Mir ist auf der Welt nichts lieber17-6Als das Stübchen, wo ich bin,Denn da wohnt mir gegenüberEine schöne Nachbarin!„Herr Assessor, Ihre schöne Nachbarin in Buchau soll17-7leben!“ rief der muntere zweite Tenor, „die Tochter des Landgerichtspräsidenten.“„Der17-8ist leider selbst noch ledig,“ antwortete trocken der Assessor. „Mir wohnt nichts17-9gegenüber als ein Schmied, dessen Gesellen mich morgens um vier Uhr aus dem süßen Schlummer jagen, das ist eine grausame Nachbarschaft.“Er war eben daran, seinen Jammer näher zu beschreiben, als durch die Hauptthüre der hochaufgeschossene Engländer mit seinem Rotkopf im Gefolge eintrat.„Sankt Florian18-1Zünd’t18-2Häuser an!“sagte leise der zweite Tenor, auf den Rotkopf schauend. Die Mädchen hielten sich die Taschentücher vor den Mund, der Eheherr griff nach seinem roten Tyroler und steckte tief das Gesicht in das Glas. Nur die „Institutsvorsteherin“ und der Assessor hielten Balance18-3mit sicherm Takte. Der Engländer aber sagte in etwas englisiertem, aber sonst anständigem Deutsch:„Ich haben18-4gehabt sehr großes Vergnügen in meinem Zimmer, zu hören solch schönes Gesang. Ich komme zu bitten, daß ich noch mehr höre.“Er sagte das mit solch edlem Anstand, daß einer der Studios aufstand, ihm seinen Stuhl anzubieten und ihn einzuladen, wenn ihm die Gesellschaft behagte,18-5sich niederzulassen. Er stellte ihm alle vor und bat ihn dann ebenfalls zu sagen, „woher18-6des Landes, woher der Männer er sei.“18-7—„Sie sehen, ich bin Engländer, und James ist es auch, der gute alte Junge. Der Name ist nicht notwendig—nennen Sie mich Mr. Brown, und ich bin’s zufrieden,“ sagte er lächelnd. „Wir sind heute Mittag gekommen durch Salzkammergut—beautiful indeed—und konnten18-8nicht mehr weiter. Aber singen Sie, meine Herren, singen Sie, ich bitte.“—Schnell waren die Sänger zusammen, sprachenzuerst leise mit einander und setzten plötzlich kräftig ein in die Weise:Treu19-1und herzinniglich,Robin Adair!Tausendmal grüß ich dich!Robin Adair!Hab’ ich doch19-2manche NachtSchlummerlos zugebracht,Immer an dich gedacht,Robin Adair!Die Verse verklangen. Der Engländer war außer sich vor Freude, als er die heimische Weise klingen hörte. „Das istbeautiful—, aber wo haben Sie ein ähnliches deutsches Lied?“—Die Studios besannen sich.„Nun, singen Sie: ‚Ännchen von Tharau’!“,19-3E-1sagte die „Institutsvorsteherin.“„Richtig, los! eins, zwei, drei, ’Ännchen von Tharau’ ist’s die mir gefällt!“ rief der zweite Tenor. Sie sangen frisch herunter:Ännchen von Tharau ist’s, die mir gefällt,Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.Ännchen von Tharau hat wieder ihr HerzAuf mich gerichtet in Freud’ und in Schmerz.Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut!Du, meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.Käm’ alles Wetter gleich auf uns zu schlahn,19-4Wir sind gesinnt, bei einander zu stahn:Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und PeinSoll unsrer Liebe Verknotigung sein ...„Das ist ein schönes Volkslied, das müssen Sie mir geben. Aber was ist das „Verknotigung?““20-1E-2„Ja, wissen Sie, das ist etwas besonderes. Zum Exempel, wenn ein Jüngling und eine Jungfrau sich so ein bißchen stark lieb haben, so ist das „Verknotigung“. Das kommt von dem Liebesband her, und wenn die zwei Bänder zusammenkommen und geknüpft werden, giebt’s allemal dort eine „Verknotigung“. ‚Der Ausdruck ist obsolet,’ sagt der Herr Professor auf seiner Hitsche20-2—aber er20-3ist gut, sehr gut,“ sagte der zweite Tenor.„O, well, Sir—sehr gut! ich verstehen jetzt „Verknotigung“. Ich lieben sehr das Volkslied20-4der Deutschen.“„Holla!“ rief der zweite Tenor, „das können Sie hier20-5haben, Mr. Brown, aus bester Quelle. Heda, ihr Mannsleut’, singt’s20-6einmal einen Steirer!20-7Meint Ihr denn, wir singen umsonst hier? Jeder, wer zuhört, zahlt20-8einen Zwanziger Münz.20-9Wenn Ihr aber selber singt, braucht’s nix zu zahlen!“Die Leute schauten sich verdutzt an, und keiner sagte ein Wort. Endlich brach der alte Führer das Schweigen:„Wär’20-10schon völlig recht, junger Herr, aber wir Leut’ singen halt anders als d’ Stadtleut’ und könnet’s nit gar schön. Für uns is schon völlig schön genug, draußen auf der Almen—aber für Euch nit!“„Ach was—Ihr singt wie’s20-11Euch ums Herz ist.“„Habt Ihr denn keine Zither?“ fragte der Assessor.„Freilich, freilich, a Zithern is schon da bein’n Tauernwirt.Johann, der gnädige Herr will dein Zithern haben,“ rief der Alte.Der Tauernwirt brachte sie herbei, der Assessor stimmte mit kundiger Hand schnell das gute Instrument und spielte mit ungemeiner Fertigkeit einen „Herzog-Maxländler“21-1und dann einen „Steierischen“ inoptima forma.21-2Im Hintergrunde bewegten sich schon die Füße; die Leute waren elektrisiert, und vorab der Alte mit dem Gemsbarte21-3zog bald das eine, bald das andere Bein hinauf und zuckte mit21-4den Armen wie ein Hampelmann, den man21-5an der Schnur zieht. Plötzlich klang’s21-6aus dem Hintergrund:Und zwoa Blattln21-7und zwoa BleamleUnd a Reb’n um an Stamm,Und was21-8oanonda b’stimmt is,Dös find’t sich a21-9z’samm!Eine helle Stimme sang’s; es war die Spinnerin. Der Assessor begleitete sie, und bald darauf schallte es:21-10B’hüat’21-11dich Gott, mein kleans Dioandl,Es muß a so sein,Mein Leb’n gehört in Koasa,Mein Herz’l g’hört dein!Und mein Herzerl, dös laß ichDahoam in dein Haus,Sonst traf’s leicht a Kugel,Run d’ Liab alli r’aus!“Es21-12sang’s ein stämmiger Bursche. Aber der Alte warnte gleich darauf mit dem Verse:„Gescheit22-1sein, gescheit sein,Nit in Oalles glei n’ein!Es sitzt oft a FuxIn ’ren Pelzkappen d’rein!“Der Engländer war außer sich vor Freude; das hatte er ja22-2schon längst gewünscht zu hören, aber niemand hatte ihm den Gefallen gethan, trotzdem er oft den Leuten Geld geboten hatte. Aber fürs22-3Geld sangen sie wohl22-4drunten im Flachland, die nachgemachten Tyroler in Glacéehandschuhen, aber da oben nicht. Aber jetzt waren die Leute guter Dinge.22-5Die Studenten holten die Sängerin vor. Der Engländer nahm sich22-6den Tauernwirt auf die Seite und redete mit ihm. Der Rotkopf verschwand und kehrte mit etlichen Flaschen zurück. Bald brodelte es22-7aufs neue in der Küche von Kaiserschmarren, auf dem Tische aber dampfte eine prächtige Bowle. Verschämt setzten sich die Leute aus der Hinterstube herein in die Herrenstube und bekamen vollauf zu essen und frischen Tyroler zu trinken, während die Studenten kunstgerecht den Punsch mit Hilfe des Engländers zurecht machten. Alles war ein Geschenk von Mr. Brown, das er anzunehmen bat, als Beitrag dafür,22-8daß er nicht singen könne.Der Assessor spielte,22-9die drei Studenten sangen, die Bauern hörten zu, und der Tauernwirt schmunzelte in der Ofenecke und freute sich, daß heute Abend was22-10draufging, und segnete das Schneetreiben, das ihm die Gäste in seine Klause gejagt.—Draußen stürmte es noch lustig zu—aber was thut’s,22-11wennIm Ofen hell der Kienspan blitzt,Und jeder warm beim andern sitzt—Da thut das Herz im schnellen LaufSich fröhlicher dem Herzen auf!So war’s auch hier, die Fremden waren durchs UnwettereineFamilie geworden. Die Studenten hatten sich schnell unter die Eingebornen gemacht,23-1und die kluge Elsa war ihnen nachgefolgt. Der Rotkopf hatte sich23-2den Alten mit dem Gemsbart ausgewählt, den er trotz allen Anschreiens nicht verstand. Der Engländer unterhielt sich mit der „Vorsteherin“ im feinsten Englisch. Der Assessor aber rückte zu dem jungen Ehepaare. Die zwei andern Mädchen zog’s23-3auch hinüber zu derElseund langsam rutschten sie an der Wand bis hinüber zu ihr.„Wie wär’s,23-4meine Herrschaften, wenn jeder von uns eine Geschichte aus seinem Leben erzählte?23-5Mit dem Schlaf wird’s23-6doch nicht viel werden heute Nacht, nicht wahr, Mr. Brown, trotz Ihres hohen23-7Bettes, und das Stroh für Sie, mein Fräulein,23-8kann warten, bis Sie sich darin verkriechen—“ sagte plötzlich der unermüdliche zweite Tenor.„Ach ja—das wäre23-9schön,“ meinten die Fräuleins;23-10denn sie wußten sich geborgen, daß sie nichts zu erzählen brauchten, weil sie noch nichts erlebt hatten.„Wer fängt an?“ riefen sie alle.„Wir werden den Halm ziehen?“ Sie zogen und den kürzesten zog der junge Eheherr. Alle lachten, denn er war bis jetzt der schweigsamste gewesen, und hatte sich nur an dem süßen Geplauder seiner Frau erfreut.„Nun denn, wenn es sein muß, werde ich Ihnen unsere Hochzeitsgeschichte erzählen. Annlieschen, erschrick nicht, wenn du dabei etliche Male vorkommst, denn sonst ist’s keine Hochzeitsgeschichte,“ sagte er zu seiner Frau, „denn dazu gehören immer zwei.“„Ja, mach’s aber nur nicht zu arg, Hans.