Hellas

Die Tafeln von Senkereh.

Ich komme nun auf die Tafel von Senkereh zurück, von der wir erst seit 1870 durchGeorg Smithswissen, dass wir darin Zahlentabellen haben, und die erstHincks, wohl des geistig bedeutendsten Keilschriftentzifferers Entdeckung des Sexagesimalsystems bestätigte.R. Lepsius, der grosse Ägyptologe, hat die Tafel 1877 in der Berliner Akademie in einer längeren Arbeitbehandelt. Abgesehen davon, dass ihm die mathematische Bildung mangelte um einzusehen, dass eine Tabelle der Quadratzahlen zugleich eine der Wurzeln ist, hat er in der Tabelle, deren linke Kolonne benannte, deren rechte unbenannte Zahlen enthält, einen Vergleich sumerischer und assyrischer Längenmasse gesehen. In seiner Arbeit: Beiträge zur alten Geschichte, 1902, hatC. F. Lehmannnachgewiesen, dass es sich hier um eine Vergleichung von Zeitmass und Längenmass handelt und dass wir hier strikte Durchführung des Sexagesimalsystems vor uns haben. Lehmann hat nachgewiesen, dass während wir 114 Schritt auf die Minute rechnen, Römer und Babylonier 120 Schritt à 112Ellen, also 180 Ellen, und somit auf die Doppelminute 360 Ellen und auf den Zeitgrad, auf1360Tages, 360 Doppelellen gehen. Dass aber die Doppelelle das ursprüngliche Längenmass ist, das zeigen uns die beiden Massstäbe der Gudea, von denen ich hier Ihnen ein Exemplar vorführe.

Massstab der Gudeastatue,1/2der nat. Grösse.

Massstab der Gudeastatue,1/2der nat. Grösse.

Ich gebe nun die Tafel von Senkereh in Umschreibung wieder:

KolonneIII.

ZeitZeit-DoppelelleGradeZeiteinheitRaumdoppelelle1 Zeit-Finger160121600190Sek.160511214320118"1121 Elle12172013"1212Gar311202"31 Gar61604"65 Gar3011220"301 Soss = 60 Gar36014"3601 Kas-pu = 30 Soss10800302Std.108002 Kas-pu21600604"21600

Darin scheint nun Lehmann recht zu haben, dass die Zeiteinteilung die ursprüngliche gewesen und dass die experimentelle Beobachtung, dass zirka 480 Schritt auf den Taggrad kommen, bezw. 120 auf die Minute, dahin geführt hat, das Längenmass auf die Länge des Sekundenpendels zu gründen.

Astrologie.

Welche ausserordentliche Rolle die Astrologie und die sich aus ihr entwickelnde Astronomie für das religiöse und praktische Leben der Babylonier spielte, darüber belehren uns schon die jetzt entzifferten Denkmäler auf das genaueste. In dem schon erwähnten Werk Sargons I., das nach seinen Anfangsworten genannt wird: »Wenn der Bel-Stern,« sind bereits 66 ganze oder gebrochene Tafeln und teilweise in mehreren Exemplaren bekannt. Wir haben ein anderes Werk: »Wenn der Mond bei seinem Erscheinen;« hunderte von Tafeln mit astrologischen Berichterstattungen meist an den König sind im British Museum. Ich gebe ein paar Beispiele:

1) Am 15. Tage des Nisan (März-April) halten sich Tag und Nacht die Wage; sechs Doppelstunden war Tag, sechs Doppelstunden Nacht. Mögen Nebo und Merodach meinem Herrn König gnädig sein. Nebo, Gott der Weisheit, Sohn von Merodach, der als Gott der Frühlingssonne Sohn Bêls, des Gottes der Luft gedacht wird. Merodach wurde zum Hauptgott in Babylonien und verschmolz mit Bêl.

2) An den König, meinen Herrn Ischtarnadinapal, der oberste der Astronomen der Stadt Arbela; Friedensgruss dem König (Salem aleikon) meinem Herrn. Ischtar (Astarte, Aphrodite) von Arbela sei dem Könige, meinem Herrn gnädig; am 29. Tag machten wir eine Beobachtung, aber die Sternwarte war umwölkt und wir sahen den Mond nicht. Am 1. Tag des Monats Schebat (Januar-Februar) im Eponymat (s. u. S. 66) des Bilcharranschadua.

3) Der Mond ist sichtbar am 1. Tag wie am 28.: Unglück für das Westland. Der Mond ist am 28. Tage sichtbar: Glück für das Land Akkad (Babylonien), Unglück für das Westland; Bericht des Oberastronomen.

Babylonische Kosmologie.

Aus derselben Zeit etwa dem 8. Jahrhundert stammen auch mehrere Fragmente von Festkalendern, welche für jeden einzelnen Tag des Monats Angaben enthielten, welchem Gott der Tag geweiht und welche Opfer in den Tempeln dargebracht werden sollten. Diese Fragmente lassen uns erkennen, dass damals ein ausgebildeter Kalender in Assyrien bestand, und wenn wir damit den Eponymenkanon in Verbindung bringen, so ist der Schluss berechtigt, dass dieser Kalender bis zum Anfang dieses Kanons heraufreicht, d. h. bis in das 10. Jahrhundert v. Chr. Aus der Astrologie hat sich die Astronomie der Babylonier entwickelt, wie aus der Kabbala, den magischen Rechnungen, die Anfänge der Zahlentheorie. Der Hauptstern ist der Nordpol der Ekliptik, der dem Anu (Himmel) geweiht war. Als Gegenpol ist der Ea-Stern (Ozean) = η Argus. (?)

Die drei Regionen des Himmels, welche vom Nordpol ausgehen, sind die Region des Anu: Stier, Zwillinge, Krebs und Löwe, und, beginnend mit dem Aldebaran, die Regionen des Bel (Luft): Jungfrau, Wage, Skorpion, Schütz; die Regionen des Ea (Ozean): Steinbock, Amphora (Wassermann), Fische, Widder.

