« fragte er hastig. »Ich kann ja auch mal mitgehn!«
»Och du!« Sie lachte ihn aus. »Du darfst ja nich!«
»Nein!« Tief senkte er den Kopf.
»Na, sei man nich traurig,« ermunterte sie und fuhr ihm mit dem Zeigefinger, an dem der schäbige Glacéhandschuh an der Spitze aufgesprungen war, ums Kinn. »Dafor biste ja auch Schüler vons Gymnasium. Artur kommt nächsten Herbst auch in de Lehre. Mutter denkt, bei’n Friseur. Un Flebbe,der lernt ja schon Matrealist – sein Vater hat’s ja dazu – wer weiß, der kriegt an’n Ende noch mal ’n eijnes Jeschäft!«
»Ja,« sagte Wolfgang eintönig in ihr Plaudern hinein. Wie verloren stand er auf der Straße, seine Bücher unter den Arm gepreßt. Ach, wie weit, weit war die hier, waren die alle drei nun auf einmal von ihm gerückt! Die, mit denen er einst täglich gespielt hatte, deren Hauptmann er stets gewesen war, die waren nun schon so groß, und er, er war noch ein dummer Schuljunge!
»Verflixt!« Mit einer heftigen Gebärde schleuderte er seinen Bücherpacken von sich, daß der Riemen, der ihn zusammenhielt, sich löste. Alle Bücher und Hefte flogen auseinander und lagen voneinander gespreizt im Staub der Straße.
»Au weh, aber Wölfchen!« Frida bückte sich ganz erschrocken und las eifrig alles zusammen.
Er half ihr nicht aufsammeln. Mit einem bösen Ausdruck starrte er vor sich hin.
»Da – da haste se wieder,« sagte das vom emsigen Bücken ganz rot gewordene Mädchen, pustete die Bücher ab und zwängte sie ihm wieder unter den Arm.
»Ich mag nicht!« Er ließ sie wieder fallen.
»Na, du bist jut! Was fällt dir denn ein – die teuern Bücher!« Sie konnte sich ordentlich über ihn ärgern. »Weißte denn nich, daß die Jeld kosten?!«
»P–!« Er machte eine Handbewegung, wie: was macht das?! »Dann werden eben neue gekauft!«
»Wenn dein Vater auch Jeld genug hat,« ereiferte sie sich, »das ’s doch nicht recht von dir, so mit die juten Sachen umzujehn!«
Er sagte kein Wort hierauf, aber er hob nun die Bücher auf und schnallte sie wieder in den Riemen. Verlegen standensie beide zusammen. Sie sah ihn verstohlen von der Seite an: hatte der sich aber verändert! Und er ärgerte sich über seine Heftigkeit: was sollte sie nun wohl von ihm denken?!
»Ich muß nu jehn,« sagte sie plötzlich, »sonst krieg ich nich mal mehr mein Mittagessen jejessen – au, hab ich ’n Hunger!« Sie legte die Hand auf den Magen: »Das wird schmecken! Mutter hat heute Pellkartoffeln un Hering!«
»Ich gehe mit!« Seinen Schritt dem ihrigen anpassend, trabte er neben der eilig Trippelnden her.
Sie war ganz rot geworden: was würde die Mutter sagen, wenn sie Wolfgang mitbrachte?! Nein, das ging wirklich nicht an, es war ja heute, gerade heute bei ihnen nicht aufgeräumt! Und gelogen hatte sie auch: es gab ja gar nicht Hering, nur Zwiebelsauce zu den Pellkartoffeln!
Sie genierte sich vor Wolfgang. »Nee, jeh du man nach Hause,« sagte sie und verschanzte sich hinter einem Schmollen, »biste so lange nich bei uns jewesen, brauchste auch heute nich. Ich bin dir böse!«
»Mir böse – mir?! Was hab ich denn getan? Ich sollte doch nicht zu euch kommen, ich durfte doch nicht – dafür kann ich doch nicht! Frida!«
Sie fing an zu rennen, blutrot im Gesicht; er rannte neben ihr her. »Frida! Frida, mir, mir kannst du doch nicht böse sein?! Och, Frida, sei doch nicht so! Frida, laß mich doch mitgehen! Nun bin ich dir endlich mal begegnet, und nun bist du so?!«
Es lag Trauer in seiner Stimme. Sie fühlte die wohl heraus, aber zugleich ärgerte sie sich: was brauchte er sich ihr so anzukleben! Flebbe würde das auch gar nicht recht sein! Und so sagte sie schnippisch: »Wir passen ja doch nich zusammen. Jeh du nur mit deinen Fräuleins. Zu denen jehörste nu mal!«
»Sag das noch mal – untersteh dich!« Grob schrie er’s und hob die Hand, als wollte er ihr einen Schlag geben. »Dumme Zieraffen, was gehen die mich an?!«
Er hatte recht – das mußte sie ihm innerlich zugestehen – nie hatte er sich an einen der Backfische herangemacht, die hier rund herum in den Villen wohnten. Sie wußte es wohl, daß er sie allen vorzog, und fühlte sich geschmeichelt in ihrer Eitelkeit; besänftigend sagte sie, aber zugleich ausweichend: »Nee, Wölfchen, du kannst aber doch nich mehr mit mir jehen, es paßt sich doch nu mal nich mehr!« Und sie bot ihm die Hand: »Adieu, Wolfgang!«
Sie waren gerade zwischen dem Buschwerk eines kleinen Schmuckplatzes mit Bänken, an dem die Villen, hinter Vorgärten ganz versteckt, weit zurücklagen. Kein Mensch war in Sicht im stillen Mittagssonnenglanz. Aber wären auch Leute gekommen, es hätte ihn nicht abgehalten; mit beiden Armen packte er sie wie in einer Art von Wut: »Ich gehe mit – ich laß dich nicht!«
Unsanft wehrte sie sich: was fiel dem dummen Jungen ein?! Der war wohl verrückt?! »Laß mich doch,« fauchte sie wie eine kleine Katze, »läßte mich jleich los?! Au! Warte man, ich sage es Flebben, der soll dir auf ’n Kopp kommen! Laß mich doch in Ruhe!«
Er ließ sie nicht los. Ohne Wort hielt er sie umklammert, seine Bücher lagen wieder im Staub.
