Chapter 2

Artig, flink und reinMüssen Kätzchen sein.

Artig, flink und rein

Müssen Kätzchen sein.

Rosaurus wurde nun zu einem recht liebenswürdigen Kätzchen erzogen; ja er zeigte täglich mehr seine großen Anlagen zu den bei einem wirklichen Hofkater so nöthigen Hofmanieren. Er eignete sich immer mehr den Ton der feinen Welt an, und wenn auch die kleine Prinzessin sich nicht sehr bemühte, zu seiner Erziehung beizutragen, indem sie ihn eigentlich nur verzog, so erwarb sich doch Mlle. Gogo große Verdienste um seine Bildung.

Eines Tages hatte Rosaurus sich gerade auf den Sammtsessel gelegt, den die Prinzessin bei der Lection einnehmensollte und schien sehr süß zu schlafen, denn er schnarchte laut. Als nun die Prinzessin ihn vom Stuhl herunter schieben wollte, so leise und zart als möglich, indem sie ihm noch gute Worte gab, da ließ das böse Thier ihm seine Krallen fühlen und vier blutige Streifen liefen auf dem weißen Arm herab. Da ergriff Mlle. Gogo aber eine kleine Ruthe und schlug Rosaurus damit recht derb auf den Rücken; er schrie und floh unter das Kanapee. Aber er war ein kluges Thier und man hat es nie wieder erlebt, daß er sein Sammetpfötchen verleugnet hätte, wenn die Prinzessin sich mit ihm abgab. — Ja er legte sich nie wieder auf ihren Sammetsessel, sondern auf ein Fußbänkchen ihr zu Füßen; dort rührte Rosaurus sich nicht, während sie Unterricht hatte; ja zuweilen hörte er so aufmerksam zu, daß man hätte meinen sollen, er verstände alles, was die Lehrer lehrten. Nur bei dem Klavier-Unterricht wurde es ihm unheimlich zu Muthe und man sah oft, daß er sich mit seinen kleinen Pfoten die Ohren zuhielt, wenn die Prinzessin spielte. Vielleicht waren es einige falsche Töne, die dem für Katzenkonzerte so gebildeten Ohre weh thaten. Oder liebte Rosaurus überhaupt nicht alles, was zu laut war? Ja! wenn die Prinzeß die Janitscharen-Musik anstimmte, da begann Rosaurus oft zu miauen und mußte zum Zimmer hinausgebracht werden. Eine andere üble Angewohnheit mußte der junge Kater ablegen. Er liebte nämlich vor Allem zu klettern, und da es im fürstlichenZimmer weder Bäume, noch Mauern, noch Dächer gab, um seinem angeborenen Trieb zu genügen, sprang er gern auf die Tische. Da stieß er im kühnen Sprung manches hübsche Nipp herab; ihm war es ganz einerlei, ob eine schöne vergoldete Tasse, ein kostbares Kristallglas oder ein sonstiges Kunstwerk zu Grunde ging; da mußte Mlle. Gogos Ruthe ihm erst den richtigen Kunstsinn beibringen. Einstmals war er auf des Prinzeßchens Schreibtisch gesprungen, hatte erst mit ihren Federn gespielt, dann ein kostbares in Leder gebundenes Album zernagt und zuletzt noch das Tintefaß umgeworfen. Das war eine schöne Bescherung! Der arme Rosaurus mußte gewaltig dafür büßen.

Rosaurus hatte eine große Abneigung gegen die Ruthe; wir glauben, daß es nicht blos um des physischen Schmerzes willen war, sondern auch wegen seiner Ehre; dann mochte er auch nicht leiden, daß sein Fell in Unordnung gerieth; er hatte den Grundsatz, daß wenn man in guter Gesellschaft lebe, man auch anständig gekleidet sein müsse. Die Katzen pflegen nun Toilette zu machen, indem sie sich lecken. Das rosa Züngelchen dient ihnen als Kleiderbürste, der eigene Speichel als Schönheitswasser. — Rosaurus hatte nun ein Plätzchen gefunden, wo es keinen Schaden anrichten konnte; das war nämlich die Fensterbrüstung. Dort saß er viel und leckte sich. Sein Fell glänzte wie Schillertaffet; den Schwanz schlang er auf anmuthige Weise um den Körper, so blickte er hinaus in die Welt, und alle Vorübergehenden,die ihn sitzen sahen, blieben stehen und sagten: — „ach seht doch das hübsche Kätzchen der Prinzessin!“

Als nun einstmals die Freundinnen wieder eingeladen wurden, waren sie höchst erfreut, ihren kleinen Taufpathen wieder zu sehen und alle streichelten ihn freundlich, nur Jenny nicht, welche noch immer Spuren seiner Zähne und Krallen im Gesicht trug. Wenn sie ihn ansah, dachte sie immer: „Das abscheuliche Thier, wenn ich ihm nur etwas anhaben könnte!“ Rosaurus mochte ihre üble Absicht ahnden, denn er entfernte sich und ließ sich den ganzen Abend nicht mehr sehen.