Die Milchstrasse, mit ihren beiden Verzweigungen wird als Euphrat und Tigris aufgefasst. Die Ekliptik ist die Furche des Himmels; die Milchstrasse erscheint auch unter dem Begriff des Hirtenzeltes, woher auch unser poetisches »Himmelszelt«. Entstanden ist der babylonische Tierkreis zu einer Zeit als der Frühlingspunkt, der jährlich etwa um 50″ zurückweicht, im Stier lag; also etwa 3000–4000 v. Chr., der dann im Laufe der Zeit mannigfache Veränderung erlitt bis die völlige Gleichteilung durchgeführt wurde. Besonders wichtig ist die Untersuchung der alten Grenzsteine (Kudurru) geworden, von denen Hommel 14 untersucht hat. Die Abbildung des Tierkreises auf diesen Steinen geschah vielleicht zum Zweck Konstellationen zur Datierung festzuhalten. Auf keinem der Steine fehlt die grosse Schlange als Bild der Milchstrasse und schon auf dem ältesten, der auf1070 datiert ist, sind die 12 Zeichen. Die Bilder sind die bei den Griechen und zum Teil noch heute üblichen.

Das neueste Werk über diese Grenzsteine ist A new Boundary Stone of Nebuchadnezzar I. vonW. M. J. Hinke, Bd. IV der Serie D des grossen Hilprechtschen Sammelwerks the Babylonian Expedition of the Univ. of Pennsylvania 1907. Hier ist auch der Zusammenhang mit demtibetanischenund indischen Tierkreisen besprochen.

Astronomie.

Die Untersuchung der Namen etc. zeigt, dass der Tierkreis babylonisch-sumerischen Ursprungs ist und sich von den Babyloniern zu Ägyptern, Griechen, Indern, Chinesen und zu uns verbreitet hat. Das gleiche gilt von den Mondstationen oder Häusern, ihre Zahl schwankte zwischen 24–36, und sie haben sich ebenfalls nach China, Indien (naxatra) und Arabien verbreitet. Die helleren Sterne waren ihnen in sehr alter Zeit bekannt. Aus der Arsakidenzeit der Jahre 122 v. Chr. und 110 sind uns vollständige Ephemeridentafeln, Bestimmungen der Abstände der Sterne von festen Sternen der Ekliptik, erhalten. Sie hatten ganz bestimmte Regeln für die Berechnung des Neumondes und Neulichtes, die vonJ. Epping, S. I. unter Beihilfe des Assyriologen Strassmaier, S. I. 1889 in den Stimmen aus Maria Laach unter dem Titel: Astronomisches aus Babylon mitgeteilt sind; es finden sich darin auch Tabellen des heliakischen Auf- und Untergangs der Planeten und einer Anzahl von Fixsternen, vor allem des Sothis, id est Sirius und des »Kakkab mišre« des Orion. Sie kannten die Periodizität der Finsternisse und konnten deren Sichtbarkeit für Babylon annähernd vorausbestimmen. Sie hatten Instrumente, die unserem Astrolabium und Planetarium entsprechen; sie kannten die mittlere Geschwindigkeit des Mondes, d. h. den Bogen, den der Mond durchschnittlich während eines Tages in der Ekliptik beschreibt, die grösste Geschwindigkeit des Mondes, ebenso die der Sonne und das Gesetz, nach dem die Geschwindigkeit der Sonne in der Ekliptik sich ändert, sie kannten die Jahresdauer, die Durchschnittsdauer des Monats von Neumondzu Neumond, also des sogenannten mittleren synodischen Monats, den sie nur um 0,4Sekundenlänger als wir ansetzten, sowie die Durchschnittsdauer von einer Erdnähe des Mondes zur andern, d. i. also den sogenannten mittleren anomalistischen Monat, den sie nur um 3,6Sekundenzu lang ansetzten. Dabei ist erst ein kleiner Teil des aufgefundenen Materials entziffert und dieser aufgefundene ein verschwindender Teil des vorhandenen. Hilprecht berechnet die Zeit, die für Nippur nötig ist bei 400 Arbeitern auf etwa 100 Jahre!

Über die Instrumente, deren sich die Babylonier zu ihren Beobachtungen bedienten, ist wenig bekannt; wir wissen, dass sie die Zeit durch die Wasserwage massen und durch die Sonnenuhr, mittelst des Gnomon und aus der Schattenlänge die Meridiane, bezw. den längsten und kürzesten Tag bestimmten. Aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. sind aber durchKuglereine ganze Reihe sehr feiner Positionsbestimmungen festgestellt worden, die nur mit Hilfe von Instrumenten wie der sogenannten Armillarsphäre, dem Diopter etc. möglich war. Der Diopter setzt dann allerdings die Ähnlichkeitslehre für rechtwinklige Dreiecke, kurz eine Sehnenrechnung voraus und damit wird es wahrscheinlich, dass die Sehnenrechnung, die bis dato dem Bessel des Altertums, Hipparch von Rhodus zugeschrieben wurde, babylonischen Ursprungs ist. Soviel steht fest, wenn auch anfangs die Astrologie zur Himmelsbeobachtung insbesondere der Sonnen- und Mondfinsternisse trieb, seit etwa 300 Jahren v. Chr. gab es an den Sternwarten eine vollkommen wissenschaftliche Astronomie, und die Beobachtungen der Babylonier sind oder werden für unsere Mondtafeln noch wertvoll.

