Chapter 11

Theaítetos und Theudios.

Sind Menaichmos und Dinostratos die produktivsten Mitglieder des Platonischen Kreises, »derer um Platon,« so sind Theaítetos der Athener und Theudios der Magnesier, (wohl in Karien) diejenigen, welche die methodische Seite der Akademie am energischsten vertreten. Von Θεαίτητος, dem schon oft genannten, rührt ein grosser Teil der selbst für uns Heutige nicht leichten Sätze des X. Buchs der Elemente des Eukleides her, das selbst ein Petrus Ramus, obwohl ein genauer Kenner von Proklos' Kommentar zum I. Buch, nicht verstand, und Θευδιος ὁ Μαγνης hat das Lehrbuch der Akademie verfasst. Von ihm sagt Proklos: Er brachte gute Ordnung in die Elemente und verallgemeinerte vieles in den einzelnen Abschnitten (Friedl. p. 67, wenn ὁρικων, was Friedlein bezweifelt, richtig ist, so kann es auch vielleicht besser als »begrenzt« d. h. »zu eng gefasst« übersetzt werden, »er machte die Begrenzungen weiter«).

Aristoteles.

Die Elemente des Theudios gehen denen des Euklid unmittelbar voran, und auf sie beziehen sich die mathematischen Angaben beiAristoteles.

Zeit bei Platon.

Dieser weltumfassendste Geist nicht bloss des Altertums, der Wissenschaft und Kunst fast 2000 Jahre lang beherrscht hat und die formale Logik sogar bis aufSigwart, d. h. bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, hat noch weit mehr als Platon die Mathematik nur als Hilfswissenschaft der Philosophie insbesondere für die Lehre vom Schluss und von den Beweisen betrachtet, und allenfalls für die Astronomie, in der er wieKantden stärksten Beweis des für sein System ganz unentbehrlichen Gottesbegriffes sah. Es steht nicht einmal fest, ob Aristoteles auf der vollen Höhe der mathematischen Bildung seiner Zeit gestanden hat, von höheren Problemen streift er eigentlich nur einmal ganz gelegentlich in de coelo die Quadratur des Zirkels. Dass er die Kegelschnitte nicht beachtet hat, versteht sich von selbst, da sie ja gerade zu seiner Zeit von seinem MitschülerMenaichmosgefunden wurden. Aber um so grösser ist seine Bedeutung für die Grundbegriffe der Mathematik. WährendJ. L. Heiberg(Teubner Abh. z. Gesch. der Math. Wiss. Heft 18, 1904) das spez. Mathematische bei Aristoteles gesammelt hat, ähnlich wie Theon Smyrneus die Mathematik bei Platon, istA. Görlandin seiner Dissertation und besonders in dem Werke: Aristoteles und die Mathematik, Marburg 1899 auch der begrifflichen Seite gerechter geworden. Aristoteles ist auch der erste der Hellenen der sich genauer mit dem Begriff Zeit beschäftigt hat.Platon, wie er den Aristoteles an schöpferischer Kraft der Phantasie weit überragt, übertrifft ihn auch in der Erkenntnis gerade der tiefsten Quellen unserer Erkenntnis, aber dass die Zeit auch eine Idee sei, wie das Gute, ist dem Idealisten κατ ἐξοχήν entgangen. Die Hauptstelle findet sich Timäos 366–370. Gott schuf die Welt als Abbild der ewigen Ideen (personifiziert durch die einzelnen Götter), und in der Freude über seine Schöpfung beschloss er sie dem Urbilde noch ähnlicher zu machen und schuf dazu die Zeit alsbewegliches, nach Zahlenverhältnissen fortschreitendes, ewiges Abbild. Denn Tage und Nächte und Monate und Jahre gab es nicht, bevor der Himmelgeschaffen, sondern damals als dieser zusammengesetzt wurde, bewirkte er zugleich auch ihre Entstehung. Alle diese (die Tage etc.) sind Teile der Zeit, und das »Es war« und das »Es wird sein« sind entstandene Formen der Zeit, die wirunvermerktauf das ewige Wesen übertragen, und mitUnrecht. Denn wir sprechen von einem »es war, es ist, es wird sein« jener aber kommt in Wahrheit nur das »Es ist« zu, das »war« und das »wird sein« aber ziemt es sich von der in der Zeit sich bewegenden Entstehung auszusagen. Wenn hier auch die transzendentale Idealität der Zeit gestreift ist, so sind doch Zeit und Bewegung nicht scharf geschieden, und insbesondere scheint die Zeit selbst als Dauer aufgefasst zu sein, was schon eine Anwendung der Kategorie Raum auf die Zeit einschliesst.

Aristoteles über Zeit.

Aristoteleshat sich besonders in der Physik mit der Zeit beschäftigt, er hat den Zusammenhang der Zeit mit der Zahl erkannt und im direkten Gegensatz zu Kant die Zeit auf die Zahl zurückgeführt. Im Buch IV der Physik heisst es: die Zeitscheintdie Bewegung einer Kugel zu sein, weil durch sie die übrigen Bewegungen (Rotationen)gemessenwerden. — Ganz ähnlich heisst es in der NaturphilosophieLorenz Oken's, des Vorgängers von Darwin, die Zeit ist gleichsam eine fortrollende Kugel, die immer in sich selbst wiederkehrt. — An anderer Stelle nennt er die Zeit dieZahl des Kontinuums, und die Zahl der Bewegung in bezug aufvorherundnachher, Mass der Ruhe und Bewegung. Wichtig ist, dass er Phys. 10 auseinandersetzt, dass die Zeit nicht aus Momenten bestehe und ganz des Aristoteles würdig ist die Stelle Phys. IV Kap. 10: Ob das Jetzt, das Vergangenheit und Zukunft trennt, immer ein und dasselbe sei, oder anderes und anderes, das ist nicht leicht zu entscheiden.

Aristoteles (vita).