“„Wes Zeichens24-1und Standes ich bin, brauchen Sie nicht zu wissen, noch wie wir heißen. Wo wir her24-2sind, merken Sie vielleicht an unsrer Sprache, die so etwas niederrheinisch24-3klingt. Aber wir sind ehrlicher Leute Kind24-4und haben noch keine silbernen Löffel gestohlen.—Also so war’s: Ich lebte mit einer Schwester auf einem Dorfe und war nahe daran, ein Einsiedler zu werden. Die Schwester wußte so gut, wasmirlieb war, und ich wußte, wassiegerne hatte, und so gedachte ich mein Leben still zu beschließen als Einsiedler. Aber es24-5kam anders. Plötzlich kam es24-6wie das Schneetreiben heute und jagte mich in den Ehestand hinein. Meine Schwester hatte just ihr Kaffeekränzchen mit ihren Gespielinnen, in welchem nebenbei auch gestrickt24-7wurde. Die Strickkörbchen wanderten24-8von Kränzchen zu Kränzchen. Die Nächstfolgende nahm die Körbchen immer mit nach Hause. Es24-9war die Reihe an einem muntern, rotwangigen Mädchen. Sie nahm die Körbchen am Schluß des Kränzchens. Es war schon spät, und ich mußte sie ehrenhalber begleiten. Da fiel mir plötzlich ein, daß sie sich mit den Körbchen schleppte, und ich bat: „Ach bitte, geben Sie mir doch24-10die Körbchen.“24-11„Nein,“ sagte sie, „kein einziges.“ Da fuhr mir’s25-1durch den Sinn: Jetzt oder nie!—„Ha,“ sagte ich—„Fräulein, wirklich, Sie geben mir kein Körbchen? Dann bin ich der glücklichste Mensch, dann geben Sie mir einen Kuß.“ Und ehe sie sich’s versah, hatte ich ihr um die Straßenecke herum einen Kuß gegeben. Sie weinte und lachte zugleich, und ich sagte: „Komm,25-2wir wollen gleich umkehren und es der Schwester sagen.“ Wir kehrten Arm in Arm um und stellten uns als Braut und Bräutigam vor. Die Schwester zog mich auf die Seite und sagte: „Sieh, Hans, die25-3habe ich immer gemeint. Sie hat dich auch lieb, das weiß ich.“—Und nun sehen Sie: das ist das Annlieschen hier, meine liebwerte, herzallerliebste Frau.“—Alle schauten sie lachend an; aber in ihr halbverlegenes und in ihrer Verlegenheit um25-4so hübscheres Angesicht brannte25-5plötzlich zum Erstaunen aller—ein kräftiger Kuß. Der kam von der „Institutsvorsteherin,“ welche die junge Frau warm umschlang. „Sie glückliches Menschenkind!“ sagte sie. Die Studenten waren ob25-6Kuß und Rede höchst verwundert. In dem zweiten Tenor stieg ein leises Ahnen und Zweifeln auf, es25-7möge doch am Ende mit der „Institutsvorsteherin“ nicht völlig seine Richtigkeit25-8haben, denn das sei doch nicht nach Knigges25-9‚Umgang mit Menschen’ gehandelt und geredet. Als er ihr tief ins Angesicht schaute, ward’s ihm noch klarer. Sie deuchte ihm wirklich schön zu sein, zu schön für eine Pensionsmutter.25-10Am meisten hatte aber der Assessor mit seiner Konfusion zu kämpfen. Die ganze Hochzeitsgeschichte kam ihm so wunderbar vor. Auch er blickte hinüber zu der „Institutsvorsteherin“ und konnte sich26-1das26-2nicht mit der gehaltenen Würde eines „Pensionsdrachen“ vereinigen.Der Eheherr aber fuhr fort: „Nun hatten wir kurze Verlobungszeit,26-3denn bei mir26-4waren, von den Eltern her, Kasten und Schränke voll von selbstgesponnenem Flachs und Leinen. Meine Schwester räumte bald das Feld, denn sie selber hatte eine alte Liebe, der sie aber nicht eher nachhängen wollte, als bis sie mich versorgt wußte. Die Hochzeit war bald, und die Hochzeitsreise ist es, auf der wir uns befinden. Wir wußten zuerst nicht wohin26-5und kamen mit der Kutsche an einen Knotenpunkt der Eisenbahn gefahren.26-6„Annlieschen,“ sag’ ich, „wo26-7der erste Zug jetzt hinfährt, ob nach Norden oder Süden, da fahren wir hin.“ Annlieschen war’s zufrieden, wie sie überhaupt mit allem zufrieden ist. Also der Zug geht nach Süden. Wir fahren nach Kassel.26-8Ich sage: „Hast26-9du Kassel gesehen, dann siehst du auch Frankfurt26-10am Main, wo die deutschen Kaiser einst gehaust.“ Sagt26-11Annlieschen: „Ja wohl—dahin laß mich mit dir, mein Geliebter, ziehen.“26-12Dort regnet’s in Strömen. Wir sitzen im Westend-Hotel und sehen uns26-13den Regen an. „Anneliese,“ sag’ ich, „das ist langweilig—wir gehen26-14nach dem schönen Heidelberg,26-15da ist’s sonnig und wonnig.“ Aber in Heidelberg, dem Wetterloch,26-16war’s noch schlimmer. Sitzt26-17im „Ritter“26-18dortein Herr, der sagt: „Freiburg27-1im Breisgau—da ist’s schön, herrlich!“—und Anneliese sagt wieder: „Dahin, dahin u.s.w.“27-2Ich gehe mit ihr nach Freiburg, auf den Blauen27-3—„da schimmert was,“27-4sag’ ich. „Anneliese—guck27-5mal27-6—weißt du, was das ist?“ „Nein,“ sagt die Anneliese. „Siehste27-7—das27-8sind die Alpen.“ Anneliese sagt wieder: „Dahin laß uns ziehen.“ Wir ziehen durch die Schweiz nach dem Sankt Gotthard,27-9wo wir eingeregnet werden. Da sitzen zwei Brautpaare in gleicher Nässe, die wollten27-10nach Italien. Italien! das stach27-11mich wie ein Skorpion. „Annlieschen—Italien!—Land,27-12wo die Citronen blühen27-13—dahin laß uns ziehen!“ Wir hatten zwar nichts bei uns als einen kleinen Reisesack in der Hand zu27-14tragen, aber ich sage: „Es27-15kennt uns niemand.“ Also nach Italien! Wir waren in Mailand27-16und Genua.27-17Ich sage: „Annlieschen—weißt du, was da hinten liegt am blauen Meere?“ „Nein,“ sagt sie, „wat27-18soll da liegen?“ „Da liegt Rom—! Rom! Neapel—’s ist ein Katzensprung—also „Annlieseavanti!“,27-19womit der Italiener so viel meint, als wenn der Deutsche „Vorwärts“ sagt. Und schließlich standen wir auf dem Vesuv.27-20Von dort ging’s27-21rasch zurück über Venedig27-22und nun hier herauf nach den Tauern, und da wurden wir festgeschneestöbert.27-23—So, meine Herrschaften, nun wissen Sie Bescheid, wen Sie vor sich haben.“„Beautiful indeed,“ sagte der Engländer. „Sie haben großes27-24Mut. Ich sehr lieben Italien.“Die drei jungen Mädchen waren vor Vergnügen außer sich, also die28-1hatten Italien gesehen, während sie selbst in Venedig umkehren mußten! Die Frau kam ihnen nun doppelt interessant vor. Sie meinten zwar, man müßte es den Leuten immer am Gesicht ansehen, wenn sie in Italien gewesen,28-2aber Anneliese sah so rotbackig drein, und ließ es sich so vortrefflich schmecken, und sie merkten nicht das geringste Absonderliche. Nur daß der junge Eheherr ein Spaßvogel war, der in trockenster28-3Art mit dem fettesten Pinsel malte, das leuchtete ihnen ein.Die Studenten aber ließen die Köpfe hängen. „Ach,“ sagte der zweite Tenor, „wenn unsereinem so etwas mal28-4in dem Garten28-5wüchse! Da lernt man seinen Horatius28-6und Virgil im finstern Loch28-7und sieht sein Leben28-8nichts davon,28-9nicht einmal einen Italiener, von nahem!Beatus ille!“28-10Derweilen der Studio so klagte, stimmte der Assessor die Saiten und fing plötzlich mit schöner, tiefer Stimme das Lied zu singen an:Kennst28-11du das Land, wo die Citronen blüh’n,Im dunkeln Laub die Goldorangen glüh’n,Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?Kennst du es wohl?28-12Dahin! DahinMöcht’ ich mit dir, o mein Geliebter zieh’n!Er sang so schön und herzergreifend, daß alles28-13stille ward.„Waren Sie schon in Italien?“ fragte der Engländer.„Ja, ich war schon da, vor29-1Jahren,“ sagte leise und ernst der Assessor. Er schnitt damit29-2aber jedes weitere Gespräch ab. Man merkte es ihm am Tone an, daß dort etwas von Bedeutung in seinem Leben geschehen sein mußte, womit er nicht herausrücken wollte.„Sie haben das Lied so schön gesungen,“ sagte die „Vorsteherin“—„so schön wie ich es nur einstens von einer Freundin gehört. Aber merkwürdig ganz mit demselben Klange und derselben Auffassung. Es ist doch eigen, wie plötzlich Erinnerungen auftauchen, die sich an irgend ein Lied oder Wort oder einen Klang so unzerreißbar heften!“„Und Ihre Freundin war auch in Italien?“ fragte der Assessor.„Ja—sie ist ganz dort,“ entgegnete die Dame wehmütig. „Sie schläft unter den Cypressen an der Cestiuspyramide,29-3auf dem Kirchhofe der Protestanten zu Rom.“Den Assessor durchzuckte es.29-4Es29-5kämpfte in ihm, ob er weiter fragen sollte. Endlich fragte er doch: „In welchem Jahre war es?“„Es war im29-6Jahre 18.., am 20. Mai, daß sie entschlafen.“Der Assessor stützte den Kopf in beide Hände und sprach kein Wort. Alle schauten still und stumm auf ihn,—am meisten betroffen aber war die „Vorsteherin.“ „Ich habe Ihnen doch29-7nicht wehe gethan?“ sagte sie in weichem, mildem Tone.Der Assessor schaute sie klar und tief mit feuchten Augen an. „Wohl und wehe zugleich, Fräulein Milla!—denn keine andere sind Sie, wiewohl ich Sie nie gesehen, die treueste Freundin meiner unvergeßlichen Elsa.“—Er reichte ihr die Hand und hielt sie lange fest.Nun aber war das Erstaunen an ihr. Ihr Auge leuchtete und eine durchsichtige Röte flammte über die schönen Züge. „Sie sind es, Robert?