Als die Kinder nun abgeholt wurden, war Jenny die erste, welche sich entfernte, und als sie im Vorzimmer ihren Mantel umnehmen wollte, siehe, da hatte sich Rosaurus auf demselben gebettet und schlief so fest und süß, daß er nicht einmal von einer Störung träumte.

„Du häßliches Thier,“ sagte Jenny leise, „da hab’ ich dich endlich; du sollst mir nun für deinen Frevel büßen“ und geschwind, ehe es Jemand sah, und ehe Rosaurus sich auf ein hülferufendes Miau besinnen konnte, steckte sie ihn in den Arbeitsbeutel und trug ihn mit sich fort.

„Das ist recht gut, dachte sie im Gehen bei sich selbst, daß das Thier auf gute Manier fortkommt; denn seitdem es beim Prinzeßchen ist, kann gar nichts Ordentliches mehr gespielt werden, alles bewegt sich um das dumme Thier! Wie ich es hasse!“

Jennys Weg führte über eine Brücke; „ich werde Rosaurus ins Wasser werfen,“ sagte sie zu sich selbst, „da ist es mit ihm auf immer vorbei!“

Als das Prinzeßchen vor Schlafengehen ihren Rosaurus vergebens suchte, da dachte sie: O er wird gewiß wieder zur Esse hinauf sein auf das Dach zu seinen Geschwistern; denn sie hatte durch die Hofmagd von der Katzengesellschaft gehört, die der Schlotfeger an jenem Abend gestört hatte, so wie auch von den zwei schwer verwundeten Kätzchen, und sie ließ dem Schlotfeger befehlen, ihren Rosaurus nicht wieder zu erschrecken; dann legte sie sich nieder und tröstete sich mit der Hoffnung, am andern Morgen Rosaurus wieder zu sehen. Diese Hoffnung sollte aber nicht in Erfüllung gehen.

Trockne deine heißen ZährenVon dem bleichen Angesicht;Bald wird Gott dir Trost gewähren,Er vergißt dich ewig nicht.

Trockne deine heißen Zähren

Von dem bleichen Angesicht;

Bald wird Gott dir Trost gewähren,

Er vergißt dich ewig nicht.

In einer engen Straße lebte in einem kleinen Häuschen eine arme Familie. Sie bewohnte ein niedriges rauchgeschwärztes Hinterstübchen. Vater, Mutter und Kinder waren in Lumpen gehüllt. Der Vater lag auf einem Strohsack, welcher des Nachts als Familienbett diente; er hatte den ganzen Tag darauf gelegen in jenem halbwachen Zustand, den der Genuß geistiger Getränke, vereint mit Trägheit des Körpers und Verstimmung der Seele hervorzubringenpflegt. Ob er nicht arbeiten konnte oder wollte? wer weiß das. Die Mutter arbeitete auch nicht, sondern saß auf einer hölzernen Bank und hatte ein dreijähriges Töchterchen auf dem Schooß, welches eben so schmutzig und ungekämmt war, als sie selbst. Ein anderes kleines Mädchen von 8 Jahren kauerte im Winkel und weinte; sie hatte Weh am Fuß, weil sie in einen Glasscherben getreten hatte; denn das arme Kind mußte immer barfuß laufen, weil die Eltern ihr keine Schuhe kaufen konnten.

Dieses kleine Mädchen hieß Dorothea und wurde gewöhnlich Dorte genannt.

„Mich hungert’s so sehr“, klagte Dorte, „wäre nicht mein bößer Fuß, so hätte ich Euch schon längst etwas heim gebracht. Wilhelm braucht immer mehr Zeit, um etwas zusammen zu betteln.“

„Wie kommt das nur?“ fragte die Mutter.