Aristoteles, derStagirite, wie er oft genannt wird, ist 384 in Stageira einer Stadt der athenischen Landschaft Chalcidice geboren. Sein Vater Nikomachos war Leibarzt des Königs Amyntas von Macedonien, des Vaters Philipps der die entzweitenHellenen unter das Macedonische Joch einte. Im 18. Jahre kam er nach dem Tode beider Eltern als ein wohlhabender und wohlerzogener Hellene nach Athen vermutlich um Platons willen, dessen Schule er bis zum Tod Platons, zwanzig Jahre lang angehörte. Daneben muss der Sohn des Arztes mit dem Fleiss und der ungeheuren Arbeitskraft eines grossen Genius geschafft haben um sich auf naturwissenschaftlichem und politisch-historischem Gebiete das Riesenmaterial von Kenntnissen anzueignen, das in seinen Schriften verarbeitet ist. Zwei Strömungen von ganz ungewöhnlicher Stärke sind in Aristoteles vereinigt, einerseits ist er der erste grosseBiologe, der mit gleicher Sorgfalt das grösste wie das kleinste Lebewesen beobachtet, er hat es ja selbst ausgesprochen, dass es für den Forscher nichts Grosses und nichts Kleines gebe, — andererseits ein Systematiker von extremer Nüchternheit und Klarheit.

Dass der über dreissigjährige Mann in den letzten Jahren seines Lehrers dem Platonismus schon mit kritischem Geiste gegenüberstand, ist an sich im höchsten Grade wahrscheinlich, auch wenn es nicht durch den Klatsch der Schule bezeugt wäre. Insbesondere richtete sich seine Kritik wohl damals schon gegen die Ideenlehre. Aristoteles hat hier wohl von Anfang an dem Schwunge des Dichters nicht folgen können, vermöge einer Schwäche seiner Begabung gerade auf dem Gebiete der Phantasie. Und dann muss gesagt werden, dass Platon selbst seine eigene grossartige Auffassung der Idee, des reinen ewigen Urbilds, die über den Dingen stehend, die Kraft ist, welche die Dinge schafft, mit zunehmendem Alter mehr und mehr verdunkelt und abgeschwächt hat, man vergleiche die »νόμοι«, die Gesetze, auch den Zusatz, die επινομις. So erklärt es sich, dass in der Darstellung des Aristoteles die Ideenlehre in die Zahlenmystik der Pythagoräer überging.

Doch war und blieb er Platoniker, wie schon daraus hervorgeht, dass er unmittelbar nach dem Tode des Meisters Athen für lange Zeit verliess, und zwar in Gemeinschaft mit dem leidenschaftlichsten Verehrer Platons, demXenokrates, der nach demTode von Platons Neffen Speusippos der Leiter der Akademie war. Aristoteles brachte die nächsten drei Jahre bei seinem Bundesbruder Hermias, dem Fürsten von Atarneos und Assos zu, und heiratete nach dessen Tode die Schwester oder Nichte desselben. Im Jahre 343 (oder 342) übernahm er die Ausbildung des damals dreizehnjährigenAlexander, und diese Verbindung, obwohl sie nur 3 Jahre dauerte, da Alexander schon mit 16 Jahren die Vertretung seines Vaters Philipp in Macedonien übernahm, wurde für beide grosse Männer von höchster Bedeutung. — Aristoteles ging zunächst in seine Heimatstadt Stageira, er blieb aber bis kurz vor Alexanders Tode, bis er durch die Torheit seines Neffen Kallisthenes jenem entfremdet wurde, in innigster Verbindung mit dem Könige. Mit königlicher Freigebigkeit gewährte Alexander die Mittel, welche er zu seinen Arbeiten brauchte, alle fremden Tiere und Pflanzen wurden ihm zugesandt, und die Summen, derer er zu seiner grossen Bibliothek bedurfte, verdankte er wohl auch zum grossen Teil dem Könige. Aristoteles ist der erste Gelehrte, von dem wir wissen, dass er sich eine grosse Büchersammlung angelegt hat, und das war damals ein noch weit kostspieligeres Vergnügen als heute, um so mehr als er auch dafür sorgte, dass die wichtigsten Werke durch Abschriften weiteren Kreisen zugänglich gemacht wurden. Die Sammlung hat er seinem bedeutendsten Schüler, demTheophrasthinterlassen.

Dreizehn Jahre nach dem Tode Platons kehrte er nach Athen zurück, nahm den Unterricht in der Rhetorik, den er schon bei Lebzeiten Platons sehr erfolgreich geführt hatte, wieder auf, und eröffnete jetzt ebenfalls bei einem Gymnasium, dem Lyceum, eine eigene Philosophenschule und begründete den dazu gehörigen Freundschaftsbund. In den Parkanlagen des Lyceums auf- und abgehend, disputierte er mit seinen Schülern und von dieser Gewohnheit erhielten die Jünger den Namen der »Peripatetiker.« Übermenschliches hat er in den 12 Jahren seiner Lehrtätigkeit geleistet. Abgesehen von einzelnen Dialogen,welche schon zu Platons Zeiten veröffentlicht waren, sind fast alle seine grossen Lehrschriften, die ja im wesentlichen Vorlesungshefte für seinen und seine Schüler Gebrauch waren, hier entweder entstanden oder doch wenn nicht konzipiert, so doch redigiert. Aristoteles starb 332 zu Chalcis auf Euboea, wo er ein Landgut besass, an einem Magenleiden.

Aristoteles, Werke.