—Und so sehen wir uns30-1zum ersten Mal in diesem Leben?“Die andern im Kreise schwiegen. Jeder ehrte den Schmerz, den er doch nicht völlig verstand.„Sehr merkwürdig,“ sagte der Engländer leise zu den andern. „Bitte, singen Sie ein Lied, das ist das beste für die Wunden.“ Schnell waren die drei Studenten beisammen und sangen mit heller Stimme:Es30-2ist bestimmt in Gottes Rat,Daß man vom liebsten, das man hat,Muß scheiden;Wiewohl doch nichts im Lauf der WeltDem Herzen, ach! so sauer fälltAls scheiden.Als sie geschlossen, stand der Assessor auf, drückte jedem die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen von Herzen. Vergeben Sie mir den Augenblick, wo ich mich verloren habe und Ihnen vielleicht schwach erschienen bin.“ Die „Vorsteherin“ war noch immer still in sich versunken. Endlich brach der Assessor wieder das Schweigen.„Da Sie so unvermutet Zeugen einer gemeinsamen Erinnerung geworden, so lassen Sie mich Ihnen auch mitteilen, was wir erlebt. Ich darf wohl kurz sein: Es war in meinen Universitätsjahren. Ich war wie Sie, meine Herren, ein fröhlicher Bursche, dem der Himmel voll Baßgeigen31-1hing. Wir sangen auch, wie Sie, Quartette und weckten die Leute des Morgens31-2in der Ruhe und des Abends im Schlaf mit unserm Gesang. Da wurden wir eines Tages gebeten, auf einer Hochzeit zu erscheinen und dem jungen Paare zu singen, dafür31-3sollten wir dann auch mitfeiern. Was thut man nicht als Student, um ein gut Glas Wein zu erjagen? Wir sangen und mischten uns unter die Gäste, die aus allen Himmelsgegenden zusammengeflogen waren. Wir Studenten kamen unter die Brautjungfern zu sitzen. Ich ahnte nicht, daß das die Wendung meines ganzen Lebens werden sollte.31-4Wir scherzten und sangen; aber mit meiner Nachbarin geriet ich sehr bald ins tiefste Gespräch. Ich hörte und sah nichts mehr als nur sie. Noch nie hatte ein Mensch im31-5Leben so schnell mich verstanden, und so seelenvoll mit mir verkehrt. Ich war ja31-6ein Waisenkind, bei fremden Leuten auferzogen, ohne Geschwister, und hatte nie gewußt, was eigentlich ein fühlendes Herz sei. Die Kameraden hatten mich wohl31-7aus meiner Philisterhaftigkeit und Menschenscheu herausgejagt, aber Zutrauen zu Menschen hatte ich nicht gefaßt. Aber dies Mädchen mit ihrer weichen Stimme, ihren seelenvollen Augen und den geistvollen, blitzenden und doch sowarm leuchtenden Gedanken hatte mir eine Welt aufgeschlossen, die ich nicht kannte. Ich wagte es,32-1ihr von meinem traurigen Leben zu erzählen. Ich weiß nicht, was ich noch alles sagte, mir brannte der Kopf und der Boden unter den Füßen. „Wenn sie nur meine Schwester wäre,“32-2so dachte ich und sprach es ihr auch aus. Sie schaute mich dabei mit einem wunderbaren Blicke an. Da begann eben der Tanz, ihre Mutter holte sie weg, und sie verlor sich32-3in den Reihen der Tanzenden. Ich konnte nicht tanzen, aber das Bild verlor sich nicht, ich mußte sie immer mit den Augen verfolgen. Mit einem Male war sie fort,32-4verschwunden mit ihrer Mutter. Ich hörte, daß sie plötzlich erkrankt sei. Nach dem Tanze mußten wir noch singen; aber ich sang verkehrt, und wir warfen beinahe um. Als die Sache zu Ende war, schlich ich still unter das Fenster des Gasthofes, in welchem sie wohnte; es32-5war noch Licht oben. Sie war krank, und ich dachte mir gleich das schlimmste. Am folgenden Tage hörte ich, daß sie wirklich schwer vom Typhus erfaßt sei, der wohl in ihr gelegen und den die Aufregung der Hochzeit beschleunigt hatte. Wochen kamen und gingen. Endlich durfte32-6sie wieder ins Freie. Wir Studenten benutzten den ersten Abend ihrer Genesung, ihr ein Ständchen zu bringen. Stille öffneten sich die Fenster in der lauen Nacht, und unser Gesang tönte hinauf. Die Mutter lud uns mit der Familie, die damals Hochzeit feierte, bald darauf ein. Ich sah Elsa wieder, die Züge waren unverändert, nur dieleichte Röte ihrer Wangen erschreckte mich und der starke Glanz in den Augen. Sie reichte mir die Hand und sagte: „Sie haben gewiß das Ständchen mir gebracht.“ Ich wurde rot bis über die Ohren und gestand. Ich sagte noch mehr; ich sagte, wie ich um sie gelitten während dieser Zeit und jeden33-1Abend stundenlang unten an der Ecke gestanden, um zu sehen, ob das Licht noch brenne.“„Ja, ja,“ sagte sie, „ich war selbst ein brennend33-2Licht, das hin-33-3und herflackerte zwischen Leben und Tod. Merkwürdig! Ihre Lebensgeschichte hat mich oft in den33-4Fieberphantasieen verfolgt; ich sprach immer von einem Waisenknaben, der mich gebeten hätte,33-5seine Schwester zu sein. Mutter fragte mich manchmal, wer es denn sei,33-6aber ich kannte Ihren Namen nicht. Ich habe aber von einer Freundin gehört, die mir erzählte, wie einer von den Sängern jeden Tag da unten gestanden und hinaufgeschaut. Ich dachte, das ist gewiß der „Bruder.“„Es33-7flocht sich seit jener Zeit ein inniges Freundschaftsband zwischen uns. Nach ihrer Genesung zog sie mit der Mutter weit weg, aber ich durfte mit ihr korrespondieren. Ich lernte nun mit eisernem Fleiß, um meine Studien33-8zu vollenden. Ich war nicht unbemittelt, und wenn alles gut ging, so konnte ich ihr nach drei Jahren ein Heim bieten. So arbeitete ich fast über meine Kräfte bei Tag und Nacht. Mein Trost waren Elsas Briefe. Plötzlich blieben diese aus. Ich bekam keine Antwort mehr. Auf meine dringenden Bitten an die Mutter schrieb diese endlich, „derGesundheitszustand Elsas sei derart,34-1daß sie jede Aufregung vermeiden müsse.“ Das34-2warf mich vollends nieder. Ich war ohnehin schon durch übernächtige Arbeiten erschüttert, aber das gab mir den letzten Stoß. Wochenlang lag ich zwischen Leben und Tod. Als ein alter Mensch bin ich vom Bette aufgestanden, da fand ich zwei Briefe—von der Hand dieses Fräuleins hier, einer nahen Freundin Elsas, die34-3mir Aufschluß gaben. Die Mutter hatte nämlich ihr und ihres Kindes Vermögen bei einem Bankhause verloren. In ihrer Not wandte sie sich an einen Onkel Elsas, der eben so alt wie reich war. Er half auch, aber ließ allmählich seine Absicht auf die Hand Elsas merken. Als er deutlicher damit hervortrat, wehrte sie sich aufs34-4entschiedenste. Die Mutter sah mit gramvollem34-5Herzen der Sache zu. Vor Elsa stand die Möglichkeit, durch die reiche Heirat der Mutter zu helfen. Sie liebte mich—aber es deuchte ihr zu lange, bis ich ihr ein Heim bieten könnte, und überhaupt—ich hatte ja doch bisher nur wie ein Bruder zu ihr gestanden. Die Mutter hatte dem Onkel das Geheimnis unserer Liebe unbedacht verraten, und er verbot, als Bedingung seiner weiteren Hilfe, jedes weitere Korrespondieren mit dem jungen Manne. Elsa hatte mir dies durch ihre Freundin schreiben lassen und wartete auf Antwort. Da eben erkrankte ich, und alle meine Briefe blieben uneröffnet bis zu meiner Genesung. Ich öffnete den zweiten Brief, dessen kurzer Inhalt war: Elsa konnte mein Schweigen nicht anders auslegen, als daß ich sie vergessen.Aber sie blieb dennoch fest und standhaft und wollte lieber alle Mittel des Onkels ausschlagen, als einem Manne die Hand geben, den sie nicht liebte. So arbeitete sie denn die Nächte durch,35-1um ihre Mutter und sich zu erhalten. Aber die zarte Gesundheit fing an zu wanken: der Typhus hatte damals doch eine krankhafte Reizbarkeit der Lunge35-2zurückgelassen, die35-3jetzt wieder aufs neue sich Bahn brach. Nach dem Lesen der Briefe wäre35-4ich fast wieder in Krankheit gesunken, aber es galt ein anderes Leben als das meinige. Ich schrieb der Freundin, mein Vermögen stehe zur Verfügung und schickte sofort eine Summe, um Elsa und ihre Mutter zum Aufenthalte im Süden zu bewegen. Meine Staatsprüfung machte ich halb krank und begehrte nach meiner Anstellung sofort Urlaub, der mir aber verweigert wurde. Ich hielt bei der Mutter um die Hand Elsas an, die derweilen nach Nizza35-5gegangen. Elsa schrieb die glücklichsten Briefe, ihre Gesundheit stärkte sich von Tag zu Tage. Ich hatte mir endlich Urlaub beim Minister erwirkt. Elsa war nach Florenz35-6gegangen, in Rom wollten wir uns treffen. Ich eilte über die Alpen, kam in Rom an und flog zum „Hotel Minerva“. Das Stubenmädchen, das35-7mich melden sollte, schaute mich groß35-8an und sagte: „Sind Sie ein Doktor? Signora35-9ist sehr krank, o sehr krank!“ Ich öffnete bebenden Herzens35-10die Thüre. Ein Nachtlicht brannte durch die dämmerige Stube. „Ist Robert noch nicht da?“35-11hörte ich eine weiche, sanfte Stimme fragen. Ich fühlte mein Herz hörbar schlagen und winkte derMutter. „O er ist gewiß da, ich fühl’ es,“ sagte die Kranke. So trat ich ans Bett. Ja, da lag sie, eine sterbende Blume. Tags zuvor hatte sie einen heftigen Blutsturz gehabt, der ihr die letzte Kraft nahm.