„Ja, er kann sich nie ein Herz nehmen, die Leute anzubetteln, da schiebt er mich immer vor; er maust viel lieber.“

„Halts Maul, Mädchen!“ schrie der Vater, „wenns Jemand hört, so —“

„Ich wollte ja eben, daß Vater und Mutter es hören möchten,“ sagte Dorte; „mir gehorcht Wilhelm nicht, und ich fürchte immer, daß er noch sich selbst und uns Alle ins Unglück bringt.“

„Wir armen Leute,“ erwiderte der Vater, „müssen eben so gut leben, als die Reichen, und wenn diese uns nichts geben, so nehmen wir’s.“

Dorte. Ich habe neulich in der Schule ein Verschen gelernt, welches ich immer befolgen will: „Du sollst nicht lügen und nicht stehlen, und was du findest, nicht verhehlen.“

Mutter. Dabei wirst Du aber nicht sehr reich werden!

Dorte. Und doch brachte ich neulich einen ganzen Thaler mit nach Hause. O der glänzte! Prinzeßchen hatte ihn mir geschenkt, als es im Winter so kalt war und ich so bitterlich weinte, weil mich so hungerte.

Mutter. Ich weiß wohl, daß du nie so gut weinen kannst, als wenn du Hunger hast.

Dorte. Darum schickt Ihr mich so oft mit leerem Magen zum Betteln aus.

Vater. Ja die Dorte zwingt es immer mit ihren Thränen, der Wilhelm aber mit dem Verstande. Das ist ein kluger Kopf! der wird es noch weit bringen.

Dorte. Bis zum Galgen! so meinte neulich ein dicker Herr.

Mutter. Wer war der Schändliche, der sich unterstand, das von meinem Wilhelm zu sagen?

Dorte. Ich kenne ihn nicht, es war am Sonntag.

Vater. Wo der Wetterjunge 12 Groschen nach Hause brachte.

Dorte. Ja! die er sich mit Lügen verdient hatte.

Mutter. Wie so denn?

Dorte. Er hatte sich an einer Straßenecke aufgestellt, wo viele Leute vorüber gehen mußten; dort that er, als ob er weine und etwas suche. Kam nun ein Mitleidiger vorüber und frug: was ihm fehle? so klagte er, daß er einen Groschen verloren habe, wofür er für die kranke Mutter Arznei habe kaufen sollen; nun werde er Schläge erhalten, wenn er nach Hause käme. Und mancher Vorübergehende schenkte ihm einen Groschen. So wie der Geber sich aber entfernt hatte, begann die Geschichte von Neuem.

Vater. Der Blitzjunge!

Dorte. Ja, und wie gut er weinen konnte! selbst wenn ich Hunger habe und mit leerem Magen betteln muß, kann ich es nicht so gut.

Mutter. Du wirst aber immer ein dummes Mädchen bleiben.

Dorte. Ich möchte aber auch nicht so ankommen, wie Wilhelm an jenem Tage.

Vater. Nun, wie kam er denn an?

Dorte. Ein dicker Herr, der ihm schon ein Mal einen Groschen geschenkt hatte, kam zufällig denselben Weg wieder zurück. Wilhelm erkannte ihn aber nicht wieder und begann abermals, um den verlorenen Groschen zuweinen und zu schluchzen. Da gab der Herr ihm eine Ohrfeige rechts und eine links und sagte: — „Vielleicht rettet dich das von dem Galgen.“

Rosaurus auf dem Tisch der arme Familie

Rosaurus wird gestohlen.

Man hörte hier die Hausthür gehen und herein trat Wilhelm mit einem sehr vergnügten Gesicht. Er hielt etwas unter der Rocktasche verborgen und als er sich versichert hatte, daß niemand Fremdes im Zimmer sei, zog er einen schweren Arbeitsbeutel von grünem Sammet hervor.

Der Vater erhob sich bei diesem Anblick von seinem Lager, die Mutter rückte dem Tisch näher, Dorte und die kleine Hanne blickten mit neugierigen Augen nach dem erbeuteten Gegenstande in der Hoffnung, etwas Erfreuliches daraus hervorlangen zu sehen. Vater und Mutter erwarteten Geld, die Kinder Lebensmittel. Wilhelm erzählte, er habe den Beutel einem kleinen Mädchen vom Arm geschnitten bei der großen Brücke. „Die wird sich wundern!“ sagte er; „sie hat gar nichts gemerkt; auch war es schon etwas dunkel.“

Er öffnete den Beutel und heraus kam —Rosaurus; er schien sich nicht ganz behaglich zu fühlen, ja sogar auf einen feindseligen Angriff gefaßt zu sein; denn er machte einen gewaltigen Katzenbuckel und begann zu knurren und zu pusten. Die Kinder lachten. „Nun,“ meinte der Vater, „da hättest du auch etwas Besseres erwischen können.“ Glücklicherweise fand sich nebst einem Taschentuchauch ein Fünfgroschenstück im Beutel; auch kramte Wilhelm einige Semmeln und Aepfel aus, die er in der Dämmerung von Bäckern und Höckern gestohlen hatte. — Man theilte solche unter sich und verzehrte sie.