Ich erwähne zuerst seine grossartigen naturwissenschaftlichen Werke, als Systematiker beginnt er mit der unorganischen Natur. Zunächst diePhysik, φυσικη ακροασις, 8 Bücher, zu denen uns der sehr wichtige Kommentar des Simplicius erhalten ist. Dies Werk hat bis an das 18. Jahrh. heran den Stoff für die Vorlesungen über Physik gegeben. Dann die Astronomie, περι ουρανου de coelo, 4 Bücher (dazu Kommentar des Simplicius). Er kritisiert die Pythagoräer, den Hiketas, den Aristarch von Samos, welche die zentrale Stellung der Erde im Weltsystem aufgegeben; und seine Autorität hat bis auf Kopernikus den Weg zum Fortschritt versperrt. In de coelo β 13, 293 lesen wir: δειν τη γη του μεσου χωραν αποδιδοναι. Man muss der Erde die Stelle des Mittelpunktes wiedergeben: denn χώρα Raum steht bei Aristoteles häufig für τόπος Ort. Weiter nenne ich die Schrift über Entstehen und Vergehen, περὶ γενέσεως καὶ φθορᾶς 2 Bücher, die Meteorologie 4 Bücher, woran sich auch ein Werk über Mathematik im engeren Sinne angeschlossen haben soll, was aber nicht gerade wahrscheinlich ist. Es schliessen sich dann die Werke über die lebenden Wesen an, beschreibende und untersuchende. Zunächst die grossartigeZoologie, περὶ τα ζῷα ἱστορια. 9 Bücher, dann 7 BücherAnatomie, dann die (physiologische)Psychologie, περὶ ψυχής, Wahrnehmen und Wahrgenommenes, Gedächtnis und Erinnerung, Traum und Wachen. — Ferner über Kurz- und Langlebigkeit, Leben und Tod, und damit verbunden, über das Atmen. Über die Teile der Tiere, die Erzeugung und den Gang der Tiere (wahrscheinlich unecht). — Die 2 Bücher über die Pflanzen sind verloren, weil sie von der reichhaltigeren Schrift desTheophrastaufgesaugt und verdrängt sind, eine im Altertum häufige Erscheinung. — An die Zoologie, welche mit dem Menschen endet, reihen sich dann folgerichtig die grossen Werke über das sittliche Handeln des einzelnen Menschen, und über sein Leben im Staate an, Ethik und Politik. Von den drei Ethiken ist die grosse sog.Nikomachische Ethikunbezweifelt das echte Werk des Aristoteles, während die andere die Eudemische ein Kollegienheft des Eudemos ist, und die dritte, die sog. grosse Moral ein Auszug aus dem Eudemos ist. Die Ethik handelt von dem höchsten Gut, von der Tugend, von der Freundschaft etc. Das höchste Gut sieht sie in der reinen Denktätigkeit; die wissenschaftliche Arbeit um ihrer selbst willen, diese ist göttlich. Ihr zunächst steht im Werte die Tugend, die ethische Tugend ist auf denWillengerichtet, der lernen muss, um es kurz auszudrücken, die richtige Mitte zwischen zwei Lastern zu halten. Tief empfunden und wahrhaft beredt ist, was Aristoteles über dieFreundschaftsagt, ohne die ihm zufolge keine Gemeinschaft bestehen kann.

Von denstaatswissenschaftlichenWerken ist uns die Politik erhalten, 8 Bücher, unvollendet, aber wieZellersagt, eins von den reifsten und bewundernswertesten Erzeugnissen seines Geistes. Verloren sind bis auf wenige Bruchstücke, die sog. πολιτείαι, eine wahrscheinlich lexikalisch geordnete Sammlung der Verfassung von 158 Staaten oder Städten, anfangend mit Athen. Vor wenigen Jahren ist gerade die Verfassung Athens in der Leichenbinde einer ägyptischen Mumie gefunden und vonKeibelundKiesslingmeisterhaft übersetzt worden. Sie zeigt uns was wir verloren haben und ist unschätzbar für die Beurteilung des Aristoteles. Während dieser in den exakt-wissenschaftlichen und philosophischen Schriften in Sprache und Form meist trocken, nüchtern und knapp ist, — er hat ja die philosophische Fachsprache, ich möchte sagen, den Jargon geschaffen, der die meisten philosophischen Werke so ungeniessbar macht, — begreifen wir hier wieCicerosagen konnte, Aristoteleshabe die alten Rhetoren »suavitate et brevitate dicendi,« durch Anmut und treffende Kürze der Sprache, weit hinter sich gelassen.

Zugleich aber bekommen wir auch zum ersten Male ein genaues Bild vom alten Athen und sind imstande die Anziehungskraft zu begreifen, welche Athen auf die Hellenen ausübte. Wir sehen hier eine Verfassung von solchem echten Liberalismus und von solcher Humanität, wie sie noch nie zum zweiten Male existiert hat. Selbst die Staatssklaven der Athener erfreuten sich einer Freiheit, die in vieler Hinsicht grösser war als die der heutigen Staatssklaven, der Beamten. Interessant ist auch die Rolle, welche die Erbtochter schon damals spielte.

Die Anschauung des Aristoteles überKunstkann ich hier nur flüchtig streifen, erhalten ist nur diePoëtik, und auch sie nur als Fragment, aber Sie wissen, welchen langdauernden Einfluss die sog. drei Einheiten, welche Aristoteles für das Drama forderte, die Einheit des Orts, der Zeit und der Handlung, gerade weil die Forderungen missverstanden wurden, insbesondere auf das klassische Drama der Franzosen gehabt haben.

Nun zu den eigentlichen philosophischen Schriften des Aristoteles. Zuerst bereitet er sich den Boden für das Verständnis seiner Gedanken dadurch, dass er die Gesetze, denen unser Denken unterworfen ist, die Lehre vom Schluss und vom Beweise, die formale Logik, als der Erste genau formulierte. Die Logik des Aristoteles zerfällt in 2 grosse Abteilungen, dieTopikund die Analytik, zusammengefasst alsOrganonid est Werkzeug. Ich nenne hierF. Kampe, die Erkenntnistheorie des Aristoteles Leipz. 1870,R. Eucken, die Methode der arist. Forschung Berl. 1872. Von neuen Ausgaben seien die der Berliner Akademie von 1831–70 in 5 Bänden und die auf 35 Bände berechnete der griech. Kommentare hervorgehoben, darunter diePhysik des SimpliciusvonH. Diels1882 und eben desselben Astronomie vonJ. L. Heiberg1894.