Wollte er sie küssen oder schlagen?! Sie wußte es nicht; aber sie hatte Angst vor ihm und wehrte sich wie sie konnte. »Du Durchbrenner,« zischte sie ihn an, »na, du bist ’n Schöner! Rennt fort von Hause, verkriecht sich im Walde! Aber sie haben dir ja doch jekriegt – ätsch!«
Er hatte sie plötzlich losgelassen; sie stand vor ihm und höhnte ihn aus. Nun hätte sie gut fortlaufen können, abernun reizte es sie, stehen zu bleiben und ihn herunterzumachen: »Durchbrenner! Auskneifer!«
Er war sehr rot geworden, den Kopf hielt er tief gesenkt.
»Wie konntste das bloß machen?« fuhr sie fort mit einer gewissen Grausamkeit. »Na, so dumm! Alle haben se dir ausjelacht! Wir wollten ’t absolut erst jar nich jlauben. Nee, ich sage, rennt der Bengel weg, ohne Jeld, ohne Mütze, ohne ’n Stück Brot in der Tasche! Du wollt’st wohl so nach Amerika, was?!« Sie musterte ihn von Kopf bis zu Füßen, und dann warf sie ihren Oberkörper ein wenig hintenüber und lachte laut: »Na, so was!«
Er hob den Kopf nicht, murmelte nur vor sich hin: »Lachen sollst du nicht drüber – nein, lachen nicht!«
»Na, was denn? Vielleicht weinen? Was jeht’s mich an! Deine Mutter hat jenug drüber jeweint, un dein Vater ist ’rumgerannt wie ’n Verrückter. Die janzen Beamten vons Revier waren auf ’n Beinen. Sag mal, du hast wohl ordentlich Dresche jekriegt, als sie dir nach Hause brachten am Schlafittchen?!«
»Nein!« Er hob plötzlich den Kopf und sah ihr starr in die ein wenig boshaft funkelnden Augen.
Es war etwas in diesem Blick – ein stummer Vorwurf – das zwang sie, ihre Lider zu senken.
»Geschlagen haben sie mich nicht – das hätte ich mir auch nicht gefallen lassen – nein, geschlagen nicht!«
»Eingesperrt?« fragte sie neugierig.
Er gab ihr keine Antwort; was sollte er sagen?! Nein, eingesperrt hatten sie ihn nicht, er durfte frei umhergehen in Haus und Garten, auf der Straße, in der Schule – und doch, er war doch nicht frei!
Tränen schossen ihm plötzlich in die Augen; stammelndund stockend brachte er’s heraus: »Du – du solltest – mich – nicht – nicht höhnen – Frida! Ich bin so – so –«
Er wollte sagen ›unglücklich‹; aber das Wort kam ihm zu klein vor und auch wieder zu groß. Und er schämte sich, es laut auszusprechen. So stand er stumm, wie mit Blut übergossen; und nur Tränen, die er nicht mehr zurückhalten konnte, rollten über sein Gesicht und fielen in den Staub der Straße.
Es waren Tränen des Schmerzes und der Wut. Über ein halbes Jahr war’s nun schon her – ach, schon länger – aber es drückte ihn doch noch, als wäre es gestern gewesen. Keinen Augenblick noch hatte er’s vergessen, daß sie ihn eingefangen hatten mit solcher Leichtigkeit. So bald hatten sie ihn gefunden! Beim Morgengrauen schon, noch ehe die Sonne eines neuen Tages aufgegangen war. Und eingebracht hatten sie ihn im Triumph. Was ihm eine große Tat gewesen war, ein Heldenstück, das war ihnen ein Dummerjungenstreich. Die Mutter hatte wohl viel geweint, aber der Vater hatte ihn nur am Ohrläppchen gezogen: ›Einmal und nicht wieder, mein Sohn, das merke dir!‹
Wolfgang weinte still, aber heftig. Frida stand vor ihm und sah ihn weinen, und plötzlich schoß es auch ihr naß in die Augen – sie war doch immer seine gute Freundin gewesen. Nun weinte sie mit.
»Wölfchen,« schluchzte sie, »weine man nich! Es is ja nich so schlimm! Die Leute wissen schon nischt mehr davon – so was verjißt sich! Zu schämen brauchste dir noch lange nich – warum denn? Daß de denen bei dir zu Hause mal en bißchen bange jemacht hast, schad’t jar nischt! Nu sagste einfach, wenn se dir nich zu uns lassen: ›denn renne ich wieder weg!‹ Komm man nächsten Sonntag nachmittag, denn jehe ich nich mit Artur un Flebbe – nee, denn warte ich auf dich!«
Mit der einen Hand wischte sie sich die Tränen ab, mit der andern ihm.
So standen sie im hellen Sonnenglanz, inmitten von blühenden Büschen. Flieder duftete; ein Rotdornbaum und ein Goldregen streuten, geschüttelt vom leisen Maiwind, ihre schönfarbigen Blütenblättchen über sie. Der dunkle und der blonde Kopf neigten sich dicht zueinander.
»Frida,« sagte er und faßte ihre Hand so fest, als klammerte er sich daran, »Frida, bistdumir denn wenigstens noch gut?!«
»Na, natürlich!« Sie nickte und ließ, noch Tränenspuren im Gesicht, gleich wieder ihr helles, frohes Lachen ertönen. »Das wäre ’ne nette Freundschaft, wenn die so rasch in die Wicken jinge! Da –!« Sie spitzte den Mund und gab ihm einen Kuß.
Er wurde sehr verlegen, sie hatte ihm ja noch nie einen Kuß gegeben.
»Da!« Sie gab ihm noch einen. »Un nu sei man auch wieder verjnügt, mein Junge! Es is ja so ’n wunderschönes Wetter!«
* *
*
»Du kommst heute spät,« sagte die Mutter, als Wolfgang, statt um eins, erst um zwei aus der Schule kam. »Du hast doch nicht etwa nachbleiben müssen?«
Ein Gefühl des Unmuts stieg in ihm auf: wie kontrollierte sie ihn doch immer! Die frohe Stimmung, in die ihn seine Freundin Frida versetzt hatte, war hin; die Fesseln drückten wieder. Aber er dachte noch viel an Frida. Am Nachmittag, beim Arbeiten, tauchte ihr Kopf mit dem dicken Haarknoten immer hinter seinem Pult auf und reckte sich über sein Buch und störte ihn; aber es war eine angenehme Störung. Schade, daßFrida so wenig Zeit mehr hatte! Wie war das doch schön gewesen, als sie noch Kinder waren! Sie war ihm immer die Liebste gewesen, mit ihr hatte er noch besser spielen können als mit den beiden Jungen, sie hatte ihn immer verstanden und immer zu ihm gehalten – ach!