Rosaurus fühlte sich keineswegs heimisch in dieser Umgebung, er war ja an den fürstlichen Palast gewöhnt; auch verschmähte er die Brodkrumen, welche Dorte ihm bot, und machte ein ganz philosophisches und nachdenkliches Gesicht. Vielleicht dachte er an seiner Pathen Versprechungen vonBisquitund Leckerbissen, denn er brach in ein klägliches Miau aus.

„Was sollen wir nur mit der Katze anfangen, Wilhelm?“ sagte die Mutter, „du wirst uns doch nicht zumuthen, unsere Kaffee-Milch mit ihr zu theilen. Wirf sie zum Fenster hinaus oder setze sie vor die Thür.“

„Das arme Thier,“ meinte Dorte; „es ist gewiß gewohnt, recht gut verpflegt zu werden und wird sich auf der Straße unbehaglich fühlen; wir wollen es bis morgen früh behalten, dann trag ich es in ein vornehmes Haus, wo man es gewiß aufnimmt.“

„Nein, nein!“ sagte Wilhelm, „die Katze ist mein und bleibt hier. Ich weiß schon, was ich mit ihr anfange. Morgen geht das Vogelschießen los, da bringe ich sie in die Menagerie und verkaufe sie als einen Braten für den großen Löwen. Wenn ich auch nichts dafür bekomme alsden freien Eintritt. Ich sehe so etwas gar zu gern, besonders die Affen — von ihnen kann man recht geschickt stibitzen lernen. Auch giebt es dort gefüllte Taschen, erreichbare Taschentücher, unbeachtete Arbeitsbeutel — kurz eine gute Ernte für arme und geschickte Leute.“

In dieser Gesellschaft brachte Rosaurus die Nacht zu, und schlummerte in Dortens Schooß so sanft, wie in seiner Puppenwiege.

Am andern Morgen ward es sehr bald lebendig, denn es war der Tag der Holzlese und Vater und Mutter gingen in den Wald. Beide waren dafür bekannt, daß sie lieber frische Aeste abbrachen, als sich mit dem alten Holz begnügten; dadurch fiel ihre Erndte auch immer reichlicher aus, als die anderer armen Leute.

Wilhelm und Dorte sollten in die Schule gehen; letztere wusch und kämmte vorher das Schwesterchen; dann gab sie Rosaurus ihre Milch und trank ihren Kaffee schwarz. Wilhelm dehnte sich aber noch lange auf seinem Strohsacke.

„Willst du nicht aufstehen?“ sagte Dorte, „es ist bald Zeit zur Schule.“ Langsam erhob er sich, frühstückte und machte Anstalt, die Schwester zu begleiten. Als sie die Thür hinter sich geschlossen hatten, sagte Dorte: „Es freut mich, daß Hannchen heute nicht so ganz allein bleibt, wie gewöhnlich.“

„Wer ist denn bei ihr?“ frug der Bruder.

„Nun das Kätzchen.“

„Potztausend! das hatte ich ganz vergessen,“ sagte er, indem er noch ein Mal die Thür aufriß, rief er in die Stube. „Hanne, wenn du mir das Kätzchen anrührst, so kriegst du Prügel!“ —

Hannchen war aber ein sehr unfolgsames Kind; sie war nicht zum Gehorsam erzogen worden, und man brauchte ihr nur etwas zu verbieten, so bekam sie Lust, es zu thun. Als sie sich also allein mit Kätzchen sah, ging sie auf dasselbe zu, um es zu streicheln. Rosaurus ließ sich das wohl gefallen und schnurrte; dann nahm sie das Kätzchen auf den Arm und trug es im Zimmer umher. — Dann meinte die Kleine, sie wolle etwas zum Fenster hinaus sehen; deshalb stieg sie auf einen Stuhl, machte das Fenster auf und lud Kätzchen ein, sich aufs Gesims zu setzen und die Vorübergehenden zu betrachten.

Rosaurus schien Gefallen daran zu finden und nahm seine philosophische Stellung auf den Hinterbeinen an und überlegte sich, was er thun wolle? Das Fenster war sehr niedrig, ein kleiner Sprung und Rosaurus war auf der Straße. Vielleicht konnte er sich dann leicht in der Stadt zurecht finden, und ins Schloß oder wenigstens zu einer Freundin des Prinzeßchens gelangen.