Die Grundlagen jeder wissenschaftlichen Arbeit sind im Organon für ewig gelegt. Die Logik wird als wissenschaftlicheTechnik aufgefasst, er will keine vollständige Erkenntnistheorie geben, etwa wieH. Cohen's Logik der reinen Erkenntnis, sondern zunächst eine Untersuchung über die Formen und Gesetze der wissenschaftlichen Beweisführung. Die Topik beschäftigt sich mit der Dialektik, der Lehre vom Beweisbaren und dem Wahrscheinlichen; von den Analytiken beschäftigt sich die erste mit dem Schlusse, die andere mit der Beweisführung gestützt auf den Syllogismus. Die Syllogistik hat es mit der Erkenntnis derjenigen Denkformen zu tun, denen zufolge mit Hilfe eines Zwischenbegriffs, der im einen Urteil Prädikat, im anderen Subjekt ist, entschieden werden soll, ob ein Begriff unter einem andern subsumiert werden soll, ganz oder teilweise, oder nicht. Aristoteles hat die Urteile nach Quantität und Qualität eingeteilt, und zwar nach Quantität: generelle, partikuläre, singuläre, (allgemeine, besondere, einzelne) und nach Qualität: affirmative und negative (bejahende und verneinende).

Ein Punkt der für Mathematiker besonders wichtig ist muss betont werden. NichtSchopenhauerhat zuerst die Forderung erhoben: der wahre Beweis muss nicht nur dass etwas ist, sondern warum es ist, aufdecken, sondernAristoteleshat περι ψυχής II, 2 mit grösster Schärfe das nämliche gefordert.

Aristoteles Philosophie.

An die Logik, die Wissenschaftslehre, schliesst sich dieMetaphysikan. Aristoteles setzt die Platonische Philosophie voraus, und indem er sie umbildet, verbildet und fortbildet, ist er der Vollender der Begriffsphilosophie. Die Metaphysik beginnt mit der berühmten Tafel derKategorien, der irreduzibeln Stammbegriffe der Vernunft, die Grundformen aller Aussagen. Sie sind bei ihm nicht völlig das was ichKonstituentendes Intellekts nenne, Methoden grosse Gruppen von Erkenntnissen zusammenzufassen und zu ordnen.

Aristoteles über Grösse.

Er unterscheidet: 1) Substanz (ουσία, Wesenheit) 2) Grösse, Quantität, ποσόν., 3) Beschaffenheit, Qualität, ποιόν, 4) Beziehung, Relation, πρός τι., 5) Worin, Raum, χώρα., 6) Wann, Zeit, πότε., 7) Lage, θέσις, 8) Haben, ἕξις, 9) Wirken, ποιεῖν,10) Leiden, πάσχειν. Lage und Haben scheinen nur aufgestellt, um die Zehnzahl der Pythagoräer voll zu machen, er lässt sie im Laufe der Untersuchung fallen. Doch wird die θέσις die Lage von ihm als Grundeigenschaft des Raumes erkannt. Uns interessiert am meisten was er über Grösse sagt. Alles was sich in substantielle Teile teilen lässt, ist eine Grösse (dieselbe Definition gabWeierstrassim Colleg.). Sind die Teile zusammenhängend, so ist die Grössestetig(συνεχές), die Lehre von der kontinuierlichen Grösse geht wie beinahe jede scharfe begriffliche Untersuchung auf Aristoteles zurück, der auch die recht eigentlichen mathematischen Probleme, die Zusammensetzung und Trennung des Kontinuums erfasst hat. Ausführlicher spricht er sich über Kontinuität in der Physik c. 3, 227 und 10 aus: Es sei etwas stetig, wenn die Grenze eines jeden zweier aufeinander folgenden Teile, in der dieselben sich berühren,ein und dieselbe ist, und sie, wie es auch das Wort bedeutet, (συν zusammen, έχω halten) zusammengehalten werden. Sind die Teile in einer bestimmtenLage, so sind die Grössen extensive oder Raumgrössen, dasUngeteilteoder dieEinheit, mit der sie gemessen wird, und dieMessbarkeit, dass sie ein Mass hat, ist das unterscheidende Merkmal der Grössen. Auch die für die Ausbildung des Integralbegriffs grundlegenden Probleme der Zusammensetzung und Trennung des Kontinuums sind von ihm gestellt. Und wenn auch περι ατομων γραμμων vielleicht wie Tannery meint, nur ein Schülerheft, so ist doch περι φύσεως unbestritten. Das Argument mit dem Aristoteles bewies, dass Raum und Zeit nicht aus Punkten bestehen (es hätten sonst z. B. Seite und Diagonale des Quadrats gleichviel Punkte und wären gleich) haben die Arabischen Aristoteliker, (wie Averroës), gegen die Mutakallimun (Logiker) gebraucht.

Für die Qualitäten werden zwei Hauptarten unterschieden, diejenigen, welche sich auf einen substantiellen Unterschied und diejenigen, welche sich auf Bewegung und Tätigkeit beziehen. Als ein charakteristisches Merkmal der Qualität wird der Gegensatzdes Ähnlichen und Unähnlichen betrachtet; zu bemerken ist hier, dass Kategorien der Anschauung von Aristoteles nicht aufgestellt werden, wie z. B. Abstand, Richtung.

Der wichtigste Stammbegriff ist der der Substanz, der der Träger der Übrigen ist, und so ist es die Untersuchung über das Seiende als Seiendes von der die Philosophie, welche den Zweck hat die Erfahrung zur Einheit zusammenzufassen, ausgehen muss. Ich führe hier als den wichtigsten Satz an das berühmte: το δ' ειναι ουσια ουδενι., der widerspruchsfreie Begriff begründet keine Existenz des Definierten, mit dem z. B. der ontologische Beweis des Daseins Gottes und die GrundlageSpinozaszusammenbricht. Die erste und höchste Philosophie hat die Aufgabe die letzten (A. sagt richtiger die ersten) und allgemeinsten Gründe der Dinge zu erforschen, sie gewährt das umfassendste Wissen, dasjenige, welches am schwersten zu erlangen ist, da die allgemeinsten Prinzipien von der sinnlichen Erfahrung am weitesten abliegen, das sicherste, weil sie es mit den irreduziblen Begriffen und Axiomen zu tun hat, das was am meisten Selbstzweck ist, weil es die Zwecke, denen alles dient, feststellt. Sie muss alles Wirkliche schlechthin umfassen, denn die letzten (πρώτας) Gründe sind nur die, welche alles Seiende als Solches erklären. Andere Wissenschaften, wie Medizin und Mathematik, beschränken sich auf ihr Gebiet, das sie nicht weiter definieren, die Wissenschaft von den letzten Gründen muss die Gesamtheit der Dinge auf ihre ewigen Ursachen und in letzter Instanz auf das Unbewegte und Unkörperliche, d. h. aufGottzurückführen, von dem alle Bewegung und Gestaltung des Körperlichen ausgeht. Er nennt diese Wissenschaft, die Metaphysik, erste Philosophie auch Theologie. Angesichts des Schwungs der Sprache und der Wucht der Gründe mit denen Aristoteles den Gottesbegriff stützt, wird es begreiflich, wie die Scholastik, wie ein Thomas von Aquino im Gegensatz zu Platon, mehr und mehr sich auf Aristoteles stützen musste, der fast zu einem Heiligen der katholischen Kirchegeworden ist. Verbot doch im Jahr 1624 das französische Parlament jeden Angriff gegen seine Autorität bei Todesstrafe.