—Erlassen Sie mir, das Wiedersehen zu beschreiben. Elsas Leben flammte noch einmal auf. Sie hatte sich soweit erholt, daß sie mit uns vor die Thore Roms fahren konnte. Wir kamen an der Cestiuspyramide amMonte Testaccio36-1vorbei. „Eine Pyramide,“ rief sie leuchtend,36-2„laß uns zur Pyramide fahren!“ Wir bogen ein. Es war schon Abend. „Ach da ist ja ein Kirchhof,“ sagte sie leise. „Wer wird da begraben unter diesen schönen Cypressen?“—„Die deutschen36-3Ketzer,“ sagte unser Vetturin, „die nicht an Madonna glauben.“ Elsa war still geworden. Ich wickelte sie fester in den Plaid, da es sehr kalt wurde. Wir fuhren nach dem Gasthof. In der Nacht überfiel sie ein zweiter Blutsturz, sie schaute mich mit einem großen, langen Blick an, dann umschlang sie meinen Hals und sagte: „Leb wohl, mein guter Bruder, mein—“ da stockte ihr Atem, das Leben war entflohen.“Nach einer Weile fuhr der Assessor fort: „Zwei Tage darauf haben wir sie unter den Cypressen dort begraben, sie—und mein Leben mit ihr. Achtzehn Jahre sind darüber hin.36-4—Ich habe mich fern vom Treiben der Menschen still in den bayrischen Wald geflüchtet und über der Arbeit wohl36-5mich, aber nicht meine Elsa vergessen. Der Aktenstaub hat sich mir übers Herz gelagert, und ichbin nachgerade beim philisterhaften Junggesellen angelangt. Mir37-1ist aber, als wäre ich heute von einem langen Schlafe und schweren Traume erwacht. Fräulein Milla, Sie sind schuld, und Sie, meine Herren, mit ihren Liedern. Wissen Sie, wohin ich möchte?37-2Nach Rom zur Cestiuspyramide; nur eine37-3Stunde will ich dort unter den Cypressen ruhen und dann wieder heim37-4zum Landgericht in meine Klause und zu der alten Lena, die so oft die Pyramide im Bilde beschaut und mich fragt, ob das auch eine Kirche sei.“—Der Assessor schwieg. Der treuherzige, zweite Tenor schlang den Arm um ihn und sagte ihm als Trost ins Ohr: „Ich bin auch ein Waisenkind!“Fräulein Milla, die „Vorsteherin“, war noch ganz in ihre Gedanken verloren, die Vergangenheit zog an ihr vorüber. Sie hatte die Todesnachricht ihrer Freundin von Roberts Hand empfangen, dann aber nichts mehr gehört, da die Mutter Elsas aus Gram ihre Tochter nicht lange überlebte.Das Reden wurde ihr37-5offenbar schwer. Zuletzt aber faßte sie sich und sagte: „Finden Sie keine Ähnlichkeit unter diesen Mädchen mit Ihrer Elsa? Schauen Sie sie37-6einmal37-7recht37-8an!“Der Assessor sagte: „Ja, die eine fiel mir schon lange auf, aber ich traute doch nicht ganz meinem Urteil.“„Nun ja, sie sind nicht aus der Art geschlagen. Sie wissen, daß Elsa einen Bruder hatte, der nach dem Tode der Mutter in unserm Hause erzogen wurde. Er heiratete später meine jüngste Schwester, und das37-9sind ihre Kinder.Sie hielten mich wohl38-1alle, meine Herren, für eine gestrenge Institutsdame! Ich bin es nicht, wir haben uns nur fremden Leuten gegenüber die Maske auferlegt, um unbelästigt durchzukommen. Ich bin die Tante der Kinder.“Jetzt ging auch den Studios ein Licht38-2auf, und sie begriffen die heitere38-3„Vorsteherin“. Es war derweilen Mitternacht geworden. Der Engländer saß tief versunken da. Die Geschichte hatte ihn wunderbar getroffen, er redete kein Wort mehr, sondern stand auf und verbeugte sich artig gegen die Damen, schüttelte aber dem Assessor warm die Hand, als wäre er sein bester Freund. Den Studenten dankte er für den Gesang und rief seinen James.„James—du räumst38-4unsere Stube aus, daß die Damen da schlafen können. Wir werden das Stroh suchen.“Trotz aller Gegenvorstellungen von Seiten Fräulein Millas blieb’s38-5dabei.Die Eingeborenen hatten schon längst ihr Lager gesucht.Draußen war’s stille geworden, das Schneetreiben hatte sich gelegt.Die Studenten schliefen bald den gesunden Jugendschlaf, aber der Assessor blickte noch lange hinaus in die mondhelle, glänzende Nacht und über das große Leichentuch, das der Schnee über die Matten und Bergspitzen geworfen.Der Tag graute. Die Führer waren früh auf, um dem Wetter nachzuspüren und den Schnee zu prüfen. Mit einiger Vorsicht konnte man es schon wagen, weiter zu ziehen. Der Assessor war schon munter und wartete auf Fräulein Milla, sie hatten sich39-1ja noch so viel zu sagen! Milla erschloß ihr Herz dem vereinsamten Freunde ihrer Elsa, und ihm war39-2es, wie wenn ein lang verhaltener Strom endlich sich Bahn brechen durfte.Die Studenten zählten indessen „die Häupter39-3ihrer Lieben,“ d. h.39-4ihre Gulden und Kreuzer und addierten und subtrahierten die Zeche. Da trat auch der Engländer herein. Die drei grüßten ihn freundlich.„Nun wohin?“39-5—fragte er.„Wohin?—heim, wo wir hergekommen. Wir werden noch ein Konzert veranstalten, ehe wir diesen Platz verlassen.“„O nein,“ sagte der Engländer, „Sie sollen nicht heim, Sie sollen sehen Italien mit mir, wenn Sie wollen, und mir dann und wann ein Lied singen.“Die Studenten wußten nicht, wie ihnen geschah.„Mr. Brown,“ sagte der zweite Tenor, „das ist sehr edel von Ihnen, aber zu teuer für Sie, denn wir sind allesamt mit einem guten Magen behaftet.“„Das ist gerade sehr schön, das liebt Mr. Brown sehr. Ich gehe nach Oberitalien,39-6und Sie begleiten mich, und James und wir werden viele Freude haben. Topp—eingeschlagen!“39-7Die drei schlugen herzhaft ein. Über das schöne Gesichtdes Engländers zog ein Schimmer der Verklärung. So hatten sie ihn noch nicht gesehen.Die Führer mahnten zum Aufbruch. Der alte Gemsbart40-1nahm das Ränzel des Assessors.Der junge Eheherr zog mit seiner Frau und den Damen abwärts der Ebene zu,40-2die andern hinab nach Italien. Man hatte sich gegenseitig die Namen und Adressen mitgeteilt, und alle schieden, indem40-3sie das Schneetreiben segneten, das sie zusammengeweht. Der Tauernwirt sandte allen noch einen hellen Juchzer nach, denn Mr. Brown hatte ihm seinen40-4guten Kaiser Franz Joseph40-5in Gold als Extrageschenk zurückgelassen. — — —Der Verfasser könnte nun hier schließen, aber die geneigte Leserin ist neugierig, und möchte für ihr Leben40-6gern wissen, wie das schließlich noch geendet hat. Darum will er noch ein paar Worte hinzufügen:An einem schönen Tag, das Jahr darauf, klopft’s40-7am Niederrhein bei40-8dem jungen Eheherrn, als er gerade seinen kleinen Schreihals herumtrug. „Annlies!avanti!“ riefen draußen zwei Stimmen. Dem Eheherrn wird’s40-9ganz italienisch zu Mut, und er ruft: „Entrate pure!“40-10—d. h. „als40-11herein!“ Da stehen zwei vor ihm und schauen ihn an. „Nun—wer sind wir?“ fragen sie.Der Eheherr aber rief in die Küche: „Annlies!avanti!“—einHochzeitspaar!“ „Milla!“ rief die junge Frau—„seid41-1Ihr’s?“ Ja, da standen sie, der Assessor und seine Frau. Sie waren auf der Hochzeitsreise und wollten41-2zur Cestiuspyramide.Der Assessor war damals bald umgekehrt, denn ihn trieb ein anderer Gedanke nach Hause. Er war durch jenen Abend dem Leben zurückgegeben und hatte Milla seine Hand gereicht. Alles wanderte41-3fort, Blasenpflaster, Opodeldoc und Storchfetttopf, und Milla sah aus, wie41-4wenn sie eben in die Zwanzig gekommen. Was die alte Lena dazu gesagt, wird billig verschwiegen.—Der zweite Tenor ist41-5schon lange ein würdiger Pfarrherr. In seinem Hause ist’s41-6behaglich englisch41-7eingerichtet. Am Abend brummt der Theekessel, und der Pfarrherr raucht vom feinsten41-8dazu.41-9Zu seiner Seite sitzt ein munteres Weibchen immer vergnügt und heiter;—sie heißt Elsa mit Vornamen, die kluge unter den drei Schwestern. Bei ihrer Hochzeit war Mr. Brown der Brautführer und Milla die Brautmutter. Die andern zwei Studenten waren die Ehrgesellen dabei, und der Assessor, der längst schon ein angesehener Landgerichtsrat ist, gab ihnen den Rat, seinem41-10Beispiele baldigst zu folgen. An der Hochzeitstafel klang41-11„Ännchen von Tharau“ noch einmal; aber Mr. Brown wußte jetzt, was „Verknotigung“ war.
Mir ist auf der Welt nichts lieber17-6Als das Stübchen, wo ich bin,Denn da wohnt mir gegenüberEine schöne Nachbarin!
Mir ist auf der Welt nichts lieber17-6Als das Stübchen, wo ich bin,Denn da wohnt mir gegenüberEine schöne Nachbarin!
„Herr Assessor, Ihre schöne Nachbarin in Buchau soll17-7leben!“ rief der muntere zweite Tenor, „die Tochter des Landgerichtspräsidenten.“
„Der17-8ist leider selbst noch ledig,“ antwortete trocken der Assessor. „Mir wohnt nichts17-9gegenüber als ein Schmied, dessen Gesellen mich morgens um vier Uhr aus dem süßen Schlummer jagen, das ist eine grausame Nachbarschaft.“
Er war eben daran, seinen Jammer näher zu beschreiben, als durch die Hauptthüre der hochaufgeschossene Engländer mit seinem Rotkopf im Gefolge eintrat.