Kuglerhat seiner »babylonischen Mondrechnung« von 1900, der pietätvollen Vollendung desStrassmeier-Eppingschen Werkes, 1907 den ersten Band seines grossen auf 4 Bände berechneten Werkes »Sternkunde und Sterndienst in Babel« folgen lassen, unter dem Titel »Entwicklung der Babylonischen Planetenkunde von ihren Anfängen bis auf Christus.« Wenngleich, wie Oefele (Mitteilungen zur Gesch. d. Med. u. Naturw. 29. Juni 1908)schon hervorgehoben hat, dieser Titel nicht glücklich gewählt ist, so ist das Buch doch reich an wichtigen Resultaten: Der unbezweifelbare Nachweis des Babylonischen Ursprungs des Tierkreises und seiner 12 Zeichen, die Kenntnis der Namen für die Planeten und die Masisterne, die hellen Sterne der Ekliptik, welche zur Positionsbestimmung dienten, in Fortsetzung der LeistungenP. Jensensaus seinem Hauptwerke, die Kosmologie der Babylonier 1890, die Kunde der technischen Sprache der Babylonischen Astronomie, die Tatsache der Ekliptikkoordinaten, die Feststellung des Bogenmasses und der Richtungen, Festsetzung des Bogens von 22° 3′ zwischen dem festen Koordinatenanfangspunkt 0° arietis der Babylonier und dem 0-Punkt, dem Frühlingsäquinoktium von 1800 n. Chr., die Planetenephemeriden infolge Auffinden von grossen und kleinen Perioden, z. B. für Mars 71 und 41 Jahre, für Venus 8 Jahre (Fehler nur 3′ 13,3″) etc. Freilich hebt Kugler hervor, dass im 2. Jahrh. v. Chr. die wissenschaftliche Astronomie der Babylonier sehr grosse Fortschritte gegen die früheren Zeiten aufweist, und wie weit dabei hellenischer Geist insbesondere der grosse Hipparch in Betracht kommt, müsste erst noch untersucht werden.

Geometrie.

Über die Geometrie der Babylonier müssen wir uns zurzeit kurz fassen bis grösseres Material vorliegt. Ein Bauplan, eine Tempelanlage von so vorzüglicher Ausführung wie der vonL. Borchardtl. c. veröffentlichte, in dem die Türleibungen und die Mauerstärke berücksichtigt ist (siehe Fig. auf S. 112), Beobachtungen, wie die vonKuglermitgeteilten, sind nicht ohne bedeutende geometrische Kenntnisse möglich, aber was uns direkt übermittelt ist, beschränkt sich auf ganz wenige Zeichnungen wie die bei Cantor abgedruckten ausA. H. SayceAbhandlung: Babylonian augury by means of geometrical figures. In der hier beigegebenen Kopie scheinenmir mehrfachalte Idiogrammewie N 15 etc. vorzuliegen.Bezoldbemerkt (Z. A. XVII p. 95), dass ein grosser Teil z. B. der in Kujundschik gefundenen Figuren analoge Bedeutung besitzen, wie die Oppert'sche Konstr. s. Fig. S. 100 und sich auf kabbalistische Rechnung beziehen z. B. 10 und 3.

Bruchstück des Bauplanes.

Bruchstück des Bauplanes.

Borchardt'scher Bauplan.

Borchardt'scher Bauplan.

Babylonische Kreisteilung.

Feststeht aus ägyptischen und babylonischen Abbildungen, dass den Babyloniern die Teilung des Kreises in 6 Teile bekanntgewesen sei, d. h. de facto. Vom Hereintragen des Radius ist bisher keine Spur gefunden. Wenn Cantor meint, die 6-Teilung ist ohne diese Kenntnis nicht möglich, so irrt er sehr. Man braucht nichts zu wissen als die Tatsache, dass das Rad, bezw. der Kreis in sich drehbar ist, also zu gleichen Bogen gleiche Sehnen etc. gehören, u. v. v., dies reicht aus den Kreis experimentell zu vierteln und zu sechsteln. Im höchsten Grade wahrscheinlich ist allerdings, dass sie bei einem gesechsteilten Kreise gesehen haben, dass die Sehne gleich dem Radius ist. Die im Buche der Könige erwähnten fünfeckigen Pfosten, können genau so auf einer experimentellen Teilung des Kreises in fünf gleiche Teile beruhen, wie sie meine Quartaner ohne allen goldenen Schnitt sehr exakt ausführen.

Es ist ausserdem eine Tafel bekannt geworden, aber leider zurzeit nicht auffindbar, in der ein in drei gleiche Teile geteilter rechter Winkel vorkommt, und das ist fast alles, was wir zurzeit von der babylonischen Geometrie wirklich wissen; vermuten müssen wir sehr viel mehr; wäre der Pythagoras, was nach den Beispielen der quadratischen Gleichungen ganz gut möglich, den Ägyptern bekannt gewesen, so wäre er sicher den Babyloniern nicht unbekannt geblieben, aber hier heisst es abwarten.

Babylonische Rechentabellen.

Von grosser Bedeutung für die Auffassung der Babylonischen Arithmetik ist Band XX part. 1 Serie A desHilprechtschen Werkes The Babyl. Expedition of the Univers. of Pennsylv. 1906 (mir erst vor kurzem zugänglich geworden). Es sind hier, abgesehen von Wiederholungen, 31 math. Tafeln veröffentlicht; Multiplikationstafeln, Divisionstafeln, Tafeln von Quadratzahlen und -Wurzeln, eine geometrische Progression. Auf Tafeln, welche dazu dienen, die Rechnungsresulate rasch in das Sexagesimalsystem einzureihen, hat H. hingewiesen, deren eine (s. Bild) er schon in seinem Vortrag von 1903 Bild 45 veröffentlicht hat. Es hat nun Hilprecht bemerkt, dasssämtliche bis jetzt bekannten 46 Multiplikationstafeln sich auf Divisorender Zahl 604beziehen, inkl. der 2 aus Sippar und Kujundschik, und zwar gehen sie bis 180000×1. Dazu konstatierte er das Multiplikationszeichen A-R A z. B. 2×1 (=) 2:Symbol, Plan 1, N. 1, das wie das unsrige, oft weggelassen wird, das Divisionszeichen Igi-Gal, habend Auge gelegentlich mit hinter dem Quotienten folgenden Distributivzeichen a-an»je«. Hilprecht konstatierte, dassalle diese Divisionstabellen sich wiederum auf 604beziehen, es sind Tafel N. 20, 21, 24, auf denen das Divisionszeichen fehlt, und Tafel 22 obv., wo es gesetzt wird. Mit Hilfe der wichtigsten Tafel 25 ergänzt H. Tafel 22:

Igi-1-Gal-Bi = 8640000Igi-2-Gal-Bi = 6480000Igi-3-Gal-Bi = 4320000

etc., das »Bi« »dessen« bezeichnet den gemeinsamen Dividend 604. Ich gebe hier als Beispiel die Multiplikationstabelle 15 (Obv. und Bev.), das 1×1 mit 540, es ist zunächst eingerichtet wie die anderen, d. h. es fehlt das Zeichen, und es enthält 1a bis 20a, und dann 30a, 40a, 50a, so dass also 23a berechnet wird als 20a + 3a, wofür es ja auch Tabellen gab. Diese Tafel ist aberbesonders interessant, weil sie eine derjenigen ist, in denen die Zweideutigkeit durch die Zusatzlinie am Schluss gehoben wird. Die Tafel lässt es zweifelhaft, ob man es mit dem 1 × 9 oder 1 × 9.60 zu tun hat, die Schlusszeile (colophon) gibt die nächstniedrige Tabelle der Serie an und lautet hier 8.60 + 20 mal 1 ist 8.60 + 20 id est 500 × 1 = 500, somit ist dieSymbolin unserer Tafel 9.60. Sehr bedeutsam ist die Tabelle 25, welche in Hilprechts Übertragung lautet:

Linie1:1257202:Igi-Gal-Bi1036803:2503604:Igi-Gal-Bi518405:5001806:Igi-Gal-Bi259207:1000908:Igi-Gal-Bi129609:20001810:Igi-Gal-Bi648011:4000912:Igi-Gal-Bi324013:80001814:Igi-Gal-Bi162015:16000916:Igi-Gal-Bi810

Babylonische Divisionstafeln.

H. erkannte darin unschwer Divisionen von 604durch eine aufsteigende Reihe von Divisoren, für die Bedeutung der Zahlen 720; 360 etc. bis 9 wandte er sich an Mathematiker, diese brachten heraus dass, wenn man die Divisoren in die Form a šar + b ner + r schreibt, dann602rdiese Zahlen ergibt. Hiernach erscheint es allerdings als im hohen Grade wahrscheinlich, dass wir es hier mit einer kabbalistischen Rechnung zu tun haben, und wir sehen dass hier wieder 604seine Rolle spielt.Hilprechtselbst zitiert aus dem Literaturverzeichnis vonBezold: »Die Mathematik stand bei den Babyloniern-Assyriern, soviel wir bis jetzt wissen, vornehmlich im Dienste der Astronomie und letztere wiederum in dem einer Pseudowissenschaft, der Astrologie, die wahrscheinlich in Mesopotamien entstand, sich von dort aus verbreitete.«

Die goldene Zahl des Platon.

Ich möchte aber doch bemerken, dass wie der Mangel an beglaubigender Unterschrift der Tafeln aus Nippur beweist, und nicht minder die zahlreichen Fehler, dass wir es auch hier, ähnlich wie in Ägypten, vielfach mit Schülerübungen zu tun haben. Ebenso sorgfältig wie das Schreiben und Lesen, wurde auch die Elementarkunstdes Rechnens geübt, selbstverständlich vorzugsweise an »heiligen« Zahlen, von denen 604, wie es scheint, im Vordergrund stand. H. hat sicher mit Recht auf die AbhängigkeitPlatonsvon Babylon hingewiesen. In die Stelle Republik VIII, 546 B-D hat zuerst der grosse, kürzlich verstorbene PhilologeFr. Hultsch, der Herausgeber des Pappos, Licht gebracht, er hat, Schlömilch XXVII hist. lit. Abt. S. 41, in der sehr dunkel beschriebenen Zahl des Platon die Zahl 604erkannt und hervorgehoben, dass ihre Teiler von glückbringendem Einfluss auf die Geburten und Schicksale der Menschheit sein sollten, wie denn tatsächlich die nach der kürzesten Fötalperiode von 216 Tagen geborenen 7 Monatskinder bessere Lebenschance besitzen als die 8 Monatskinder. Wesentlich ist hier der Nachweis des Einfluss Babylonischer Kultur auf die Hellenische, den übrigens m. W. niemand mehr bestreitet. GegenüberHommelführe ich an, dass die Babylonische Phönixperiode 653 Jahre und nicht 500 betrug, und gegenüber Hilprecht, dass nachCensorinus, wie Hultsch erwähnt, Plato das Alter der Menschen nicht auf 100, sondern auf 81 setzte. Dass dabei 36000 eine Rolle gespielt hat, ist nicht unwahrscheinlich, denn noch Ptolemäos gibt in der μεγαλη συνταξις 36000 als Cyclus der Präzession an, und Berosus dieselbe Zahl als altbabylonische Präzessionszahl.

Dass aber nicht nur die Inder, wie bekannt, in Riesenzahlen schwelgten, sondern auch die alten Babylonier, beweist die von Hilprecht mit Glück restaurierte TafelBezold, Katalogue Kujundschik Vol. I N. 2069, von denen Bezold l. c. die folgenden 4 Zeilen (2 bis 5 der Tablette) veröffentlicht hat:

Babylonische Riesenzahlen; Quadratwurzeln.