Aristoteles und die Ideenlehre.

Indem er nun näher auf dasjenige eingeht, was allen Seienden als solchem zukommt, untersucht er den Satz vom Widerspruch, der ja in der Mathematik eine so entscheidende Stelle im indirekten Beweis einnimmt, denken Sie nur an die grosse Menge stereometrischer Sätze, welche sich auf den Widerspruch gegen das Parallelenaxiom zurückführen lassen. Er knüpft an seine Untersuchung den Satz vom »ausgeschlossenen Dritten« (aut est, aut non est, tertium non datur). Ich muss für Aristoteles' Metaphysik auf Bonitz, Windelband, Zeller etc. verweisen, nur seine Gestaltung der Ideenlehre muss ich besprechen, denn in ihr besteht ja seine Emanzipation vonPlaton. Aristoteles hat die Idee Platons missverstanden, vielleicht weil Platon sich nicht mit Konsequenz dahin ausgesprochen, dass seine Idee auf der Ausschaltung des Zufälligen beruht. Letzteres ist für uns unbefriedigend und indem wir es auffassen als etwas, was sein oder nicht sein kann, verstösst es gegen den Satz vom Widerspruch. Die Platonische Idee, als zeitlose Norm aus wenigen Erfahrungen vermöge eines Grundtriebs unseres Intellekts geschaffen, stehtüberden Dingen, Aristoteles und vermöge seiner Autorität fast alle Nachfolger fassen sie alsnebenden Dingen, ἑν παρα τα πολλα., als ausserhalb der wirklichen Welt und in keinem Zusammenhange mit ihr stehend, wie diepraestabilierte Harmonie des Leibniz, wo ihre Wirkung dann allerdings unerklärlich ist. Aristoteles fasst die Idee als ἑν κατα πολλα, als in jedem Dinge, jedes Ding existiert eigentlich nur insoweit, als es seine Idee ausdrückt. Man sieht, dass er Platon missversteht, um im Grunde auf ihn zurückzugreifen. Aristoteles unterscheidet die ὑλη, den Stoff, die Materie, die gestaltlos, nur die Möglichkeit, die δύναμις, zum Wirklichen, zur ενεργεια hat, das ihnen allein durch die Idee εἶδος, die Form zugeführt wird. Die Idee ist zugleich dieZweckursache,der gemäss die Wesen sich entwickeln, sie ist die Seele jedes einzelnen Dinges.

Aristoteles, Stoff und Form.

Man darf den aristotelischen Begriff der Form nicht mit unserm Wort verwechseln, ein toter Mensch ist der Idee nach kein Mensch, noch ein gefällter Baum ein Baum. Stoff und Form wechseln, Bauholz ist in Bezug auf den lebenden Baum Stoff, in Bezug auf den unbehauenen Stamm Form, Erz für den Bildhauer Stoff, für den Erzgiesser Form etc. So stellt sich die Gesamtheit alles Seienden als eine Stufenleiter dar, deren unterste Stufe, die erste Materie oder πρωτη ὑλη, unterschiedslos, unbestimmt und formlos, deren oberste eine letzte Idee, der mit gar keinen Stoff behaftete absolute göttliche Geist. Der Gottesbegriff des Aristoteles hat etwas Überwältigendes. Er hat den ontologischen, den kosmologischen, den teleologischen, den moralischen Beweis für das Dasein Gottes geschaffen, er beherrscht die katholische Theologie nicht nur durch das ganze Mittelalter, sondern noch heute und Metaphysik XII finden Sie in einen bei Aristoteles ganz ungewöhnlichen fast dichterischem Schwung die Schilderung des Wesens der Gottheit.

In dem Verhältnis des Stoffs zur Form hat nun Aristoteles die beiden für sein System und für dieMathematikgleich wichtigen Begriffe des Potentiellen und Aktuellen, der δυναμις und ενεργεια (auch εντελεχεια Vollendung), Möglichkeit und Wirksamkeit geschaffen, denken Sie nur an die potentielle und aktuelle (kinetische) Energie der heutigen Mechanik. In der Auffassung der Bewegung als Übergang des Potentiell-Seienden zum Aktuell-Seienden hat er die Schwierigkeit die der Begriff des Werdens seinen Vorgängern machte überwunden; es ist ein und dasselbe Sein, um das es sich handelt, nur auf verschiedener Entwicklungsstufe. Potentiell, κατα δυναμιν ist das Samenkorn ein Baum, der ausgewachsene Baum ist es aktuell, κατ' ενεργειαν. Potentieller Philosoph ist Aristoteles, wenn er schläft, der bessere Feldherr Sieger vor der Schlacht, potentiell ist der Raum ins Unendliche teilbar, die Zahl ins Unendliche zählbar, potentiellist Alles, was sich gemäss der in ihm liegenden Idee entwickeln kann, wenn möglich zur Vollendung, zur Entelechie, zur vollendeten Darstellung seiner Idee.

Aristoteles, das Unendliche.