Es war ihm, als müßte er jetzt den Jungen, der damals Räuberhauptmann gespielt und sich Kartoffeln in der Asche gebraten hatte, als müßte er selbst den Jungen, der einmal so krank gewesen war, daß man ihn, als er zum ersten Mal an die freie Luft sollte, im Krankenstuhl fahren mußte, als müßte er diesen Jungen so recht aus tiefster Seele beneiden. Der, der jetzt hier am Pult saß und zerstreut über seine Hefte hinweg ins Leere blinzelte, der war dieser Junge nicht mehr. Der war kein Kind mehr! Es kam Wolfgang auf einmal vor, als läge eine goldene Zeit unwiederbringlich verloren und weit hinter ihm. Als hätte er gar keine Freuden mehr vor sich. Hatte der Prediger, zu dem er jetzt in die Konfirmandenstunde ging, nicht auch gesagt: ›Ihr seid nun nicht Kinder mehr?!‹ Und hatte der Prediger nicht weiter gesprochen: ›Der Ernst des Lebens tritt nun bald an euch heran?!‹ Ach, der war schon da!
Die Stirn gerunzelt, das zerkaute Ende des Federhalters zwischen den Zähnen, saß Wolfgang unlustig vor seiner Arbeit. Er brütete. Allerlei Gedanken kamen ihm, die er früher nie gehabt hatte; Worte fielen ihm auf einmal ein, die er noch nie so überlegt hatte. Was hatten eigentlich die in der Klasse dabei, daß sie ihn oft so sonderbar fragten?! Sie fragten nach seinen Eltern – na, was war denn an denen so Merkwürdiges?! – und wechselten dabei untereinander Blicke und sahen ihn so neugierig an! Was hatte er denn Komisches an sich?! Der Lehmann war am neugierigsten – und so unverschämt! Der hatte ihn neulich so verschmitztangeplinkt von der Seite und die Backen aufgeblasen, als müßten die platzen beim Lachen über das besonders witzige: ›Du siehst deinem Alten aber mal verflucht wenig ähnlich!‹ Sah er wirklich weder Vater noch Mutter ähnlich – keinem von beiden?!
Als Wolfgang sich heute am Abend auskleidete, stand er lange vor dem Spiegel, der über seinem Waschtisch hing, ein Licht in der Hand, und hielt es bald rechts, bald links, bald höher, bald tiefer. Heller Schein fiel auf sein Gesicht. Der Spiegel war gut, gab jeden Zug treulich wieder in seinem klaren Glas – aber da war keine, auch gar keine Ähnlichkeit zwischen dieser derben Nase und dem feinen Näschen der Mutter! Auch des Vaters Nase war ganz anders. Und keiner von den Eltern hatte eine so breite Stirn mit tief hineingewachsenem Haar, und auch nicht so fast zusammenstoßende Brauen – dunkle Augen hatte der Vater zwar, aber sahen sie diesen hier, die so schwarz waren, daß selbst das ganz nahe gehaltene Kerzenlicht sie nicht erhellen konnte, eigentlich ähnlich?!
Mit einer Miene der Ungewißheit wendete sich der Knabe endlich ab. Und doch war in dem Seufzer, den er jetzt ausstieß, etwas von leiser Befreiung. Wenn er ihnen äußerlich denn so wenig ähnlich sah, brauchte er sich dann zu wundern, daß er oft auch so ganz, ganz anders dachte und fühlte als sie?!
Merkwürdig, wie die Jungen in der Schule ein Abklatsch von zu Hause waren! Und wie die großen Kerle noch ihren Müttern am Rockzipfel hingen! Da war der Kullrich, der hatte vierzehn Tage gefehlt, weil seine Mutter gestorben war, und als er zum ersten Mal nachdem wieder in die Schule gekommen war – eine schwarze Binde um den Jackenärmel –, war die ganze Klasse wie verdreht gewesen. Sie gingen mit ihm um, als wäre er ein rohes Ei, und sprachen ganz gedämpft,und kein Mensch machte einen Witz. Und als zufällig in der Konfirmandenstunde, in die Kullrich auch ging, der Spruch vorkam: ›So euch Vater und Mutter verlassen, der Herr nimmt euch auf,‹ guckten sie alle wie auf Kommando nach ihm hin, und der Kullrich legte den Kopf auf seine Bibel und hob ihn die ganze Stunde nicht mehr auf. Nachher ging der Lehrer zu ihm hin und sprach lange mit ihm und legte ihm die Hand auf den Kopf.
Das war schon eine ganze Weile her, aber vergnügt war der Kullrich noch immer nicht. In der Pause, wenn alle auf dem Hof promenierten und Butterbrot aßen, stand er fern und aß nicht. War es denn so schwer, die Mutter zu entbehren?! –
Es war heute eine wundervolle Mondscheinnacht über den schweigenden Kiefern; lange, lange noch lag der Knabe im Fenster. Die Augen brannten ihm; wie ein Mückenschwarm, der dicht wie eine Wolke in der Luft auf und nieder wirbelt, schwirrten ihm die Gedanken. Woher kamen sie, woher nur so auf einmal?!
Er gab die heiße Stirn, die Brust, auf der das Nachthemd auseinander geglitten war, dem kühlen Atem der Mainacht preis – ah, das tat gut! Das war das Beste, das Einzige, was sänftigte, was Ruhe gab! Ha, diese freie Luft, so rein, so frisch!
Wo jetzt wohl die Cilla sein mochte?! Er hatte nie mehr von ihr gehört. Die war jetzt da, wo er auch gerne hätte sein mögen – ach, so gern! Durch die stille Nacht kam’s wie schwebender Glockenklang, und er reckte die Arme und bog sich weit und weiter zum Fenster hinaus.
In dieser Nacht träumte Wolfgang so lebhaft von Cilla, daß er, als er erwachte, glaubte, sie stehe an seinem Bett, sie sei noch gar nicht fort von ihm. Aber dann sah er, als ersich die Augen gerieben hatte, daß der Platz, auf dem sie noch eben freundlich lächelnd gestanden hatte, leer war.