Rosaurus fand diesen Schritt sehr gerathen, er machte Anstalt, die innere Fensterbrüstung mit der äußeren zu vertauschen; — Hannchen wollte es nicht leiden und erfaßteden Flüchtling beim Schwanz — aber Rosaurus schlug seine Krallen in des Kindes Händchen und husch! — unten war er, worauf er in gestrecktem Laufe die Straße verließ.

Wer jetzt das Thierlein liebt,Wird einst auch Menschen lieben,Wer jetzt das Thierlein quält,Wird Menschen einst betrüben.

Wer jetzt das Thierlein liebt,

Wird einst auch Menschen lieben,

Wer jetzt das Thierlein quält,

Wird Menschen einst betrüben.

Als Rosaurus an das Ende der Straße gelangt war, hielt er im raschen Laufe an, um wieder zu Athem zu kommen; er setzte sich auf einen Prallstein, um die unbekannte Straße und seine eigene Lage besser zu überschauen. Ach! er war in eine ganz fremde Welt gerathen, in welcher er sich nicht zurecht finden konnte. Fremde Menschen gingen an ihm vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen; ach! wie fühlte Rosaurus sich unglücklich und verlassen. —Plötzlich aber schien sein Schicksal sich aufzuklären; zwei kleine wohlgekleidete Mädchen kamen daher, begleitet von ihrer Bonne. Sie hatten große Arbeitstaschen und schienen in die Schule gehen zu wollen. Rosaurus erkannte Lisi und Amelie, seine beiden Freundinnen, und hoffte, die Stunde seiner Erlösung habe geschlagen. Er sprang hinunter vom Prallsteine und eilte auf die Kinder zu, sich mit einem ausdrucksvollen Katzenbuckel an Lisi anschmiegend und ihr zwischen die Füße laufend. Die Kinder blieben stehen.

„Ach! das niedliche Kätzchen,“ sagte Amelie, „das sieht doch gerade aus, wie der Rosaurus der Prinzessin.“

Lisi. Wie käme dieser aber hierher? der schlummert wahrscheinlich noch in seiner Wiege, oder frühstückt Milch und Bisquit, während dieses arme Thierchen hier ziemlich hungrig zu sein scheint.

Amelie. Könnten wir es doch mitnehmen, das Kätzchen sieht uns an, als wolle es unseren Schutz anflehen, es hat gewiß seinen Herrn und seine Heimath verloren.

„O!“ sagte die Bonne, „es gehört wahrscheinlich in eins der benachbarten Häuser, man wird es bald suchen und wir würden einen Diebstahl begehen, wenn wir es mit uns nehmen wollten.“Lisi meinte auch, daß sie doch unmöglich ein Kätzchen mit in die Schule bringen könnten, und schlug vor, dem armen Thiere etwas zu fressen zu geben und nach beendeter Schule wieder an dieser Stelle vorüberzu gehen, um es mitzunehmen, wenn es noch immer so verlassen, einsam und unglücklich sein sollte.

Die Kinder brockten zufolge dieses Beschlusses, den auch die Bonne billigte, etwas Bisquit und Semmel auf einen reinlichen Stein der Straßenecke, wünschten dem Kätzchen guten Appetit und gingen von dannen.

Da Rosaurus wirklich großen Hunger hatte und ihm kein Mittel zu Gebote stand, sich seinen Freundinnen zu erkennen zu geben, indem sie die Katzenbuckel-Sprache doch nicht so ganz deutlich zu verstehen schienen, stürzte er sich gefräßig über das Bisquit her, indem er sorgfältig die Semmelbrocken liegen ließ. — Er sollte indeß, noch ehe er die Mahlzeit vollendet hatte, gestört werden; denn er vernahm aus der Ferne ein furchtbares Donnern und Krachen, und meinte einen Augenblick, die ganze Welt gehe unter; sein Gemüth beruhigte sich nicht, als er die Veranlassung dieses Geräusches erblickte. Es kam nämlich ein Ungeheuer die Straße entlang gesaust; war es ein Thier? war es etwas Anderes? Es hatte vier glänzende Augen, acht Beine, und noch außerdem vier Räder, welche den ungeheuren Lärm verursachten. — Später erfuhr Rosaurus wohl, daß es eine Kutsche mit zwei Rädern sei, aber damals war er ja gar zu unerfahren in der Welt. Als das Ungethüm sich auf ihn zu bewegte, ergriff er die Flucht; er wähnte sich verfolgt, weil die Kutsche denselben Weg einschlug, wie er, und so lief und lief er denn, bis er in eine Seitenstraßegerieth, wo der gefährliche Feind vorüber fuhr. So hatte Rosaurus in der wilden Flucht sich weit entfernt von der Stelle, wo Lisi und Amelie ihn wieder zu finden gedachten. Rosaurus sollte aber bald noch andere Gefahren kennen lernen. —

Ein vierbeiniges Geschöpf ließ sich nämlich am äußersten Ende der Straße erblicken. Rosaurus dachte sich gleich, daß dasselbe ein Hund sei, obgleich es keineswegs dem Joly glich, es war gewiß viermal größer als Joly, hatte ganz schwarzes gelocktes Haar, lange herunterhängende Ohren und kleine schwarze Augen, welche unter dichten Haarbüscheln hervorglänzten.