Diese beiden fundamentalen Unterschiede des Seins, das Potentielle und das Aktuelle, hat Aristoteles auch im Begriff des Unendlichen hervorgehoben; von ihm rührt die bis auf den heutigen Tag, ich nenneGeorg Cantor, herrschende Unterscheidung des infinitum potentia et actu, des Unendlichen im Werden und des Unendlichen im Sein. Es ist unmöglich die Scholastiker oder Cusanus zu verstehen, ohne diese Unterscheidung zu kennen. Aristoteles hat zuerst und bis aufGalileials der Einzige wissenschaftlich den Begriff Unendlich untersucht. Wohl hat Zeno den Integralbegriff gestreift, Demokrit diesen ganz bewusst benutzt, aber hier handelt es sich um eine logische Untersuchung, denn Unendlichkeitsbetrachtungen sind an sich so alt wie der Mensch. Schon in den Veden kommt die Göttin des Unendlichen,Aditi, vor und Max Müller sagt in seiner ersten Strassburger Vorlesung »alle Religion entspringt aus dem Druck, den das Unendliche auf das Endliche ausübt«. Ich habe l. c. auf den Ursprung des Unendlichkeitsbegriffs aus dem Werkzeug unseres Intellekts: Zeit hingewiesen, bezw, darauf, dass wir uns ein Ende unserer Erlebnisse nicht denken können. WennFregein seinen Grundlagen der Arithmetik von 1884 den Versuch macht die Existenz von (n + 1) mittelst des Schlusses von n auf n + 1 zu beweisen, so halte ich dagegen die Unendlichkeit der Anzahlenreihe für das Prius, das unmittelbar durch den Zusammenhang der Ordinalzahl mit der Zeit gegeben ist. Mit jedem neuen Erlebnis ist eben auch eine neue Einheitssetzung und damit eine neue Ordinal- und Kardinalzahl gegeben. Aristoteles kommt wieGausszu dem Schluss, dass das Unendliche im Sein, das infinitum actu oder κατ' ενέργειαν, das ἄπειρον, das wovon es kein Jenseits gibt, in der Natur nicht existiert, ἡ φυσις φευγει το απερον, also als sinnlich wahrnehmbar existiert keine unendliche Grösse. Nur in Gott als der unendlichen Kraft,welche die unendliche Bewegung der Welt hervorbringt, existiert das infinitum actu. Wohl aber gibt er zu, dass es ein infinitum potentia (κατά δύναμιν) gibt. Die Raumgrösse ist unbegrenzt teilbar, aber ein unendlich kleines gibt es nicht, sondern das ἄπειρον ist nur im Entstehen und Vergehen. Und die Zeit und mit ihr die Zahl ist unendlich gross im Werden, aber auch hier ist die Zunahme endlich, die grosse Zahl entsteht und vergeht, und macht der grösseren Zahl Platz, eine unendlich grosse Zahl existiert nicht. Aber dieser grosse Denker streift doch schon die Lösung, er sagt in der Physik Cap. 5, 204: »Vielleicht ist die Untersuchung ob das Unendliche auch in der Mathematik und in dem Denkbaren und in demjenigen was keine Grösse hat, existiere, eine weit allgemeinere.« Die Lösung liegt eben darin, dass das mathematisch Unendliche überhaupt keine Grösse besitzt. Es genüge hier aufB. Bolzano's klassische »Paradoxien des Unendlichen« zu verweisen. Bolzano, auf denWeierstrassundG. Cantorganz unmittelbar fussen, hat den Hauptanstoss hinweggeräumt, allerdings wörtlich nachGalilei, als er hervorhob, dass der Begriff des Ganzen keineswegs durch alle seine Teile hindurchzugehen braucht. Ich verweise hier auf einen Vortrag im internationalen Kongress zu Rom.

Raum und Zeit.

Mit dem was Aristoteles über das ἄπειρον sagt, hängen seine Betrachtungen über Raum und Zeit und Bewegung eng zusammen. Der Raum kann wohl unbegrenzt verkleinert, aber nicht unbegrenzt vergrössert werden, auch gegen den Demokritischen Begriff des leeren Raumes (und des Atoms) polemisiert er, dagegen nähert er sich der AuffassungKantsund noch mehr der vonH. Cohenbeträchtlich und führt die Zeit auf die Bewegung des Jetzt (το νύν) zurück und bemerkt, dass sie ohne das erkennende Subjekt nicht existiere. Sehr wichtig ist das, was er vom Zeit- und Raumpunkt sagt: das zeitlich und räumlich nicht mehr Teilbare ist niemals an und für sich (actu) gegeben, sondern nur potentiell in derstetigenGrösse enthalten, und wird nur durchVerneinungd. h. durch negative Prädikate(limitierende Urteil Cohens) erkannt. Und einigermassen erstaunt war ich, als ich die Auffassung der Ruhe als Grenze der sich stetig verlangsamenden Bewegung, welche ich mir vor 30 Jahren ohne nochLeibnizzu kennen gebildet hatte, dem Wesen nach beiAristotelesfand, der sagt, dass es in einem Zeitpunkt weder Ruhe noch Bewegung gibt, sondern nur einen Übergang und der Körper, wenn er von der Bewegung zur Ruhe übergeht, noch in Bewegung ist.

Aristotelesder heute nach mehr als 2000 Jahren noch lebendig fortwirkt, der auf Christentum, Judentum, ja selbst auf den Islam auf das tiefste eingewirkt hat, — ist doch Moses ben Maimon, der auf Thomas von Aquino so bedeutenden Einfluss übte, durch seine Schule gegangen — der abstrakteste Denker und zugleich der exakteste Beobachter, der grösste Empiriker und zugleich einer der grössten Idealisten, hat eigentlich erst die einzelnen Disziplinen geschaffen. Bis zu ihm gibt es eine Gesamtwissenschaft τα μαθήματα, von ihm ab und durch ihn existieren die einzelnen Disziplinen. Sein Schüler Medon schrieb nach seinem Plan die Medizin »Ιατρικα.«, seine Physik, Astronomie, Zoologie, Psychologie bilden den Inhalt der Universitätsvorlesungen bis in die Neuzeit, Botanik, Meteorologie, ja selbst Chemie wie Rhetorik, Poetik etc. werden selbständig, wie Mathematik und die Philosophie selbst, der er die besondere Aufgabe zuwies, die Erfahrung zur Einheit zusammenzufassen. Und nicht minder die Geschichte, das erste Buch seiner Metaphysik ist die erste und zugleich mit die beste Geschichte der Philosophie und überall hat er Geschichte undKritikhineingewoben. Von ihm an beginnt eine 500 Jahre andauernde Periode der Einzelforschung, die erst bei den Neuplatonikern zur Zusammenfassung führt.