Nach den Schulstunden mußte er in die Konfirmandenstunde; nächste Ostern sollte er eingesegnet werden. Er war zwar noch etwas jung, aber Schlieben hatte zu Käte gesagt: ›Er ist körperlich so sehr entwickelt. Wir können ihn doch nicht als baumstarken, wenigstens äußerlich völlig erwachsenen Menschen einsegnen lassen. Sein Alter ist übrigens auch ganz das richtige. Es ist viel besser für ihn, wenn er nicht erst zu reflektieren anfängt!‹
Ob er nicht doch schon reflektierte?! Es war Käte oft, als wiche der Junge ihr aus, wenn sie ihn über die Religionsstunden befragte. Verstand der Lehrer es nicht, seine Seele zu fesseln? Doktor Baumann galt für einen ausgezeichneten Theologen, seine Predigten wurden gestürmt, es war eine besondere Vergünstigung, sich der überreichen Zahl seiner Konfirmanden anreihen zu dürfen; alle Schüler schwärmten für ihn, Leute, die er vor zehn, fünfzehn Jahren eingesegnet hatte, sprachen noch davon wie von einem Erlebnis.
Käte machte es sich zur Aufgabe, die Predigten des beliebten Geistlichen fleißig zu besuchen. Sonst war sie eigentlich nur Weihnachten und Karfreitag zur Kirche gegangen, jetzt ging sie fast alle Sonntag, ihrem Knaben zulieb, denn er mußte jetzt gehen. Sie gingen Sonntags gemeinsam aus dem Haus, fuhren gemeinsam zur Kirche, saßen nebeneinander; aber während sie dachte: ›Wie geistvoll, wie durchdacht, welch ein Schwung, muß der ein jugendliches Gemüt nicht mit sich fortreißen?!‹ – dachte Wolfgang: ›Wär’s doch nur schon aus!‹ Er langweilte sich. Und noch nie war seine Seele hier aufgeflogen so wie beim Klingeln des Glöckchens, wie beim Heben der Monstranz, wie beim Duften des Weihrauchs vor dämmernden Altären.
Es war etwas in ihm, das trieb ihn zu jener Kirche, die er einst mit Cilla besucht hatte. Wenn er zur Konfirmandenstunde ging, mußte er da unweit vorüber; aber wenn der Weg auch weiter gewesen wäre, er hätte es doch möglich gemacht, dort einzutreten. Nur ein paar Minuten, nur wenige Sekunden hier in einem Winkel stehen, nur ein paar Atemzüge tun in dieser süßen, ahnungsvollen, einlullenden Weihrauchluft! Allzeit fand er diese Kirche offen; und wenn er dann wieder hinaustrat in das Brausen Berlins, ging er durch die Straßen mit ihrem Rennen und Fahren wie einer, der aus einer andern Welt kommt. Dann achtete er nicht auf das, was man ihm vortrug an Kirchenlehre und Kirchengeschichte – was waren ihm Doktor Martin Luther, Calvin und andere Reformatoren?! – seine Seele war gefangen, sein Denken untergegangen in einem Gefühl dumpfer Gläubigkeit.
So gingen Sommer und Winter hin. Als die Tage längten und eine milde Sonnenwärme alle winterliche Feuchte bald zu trocknen versprach, ließ Schlieben seine Villa verputzen und neu streichen. Auch sie sollte ein festliches Kleid anziehen zu des Sohnes Festtag.
Wunderhübsch guckte das weiße Haus mit den roten Dächern und den grünen Läden hinter den Kiefern hervor; es hätte fast etwas Ländliches gehabt, wären die großen Spiegelscheiben nicht gewesen und der neu angebaute Wintergarten mit seinen Palmen und blühenden Azaleen. Im Garten säte Friedrich den Rasen neu ein, und ein Gehilfe stach die Rabatten sauber ab; überall wurde gegraben und gehackt. Dreist und froh zirpten Spatzen überlaut; aber Papierschnipsel, die, an langen Bindfäden über eingesäte Rasenflächen gespannt, im klärenden Wind flatterten, scheuchten die Frechen vom willkommenen Futter. Alle Gärten erwachten; die Rosenstämmchen waren zwar noch nicht von ihren Hüllen befreit,in denen sie aussahen wie Strohpuppen, aber an den Obstbäumen zeigten sich die knospenden Triebe, und der Seidelbast prangte in seinen pfirsichfarbenen Blüten. Kinderwagen in Weiß und Himmelblau fuhren die Straße auf und nieder, das Baby drinnen guckte schon hinterm Gardinchen vor, und kleine Füßchen trippelten noch nebenher. Aus allen Türen kamen Bonnen und Kinder, die Knaben mit Reifen, die Mädchen mit dem Ball in dem gestrickten Netz. Kichernde Backfische zogen zum Tennis, und junge Herrchen, vom Tertianer an, machten ihnen die Cour.
Überall Helle und Heiterkeit. In den Kiefernwipfeln freudig-erregtes Rauschen, in den Weiden am Seerand ein Auf und Ab von quellendem Saft. Ein Zug von Staren zog über die Grunewaldkolonie, und jeder Vogel äugelte nieder und suchte sich aus, in welchem Kästchen der hohen Stangenkiefern es ihn am meisten gelüstete zu nisten.
Oben auf Wolfgangs Bett lag der neue Anzug ausgebreitet – schwarze Hose und Rock – zur Konfirmation. Nun sollte er ihn einmal anprobieren.
Es war ein eigentümliches Gefühl in Käte, ein Herzzittern dabei, als sie ihm half, den ungewohnten Anzug anlegen. Bis jetzt war er immer wie ein Junge gekleidet gewesen, in Kniehose und Matrosenbluse, nun sollte er auf einmal wie ein Herr angezogen gehn. Der festlich-schwarze, feine Anzug kleidete ihn nicht; nun sah man erst, daß er derb war. Steif stand er da, die lange Hose zwängte ihn, der Rock war ihm ebenso unbequem; er machte ein unglückliches Gesicht.
»Sieh dich doch an, sieh dich doch mal an,« sagte Käte und schob ihn vor den Spiegel.
Er sah hinein; aber er sah den Anzug nicht, er sah nur das Gesicht der Mutter, die mit ihm zu gleicher Zeit insGlas blickte, und sah, daß da auch nicht ein einziger Zug gemeinsam war zwischen ihm und ihr.
»Wir sehen uns kein bißchen ähnlich,« murmelte er.
»Wie – was sagst du?« Sie hatte nicht verstanden.
Er antwortete nicht.