Als der Pudel Kartusch den Rosaurus erblickte, stutzte er einen Augenblick und legte durch ein kurzes abgebrochenes Gebell seine katzenfeindlichen Gesinnungen an den Tag. Rosaurus war unschlüssig über seinen Vertheidigungsplan. Konnte er hoffen, mit seinen zarten Krallen dem großen Hund Ehrfurcht einzuflößen, wie dem kleinen Joly? Gewiß nicht! Ihm erschien also die Flucht das gerathenste zu sein. Ach, er wußte nicht, wie schnell Kartusch laufen konnte! — Kartusch hatte großen Respekt vor den Krallen der Katzen, aber gar keinen vor ihren Schwanz, und als er letzteren sich zugewendet sah, verfolgte er mit freudigem Bellen das arme geängstete Thier. Rosaurus hörte sein Schnaufen und Knurren, sein drohendes Gebell immer näher rücken, immer mehr schwand der Raum zwischen ihmund seinem Verfolger; er fühlte schon den heißen Athem des Pudels und glaubte auch schon dessen Zähne zu fühlen — da ersah er einen Baum — noch ein Mal strengte er seine schwindenden Kräfte an und sprang hinauf — bloß ein kleines Stück seines Schwänzchens blieb in Kartusch’s Zähnen zurück; das that zwar weh, es blutete, aber sein kostbares Leben war doch gerettet. Rosaurus blickte hohnlächelnd und pustend herab auf den wüthend bellenden Kartusch, der sich gar nicht darüber zufrieden geben konnte, daß seine Beute ihm entrissen war. — Endlich wurde Kartusch durch einen Pfiff seines Herrn abgerufen.

„O, hätte der doch eher gepfiffen,“ seufzte Rosaurus, indem er seinen blutenden Schwanz leckte.

O welch ein Unglück! dieser Schwanz, sein Stolz, seine Freude; dieses Glied seines Körpers, welches dem Kater eine Aehnlichkeit mit den Kometen des Himmels giebt, es war verstümmelt; Rosaurus war auf ewig geschändet! Er überließ sich ganz seinem Schmerz und brach in laute Klagen aus.

Diese Klagen vernahm eine muntere Knabenschaar, welche so eben aus der Schule kam. Das ist der Augenblick, wo die Kinder am übermüthigsten zu sein pflegen. Sie nahmen Steine und warfen nach dem armen schreienden Thier. Rosaurus flüchtete immer höher in die dichtesten Zweige des Baumes; er zog sich hinter die verschlungendsten Aeste zurück und suchte sich zu schützen gegen dasWurf-Material, welches von allen Seiten in seiner Nähe einschlug, entweder vorbeiflog oder an den schützenden Zweigen abprallte. Ein kühner Knabe entschloß sich, an dem Baum hinauf zu klettern; alle jubelten über diesen Entschluß; der Steinregen war zu Ende und die Jugend blickte neugierig und mit reger Theilnahme dem Kletternden nach; Rosaurus hatte sonach eine neue Gefahr zu fürchten. Der kletternde Knabe mußte sich an die innern Baumäste halten, wo Rosaurus von den Steinen hingetrieben war, so daß letzterer sich genöthigt sah, seine Zufluchtsstätte zu verlassen und die äußersten Spitzen der höchsten Aeste aufzusuchen. Rosaurus war sehr leicht, ihn trug das dünnste Zweigelchen; die Vögel flohen erschreckt aus den Wipfeln des Baums, indem sie ein ängstliches Piep Piep ausstießen, und Rosaurus verspürte in diesem Augenblick einiges Gelüste nach dem Vogelspiel, er mußte aber diese strafbaren Gedanken unterdrücken wegen der eigenen Gefahr, welche auch wirklich mit jeder Minute stieg; denn als der Knabe auf dem Baum nicht Rosaurus selbst packen konnte, ergriff er den Ast, auf dessen äußersten Spitzen das arme geängstete Thier saß und schüttelte denselben so stark, daß er sich nicht länger darauf halten konnte. Rosaurus stürzte aus der schwindelnden Höhe herab, unter lautem Freudenruf der Schuljugend.