Aristoteles: Theophrast, Eudemos.

Die beiden bedeutendsten Peripatetiker,Theophrast, der Freund und Schüler des Aristoteles, der die Botanik seiner Zeit kodifiziert hat, undEudemosder Rhodier haben beide eine Geschichte der Mathematik geschrieben. Die des Theophrast istspurlos verschwunden, von der des Eudemos sind spärliche Fragmente durch Proklos, Eutokios und Simplicius erhalten, sowie eine Notiz aus dem Buch über den Winkel, περί γωνίας, bei Proklos. Das wichtigste ist das oft erwähnte Mathematikerverzeichnis bei Proklos. Friedl. Prolog II p. 65 ff., das aberTanneryzufolge nicht direkt aus Eudemos stammt, sondern aus einer Verarbeitung des Eudemos durchGeminosim 1. Jahrh. n. Chr. Es endigt unmittelbar vorEuklid.

Euklid, vita.

Von dem Verfasser der »Elemente«, des Werkes, das unter allen mathematischen Werken für die Bildung der Menschheit weitaus das wichtigste gewesen ist, kennt man weder Ort noch Zeit der Geburt und des Todes, γενέσεως και φθοράς. Seinen Zeitgenossen und der nächstfolgenden Generation war Euklid einfach der »στοιχειοτης«, der Verfasser der Elemente und bald ging die Kenntnis seiner Person verloren. Viele Jahrhunderte ist er mit dem Philosophen Euklid von Megara verwechselt worden, der nach dem Tode des Sokrates die Schule zusammenhielt, und dieser Irrtum findet sich schon bei Valerius Maximus um 30 v. Chr. und ist dort aus einer falschen Auffassung einer Stelle bei Geminos (Prokl. p. 60) entstanden. — Das Wenige, was wir von ihm wissen, verdanken wir zumeistProklos, einem Neuplatoniker und Nachfolger (Diadochos) des Plato in der Leitung der Akademie, d. h. also Rektor der Universität Athen, der um 450 n. Chr. einen Kommentar zum Euklid verfasst hat, von dem uns die beiden Prologe und der Kommentar des ersten Buchs der Elemente erhalten sind. Die Stelle (Friedl. S. 68) lautet: »Nicht viel jünger als diese (Hermotimos, der Kolophoner und Philippos, der Schüler Platons) ist Eukleídēs, der die Elemente [τα στοιχεία] verfasste, wobei er vieles was vomEudoxosherrührte, in zusammenhängende Ordnung brachte, vieles was Theaitet begonnen, vollendete und ausserdem so manches was früher ohne rechte Strenge bewiesen war, auf unantastbare Beweise zurückführte. Und dieser Mann lebte unter Ptolemaios dem ersten, dennArchimedes, dessen Lebenszeit sich andie des ersten Ptolemaios anschliesst, erwähnt des Euklid [in περί σφαίρας και κυλίνδρου, Heib. I, 2, p. 14] und zwar erzählt er: Ptolemaios frug einmal den Euklid, ob es nicht zur Geometrie einen bequemeren Weg gebe als die Elemente. Jener aber antwortete: Zur Geometrie gibt es für Könige keinen Privatweg [ουκ εστι βασιλικη ατροπος επι γεωμετριαν]. Er ist also jünger als die [direkten] Schüler des Platon und älter als Eratosthenes und Archimedes, denn diese waren Zeitgenossen, wie Eratosthenes irgendwo sagt. Aus Grundsatz war er Platoniker und in der Platonischen Philosophie zu Hause.«

Danach ergibt sich für Euklid etwa 300 v. Chr. als Zeit seines Mannesalters (der ακμή, der Zeit blühendster Körper- und Geisteskraft, welche die Hellenen in das vierzigste Jahr verlegten), und dass er in Athen an der Akademie gehört hatte und dem engeren Kreise der Akademiker angehörte.

Zur Charakterisierung des Euklid haben wir noch eine Stelle bei Stobaios. »Ein Mensch, der bei Euklid Unterricht in der Geometrie zu nehmen begonnen hatte, frug, nachdem er den ersten Satz der Elemente kennen gelernt hatte, was habe ich nun davon, dass ich das weiss? Euklid rief seinen Sklaven und sagte: Gib dem Manne drei Obolen, da er studiert um Profit zu machen.« Und schliesslich schildert ihnPapposin der Vorrede zum 7. Buch der Kollektaneen wie folgt: Erat ingenio mitissimus et erga omnes, ut par erat, benignus qui vel tantillum mathematicas disciplinas promovere poterant, aliisque nullo modo infensus, sed summe accuratus. »Er war von mildester Gesinnung und wie es sich geziemt wohlwollend gegen jeden, der und wär's noch so wenig, die mathematischen Disziplinen zu fördern vermochte, in keiner Weise anderen gehässig, sondern im höchsten Grade rücksichtsvoll.« Sie sehen, dass Euklid in der Tradition seines Volkes als hochgesinnter, reiner wissenschaftlicher Tätigkeit hingegebener Mann fortlebte.

Gelehrt hat er für reife Leute, ganz in der Weise unserer Universitätsprofessoren, an der Universität (Museum)Alexandria,wie uns l. c. Pappos berichtet. Unter der den Wissenschaften überaus ergebenen Diadochen-Dynastie der Ptolemäer entwickelte sich des grossen Alexander Stadt zur Zentrale des Hellenischen Geisteslebens. Man nennt diese Periode dieHellenistische. Es ist lange Zeit Mode gewesen die Alexandriner zu verspotten als Pedanten, wegen ihrer grammatischen, auf die einzelnen Worte gerichteten Untersuchungen, haben sie doch z. B. die Akzente eingeführt. Aber auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften ist die Hellenistische Periode erstklassig. Euklid grade hat den Schwerpunkt von Athen nach Alexandrien verlegt,Archimedes,Apollonios,Eratosthenessind aus der Alexandrinischen Schule hervorgegangen. —

Euklid, Schriften: die Data.