»Gefällt dir der Anzug nicht?«
»Scheußlich!« Und dann starrte er zerstreut. Was hatten sie doch heute vormittag wiederum gesagt? Sie hatten gestichelt! Lehmann und von Kesselborn, die mit ihm eingesegnet wurden. War es darum, weil ihre Väter nicht so reich waren?! Kesselborns Vater war ein verabschiedeter Offizier, jetzt Standesbeamter, aber Kesselborn war schrecklich eingebildet auf sein ›von‹; und Lehmann war Kesselborns Intimus. Aber er hatte den beiden gesagt, daß er eine silberne Uhr schon seit dem achten Jahr hätte, und daß er zur Einsegnung eine echt goldene bekäme, die er dann immer, für alle Tage tragen würde – das hatte sie schmählich geärgert!
Vor Beginn der Konfirmandenstunde war’s gewesen – sie waren schon alle versammelt –, da hatte Kesselborn auf einmal gesagt: »Der Schlieben ist ein Protz,« und sich dann direkt zu ihm gewendet: »Hab dich nur nicht so!« Und Lehmann hatte noch zugefügt, auch recht laut, daß es alle hören mußten: »Tu dich man nicht so dicke, man weiß doch, was man weiß!«
»Was weißt du?!« Er hatte dem Lehmann anspringen wollen wie ein Tiger, aber da war der Geistliche eingetreten, und sie hatten gebetet. Und als der Unterricht, von dem er fast nichts gehört hatte – er hörte immerfort das andre –, aus gewesen war, wollte er sich über Kesselborn und Lehmann hermachen, aber die saßen nahe bei der Tür und waren schon weg, ehe er aus seiner Bank herauskonnte. Er sah sie nicht mehr. Aber er sah Blicke, in denen eine gewisse Neugierund Schadenfreude lauerte – oder war’s ihm nur so?! Er war sich darüber nicht klar geworden, er hatte auch nicht weiter mehr darüber nachgedacht. Aber wie er nun das Gesicht der Mutter so dicht neben dem seinen im Spiegel erblickte, fiel ihm auf einmal alles wieder ein. Und schwer fiel’s ihm ein, plumpte wie ein Stein in sein Denken.
»Ich sehe dir gar nicht ähnlich,« sagte er noch einmal. Und dann belauerte er sie: »Dem Vater auch nicht!«
»O doch,« sagte sie hastig, »dem Vater sehr!«
»Keine Spur!«
Sie war heftig errötet, und nun sah er, daß sie jäh blaß wurde. Jetzt lachte sie, aber es war etwas Gezwungenes in ihrem Lachen. »Es gibt doch viele Kinder, die ihren Eltern wenig ähnlich sehen – das macht’s doch nicht!«
»Nein, aber –!« Er hielt auf einmal inne und sprach nicht weiter und zog die Brauen finster zusammen, wie er immer tat, wenn er angestrengt nachdachte. Und unter diesen zusammengezogenen Brauen hervor schoß er so scharfe, so mißtrauische, so prüfende Blicke in den Spiegel, daß Käte unwillkürlich zur Seite wich und ihr Kopf nicht mehr neben dem seinen im Glas zu sehen war.
Es hatte sie durchfahren mit plötzlichem Schreck: was meinte er, war’s Absicht, daß er so sprach, oder sagte er’s völlig unbefangen?! Was ahnte er – oder ahnte er nichts?! Was hatte man ihm gesagt, was wußte er?!
Ihre Hände, die sich jetzt an seinem Anzug zu schaffen machten – sie war niedergekniet und zupfte seine Beinkleider länger herunter –, waren voll nervöser Hast, zupften hier, zupften da und zitterten.
Er sah jetzt nicht mehr in den Spiegel, er sah auf die Knieende herunter mit einer Miene, die sich nicht enträtseln ließ. Für gewöhnlich war sein Gesicht nicht ausdrucksvollund weder schön, noch häßlich, weder bedeutend, noch unbedeutend – es war ein noch ungeprägtes, glattes, unausgereiftes Knabengesicht – aber nun war etwas darin, etwas Zweifelndes, Unruhevolles, was es älter erscheinen ließ, in die Stirn Furchen zog und um den Mund Linien. Hinter dieser gekrausten Stirn schienen Gedanken zu kreisen; die derben Nasenflügel bebten leise, die Lippen preßten sich in einem Zucken aufeinander.
In dem Zimmer ward es ganz still. Die Mutter sprach kein Wort, der Sohn auch nicht. Draußen zwitscherten Vögel, man hörte jedes leiseste Piepen und das heimliche Sumsen des Frühlingswindes in den Kiefernwipfeln.
Langsam erhob sich Käte von den Knieen. Es wurde ihr schwer, aufzustehen, wie eine Lähmung fühlte sie’s in allen Gliedern. Mit der Hand nach dem nächsten Möbel tastend, half sie sich auf.
»Zieh dich nun wieder aus,« sagte sie leise.
Er war schon dabei, sichtlich erleichtert, die ungewohnte Kleidung von sich streifen zu können.
Sie hätte so gern mit ihm gesprochen, irgend etwas ganz Gleichgültiges – nur sprechen, sprechen! – aber sie fühlte eine sonderbare Scheu vor ihm. Es war ihr, als könnte er zu ihr sagen: ›Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?!‹ Und sie verstummte vor Angst.
Nun hatte er den neuen Anzug abgelegt und stand vor ihr mit der breiten Brust, die das nicht zugeknöpfte Hemd nackt ließ, mit den stämmigen Beinen, von denen die Strümpfe herabgerutscht waren, in seiner ganzen grobknochigen, nur halb bekleideten Derbheit. Sie wendete den Blick ab – war das schon ein großer Mensch! – und gleich darauf sah sie doch wieder hin: warum soll eine Mutter sich scheuen, ihr Kind zu betrachten?! Eine Mutter –?!
Vor ihren Blicken flimmerte es. Zur Tür schreitend, drehte sie nicht mehr den Kopf nach ihm, als sie sprach: »Ich gehe jetzt herunter. Du wirst wohl auch ohne mich fertig!«
Er murmelte etwas Unverständliches. Und dann stand er noch lange, halb bekleidet, und blickte so starr ins Spiegelglas, als könnten die Pupillen seiner Augen sich nicht bewegen. –
Immer näher rückte der Tag der Konfirmation; am Palmsonntag sollte sie stattfinden. Doktor Baumann hatte den jungen Menschen die Bedeutung des Schrittes, den sie zu tun im Begriff standen, sehr lebendig vor Augen gerückt. Nun fiel doch etwas vom Strahl der Feierlichkeit in Wolfgangs Gleichgültigkeit. In den letzten Stunden war er aufmerksamer; das kahle Konfirmandenzimmer mit den wenigen Bildern an den einförmigen Wänden dünkte ihn nicht ganz so kahl mehr. War’s nur, weil er sich daran gewöhnt hatte?! Gedämpfteres Licht fiel durch die sonst so tagesnüchternen Fenster und huschte verschönernd über die langweiligen Reihen der Bänke.