H. hat überzeugend nachgewiesen, dass diese Tafel aus der Bibliothek Asurbanipals mit ihren 28 Zeilen dieselbe Bedeutung hatte wie die Tabellen No. 20, 21, 22, 24 Hilprecht's auf S. 21, es ist eine Divisionstabelle, aber Divisoren und Quotienten beziehen sich aufSymbol— — — — — — d. h. auf 608+ 10.607id est 195,955,200,000000 also 195 Billionen 955200 Millionen! Zu dieser Erkenntnis wurde H. in den Stand gesetzt durch die Bemerkung, dass die längste Zahl links vorn Teilungsstrich vorSymboldrei Ziffergruppen von je zwei Ziffern hat, also mit 603zu multiplizieren ist, und die längste Zahl rechts hat hinter ihrer Ziffergruppe vier andere, ist also mit 604zu multiplizieren.

Tabellen von Quadratzahlen bezw. Wurzeln sind ziemlich zahlreich in Nippur gefunden, die Quadrierung ist teils durch das A-Ra »mal«, teils durch das Idiogramm für Ibdi das aber etwas von der Rawlinsonschen Tafel IV, 40 abweichende Gestalt hat. Am leichtesten lesbar ist Pl. 16, No. 28, Quadrate der Zahlen von 31–39, die dadurch interessant ist, dass sie sich an die Tafel des Berliner Museums genau anschliesst. H. hat aus ihr die Kenntnis der Formel für (a + b)2gefolgert, da diese Formel in Indien bekannt war, vgl. S. 161, so ist sie höchst wahrscheinlich auch den Babyloniern-Assyriern bekannt gewesen. Ein irgendwie zwingender Beweis ist aber, da mir die Resultate gegeben werden,nichterbracht.

Sehr dürftig ist wenigstens die bisherige Ausbeute für die Geometrie, der Inhalt des geraden Prisma und des geraden Zylinders ist zu allen Zeiten ohne weiteres als Grundfläche mal Höhe angenommen worden. Das einzige was von Interesse, ist, dass nach einer Veröffentlichung vonThureau-Danginschon unter der 2. Dynastie von Ur, also rund 3000 v. Chr. man in Babylonien den Inhalt des Trapezes als Mittellinie mal Höhe berechnen konnte.

Vase mit geometrischer Zeichnung.

Wie hoch entwickelt aber schon in unvordenklicher Zeitdie geometrische Zeichenkunst war, beweist die vonKapitän Cros1903 in Telloh gefundene Vase, mit deren Bild ich diesen Abschnitt schliesse.

Unser Werdegang müsste uns nun eigentlich nach Indien und China führen, aber die Kultur der Inder und Chinesen ist so abhängig von Babylon, oder, was richtiger ist, ganz Asien bildete von 4000 v. Chr. bis etwa 100 n. Chr. ein einziges Kulturgebiet, Ägypten bis zum Nil eingeschlossen, dass wir uns zunächst gleich nachHellaswenden. Die Hellenen sind das erste Volk, das die Wissenschaft um der Wissenschaft willen getrieben hat, das Volk, von dem man wohl sagen kann, dass ihm an Begabung für Kunst und Wissenschaft kein anderes je gleichgekommen ist, und unter ihnen erwuchs im 6. Jahrh. v. Chr. aus den Handwerksregeln ägyptischer und babylonischer Priester die reine Mathematik als Wissenschaft.

Wohl steht seit den AusgrabungenHeinrich Schliemannsfest, dass die Hellenische Kultur und Kunst sich unter starkem orientalischen Einflusse, Ägypten eingeschlossen, entwickelt hat, aber schon fürKreta, ja selbst fürCypernist auch die selbständige Entfaltung Hellenischen Geistes deutlich. Die Aufeinanderfolge ist wohl diese.Cypernfast völlig unterm Einfluss Babyloniens (Phöniziens);Kreta: Ägypten und Babylon vereint. Für Kreta sind epochemachend die Ausgrabungen vonEvanszuKnossos, Annalen der brit. Schule in Athen 1899 ff. bes. 1902 (Bd. 8) u. ff. Daneben die der Italiener inPhaistos, Acad. dei Lincei Bd. XII (1902) ff. Das von Evans in Knossos gefundene herrliche Kunstwerk des becherkredenzenden Epheben (Jüngling, Page) geht über die Orientalischen Vorbilder schon hinaus, auch Architektur und Kleinkunst, z. B. diepolychromen Vasen(sogen. Kamaris-Stil) ist selbständig.

Es folgt dann die durchSchliemannsAusgrabungen in Mykene, Tyrinz, Troja zeitlich früher bekannte »Mykene-Periode«. Auch sie bekundet starken Verkehr mit dem Orient durch kretische Vermittlung, aber sie zeigt auch Kreta gegenüber eigenartige Entwicklung. Die Palastanlage ist ganz verschieden, sie ist genau die von Homer beschriebene. Was die Kleinkunst betrifft, so genügt es an die Becher vonVaphiozu erinnern. Für die Mykeneperiode verweise ich aufC. SchuchhardtsWertung der Schliemann'schen Funde (2. Aufl.). Die Beziehung zwischen Mykene und Kreta ist zurzeit eine brennende Streitfrage.Dörpfeld, kret. u. hom. Paläste, Athen. Mitteilungen Bd. 30 (1905 p. 257), unterscheidet für die kretischen Paläste zwei Perioden, a) eine ältere genuin-kretische, b) eine jüngere, in der Mykenische Eroberer ihre Paläste auf den zerstörten Resten der älteren erbaut hätten. Gegen Dörpfeld hatMackenzie, Annals of brit. School XI u. XII die Einheitlichkeit und Selbständigkeit der kretischen Paläste mit triftigen Gründen behauptet. Dörpfeld hat 1907, Athen. Mitt. 32 p. 576 erwidert. Die Herkunft der altkretischen Schrift ist zurzeit noch nicht entschieden, möglicherweise ist sie hetitisch.