Jedes andere unbeflügelte Thier würde unstreitig den Hals gebrochen haben; aber die Katzen haben die großeGeschicklichkeit, immer auf den Beinen zur Erde zu gelangen; das war auch jetzt der Fall mit Rosaurus. — Seine Füße waren freilich geprellt und hätten der Ruhe und Pflege auf weichem Bettchen bedurft; aber unter dieser blutdürstigen Umgebung konnte er nicht weilen — er mußte wieder zu schneller Flucht greifen und unter neuem Steinregen davon laufen. — Als er endlich sich sicher glaubte, fühlte er sich von einer kleinen aber kräftigen Hand gepackt und eine wohlbekannte Stimme rief. „Du bist mein,“ und steckte Rosaurus unter seinen Rock.

Es war niemand anders als Wilhelm, welcher aus der Schule kam und, in der Hoffnung, dem Löwen zwei Braten, d. h. zwei Kätzchen, bringen zu können, die ganze Verfolgung des armen Thiers geleitet hatte.

Es gab indeß großen Spektakel zu Haus, als Wilhelm Rosaurus Flucht entdeckte und in dem armen abgehetzten, verstümmelten Kätzchen sein Eigenthum erkannte. Hannchen wurde von ihm geschimpft, geschlagen und gekneipt, bis Dorte ihr zu Hülfe kam.

Am Nachmittag sah Wilhelm indeß ganz anders aus, als am Morgen, denn er hatte sich sorgsam gewaschen und gekämmt, eine wohlgeflickte Sonntagsjacke angethan, die verschossenen Hosen stramm gezogen, die Strümpfe in die Höh gebunden und die Schuhe geschwärzt. „Jetzt,“ sagte er, „bin ich ein schmucker Mensch und ich glaube, der Löwe würde mich verspeißen, wenn er könnte; ich bin ganz geeignet,um ihm Appetit einzuflößen.“ Rosaurus wurde nun in die Rocktasche gesteckt und so gings zum Vogelschießen.

Man zog gerade den großen hölzernen Vogel unter Musik und Kanonenschüssen empor. Es war ein Adler mit zwei Köpfen. Kronen, Scepter und Reichsapfel waren vergoldet. Es wurde Rosaurus recht unheimlich im Gedränge, denn Wilhelm war immer da, wo es am dichtesten war und zwar aus guten Gründen.

Viele Buden mit Sehenswürdigkeiten waren aufgeschlagen. Da gab es Wachsfiguren, Panoramen, Seiltänzer, Taschenspieler und Marionetten zu sehen; am meisten gab es aber Eßbuden, welche die herrlichsten Bissen aufgestellt hatten. Da zischten und dampften Bratwürste, dort gab es Kuchen, Torten, Früchte; Rosaurus verspürte großen Appetit und auch noch andere empfanden solchen.

Viele Leute kauften und ließen es sich wohl schmecken; aber viele standen dabei und konnten sich nichts kaufen und man sah es ihnen doch an den Augen an, daß sie es so gern gethan hätten; das waren die Armen. Darunter gehörte auch Wilhelm. — Er tröstete sich aber mit dem Gedanken, daß er noch vor Schlafengehen sich auf irgend eine Weise ein Stück Kuchen verschaffen werde und mit diesem Trost lief er zur Menagerie.

Diese war leicht aufzufinden, denn vor derselben schrien Papageien und tanzten Affen in wunderlichen Sprüngen. Wilhelm bot dem Besitzer der Menagerie sein Kätzchen zumVerkauf. „Das ist ein rechtes Futter,“ sagte der Mann in verächtlichem Ton, „das füllt ja kaum einen hohlen Zahn des Löwen aus; doch um des Spaßes willen nehm ich dir den Kater ab. Da hast du einen Groschen, und wenn du sehen willst, wie dein Kätzchen gefressen wird, so kannst du in einer Stunde wieder kommen, da wird gefüttert — du sollst eingelassen werden, ohne zu zahlen.“

Wilhelm lief nun mit seinem Groschen zur Kuchenbude. Er dachte zwar daran, daß der Vater ihm befohlen habe, alles Geld nach Hause zu bringen; „da müßte ich doch ein rechter Narr sein!“ sagte er zu sich selbst, kaufte ein Stück Kuchen, welches er sehr gemüthlich verzehrte, während einige seiner armen Schulkameraden ihm nicht ohne Neid zusahen.