„Sankt Florian18-1Zünd’t18-2Häuser an!“
„Sankt Florian18-1Zünd’t18-2Häuser an!“
sagte leise der zweite Tenor, auf den Rotkopf schauend. Die Mädchen hielten sich die Taschentücher vor den Mund, der Eheherr griff nach seinem roten Tyroler und steckte tief das Gesicht in das Glas. Nur die „Institutsvorsteherin“ und der Assessor hielten Balance18-3mit sicherm Takte. Der Engländer aber sagte in etwas englisiertem, aber sonst anständigem Deutsch:
„Ich haben18-4gehabt sehr großes Vergnügen in meinem Zimmer, zu hören solch schönes Gesang. Ich komme zu bitten, daß ich noch mehr höre.“
Er sagte das mit solch edlem Anstand, daß einer der Studios aufstand, ihm seinen Stuhl anzubieten und ihn einzuladen, wenn ihm die Gesellschaft behagte,18-5sich niederzulassen. Er stellte ihm alle vor und bat ihn dann ebenfalls zu sagen, „woher18-6des Landes, woher der Männer er sei.“18-7—„Sie sehen, ich bin Engländer, und James ist es auch, der gute alte Junge. Der Name ist nicht notwendig—nennen Sie mich Mr. Brown, und ich bin’s zufrieden,“ sagte er lächelnd. „Wir sind heute Mittag gekommen durch Salzkammergut—beautiful indeed—und konnten18-8nicht mehr weiter. Aber singen Sie, meine Herren, singen Sie, ich bitte.“—Schnell waren die Sänger zusammen, sprachenzuerst leise mit einander und setzten plötzlich kräftig ein in die Weise:
Treu19-1und herzinniglich,Robin Adair!Tausendmal grüß ich dich!Robin Adair!Hab’ ich doch19-2manche NachtSchlummerlos zugebracht,Immer an dich gedacht,Robin Adair!
Treu19-1und herzinniglich,Robin Adair!Tausendmal grüß ich dich!Robin Adair!Hab’ ich doch19-2manche NachtSchlummerlos zugebracht,Immer an dich gedacht,Robin Adair!
Die Verse verklangen. Der Engländer war außer sich vor Freude, als er die heimische Weise klingen hörte. „Das istbeautiful—, aber wo haben Sie ein ähnliches deutsches Lied?“—Die Studios besannen sich.
„Nun, singen Sie: ‚Ännchen von Tharau’!“,19-3E-1sagte die „Institutsvorsteherin.“
„Richtig, los! eins, zwei, drei, ’Ännchen von Tharau’ ist’s die mir gefällt!“ rief der zweite Tenor. Sie sangen frisch herunter:
Ännchen von Tharau ist’s, die mir gefällt,Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.Ännchen von Tharau hat wieder ihr HerzAuf mich gerichtet in Freud’ und in Schmerz.Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut!Du, meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.Käm’ alles Wetter gleich auf uns zu schlahn,19-4Wir sind gesinnt, bei einander zu stahn:Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und PeinSoll unsrer Liebe Verknotigung sein ...
Ännchen von Tharau ist’s, die mir gefällt,Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.Ännchen von Tharau hat wieder ihr HerzAuf mich gerichtet in Freud’ und in Schmerz.Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut!Du, meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.Käm’ alles Wetter gleich auf uns zu schlahn,19-4Wir sind gesinnt, bei einander zu stahn:Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und PeinSoll unsrer Liebe Verknotigung sein ...
„Das ist ein schönes Volkslied, das müssen Sie mir geben. Aber was ist das „Verknotigung?““20-1E-2
„Ja, wissen Sie, das ist etwas besonderes. Zum Exempel, wenn ein Jüngling und eine Jungfrau sich so ein bißchen stark lieb haben, so ist das „Verknotigung“. Das kommt von dem Liebesband her, und wenn die zwei Bänder zusammenkommen und geknüpft werden, giebt’s allemal dort eine „Verknotigung“. ‚Der Ausdruck ist obsolet,’ sagt der Herr Professor auf seiner Hitsche20-2—aber er20-3ist gut, sehr gut,“ sagte der zweite Tenor.
„O, well, Sir—sehr gut! ich verstehen jetzt „Verknotigung“. Ich lieben sehr das Volkslied20-4der Deutschen.“
„Holla!“ rief der zweite Tenor, „das können Sie hier20-5haben, Mr. Brown, aus bester Quelle. Heda, ihr Mannsleut’, singt’s20-6einmal einen Steirer!20-7Meint Ihr denn, wir singen umsonst hier? Jeder, wer zuhört, zahlt20-8einen Zwanziger Münz.20-9Wenn Ihr aber selber singt, braucht’s nix zu zahlen!“
Die Leute schauten sich verdutzt an, und keiner sagte ein Wort. Endlich brach der alte Führer das Schweigen:
„Wär’20-10schon völlig recht, junger Herr, aber wir Leut’ singen halt anders als d’ Stadtleut’ und könnet’s nit gar schön. Für uns is schon völlig schön genug, draußen auf der Almen—aber für Euch nit!“
„Ach was—Ihr singt wie’s20-11Euch ums Herz ist.“
„Habt Ihr denn keine Zither?“ fragte der Assessor.
„Freilich, freilich, a Zithern is schon da bein’n Tauernwirt.Johann, der gnädige Herr will dein Zithern haben,“ rief der Alte.
Der Tauernwirt brachte sie herbei, der Assessor stimmte mit kundiger Hand schnell das gute Instrument und spielte mit ungemeiner Fertigkeit einen „Herzog-Maxländler“21-1und dann einen „Steierischen“ inoptima forma.21-2
Im Hintergrunde bewegten sich schon die Füße; die Leute waren elektrisiert, und vorab der Alte mit dem Gemsbarte21-3zog bald das eine, bald das andere Bein hinauf und zuckte mit21-4den Armen wie ein Hampelmann, den man21-5an der Schnur zieht. Plötzlich klang’s21-6aus dem Hintergrund:
Und zwoa Blattln21-7und zwoa BleamleUnd a Reb’n um an Stamm,Und was21-8oanonda b’stimmt is,Dös find’t sich a21-9z’samm!
Und zwoa Blattln21-7und zwoa BleamleUnd a Reb’n um an Stamm,Und was21-8oanonda b’stimmt is,Dös find’t sich a21-9z’samm!
Eine helle Stimme sang’s; es war die Spinnerin. Der Assessor begleitete sie, und bald darauf schallte es:21-10
B’hüat’21-11dich Gott, mein kleans Dioandl,Es muß a so sein,Mein Leb’n gehört in Koasa,Mein Herz’l g’hört dein!Und mein Herzerl, dös laß ichDahoam in dein Haus,Sonst traf’s leicht a Kugel,Run d’ Liab alli r’aus!“
B’hüat’21-11dich Gott, mein kleans Dioandl,Es muß a so sein,Mein Leb’n gehört in Koasa,Mein Herz’l g’hört dein!Und mein Herzerl, dös laß ichDahoam in dein Haus,Sonst traf’s leicht a Kugel,Run d’ Liab alli r’aus!“
Es21-12sang’s ein stämmiger Bursche. Aber der Alte warnte gleich darauf mit dem Verse:
„Gescheit22-1sein, gescheit sein,Nit in Oalles glei n’ein!Es sitzt oft a FuxIn ’ren Pelzkappen d’rein!“
„Gescheit22-1sein, gescheit sein,Nit in Oalles glei n’ein!Es sitzt oft a FuxIn ’ren Pelzkappen d’rein!“
Der Engländer war außer sich vor Freude; das hatte er ja22-2schon längst gewünscht zu hören, aber niemand hatte ihm den Gefallen gethan, trotzdem er oft den Leuten Geld geboten hatte. Aber fürs22-3Geld sangen sie wohl22-4drunten im Flachland, die nachgemachten Tyroler in Glacéehandschuhen, aber da oben nicht. Aber jetzt waren die Leute guter Dinge.22-5Die Studenten holten die Sängerin vor. Der Engländer nahm sich22-6den Tauernwirt auf die Seite und redete mit ihm. Der Rotkopf verschwand und kehrte mit etlichen Flaschen zurück. Bald brodelte es22-7aufs neue in der Küche von Kaiserschmarren, auf dem Tische aber dampfte eine prächtige Bowle. Verschämt setzten sich die Leute aus der Hinterstube herein in die Herrenstube und bekamen vollauf zu essen und frischen Tyroler zu trinken, während die Studenten kunstgerecht den Punsch mit Hilfe des Engländers zurecht machten. Alles war ein Geschenk von Mr. Brown, das er anzunehmen bat, als Beitrag dafür,22-8daß er nicht singen könne.
Der Assessor spielte,22-9die drei Studenten sangen, die Bauern hörten zu, und der Tauernwirt schmunzelte in der Ofenecke und freute sich, daß heute Abend was22-10draufging, und segnete das Schneetreiben, das ihm die Gäste in seine Klause gejagt.—Draußen stürmte es noch lustig zu—aber was thut’s,22-11wenn
Im Ofen hell der Kienspan blitzt,Und jeder warm beim andern sitzt—Da thut das Herz im schnellen LaufSich fröhlicher dem Herzen auf!
Im Ofen hell der Kienspan blitzt,Und jeder warm beim andern sitzt—Da thut das Herz im schnellen LaufSich fröhlicher dem Herzen auf!
So war’s auch hier, die Fremden waren durchs UnwettereineFamilie geworden. Die Studenten hatten sich schnell unter die Eingebornen gemacht,23-1und die kluge Elsa war ihnen nachgefolgt. Der Rotkopf hatte sich23-2den Alten mit dem Gemsbart ausgewählt, den er trotz allen Anschreiens nicht verstand. Der Engländer unterhielt sich mit der „Vorsteherin“ im feinsten Englisch. Der Assessor aber rückte zu dem jungen Ehepaare. Die zwei andern Mädchen zog’s23-3auch hinüber zu derElseund langsam rutschten sie an der Wand bis hinüber zu ihr.
„Wie wär’s,23-4meine Herrschaften, wenn jeder von uns eine Geschichte aus seinem Leben erzählte?23-5Mit dem Schlaf wird’s23-6doch nicht viel werden heute Nacht, nicht wahr, Mr. Brown, trotz Ihres hohen23-7Bettes, und das Stroh für Sie, mein Fräulein,23-8kann warten, bis Sie sich darin verkriechen—“ sagte plötzlich der unermüdliche zweite Tenor.
„Ach ja—das wäre23-9schön,“ meinten die Fräuleins;23-10denn sie wußten sich geborgen, daß sie nichts zu erzählen brauchten, weil sie noch nichts erlebt hatten.
„Wer fängt an?“ riefen sie alle.