Die politische Geschichte der Hellenen und die Geschichte der Hellenischen Kunst zu schildern, muss ich den Historikern und Archäologen von Fach überlassen.

Mathematikerverzeichnis des Proklos.

Die wichtigste Stelle für die Geschichte der hellenischen Mathematik ist das sogenannte Mathematikerverzeichnis beiProklos. Es ist vermutlich ein beiGeminus, einem Schriftsteller des ersten Jahrh. v. Chr. erhaltener Auszug aus der Geschichte der Mathematik desEudemos, von der leider nur wenige Fragmente, z. B. in dem Kommentar desSimpliciuszu Aristoteles uns erhalten sind.

Thales von Milet.

Beginnen wir also mitThales von Milet. Herodot sagt in seinem ersten Buch, dass Thales von phönizischer Abkunft gewesen, unzweifelhaft lebte er im 7. Jahrh. v. Chr. und war ein Zeitgenosse des Krösos und Solon. Proklos gibt p. 250derFriedlein'schen Ausgabe an, dass er den Satz von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck gefunden habe und zwar habe er die Winkel nicht ἴσας sondern ὁμοιας genannt; p. 299 Satz von der Gleichheit der Scheitelwinkel; p. 157 Satz, dass die Durchmesser den Kreis halbieren, und p. 352 sagt Proklos, nach Eudemos, dass Euclid I, 26 der sogenannte 2. Kongruenzsatz von Thales herrühre, der sich seiner notwendig bedienen musste bei seiner Methode die Entfernung der Schiffe im Meere zu bestimmen.

Marcus Junius Nipsus, ein römischer Agrimensor, gibt (M. Cantor) folgende alte Methode, die so ziemlich die einzige sein kann, die mit den geringen Kenntnissen, welche nach Proklos dem Thales zur Verfügung standen und zugleich mit der Angabe des Eudemos stimmt:

Die Dreiecke ASD und DCB (s. Fig.) sind nach den 2 Congr. congruent und damit ist CB die gesuchte Entfernung.

Ausser Proklos haben wir Angaben vonPlutarch(100 n. Chr. Neuplatoniker, ziemlich zuverlässig), in septem sapient. conviv., wonach Thales die Höhe der Pyramide durch Messung ihres Schattens bestimmt habe; aber die Quelle dieses Berichtes ist nachDiogenes Laertios(Kompilator des 3. Jahrh. n. Chr.) Hieronymos von Rhodos, welcher sagt, er mass die Pyramiden aus dem Schatten, wenn der Schatten der Pyramidenhöhe gleich, d. h. bei einer Sonnenhöhe von 45°. Noch weit unsicherer ist die Angabe bei Diogenes Laertius:Pamphila(Ende des 1. Jahrh. n. Chr.) erzählt uns, dass er als der erste, den Halbkreis in den rechten Winkel einschrieb, und dass er bei dieser Gelegenheit einen Ochsen opferte. Andere, z. B.Apollodoros, der Rechenmeister, schreiben diesen Zug den Pythagoräern zu. Da Proklos den Satz ausdrücklich erst den Pythagoräern zuschreibt und eine bei Eutokios erhaltene Stelle dies bestätigt, so verliert die Nachricht der Pamphila ihren Wert.

Auch als Astronom wird Thales gerühmt; im Theätet desPlatonp. 174 lesen wir die Anekdote, dass, als er, den Blick nach oben gerichtet um den Himmel zu schauen, in den Brunnen fiel, eine thracische Magd ihn verspottet habe: das was am Himmel vorginge, wäre ihm bekannt, aber was vor seinen Füssen läge, das sähe er nicht. (Socratessetzt bekanntlich hinzu, dass man mit diesem Spott noch immer gegen die ausreiche, die in der Philosophie leben.) Die von ihm vorausgesagte Sonnenfinsternis ist, wie Herodot berichtet, die vom 28. Mai 585 bei der Schlacht zwischen Medern und Lydern. NachEudemoshat er auch die Ungleichheit der Jahreszeiten gekannt. Beides würde auf babylonische Bildungsquellen deuten; und das wird ganz sicher durch ein Missverständnis desDiogenes Laertius, er habe die Sonne als 720 mal Mond angegeben, während der eigentliche AutorApulejusklar und deutlich sagt, er habe den Sonnendurchmesser als1720der Ekliptik gefunden. Soviel steht fest durch das einwandfreie Zeugnis vonHerodot,Platon,Aristoteles,Eudemosund wohl auch vonXenophanes, des zeitlich ersten Eleaten: sein Ruhm war sehr bedeutend, er steht stets an der Spitze der sieben Weisen, und nach Aristoteles ist er der Begründer der ionischen oder physikalischen Philosophenschule, des (fälschlich) sogenanntenHylozoismus. Aristoteles sagt, dass Thales im Wasser die eigentliche Urmaterie gesehen habe und setzt hinzu, er vermute, dass er dazu durch die Beobachtung geführt sei, dass die Nahrung aller Tiere feucht ist und dass alles aus Samenfeuchtigkeit entstehe.

Thales von Milet, Anaximander.

Aristoteles(περί Ψυχής, de anima) fügt hinzu, Thales habe vielleicht angenommen, dass alles voll Götter sei; beispielsweise habe er gesagt, dass der Magnet eine Seele habe. Noch müssen wir seinen Schüler oder wohl richtiger jüngeren StadtgenossenAnaximandererwähnen, obwohl das Mathematikerverzeichnis ihn nicht nennt. Anaximander markiert in der Geschichte des Erkenntnisproblems die Stelle, in der das Mathematisch-Unendlicheauftritt. Er lehrte, der Weltstoff müsse unendlich sein, damit er sich nicht in der Erzeugung erschöpfe. Er darf daher nicht unter den empirisch gegebenen Stoffen gesucht werden, und es bleibt nur das Merkmal der zeitlichen und räumlichen Unendlichkeit übrig. Daher sagte er αρχη εστι το απειρον. Anaximander erklärte also die sinnliche Welt durch ein Gedachtes, er sagt: απειρον ist αιδιον, und ist somit ein Vorläufer der Pythagoräer, und er hat auch eine Vorstellung davon, dass gegen das Unendliche die Endliche Anzahl verschwindet.