Selbst Lehmann und Kesselborn waren ihm in diesem Lichte nicht ganz so unsympathisch mehr. Es wurde alles milder, versöhnlicher. Die harte Knabenseele wurde weich. Wenn der Geistliche über die Gebote sprach und besonders das eine betonte: ›Ehre Vater und Mutter,‹ dann war es Wolfgang, als hätte er seinen Eltern vieles abzubitten: besonders der Mutter.
Aber kam er dann nach Hause, wollte ihr etwas Liebes sagen – ganz unvermittelt, so einfach aus seinen Gedanken heraus – dann war es ihm doch nicht möglich, denn sie fühlte ihm seine Absicht nicht an.
Manchen Tag ging Käte ihm zur Bahn entgegen – o, wie müde mußte der arme Junge heimkehren! Das warjetzt eine zu große Hetzerei, so oft in die Stadt hinein zum Unterricht, und in der Schule gab’s vorm Semesterschluß auch doppelt große Anstrengungen! Streicheln hätte sie ihn mögen, ihn hätscheln wie vormals das kleine Wölfchen. Aber wenn sie ihn dann daherschlendern sah, gar nicht ausschauend nach ihr, ohne Ahnung, daß sie da war, ihn zu erwarten, dann bog sie wohl rasch um die nächste Ecke oder blieb still stehen hinter einem Baum und ließ ihn vorüber. Er bemerkte sie gar nicht. – – –
Es waren ihrer viele, die der beliebte Geistliche zur Einsegnung vorzubereiten hatte, zu viele; er konnte sich nicht um jeden einzelnen kümmern, aber er glaubte doch der Mutter, die in einer gewissen Unruhe ihn aufsuchte, um ihn zu fragen, wie es denn um Wolfgang stehe, versichern zu können, daß er mit ihm zufrieden sei.
»Ich weiß, ich weiß, gnädige Frau! Ihr Herr Gemahl hat es für seine Pflicht gehalten, mich aufzuklären – ich habe ja auch den katholischen Taufschein des Knaben gesehen. Aber ich glaube Sie mit gutem Gewissen versichern zu können: der junge Mensch ist ein aufrichtig überzeugter evangelischer Christ! – Wie, Sie haben noch irgendwelches Bedenken hierüber?!« Ihre zweifelnde Miene, die fragende Ängstlichkeit ihres Blickes erstaunten ihn.
Sie nickte: ja, sie hatte ein Bedenken. Merkwürdig, wie ihr das in letzter Zeit so gekommen war! Aber ein Fremder, ein andrer würde es nicht verstehen, auch dieser Mann mit den klugen Augen und dem milden Lächeln nicht. Sie hätte dies Bedenken ja auch kaum in Worten zum Ausdruck bringen können. Und weit, weit hätte sie ausholen müssen, so weit, von damals an, wo sie das Kind seiner Mutter wegnahmen, es ganz in ihre eignen Hände nahmen, das ganze Kind mit Leib und Seele!
So sagte sie nur: »Also Sie glauben – Sie glauben wirklich – o, wie ich mich freue, Herr Doktor, daß Sie glauben, wir haben recht getan?!« Erwartungsvoll sah sie ihn an – ah, sie lechzte ja nach einer Bestätigung – und er neigte den Kopf:
»So weit unser Wissen und Verstehen geht – ja!« –
In der Nacht auf Palmsonntag schlief Wolfgang nicht. Es war ihm heute in der letzten Konfirmandenstunde gesagt worden, er solle sich innerlich vorbereiten. Und er fühlte es auch, daß morgen ein wichtiger Tag sei; ein Abschnitt. Er mühte sich, über all das zu denken, was ein Konfirmand bedenken soll. Er war sehr müde und konnte das Gähnen nicht unterdrücken, aber er riß krampfhaft immer wieder die Lider auf. Doch konnte er’s nicht hindern, daß seine Gedanken sich immer wieder verwirrten; er war nicht mehr ganz klar.
Was für einen Spruch er wohl bekommen würde morgen, zum Andenken an die Konfirmation?! Sie hatten in der Schule schon oft darüber hin und her geredet, jeder hatte seinen Lieblingsspruch, auf den er hoffte. Und ob er morgen früh vor der Kirche die goldene Uhr kriegen würde?! Selbstverständlich! Hei, wie würden sich dann Kesselborn und Lehmann bosen – – die Halunken! Unter die Augen halten würde er sie ihnen: da, seht mal! Grün sollten sie werden vor Neid – was brauchten sie über ihn zu tuscheln, sich um Sachen zu kümmern, die sie gar nichts angingen?! Pah, beunruhigen konnten sie ihn ja doch nicht, nicht mal ärgern!
Und doch sah er auf einmal sein eignes Gesicht so deutlich vor sich und das Gesicht der Mutter daneben, wie im Spiegelglas. Da war auch nicht ein Zug gemeinsam – nein, nicht einer!
Es war in der Tat doch merkwürdig, daß Mutter undSohn sich so wenig glichen! Er war jetzt hell wach und fing an zu grübeln, die Stirn in Falten gezogen, die Hände zusammengeballt. Was meinten sie bloß mit ihren Anzüglichkeiten?! Wenn er das nur wüßte! Ganz zufrieden wollte er dann sein und ganz beruhigt. Aber so, im unklaren, konnte er an gar nichts andres denken. Immer wieder kreiste sein Sinnen um den einen Punkt. Das war ein scheußliches Gefühl, das ihn jetzt plagte, eine große Unsicherheit, in der er tappte wie im Stockfinstern. Licht, Licht! Er mußte Licht bekommen – ha, er würde schon welches bekommen!
Er wälzte sich unruhig, förmlich gequält, und überlegte und grübelte, wie er es herausbringen, wo er die Wahrheit erfahren sollte. Wer würde ihm bestimmt sagen, ob er der Eltern Kind war oder ob er’s nicht war? Warum sollte er denn eigentlich nicht ihr Kind sein?! Ja, er war’s – nein, er war’s nicht! Aber warum denn nicht?! Wenn er nicht ihr richtiges Kind wäre, würde ihm das sehr leid sein? Nein, nein – aber doch, es erschreckte so!