„Wir werden den Halm ziehen?“ Sie zogen und den kürzesten zog der junge Eheherr. Alle lachten, denn er war bis jetzt der schweigsamste gewesen, und hatte sich nur an dem süßen Geplauder seiner Frau erfreut.
„Nun denn, wenn es sein muß, werde ich Ihnen unsere Hochzeitsgeschichte erzählen. Annlieschen, erschrick nicht, wenn du dabei etliche Male vorkommst, denn sonst ist’s keine Hochzeitsgeschichte,“ sagte er zu seiner Frau, „denn dazu gehören immer zwei.“
„Ja, mach’s aber nur nicht zu arg, Hans.“
„Wes Zeichens24-1und Standes ich bin, brauchen Sie nicht zu wissen, noch wie wir heißen. Wo wir her24-2sind, merken Sie vielleicht an unsrer Sprache, die so etwas niederrheinisch24-3klingt. Aber wir sind ehrlicher Leute Kind24-4und haben noch keine silbernen Löffel gestohlen.—Also so war’s: Ich lebte mit einer Schwester auf einem Dorfe und war nahe daran, ein Einsiedler zu werden. Die Schwester wußte so gut, wasmirlieb war, und ich wußte, wassiegerne hatte, und so gedachte ich mein Leben still zu beschließen als Einsiedler. Aber es24-5kam anders. Plötzlich kam es24-6wie das Schneetreiben heute und jagte mich in den Ehestand hinein. Meine Schwester hatte just ihr Kaffeekränzchen mit ihren Gespielinnen, in welchem nebenbei auch gestrickt24-7wurde. Die Strickkörbchen wanderten24-8von Kränzchen zu Kränzchen. Die Nächstfolgende nahm die Körbchen immer mit nach Hause. Es24-9war die Reihe an einem muntern, rotwangigen Mädchen. Sie nahm die Körbchen am Schluß des Kränzchens. Es war schon spät, und ich mußte sie ehrenhalber begleiten. Da fiel mir plötzlich ein, daß sie sich mit den Körbchen schleppte, und ich bat: „Ach bitte, geben Sie mir doch24-10die Körbchen.“24-11„Nein,“ sagte sie, „kein einziges.“ Da fuhr mir’s25-1durch den Sinn: Jetzt oder nie!—„Ha,“ sagte ich—„Fräulein, wirklich, Sie geben mir kein Körbchen? Dann bin ich der glücklichste Mensch, dann geben Sie mir einen Kuß.“ Und ehe sie sich’s versah, hatte ich ihr um die Straßenecke herum einen Kuß gegeben. Sie weinte und lachte zugleich, und ich sagte: „Komm,25-2wir wollen gleich umkehren und es der Schwester sagen.“ Wir kehrten Arm in Arm um und stellten uns als Braut und Bräutigam vor. Die Schwester zog mich auf die Seite und sagte: „Sieh, Hans, die25-3habe ich immer gemeint. Sie hat dich auch lieb, das weiß ich.“—Und nun sehen Sie: das ist das Annlieschen hier, meine liebwerte, herzallerliebste Frau.“—
Alle schauten sie lachend an; aber in ihr halbverlegenes und in ihrer Verlegenheit um25-4so hübscheres Angesicht brannte25-5plötzlich zum Erstaunen aller—ein kräftiger Kuß. Der kam von der „Institutsvorsteherin,“ welche die junge Frau warm umschlang. „Sie glückliches Menschenkind!“ sagte sie. Die Studenten waren ob25-6Kuß und Rede höchst verwundert. In dem zweiten Tenor stieg ein leises Ahnen und Zweifeln auf, es25-7möge doch am Ende mit der „Institutsvorsteherin“ nicht völlig seine Richtigkeit25-8haben, denn das sei doch nicht nach Knigges25-9‚Umgang mit Menschen’ gehandelt und geredet. Als er ihr tief ins Angesicht schaute, ward’s ihm noch klarer. Sie deuchte ihm wirklich schön zu sein, zu schön für eine Pensionsmutter.25-10
Am meisten hatte aber der Assessor mit seiner Konfusion zu kämpfen. Die ganze Hochzeitsgeschichte kam ihm so wunderbar vor. Auch er blickte hinüber zu der „Institutsvorsteherin“ und konnte sich26-1das26-2nicht mit der gehaltenen Würde eines „Pensionsdrachen“ vereinigen.
Der Eheherr aber fuhr fort: „Nun hatten wir kurze Verlobungszeit,26-3denn bei mir26-4waren, von den Eltern her, Kasten und Schränke voll von selbstgesponnenem Flachs und Leinen. Meine Schwester räumte bald das Feld, denn sie selber hatte eine alte Liebe, der sie aber nicht eher nachhängen wollte, als bis sie mich versorgt wußte. Die Hochzeit war bald, und die Hochzeitsreise ist es, auf der wir uns befinden. Wir wußten zuerst nicht wohin26-5und kamen mit der Kutsche an einen Knotenpunkt der Eisenbahn gefahren.26-6„Annlieschen,“ sag’ ich, „wo26-7der erste Zug jetzt hinfährt, ob nach Norden oder Süden, da fahren wir hin.“ Annlieschen war’s zufrieden, wie sie überhaupt mit allem zufrieden ist. Also der Zug geht nach Süden. Wir fahren nach Kassel.26-8Ich sage: „Hast26-9du Kassel gesehen, dann siehst du auch Frankfurt26-10am Main, wo die deutschen Kaiser einst gehaust.“ Sagt26-11Annlieschen: „Ja wohl—dahin laß mich mit dir, mein Geliebter, ziehen.“26-12Dort regnet’s in Strömen. Wir sitzen im Westend-Hotel und sehen uns26-13den Regen an. „Anneliese,“ sag’ ich, „das ist langweilig—wir gehen26-14nach dem schönen Heidelberg,26-15da ist’s sonnig und wonnig.“ Aber in Heidelberg, dem Wetterloch,26-16war’s noch schlimmer. Sitzt26-17im „Ritter“26-18dortein Herr, der sagt: „Freiburg27-1im Breisgau—da ist’s schön, herrlich!“—und Anneliese sagt wieder: „Dahin, dahin u.s.w.“27-2Ich gehe mit ihr nach Freiburg, auf den Blauen27-3—„da schimmert was,“27-4sag’ ich. „Anneliese—guck27-5mal27-6—weißt du, was das ist?“ „Nein,“ sagt die Anneliese. „Siehste27-7—das27-8sind die Alpen.“ Anneliese sagt wieder: „Dahin laß uns ziehen.“ Wir ziehen durch die Schweiz nach dem Sankt Gotthard,27-9wo wir eingeregnet werden. Da sitzen zwei Brautpaare in gleicher Nässe, die wollten27-10nach Italien. Italien! das stach27-11mich wie ein Skorpion. „Annlieschen—Italien!—Land,27-12wo die Citronen blühen27-13—dahin laß uns ziehen!“ Wir hatten zwar nichts bei uns als einen kleinen Reisesack in der Hand zu27-14tragen, aber ich sage: „Es27-15kennt uns niemand.“ Also nach Italien! Wir waren in Mailand27-16und Genua.27-17Ich sage: „Annlieschen—weißt du, was da hinten liegt am blauen Meere?“ „Nein,“ sagt sie, „wat27-18soll da liegen?“ „Da liegt Rom—! Rom! Neapel—’s ist ein Katzensprung—also „Annlieseavanti!“,27-19womit der Italiener so viel meint, als wenn der Deutsche „Vorwärts“ sagt. Und schließlich standen wir auf dem Vesuv.27-20Von dort ging’s27-21rasch zurück über Venedig27-22und nun hier herauf nach den Tauern, und da wurden wir festgeschneestöbert.27-23—So, meine Herrschaften, nun wissen Sie Bescheid, wen Sie vor sich haben.“
„Beautiful indeed,“ sagte der Engländer. „Sie haben großes27-24Mut. Ich sehr lieben Italien.“
Die drei jungen Mädchen waren vor Vergnügen außer sich, also die28-1hatten Italien gesehen, während sie selbst in Venedig umkehren mußten! Die Frau kam ihnen nun doppelt interessant vor. Sie meinten zwar, man müßte es den Leuten immer am Gesicht ansehen, wenn sie in Italien gewesen,28-2aber Anneliese sah so rotbackig drein, und ließ es sich so vortrefflich schmecken, und sie merkten nicht das geringste Absonderliche. Nur daß der junge Eheherr ein Spaßvogel war, der in trockenster28-3Art mit dem fettesten Pinsel malte, das leuchtete ihnen ein.
Die Studenten aber ließen die Köpfe hängen. „Ach,“ sagte der zweite Tenor, „wenn unsereinem so etwas mal28-4in dem Garten28-5wüchse! Da lernt man seinen Horatius28-6und Virgil im finstern Loch28-7und sieht sein Leben28-8nichts davon,28-9nicht einmal einen Italiener, von nahem!Beatus ille!“28-10
Derweilen der Studio so klagte, stimmte der Assessor die Saiten und fing plötzlich mit schöner, tiefer Stimme das Lied zu singen an:
Kennst28-11du das Land, wo die Citronen blüh’n,Im dunkeln Laub die Goldorangen glüh’n,Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?Kennst du es wohl?28-12Dahin! DahinMöcht’ ich mit dir, o mein Geliebter zieh’n!
Kennst28-11du das Land, wo die Citronen blüh’n,Im dunkeln Laub die Goldorangen glüh’n,Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?Kennst du es wohl?28-12Dahin! DahinMöcht’ ich mit dir, o mein Geliebter zieh’n!
Er sang so schön und herzergreifend, daß alles28-13stille ward.
„Waren Sie schon in Italien?“ fragte der Engländer.
„Ja, ich war schon da, vor29-1Jahren,“ sagte leise und ernst der Assessor. Er schnitt damit29-2aber jedes weitere Gespräch ab. Man merkte es ihm am Tone an, daß dort etwas von Bedeutung in seinem Leben geschehen sein mußte, womit er nicht herausrücken wollte.
„Sie haben das Lied so schön gesungen,“ sagte die „Vorsteherin“—„so schön wie ich es nur einstens von einer Freundin gehört. Aber merkwürdig ganz mit demselben Klange und derselben Auffassung. Es ist doch eigen, wie plötzlich Erinnerungen auftauchen, die sich an irgend ein Lied oder Wort oder einen Klang so unzerreißbar heften!“
„Und Ihre Freundin war auch in Italien?“ fragte der Assessor.