Pythagoras.

Die demThaleszugeschriebenen Schriften sind alle Fälschungen; der nach ihm von Proklos genannte Mamerkos samt seinem Bruder, dem Dichter Stesichoros, sind spurlos verschollen, nicht aber der zu dritt genanntePythagoras, der einzige Mathematiker, der in den ganz und halb gebildeten Schichten aller Kulturnationen populär geworden ist. Und doch ist in dem Fabelmeer, in dem er geradezu ertrunken ist, sehr wenig wirklich festes Land zu finden.

E. Zellersagt: »Unter allen Philosophenschulen, welche wir kennen, ist keine, deren Geschichte von Sagen und Dichtungen so vielfach umsponnen und fast verhüllt, deren Lehre in der Überlieferung mit einer solchen Masse späterer Bestandteile versetzt wäre wie die der Pythagoräer.«

Pythagoräer.

Die Schriftsteller vorAristoteleserwähnen des Pythagoras und seiner Schüler nur selten. Aus dem 5. Jahrh. haben wir einzelne Angaben von Xenophanes, Heraklit, Empedokles, Jon aus Chios, Herodot, Demokrit; aus dem 4. Jahrh. von Platon, Isokrates, Anaximander II, Andron, Heraklid, Eudoxos, Lyko, dem Pythagoräer.Platon, der doch in die Schule der Pythagoräer ging, ist sehr zurückhaltend mit historischen Nachrichten.Aristoteleshat zwar die pythagoräische Philosophie in eigenen Schriften behandelt; was uns erhalten ist, ist wenig und besonders was die Zahlenlehre betrifft, nicht frei von Unklarheiten. Pythagoras selbst spielt dabei nur eine geringe Rolle. Unter den Schülern des Aristoteles beginnt schon die Sage das Leben desPythagoras zu umspinnen, aber erst in der Zeit des Neupythagoreismus vom 1. Jahrh. v. Chr. ab sind Romane wie die desApollonios von Thyanaund desPorphyriosund desJamblichosentstanden.

Feststeht durch das ZeugnisHerodots, IV., 95, der ganz beiläufig dort denPythagoraserwähnt, dass er als Sohn des Mnesarchos in Samos geboren, feststeht, dass er um die Mitte des Jahrhundert, etwa von 580–500 gelebt hat, als reifer Mann 530 etwa nach Unteritalien ausgewandert ist, in Kroton eine Kongregation, die etwa nach Art der Freimaurer organisiert war, gegründet hat, und hochbetagt in Metapont gestorben ist. Vorher soll er zu seiner Bildung lange Jahre Reisen in so ziemlich alle Länder des orbis terrarum gemacht haben, und dies scheint nicht unwahrscheinlich. Ganz besonders lange soll er in Ägypten verweilt haben; aber dann wäre es im höchsten Grade auffallend, dassHerodot, der etwa 100 Jahre nach ihm Ägypten bereist hat, und der den Spuren des Hellenentums dort sehr sorgsam nachgegangen ist, kein Wort davon erwähnt.

Der Bund der Pythagoräer war ein religiös ethischer; er sollte eine Pflanzschule der Mässigkeit, der Tapferkeit, der Ordnung, des Gehorsams gegen Obrigkeit und Gesetz, der Freundestreue, überhaupt aller jener Tugenden sein, die zum griechischen und insbesondere zum dorischen (Spartaner) Begriff eines wackeren Mannes gehören. Neben den religiösen Beweggründen, die sich aus dem Walten der Götter und vor allem aus des Stifters Lehre von der Seelenwanderung für das sittliche Ideal ergaben, wurde von ihm auch als Bildungsmittel in erster Linie auf die Beschäftigung mit Mathematik, Musik, auch auf Diätetik und Beschwörung mittelst Zahl und Musik zur Heilkunst hingewiesen. Da der Bund seiner ganzen Natur nach sehr bald politisch oligarchisch wurde und die Regierungsgewalt in den grossen unteritalienischen Kommunen Kroton, Tarent, Metapont etc. an sich riss, so richtete sich die demokratische Strömung gegen ihn und in den Kämpfen, die um die Wende des 5. Jahrh. dieAristokratie der Städte stürzten, wurde der Bund gesprengt, ein grosser Teil der Pythagoräer getötet, darunter vielleichtPythagorasselbst, die andern vertrieben.

Diese Vertreibung hatte eine Wirkung, die wir mit der durch die Eroberung von Constantinopel gewecktenRenaissancevergleichen können. Die mathematischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die bisher auf einen kleinen Kreis beschränkt waren, wurden nach Griechenland, Kleinasien, Sizilien verbreitet und bewirkten dort das Aufblühen der mathematischen Wissenschaften.

Von den Lehren derPythagoräerist am bekanntesten die Lehre von der Seelenwanderung (Metempsychose) und die Anschauung, dass das Wesen der Dinge die Zahl sei, dann ihre Kosmologie mit der Ordnung der Sphären, dem Zentralfeuer, der Sphärenmusik, und dann die Harmonielehre gestützt auf die Auffindung der Intervalle mittelst des Monochords. Ihre ganz hervorragende Pflege der Mathematik ist unbestreitbar und ebenso, dass sie zuerst das Bedürfnis nach Systematik und wirklichen Beweisen empfanden und befriedigten. Wie weit aber die Kenntnisse der Pythagoräer selbst reichten, ist ganz unmöglich zu bestimmen und schwierig ist es auch den Stand des Wissens in der Schule der Pythagoräer, die wir bis zuPlatonundArchytasrechnen, zu skizzieren.