Schweiß lief dem aufgeregten Knaben über den Körper, und doch fror ihn. Fester zog er die Decke um sich und schüttelte sich wie im Fieber. Seltsam gebärdete sich dabei sein Herz, es flatterte ihm in der Brust wie mit unruhigem Flügelschlag. Ach, wenn er doch schlafen könnte und alles vergessen! Morgen wäre dann kein Gedanke mehr daran da und alles wie sonst!
Krampfhaft preßte er die Augen zu, aber der einmal gescheuchte Schlaf kam nicht mehr wieder. Er hörte die Uhren schlagen: unten vom Eßzimmer dröhnte die alte Standuhr herauf, und die bronzene Pendüle aus dem Zimmer der Mutter rief mit silberner Stimme. Die Stille der Nacht übertrieb die Geräusche; so laut hatte er die Uhren noch nie schlagen hören.
Kam der Morgen denn noch nicht, war das Licht denn noch nicht da?! Er sehnte den Tag herbei, und doch scheute er sich vor ihm. Eine unerklärliche Angst überfiel ihn plötzlich – ei, vor was fürchtete er sich denn so?
Wenn er doch schon in der Kirche wäre – nein, hätte er das doch schon hinter sich! Ein Widerstreben war in ihm, eine plötzliche Unlust. Rasend jagte immer derselbe Gedanke durch seinen Kopf, und sein Herz jagte mit; eine Sammlung war ihm nicht möglich. Seufzend drehte er sich in seinem Bette, fühlte sich unendlich vereinsamt, verängstigt, ja verfolgt.
›Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer‹ – ach, jenem einen Gedanken entfloh er nicht, überall war der und immer, immer da! – –
Als die Frühsonne des Palmsonntags sich zwischen den noch geschlossenen Läden durchstahl, in feinen goldenen Stäbchen in die Innenräume drang, kam Käte in das Zimmer ihres Sohnes. Sie war bleich, hatte sie doch die ganze Nacht mit sich gerungen: sollte sie ihm etwas sagen, jetzt an diesem Lebensabschnitt – sollte sie ihm nichts sagen?! Es war etwas, das in ihr flüsterte: ›der Tag ist da, sag’s ihm, du bist es ihm schuldig‹ – aber als die Morgensonne schien, hieß sie die Stimme der Nacht schweigen. Warum es ihm sagen, was kümmerte es ihn? Was er nicht wußte, konnte ihn nicht grämen; doch wenn er es wüßte, dann – vielleicht, daß er dann – o Gott, nur schweigen, nur nicht ihn verlieren!
Aber es drängte sie, ihn ihre Liebe fühlen zu lassen. Als sie hineinkam auf leisen Sohlen, war sie überrascht, denn er stand schon völlig angekleidet, im neuen schwarzen Rock, in den langen Hosen, am Fenster und sah unbeweglich hinausauf das Stück Feld, auf dem man jetzt auch anfing, eine Villa zu bauen. Das Untergeschoß war schon fertig, hoch ragte ein Balkengerüst; es wurde ein gewaltiger Kasten.
»Guten Morgen, lieber Sohn!« sagte sie.
Er hörte sie nicht.
»Du! Wolfgang!«
Da fuhr er herum und sah sie an, erschrocken und als kenne er sie nicht.
»O, du bist schon ganz fertig!« Wie Enttäuschung lag’s in ihrem Ton; sie hätte ja so gern mit Hand angelegt, ihm geholfen, gerade an diesem Tage. In ihrem Herzen war ein wunderliches Gefühl; sie hatte nie geglaubt, daß dieser Tag sie so bewegen würde: war’s denn nicht ein Tag, wie andere Tage auch, ein Festtag natürlich, aber einer von vielen?! Und nun war’s ihr doch, als wäre dieser Tag einzig und als käme nie ein ähnlicher wieder.
Sie ging auf Wolfgang zu, legte die Arme um seinen Nacken und sah ihm tief in die Augen: »Mein Kind!« Und dann lächelte sie ihn an. »Nimm meinen Glückwunsch!«
»Wozu?« Er blickte so fremd über sie hin, daß all das, was sie ihm hatte Inniges sagen wollen, ungesagt blieb. Er war doch noch ganz Kind, trotzdem er sie fast überragte, noch viel zu sehr Kind, er verstand die Bedeutung dieses Tages noch gar nicht! So begnügte sie sich damit, nur noch an seinem Anzug zu bessern, ihm hier ein Fädchen abzunehmen, dort ein Stäubchen abzublasen und ihm den Schlips zurechtzuzupfen. Und dann mußte er den Kopf bücken: sie zog ihm den Scheitel noch einmal in dem sich ungern fügenden, immer wieder die Linie störenden, straffen Haar. Und dann konnte sie doch nicht an sich halten, nahm sein rundes Gesicht zwischen ihre beiden Hände und drückte ihm einen raschen Kuß auf die Stirn.
›Warum nicht auf den Mund?‹ dachte er. ›Eine Mutter hätte ihr Kind auf den Mund geküßt!‹
Sie gingen hinunter zum Frühstück. Blumen standen auf dem Tisch; der Vater saß schon da im schwarzen Gehrock, und auf Wolfgangs Teller lag die goldene Uhr. Eine kostbare Uhr. Er besah sie kritisch: ja, die gefiel ihm! ›Zur Erinnerung an den 1. April 1901‹ stand im Innern der goldenen Schale eingraviert. Weder Kesselborn noch Lehmann würden eine solche Uhr bekommen, keiner der Konfirmationsgenossen auch nur eine annähernd so kostbare! Furchtbar schwer war die Uhr – nun müßte er eigentlich auch noch eine goldene Kette dazu haben!
Die Eltern beobachteten Wolfgang, wie er dastand, die Uhr in der Hand, und darauf niedersah – ja, er freute sich! Und das erfreute sie wiederum, besonders Käte. Sie war dafür gewesen, ihm in den Deckel der Uhr auch noch einen Spruch eingravieren zu lassen, aber Paul hatte das nicht gewollt: nur keine Sentimentalitäten! Aber es war ja auch gut so, der Junge hatte seine Freude an dem Geschenk, also war der Zweck erreicht.
»Sie schlägt auch,« erklärte sie eifrig, »mitten im Dunklen kannst du wissen, welche Stunde es ist. Sieh mal, wenn du hier – siehst du? – wenn du hier drückst!«
»Ja! Gib mal – hier?!« Er war ganz bei der Sache.