„Ja—sie ist ganz dort,“ entgegnete die Dame wehmütig. „Sie schläft unter den Cypressen an der Cestiuspyramide,29-3auf dem Kirchhofe der Protestanten zu Rom.“
Den Assessor durchzuckte es.29-4Es29-5kämpfte in ihm, ob er weiter fragen sollte. Endlich fragte er doch: „In welchem Jahre war es?“
„Es war im29-6Jahre 18.., am 20. Mai, daß sie entschlafen.“
Der Assessor stützte den Kopf in beide Hände und sprach kein Wort. Alle schauten still und stumm auf ihn,—am meisten betroffen aber war die „Vorsteherin.“ „Ich habe Ihnen doch29-7nicht wehe gethan?“ sagte sie in weichem, mildem Tone.
Der Assessor schaute sie klar und tief mit feuchten Augen an. „Wohl und wehe zugleich, Fräulein Milla!—denn keine andere sind Sie, wiewohl ich Sie nie gesehen, die treueste Freundin meiner unvergeßlichen Elsa.“—Er reichte ihr die Hand und hielt sie lange fest.
Nun aber war das Erstaunen an ihr. Ihr Auge leuchtete und eine durchsichtige Röte flammte über die schönen Züge. „Sie sind es, Robert?—Und so sehen wir uns30-1zum ersten Mal in diesem Leben?“
Die andern im Kreise schwiegen. Jeder ehrte den Schmerz, den er doch nicht völlig verstand.
„Sehr merkwürdig,“ sagte der Engländer leise zu den andern. „Bitte, singen Sie ein Lied, das ist das beste für die Wunden.“ Schnell waren die drei Studenten beisammen und sangen mit heller Stimme:
Es30-2ist bestimmt in Gottes Rat,Daß man vom liebsten, das man hat,Muß scheiden;Wiewohl doch nichts im Lauf der WeltDem Herzen, ach! so sauer fälltAls scheiden.
Es30-2ist bestimmt in Gottes Rat,Daß man vom liebsten, das man hat,Muß scheiden;Wiewohl doch nichts im Lauf der WeltDem Herzen, ach! so sauer fälltAls scheiden.
Als sie geschlossen, stand der Assessor auf, drückte jedem die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen von Herzen. Vergeben Sie mir den Augenblick, wo ich mich verloren habe und Ihnen vielleicht schwach erschienen bin.“ Die „Vorsteherin“ war noch immer still in sich versunken. Endlich brach der Assessor wieder das Schweigen.
„Da Sie so unvermutet Zeugen einer gemeinsamen Erinnerung geworden, so lassen Sie mich Ihnen auch mitteilen, was wir erlebt. Ich darf wohl kurz sein: Es war in meinen Universitätsjahren. Ich war wie Sie, meine Herren, ein fröhlicher Bursche, dem der Himmel voll Baßgeigen31-1hing. Wir sangen auch, wie Sie, Quartette und weckten die Leute des Morgens31-2in der Ruhe und des Abends im Schlaf mit unserm Gesang. Da wurden wir eines Tages gebeten, auf einer Hochzeit zu erscheinen und dem jungen Paare zu singen, dafür31-3sollten wir dann auch mitfeiern. Was thut man nicht als Student, um ein gut Glas Wein zu erjagen? Wir sangen und mischten uns unter die Gäste, die aus allen Himmelsgegenden zusammengeflogen waren. Wir Studenten kamen unter die Brautjungfern zu sitzen. Ich ahnte nicht, daß das die Wendung meines ganzen Lebens werden sollte.31-4Wir scherzten und sangen; aber mit meiner Nachbarin geriet ich sehr bald ins tiefste Gespräch. Ich hörte und sah nichts mehr als nur sie. Noch nie hatte ein Mensch im31-5Leben so schnell mich verstanden, und so seelenvoll mit mir verkehrt. Ich war ja31-6ein Waisenkind, bei fremden Leuten auferzogen, ohne Geschwister, und hatte nie gewußt, was eigentlich ein fühlendes Herz sei. Die Kameraden hatten mich wohl31-7aus meiner Philisterhaftigkeit und Menschenscheu herausgejagt, aber Zutrauen zu Menschen hatte ich nicht gefaßt. Aber dies Mädchen mit ihrer weichen Stimme, ihren seelenvollen Augen und den geistvollen, blitzenden und doch sowarm leuchtenden Gedanken hatte mir eine Welt aufgeschlossen, die ich nicht kannte. Ich wagte es,32-1ihr von meinem traurigen Leben zu erzählen. Ich weiß nicht, was ich noch alles sagte, mir brannte der Kopf und der Boden unter den Füßen. „Wenn sie nur meine Schwester wäre,“32-2so dachte ich und sprach es ihr auch aus. Sie schaute mich dabei mit einem wunderbaren Blicke an. Da begann eben der Tanz, ihre Mutter holte sie weg, und sie verlor sich32-3in den Reihen der Tanzenden. Ich konnte nicht tanzen, aber das Bild verlor sich nicht, ich mußte sie immer mit den Augen verfolgen. Mit einem Male war sie fort,32-4verschwunden mit ihrer Mutter. Ich hörte, daß sie plötzlich erkrankt sei. Nach dem Tanze mußten wir noch singen; aber ich sang verkehrt, und wir warfen beinahe um. Als die Sache zu Ende war, schlich ich still unter das Fenster des Gasthofes, in welchem sie wohnte; es32-5war noch Licht oben. Sie war krank, und ich dachte mir gleich das schlimmste. Am folgenden Tage hörte ich, daß sie wirklich schwer vom Typhus erfaßt sei, der wohl in ihr gelegen und den die Aufregung der Hochzeit beschleunigt hatte. Wochen kamen und gingen. Endlich durfte32-6sie wieder ins Freie. Wir Studenten benutzten den ersten Abend ihrer Genesung, ihr ein Ständchen zu bringen. Stille öffneten sich die Fenster in der lauen Nacht, und unser Gesang tönte hinauf. Die Mutter lud uns mit der Familie, die damals Hochzeit feierte, bald darauf ein. Ich sah Elsa wieder, die Züge waren unverändert, nur dieleichte Röte ihrer Wangen erschreckte mich und der starke Glanz in den Augen. Sie reichte mir die Hand und sagte: „Sie haben gewiß das Ständchen mir gebracht.“ Ich wurde rot bis über die Ohren und gestand. Ich sagte noch mehr; ich sagte, wie ich um sie gelitten während dieser Zeit und jeden33-1Abend stundenlang unten an der Ecke gestanden, um zu sehen, ob das Licht noch brenne.“
„Ja, ja,“ sagte sie, „ich war selbst ein brennend33-2Licht, das hin-33-3und herflackerte zwischen Leben und Tod. Merkwürdig! Ihre Lebensgeschichte hat mich oft in den33-4Fieberphantasieen verfolgt; ich sprach immer von einem Waisenknaben, der mich gebeten hätte,33-5seine Schwester zu sein. Mutter fragte mich manchmal, wer es denn sei,33-6aber ich kannte Ihren Namen nicht. Ich habe aber von einer Freundin gehört, die mir erzählte, wie einer von den Sängern jeden Tag da unten gestanden und hinaufgeschaut. Ich dachte, das ist gewiß der „Bruder.“
„Es33-7flocht sich seit jener Zeit ein inniges Freundschaftsband zwischen uns. Nach ihrer Genesung zog sie mit der Mutter weit weg, aber ich durfte mit ihr korrespondieren. Ich lernte nun mit eisernem Fleiß, um meine Studien33-8zu vollenden. Ich war nicht unbemittelt, und wenn alles gut ging, so konnte ich ihr nach drei Jahren ein Heim bieten. So arbeitete ich fast über meine Kräfte bei Tag und Nacht. Mein Trost waren Elsas Briefe. Plötzlich blieben diese aus. Ich bekam keine Antwort mehr. Auf meine dringenden Bitten an die Mutter schrieb diese endlich, „derGesundheitszustand Elsas sei derart,34-1daß sie jede Aufregung vermeiden müsse.“ Das34-2warf mich vollends nieder. Ich war ohnehin schon durch übernächtige Arbeiten erschüttert, aber das gab mir den letzten Stoß. Wochenlang lag ich zwischen Leben und Tod. Als ein alter Mensch bin ich vom Bette aufgestanden, da fand ich zwei Briefe—von der Hand dieses Fräuleins hier, einer nahen Freundin Elsas, die34-3mir Aufschluß gaben. Die Mutter hatte nämlich ihr und ihres Kindes Vermögen bei einem Bankhause verloren. In ihrer Not wandte sie sich an einen Onkel Elsas, der eben so alt wie reich war. Er half auch, aber ließ allmählich seine Absicht auf die Hand Elsas merken. Als er deutlicher damit hervortrat, wehrte sie sich aufs34-4entschiedenste. Die Mutter sah mit gramvollem34-5Herzen der Sache zu. Vor Elsa stand die Möglichkeit, durch die reiche Heirat der Mutter zu helfen. Sie liebte mich—aber es deuchte ihr zu lange, bis ich ihr ein Heim bieten könnte, und überhaupt—ich hatte ja doch bisher nur wie ein Bruder zu ihr gestanden. Die Mutter hatte dem Onkel das Geheimnis unserer Liebe unbedacht verraten, und er verbot, als Bedingung seiner weiteren Hilfe, jedes weitere Korrespondieren mit dem jungen Manne. Elsa hatte mir dies durch ihre Freundin schreiben lassen und wartete auf Antwort. Da eben erkrankte ich, und alle meine Briefe blieben uneröffnet bis zu meiner Genesung. Ich öffnete den zweiten Brief, dessen kurzer Inhalt war: Elsa konnte mein Schweigen nicht anders auslegen, als daß ich sie vergessen.Aber sie blieb dennoch fest und standhaft und wollte lieber alle Mittel des Onkels ausschlagen, als einem Manne die Hand geben, den sie nicht liebte. So arbeitete sie denn die Nächte durch,35-1um ihre Mutter und sich zu erhalten. Aber die zarte Gesundheit fing an zu wanken: der Typhus hatte damals doch eine krankhafte Reizbarkeit der Lunge35-2zurückgelassen, die35-3jetzt wieder aufs neue sich Bahn brach. Nach dem Lesen der Briefe wäre35-4ich fast wieder in Krankheit gesunken, aber es galt ein anderes Leben als das meinige. Ich schrieb der Freundin, mein Vermögen stehe zur Verfügung und schickte sofort eine Summe, um Elsa und ihre Mutter zum Aufenthalte im Süden zu bewegen. Meine Staatsprüfung machte ich halb krank und begehrte nach meiner Anstellung sofort Urlaub, der mir aber verweigert wurde. Ich hielt bei der Mutter um die Hand Elsas an, die derweilen nach Nizza35-5gegangen. Elsa schrieb die glücklichsten Briefe, ihre Gesundheit stärkte sich von Tag zu Tage. Ich hatte mir endlich Urlaub beim Minister erwirkt. Elsa war nach Florenz35-6gegangen, in Rom wollten wir uns treffen. Ich eilte über die Alpen, kam in Rom an und flog zum „Hotel Minerva“. Das Stubenmädchen, das35-7mich melden sollte, schaute mich groß35-8an und sagte: „Sind Sie ein Doktor? Signora35-9ist sehr krank, o sehr krank!