Philolaos.

Die ersten wirklichen Nachrichten über die Lehre des Pythagoras rühren vonPhilolaosher, einem älteren Zeitgenossen des Sokrates und Demokrit, der nach der Vertreibung aus Unteritalien sich nach Theben geflüchtet hatte. Es scheint, dassPlatonseine Schrift von den Erben in Sizilien gekauft und daraus seine Kunde des Pythagoreismus und auch viele Anregung für seine eignen mathematischen und philosophischen Gedanken geholt hat. Sein Neffe und Nachfolger in der Leitung der Akademie,Speusippos, hat die Schrift geerbt und dessen Bibliothek hatAristotelesgekauft, der das Werk veröffentlichte, d. h. mehrfach abschreiben liess. Nicht unbedeutendeFragmente dieses Glaubensbekenntnisses der Pythagoräer haben sich erhalten undAug. Boeckhhat ihre Echtheit dargetan. Ausserdem besitzen wir eine geringe Anzahl echter Bruchstücke des Archytas und haben an guten Quellen die Dialoge desPlaton: Philebos, Theätet, Timäos, der ganz besonders wichtig ist, und die Physik und Metaphysik des absolut zuverlässigenAristoteles, sowie einige Stellen desEudemos, die uns besonders durch Proklos erhalten sind.

Philolaosbezeichnet die Zahl als das Gesetz und den Zusammenhalt der Welt, als herrschende Macht über Götter und Menschen, die Bedingung aller Bestimmtheit und Erkenntnis.Das Begrenzende aber und das Unbegrenzte, diese zwei Bestandteile der Zahlen, sind die Dinge, aus denen alles gebildet sei.Die Zahl ist nicht bloss die Form, durch welche der Zusammenhang der Dinge bestimmt wird, sondern auch die Essenz, das Wesen, (nicht etwa die Materie), aus welcher sie bestehen, oder vielleicht richtigerdas Gesetz, welches die Dinge erschafft. In Fortbildung des auf Naturerkenntnis gerichteten Gedankengangs der Ionier erkannten sie die Bedeutung der Zahl, insbesondere der relativen Zahl, für eben diese Erkenntnis. Philolaos braucht die Ausdrücke ουσια, Wesen, und αρχη, Grundlage.AristotelesundPhilolaosselbst geben als Grund an, dass alle Erscheinungen nach Zahlen geordnet sind, dass namentlich die Verhältnisse der Sphärenharmonie und der Töne, alle ästhetischen, alle räumlichen Bestimmungen, von gewissen festen Zahlen und Zahlenverhältnissen beherrscht sind. (Symbolische Rundzahlen z. B. 40. Kabbala der Chaldäer), und dass unsre Erfahrung nur in der Feststellung der Zahlenverhältnisse besteht (vgl. Diels, Fragmente der Vorsokratiker p. 250).

Die Zahlen zerfallen in gerade und ungerade und die gerad-ungeraden 2 (2n + 1). Eins, die unteilbare monas, steht ausser oder richtiger über den Zahlen; in der reinen Eins, die geradezu mit der Gottheit identifiziert wird, sind die Gegensätzevereinigt, und so wird auch die Eins als gerad-ungerad bezeichnet.

Zunächst möchte ich die scheinbaren Widersprüche, die sich bei Aristoteles in seinem Bericht über die Grundlagen der Pythagoräischen Philosophie finden, rechtfertigen. Zwischen der »phantastisch orakelnden, grossartig erhabenen« Sprache desPhilolaosund der Darstellung beiArchytas, dem grossen Mathematiker, sind sicher nicht bloss zeitliche, sondern auch sachlich bedeutende Differenzen. Ich zweifle gar nicht, dass Archytas der Pythagoräer gewesen, dessen einfache KlarheitDionysios von Halikarnassosrühmt (Boeckh l. c. p. 43). Und zwischen beiden gab es sicher zahlreiche Nuancen. Übrigens interpretiere ich die Stelle Metaph. XIII, 8, 1083b so: »Die Körper bestehen auf Grund von Zahlen (Verhältnissen).« Auf chemische Ideen der Pythagoräer habe ich schon in meinem Aufsatz »Über Mathematik«, Bd. II, Heft 1 der Cohen-Natorp'schen Hefte hingewiesen. Die Pythagoräer haben die Tonempfindungen durch den Monochord in Zahlenverhältnisse umgewandelt, und so sind sie es gewesen, welche zuerst den Schritt von ungeheurer Tragweite getan, Qualitäten in Quantitäten umzusetzen und so die Welt der äusseren Erscheinungen, die Physik, in die Welt der inneren Verknüpfungen, die Mathematik, umzuwandeln. Und so kommen sie naturgemäss darauf als ουσια, als Substanz, nicht als ὑλη, Materie, der Dinge, das Bleibende in der Vergänglichkeit, die Zahl zu setzen, d. i. das math. Gesetz. Als Belag für diese Auffassung genügt es auf die von Boeckh p. 141 angeführte Stelle ausStobäoszu verweisen; Boeckh hat sie frei in dem eben angeführten Sinne übersetzt, und den Vergleich mit dem Gnomon meisterhaft interpretiert: »Das Erkannte (die Dinge) wird von dem Erkennbarmachenden (der Zahl) umfasst und ergriffen, wobei eine ursprüngliche Übereinstimmung und Anpassung, wie desGnomonum sein Quadrat herum vorausgesetzt wird.«

Das Gnomon ist die ungerade Zahl 2a + 1, welche durchihr Hinzukommen aus a2das Quadrat von (a + 1) liefert und zwar in der geometrischen Form des Winkelhaken.


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