Beinahe hätten sie sich verspätet; es war Zeit zum Aufbruch. Zwischen den Eltern ging Wolfgang zur Bahn. Als sie an dem Haus vorüberkamen, in dem Lämkes Portiers waren, stand Frida in der Tür. Sie mußte sich heute früher als sonst am Sonntag herausgemacht haben; sie war schon ganz im Staat, sah allerliebst aus, lächelte und nickte. Gleich darauf steckte Mutter Lämke den Kopf aus dem niedrigen Souterrainfenster und sah dem Knaben nach.
»Da jeht er nu hin,« philosophierte sie. »Wer weeß ooch, wie sich det noch im Leben für ihn jestaltet!« Sie war ganz gerührt.
Es war ein herrliches Wetter heute, ein wirklicher Frühlingstag. Eine festliche Helle glänzte über den geschmackvollen Villen; alle Sträucher trieben, Krokus, Tulpen, Primeln blühten freudig. Selbst Berlin mit seinen grauen Häusermassen und seinem lärmenden Verkehr zeigte ein sonntägliches Gesicht. Es war so viel stiller auf den Straßen; freilich sausten die elektrischen Bahnen dahin, und Droschken fuhren und Equipagen, aber keine Lastwagen rollten, keine Bier- und Schlächterkarren. Es ging alles so viel stiller zu, wie gedämpft, wie gesänftigt. Die Straßen erschienen noch breiter als sonst, weil sie leerer waren, und die Menschen, die auf ihnen gingen, zeigten andre Gesichter als sonst.
Zur Kirche strömten die Konfirmanden; es war ihrer eine große Zahl Knaben und Mädchen. Meist fuhren die Mädchen im Wagen vor, sie waren ja alle Töchter aus guten Häusern.
Ach, all diese Jugend! Käte konnte eine leis-sehnsüchtige, fast neidvolle Regung kaum unterdrücken: wer doch auch noch so jung wäre! Aber dann ging jeder selbstische Gedanke unter in dem einen Gefühl: der Junge, der Junge, der schritt nun heraus aus der Kindheit Land! Gott sei mit ihm!
Empfindungen, von denen sie lange nichts mehr gewußt hatte, kindlich gläubige, ganz naive Empfindungen durchwogten sie; alles, was die Jahre und das Leben in der Welt so mit sich gebracht hatten, fiel von ihr ab. Heute war sie wieder jung wie die da vorm Altar, vertrauensselig, hoffnungsfroh.
Doktor Baumann machte die Einsegnung sehr mahnend-ernst; viele der jungen Kinder schluchzten nicht minder als ihre Mütter. Ein Schauer wehte durch die gefüllte Kirche, tief senkten sich die jungen dunklen und blonden Köpfe. Kätesah nach Wolfgang hin: sein Kopf war der dunkelste von allen. Aber er hielt ihn nicht gesenkt, sondern aus unsteten Augen irrte sein Blick durch die Kirche, bis hin zu jenem Fenster; dort blieb er starr haften. Was suchte er da – an was dachte er?! Sie glaubte zu bemerken, daß er nicht bei der Sache war, und das schaffte ihr Unruhe. Näher zu ihrem Mann rückend, flüsterte sie: »Siehst du ihn?!«
Er nickte und flüsterte zurück: »Freilich! Er ist größer als alle andern!« Es lag etwas von Vaterstolz in Schliebens Flüstern. Ja, heute an diesem Tage fühlte er es: wenn man auch manche Sorge hatte, die man sonst nicht gehabt hätte, manche Unbequemlichkeit und Unannehmlichkeit, manche Freude hätte man doch auch nicht kennen gelernt! Trotz allem und allem: der Junge konnte gut werden! Wie jünglinghaft seine Erscheinung war! Einen fast männlichen Zug hatte er um den Mund! Sonst war dem Vater das noch nie aufgefallen – machte wohl der schwarze Anzug die Knabengestalt so ernsthaft?!
Wolfgangs Gedanken gingen eigne Wege; nicht die hier vorgeschriebenen. Viele Empfindungen kreisten in ihm, aber keine derselben konnte er festhalten; er war sehr zerstreut. Durchs Viereck in des Kirchenfensters Scheibe sah er leere Luft, und diese belebte sich ihm mit huschenden Gestalten: Vater, Mutter, Frida, Lehrer und Kameraden. Aber alle glitten sie vorüber, keine Erscheinung blieb. Er fühlte sich plötzlich ganz allein inmitten der Menge von Menschen.
Als die Reihe an ihn kam, trat er mechanisch zum Altar, neben sich Kullrich; vor sich Lehmann und Kesselborn. Wie er diese beiden jetzt auf einmal wieder haßte! Seine Uhr, seine goldene Uhr hätte er ihnen vor die Füße werfen mögen: da, nehmt sie! Aber nehmt zurück, was ihr gesagt habt, nehmt’s zurück! Pfui, was war das für eine gräßlicheNacht gewesen – ekelhaft! Die fühlte er noch in den Gliedern; schwer waren seine Füße, und als er jetzt auf dem Polster niederkniete, das auf der Altarstufe lag, waren seine Kniee steif. Kullrich neben ihm weinte in einem fort leise. Aha, der dachte wohl an seine Mutter, die nicht mehr bei ihm war! Armer Kerl! Und plötzlich fühlte Wolfgang, daß ihm etwas Feuchtheißes in die Augen drängte.
Oben summte die Orgel leise, und in das sanfte Tönen sprach die milde Stimme des Geistlichen die Sprüche hinein, die er seinen Konfirmanden ausgesucht hatte:
»Offenbarung Johannis, Kapitel 21, Vers 4. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das erste ist vergangen!«
Aha, das war was für Kullrich! Der hob das tränennasse Gesicht, das so rot und heiß war, zu der Tröstung empor. Aber nun, nun – Wolfgangs Atem stockte – jetzt, jetzt kamseinSpruch! Was würdeerfür einen Spruch bekommen, was würde manihmsagen?!
»Ebräer 13 Vers 14. Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir!«
Das – das sollte für ihn sein?! Was hieß das?!
Eine ungeheure Enttäuschung kam über Wolfgang, denn – hatte er nicht auf den Spruch geharrt wie auf eine Offenbarung?! Der Spruch, der Spruch, der sollte ein Gottesurteil sein! Der wollte sagen: was wahr war – oder was nicht wahr war. Und nun –?!