Die Euklidischen Schriften kennen wir durch die Angaben der Proklos p. 68 f. und Pappos l. c. Von den Elementen abgesehen sind im griechischen Urtext erhalten a) die Data, δεδομενα, »Gegebenes,« mit einer Vorrede desMarinosvon Neapolis in Palästina, einem Schüler des Proklos. Die Echtheit des Textes wird durch die Inhaltsangabe bei Pappos (300 n. Chr.) bestätigt, welche im Wesentlichen mit dem Text der Codices übereinstimmt. Die Schrift enthält 95 Sätze (Pappos 90) welche aussagen, dass wenn gewisse geometrische Gebilde gegeben sind, andere dadurch mit bestimmt sind, also eine Artgeometrischer Funktionentheorie. Beispiele: Satz 2: Wenn eine gegebene Grösse zu einer zweiten Grösse ein gegebenes Verhältnis hat, so ist die zweite ebenfalls gegeben. Satz 33: In einem gegebenen Streifen ist durch dieWinkel, welche eine Querstrecke mit den Grenzen bildet, dieLängeder Querstrecke bestimmt. Dem Inhalt nach gehen die »Data« nicht über die »Elemente« hinaus, doch war und ist eine solche Zusammenstellung praktisch im hohen Grade wertvoll für die Anwendung der seit und durch Platon sich immer mehr ausbreitenden analytischen Methode, deren Wesen gerade darin besteht, die durch die gegebenen Stücke mit bestimmten Punkte, Linien, Figuren aufzusuchen, bis man zu einer konstruierbaren Nebenfigur gelangt.Die Data sind daher eine sich eng an die Elemente anschliessende Anleitung zum Konstruieren nach der analytischen Methode, etwa entsprechendPetersen'sbekannten »Methoden und Theorien«.

Astronomie.

Erhalten ist unter dem Titel »Phaenomena« eine Schrift über Astronomie (lectio sphaerica) mit den Anfangsgründen der Sphärik. Die Schrift geht bedeutend über die kurz vorhergehende desAutolykoshinaus. Ich bemerke beiläufig, das die lectio sphaerica bis in die Neuzeit hinein der Schrittmacher für die Geometrie gewesen, die sich im Lehrplan der Gymnasien erst aus ihr entwickelt hat. Die Schrift beginnt mit dem Satz: »Die Erde liegt in der Mitte der Welt und vertritt in bezug auf dieselbe die Stelle des Mittelpunkts« (Aristoteles) und schliesst mit dem Satz: »Von zwei gleichen Bogen des Halbkreises zwischen dem Äquator und dem Sommerwendekreis durchwandelt der eine, beliebig genommen in längerer Zeit die sichtbare Halbkugel als der andere die unsichtbare.« Das Wort »Horizont« stammt aus der Schrift, welche von Pappos im 6. Buch seiner Kollektaneen erläutert und ergänzt wurde. (A. Nokk, deutsche Übersetzung Prgr. Freiburg i. Brg. 1850).Heiberghat nach einer Bemerkung Nokks bewiesen, dass diese Schrift des Euklid einen sehr wesentlichen Bestandteil der für unsere elementare Sphärik grundlegenden Schrift desTheodosios von Tripolis(etwa 100 v. Chr.) gebildet hat (sieheM. Simon,Euklidund die sechs planim. Bücher, Leipzig 1901).

Optik.

Echt Euklidisch sind auch die »Optica«, deren Text Heiberg restituiert hat. Der sonst gebräuchliche Text geht vermutlich auf ein Kollegienheft nachTheonvon Alexandrien, dem Vater derHypatia, der ersten uns bekannten ordentlichen Professorin. Sie ist mutmasslich der Autor unserer Quadratwurzelausziehung und bekannt durch ihre Schönheit und ihr unglückliches Schicksal. Von dem bestialischen christlichen Mönchspöbel Alexandriens zerrissen, wurde sie nach ihrem Tode zu Professorenromanen ausgeschlachtet. Die Schrift Euklids gehörtezu der Sammlung, welche unter dem Titel »μικρος αστρονουμενος,« der kleine Astronom, neben den »Elementen« das Rüstzeug des Astronomen bildete, ehe er an das grosse Lehrbuch des Ptolemaios, die μεγαλη συνταξις (der Almagest) gehen konnte. Die Schrift gibt die Anfangsgründe der Perspektive.

Dagegen ist die andere Schrift über Optik, welche unter Euklids Namen ging, dieKatoptrikunecht.Heibergmacht es sehr wahrscheinlich, dass die von Proklos unter diesem Titel erwähnte Schrift des Euklid rasch durch das inhaltreiche Werk desArchimedesüber den gleichen Gegenstand verdrängt wurde.

Euklid, Schriften: Musik.

Noch über einen anderen Zweig der angewandten Mathematik haben wir eine Schrift des Euklid, die καταιομη κανονος, die Lehre von den musikalischen Intervallen, 20 Sätze, wissenschaftlich auf dem Standpunkt der Pythagoräer. Eine zweite musikalische Schrift, die Harmonielehre, εισαγωγή ἁρμονική, rührt wie schonHugo Grotius1599 erkannte von dem Aristoxenianer Kleonides her. [Aristoxenos, direkter Schüler des Aristoteles als Philosoph, setzte der auf die arithmetischen Intervalle gegründete Harmonielehre der Pythagoräer die Lehre von den harmonischen Sinneseindrücken entgegen].

Über Teilung.

AusArabischen Quellenbesitzen wir durchDee1563 eine Bearbeitung und durchWoepcke1851 eine Übersetzung der vonProkloszweimal erwähnten Schrift περὶ διαιρέσεων, über Teilungen, welche wertvolle Aufgaben über Flächenteilung enthielt. Dort findet sich die noch heute im Schulunterricht stets vorkommende Aufgabe: ein Dreieck durch Gerade von gegebener Richtung in Teile zu teilen, welche ein gegebenes Verhältnis haben; ferner Teilung von Vierecken, von Kreisen, von Figuren die von Kreisbogen und Geraden begrenzt sind. Euklid zeigt sich hier als sehr gewandter Konstrukteur, er benutzt ausser den Sätzen der Elemente nur solche, welche sich mühelos aus ihnen ergeben.


Back to IndexNext