“ Ich öffnete bebenden Herzens35-10die Thüre. Ein Nachtlicht brannte durch die dämmerige Stube. „Ist Robert noch nicht da?“35-11hörte ich eine weiche, sanfte Stimme fragen. Ich fühlte mein Herz hörbar schlagen und winkte derMutter. „O er ist gewiß da, ich fühl’ es,“ sagte die Kranke. So trat ich ans Bett. Ja, da lag sie, eine sterbende Blume. Tags zuvor hatte sie einen heftigen Blutsturz gehabt, der ihr die letzte Kraft nahm.—Erlassen Sie mir, das Wiedersehen zu beschreiben. Elsas Leben flammte noch einmal auf. Sie hatte sich soweit erholt, daß sie mit uns vor die Thore Roms fahren konnte. Wir kamen an der Cestiuspyramide amMonte Testaccio36-1vorbei. „Eine Pyramide,“ rief sie leuchtend,36-2„laß uns zur Pyramide fahren!“ Wir bogen ein. Es war schon Abend. „Ach da ist ja ein Kirchhof,“ sagte sie leise. „Wer wird da begraben unter diesen schönen Cypressen?“—„Die deutschen36-3Ketzer,“ sagte unser Vetturin, „die nicht an Madonna glauben.“ Elsa war still geworden. Ich wickelte sie fester in den Plaid, da es sehr kalt wurde. Wir fuhren nach dem Gasthof. In der Nacht überfiel sie ein zweiter Blutsturz, sie schaute mich mit einem großen, langen Blick an, dann umschlang sie meinen Hals und sagte: „Leb wohl, mein guter Bruder, mein—“ da stockte ihr Atem, das Leben war entflohen.“
Nach einer Weile fuhr der Assessor fort: „Zwei Tage darauf haben wir sie unter den Cypressen dort begraben, sie—und mein Leben mit ihr. Achtzehn Jahre sind darüber hin.36-4—Ich habe mich fern vom Treiben der Menschen still in den bayrischen Wald geflüchtet und über der Arbeit wohl36-5mich, aber nicht meine Elsa vergessen. Der Aktenstaub hat sich mir übers Herz gelagert, und ichbin nachgerade beim philisterhaften Junggesellen angelangt. Mir37-1ist aber, als wäre ich heute von einem langen Schlafe und schweren Traume erwacht. Fräulein Milla, Sie sind schuld, und Sie, meine Herren, mit ihren Liedern. Wissen Sie, wohin ich möchte?37-2Nach Rom zur Cestiuspyramide; nur eine37-3Stunde will ich dort unter den Cypressen ruhen und dann wieder heim37-4zum Landgericht in meine Klause und zu der alten Lena, die so oft die Pyramide im Bilde beschaut und mich fragt, ob das auch eine Kirche sei.“—
Der Assessor schwieg. Der treuherzige, zweite Tenor schlang den Arm um ihn und sagte ihm als Trost ins Ohr: „Ich bin auch ein Waisenkind!“
Fräulein Milla, die „Vorsteherin“, war noch ganz in ihre Gedanken verloren, die Vergangenheit zog an ihr vorüber. Sie hatte die Todesnachricht ihrer Freundin von Roberts Hand empfangen, dann aber nichts mehr gehört, da die Mutter Elsas aus Gram ihre Tochter nicht lange überlebte.
Das Reden wurde ihr37-5offenbar schwer. Zuletzt aber faßte sie sich und sagte: „Finden Sie keine Ähnlichkeit unter diesen Mädchen mit Ihrer Elsa? Schauen Sie sie37-6einmal37-7recht37-8an!“
Der Assessor sagte: „Ja, die eine fiel mir schon lange auf, aber ich traute doch nicht ganz meinem Urteil.“
„Nun ja, sie sind nicht aus der Art geschlagen. Sie wissen, daß Elsa einen Bruder hatte, der nach dem Tode der Mutter in unserm Hause erzogen wurde. Er heiratete später meine jüngste Schwester, und das37-9sind ihre Kinder.Sie hielten mich wohl38-1alle, meine Herren, für eine gestrenge Institutsdame! Ich bin es nicht, wir haben uns nur fremden Leuten gegenüber die Maske auferlegt, um unbelästigt durchzukommen. Ich bin die Tante der Kinder.“
Jetzt ging auch den Studios ein Licht38-2auf, und sie begriffen die heitere38-3„Vorsteherin“. Es war derweilen Mitternacht geworden. Der Engländer saß tief versunken da. Die Geschichte hatte ihn wunderbar getroffen, er redete kein Wort mehr, sondern stand auf und verbeugte sich artig gegen die Damen, schüttelte aber dem Assessor warm die Hand, als wäre er sein bester Freund. Den Studenten dankte er für den Gesang und rief seinen James.
„James—du räumst38-4unsere Stube aus, daß die Damen da schlafen können. Wir werden das Stroh suchen.“
Trotz aller Gegenvorstellungen von Seiten Fräulein Millas blieb’s38-5dabei.
Die Eingeborenen hatten schon längst ihr Lager gesucht.
Draußen war’s stille geworden, das Schneetreiben hatte sich gelegt.
Die Studenten schliefen bald den gesunden Jugendschlaf, aber der Assessor blickte noch lange hinaus in die mondhelle, glänzende Nacht und über das große Leichentuch, das der Schnee über die Matten und Bergspitzen geworfen.
Der Tag graute. Die Führer waren früh auf, um dem Wetter nachzuspüren und den Schnee zu prüfen. Mit einiger Vorsicht konnte man es schon wagen, weiter zu ziehen. Der Assessor war schon munter und wartete auf Fräulein Milla, sie hatten sich39-1ja noch so viel zu sagen! Milla erschloß ihr Herz dem vereinsamten Freunde ihrer Elsa, und ihm war39-2es, wie wenn ein lang verhaltener Strom endlich sich Bahn brechen durfte.
Die Studenten zählten indessen „die Häupter39-3ihrer Lieben,“ d. h.39-4ihre Gulden und Kreuzer und addierten und subtrahierten die Zeche. Da trat auch der Engländer herein. Die drei grüßten ihn freundlich.
„Nun wohin?“39-5—fragte er.
„Wohin?—heim, wo wir hergekommen. Wir werden noch ein Konzert veranstalten, ehe wir diesen Platz verlassen.“
„O nein,“ sagte der Engländer, „Sie sollen nicht heim, Sie sollen sehen Italien mit mir, wenn Sie wollen, und mir dann und wann ein Lied singen.“
Die Studenten wußten nicht, wie ihnen geschah.
„Mr. Brown,“ sagte der zweite Tenor, „das ist sehr edel von Ihnen, aber zu teuer für Sie, denn wir sind allesamt mit einem guten Magen behaftet.“
„Das ist gerade sehr schön, das liebt Mr. Brown sehr. Ich gehe nach Oberitalien,39-6und Sie begleiten mich, und James und wir werden viele Freude haben. Topp—eingeschlagen!“39-7
Die drei schlugen herzhaft ein. Über das schöne Gesichtdes Engländers zog ein Schimmer der Verklärung. So hatten sie ihn noch nicht gesehen.
Die Führer mahnten zum Aufbruch. Der alte Gemsbart40-1nahm das Ränzel des Assessors.
Der junge Eheherr zog mit seiner Frau und den Damen abwärts der Ebene zu,40-2die andern hinab nach Italien. Man hatte sich gegenseitig die Namen und Adressen mitgeteilt, und alle schieden, indem40-3sie das Schneetreiben segneten, das sie zusammengeweht. Der Tauernwirt sandte allen noch einen hellen Juchzer nach, denn Mr. Brown hatte ihm seinen40-4guten Kaiser Franz Joseph40-5in Gold als Extrageschenk zurückgelassen. — — —
Der Verfasser könnte nun hier schließen, aber die geneigte Leserin ist neugierig, und möchte für ihr Leben40-6gern wissen, wie das schließlich noch geendet hat. Darum will er noch ein paar Worte hinzufügen:
An einem schönen Tag, das Jahr darauf, klopft’s40-7am Niederrhein bei40-8dem jungen Eheherrn, als er gerade seinen kleinen Schreihals herumtrug. „Annlies!avanti!“ riefen draußen zwei Stimmen. Dem Eheherrn wird’s40-9ganz italienisch zu Mut, und er ruft: „Entrate pure!“40-10—d. h. „als40-11herein!“ Da stehen zwei vor ihm und schauen ihn an. „Nun—wer sind wir?“ fragen sie.
Der Eheherr aber rief in die Küche: „Annlies!avanti!“—einHochzeitspaar!“ „Milla!“ rief die junge Frau—„seid41-1Ihr’s?“ Ja, da standen sie, der Assessor und seine Frau. Sie waren auf der Hochzeitsreise und wollten41-2zur Cestiuspyramide.
Der Assessor war damals bald umgekehrt, denn ihn trieb ein anderer Gedanke nach Hause. Er war durch jenen Abend dem Leben zurückgegeben und hatte Milla seine Hand gereicht. Alles wanderte41-3fort, Blasenpflaster, Opodeldoc und Storchfetttopf, und Milla sah aus, wie41-4wenn sie eben in die Zwanzig gekommen. Was die alte Lena dazu gesagt, wird billig verschwiegen.—
Der zweite Tenor ist41-5schon lange ein würdiger Pfarrherr. In seinem Hause ist’s41-6behaglich englisch41-7eingerichtet. Am Abend brummt der Theekessel, und der Pfarrherr raucht vom feinsten41-8dazu.41-9Zu seiner Seite sitzt ein munteres Weibchen immer vergnügt und heiter;—sie heißt Elsa mit Vornamen, die kluge unter den drei Schwestern. Bei ihrer Hochzeit war Mr. Brown der Brautführer und Milla die Brautmutter. Die andern zwei Studenten waren die Ehrgesellen dabei, und der Assessor, der längst schon ein angesehener Landgerichtsrat ist, gab ihnen den Rat, seinem41-10Beispiele baldigst zu folgen. An der Hochzeitstafel klang41-11„Ännchen von Tharau“ noch einmal; aber Mr. Brown wußte jetzt, was „Verknotigung“ war.