Tiger! Tiger! Flammenpracht!In des Waldes dunkler Nacht,Wo die kühne Meisterhand,Die sich dieses unterstand,Daß die Gluth sie angefaßt,Die du in den Augen hast.Ward aus Himmel oder Höll’Ausgeschöpft die Feuerquell?Alles wie aus einem Guß!Welche Hand! und welcher Fuß!Wo die Esse, die so stolz,Dieses Hirn aus Erz dir schmolz!Aller Wesen letzter TagTiger ist dein,Was du anfaßt, das ist roth,Was du angefaßt, ist todt.Tiger, Tiger, fürchterlich!Der das Lamm schuf — schuf er dich?

Tiger! Tiger! Flammenpracht!

In des Waldes dunkler Nacht,

Wo die kühne Meisterhand,

Die sich dieses unterstand,

Daß die Gluth sie angefaßt,

Die du in den Augen hast.

Ward aus Himmel oder Höll’

Ausgeschöpft die Feuerquell?

Alles wie aus einem Guß!

Welche Hand! und welcher Fuß!

Wo die Esse, die so stolz,

Dieses Hirn aus Erz dir schmolz!

Aller Wesen letzter Tag

Tiger ist dein,

Was du anfaßt, das ist roth,

Was du angefaßt, ist todt.

Tiger, Tiger, fürchterlich!

Der das Lamm schuf — schuf er dich?

Als Wilhelm nach der Menagerie zurückkam, vernahm er schon lautes Brüllen. Im Vorplatz wurden große Stücke Fleisch zerschnitten; diese wurden sodann vertheilt, und Wilhelm weidete sich an der Freßbegierde der Thiere, an ihren scharfen Zähnen und an den wilden Tönen, welche sie dabei ausstießen. Man warf das Kätzchen in des Löwen Käfig; es zitterte, und Wilhelm dachte schon, das große Thier werde seiner Angst bald ein Ende machen und es unter seiner Riesentatze ersticken. Aber nein! der Löwe schien es gar nicht zu bemerken, es konnte ganz sicher bei ihm leben; wenn er es nicht aus Zufall zertrat, mit Willen that er es gewiß nicht. Kätzchen verlor auch wirklich bald alle Angst; es leckte von dem blutigen Fleisch, welches der Löwe zur Mahlzeit erhielt — das arme Thier mußte ja auch sehr hungrig sein; der Löwe ließ es sogar geschehen, daß es ein kleines Stückchen fraß, und als es gesättigt war, zeigte es sogar Lust, mit dem Schweif des Königs zu spielen, wie es mit Mlle. Gogo’s Mützenschleife gespielt hatte.

Als nun die Thiere gefüttert waren, räusperte sich der Menageriebesitzer, und indem er mit einem Stock nachden verschiedenen Käfigen deutete, gab er mit lauter Stimme folgenden Bericht.„Sie sehen hier, meine Herrschaften, den großen Löwen aus Bengalen. Er ist einer der größten, die man je in Europa gesehen hat, indem er 9 Fuß lang und 5 Fuß hoch ist. Seine prächtige Gestalt, sein fester Blick, sein stolzer Gang und sein furchtbares Gebrüll zeugen von seiner Kraft. Seine ungeheure Muskelstärke verräth sich durch die großen Sprünge die er macht, um auf seine Beute zu stürzen und durch das Schlagen seines Schweifes, womit er einen Ochsen zu Boden werfen kann. Sein gewöhnlicher Gang ist langsam und würdevoll; er pflegt blos zu laufen, wenn er verfolgt wird. Hinter Gebüsch und Rohr verbirgt er sich und lauert auf das vorübergehende Wild, welches an einer nahen Quelle zu trinken pflegt; mit einem ungeheueren Sprunge stürzt er über dasselbe her, indem er seine Krallen tief in dessen Seiten schlägt und mit seinen Zähnen dessen Hinterschädel zerbricht. Wenn er im Sprung seine Beute verfehlt hat, so läßt er sie laufen und versucht nicht, sie zu verfolgen, sondern legt sich abermals auf die Lauer. Hat er sich satt gefressen, so legt er sich nieder und schläft zwei bis drei Tage, bis der Hunger ihn wieder aufweckt. Wenn der Löwe unter eine Heerde geräth, so tödtet er Alles, was ihm vorkommt, selbst wenn er gesättigt ist. Sein Muth ist nicht so groß, als man glauben möchte; er greift nur kleinere und schwächere Thiere an, und wenn er sich in den Bereich der menschlichenWohnungen geschlichen hat, so kann man ihn mit einigem Lärm oder auch mit einer brennenden Fackel verjagen. Indem er die Haut seines Gesichts und vorzüglich die Stirnhaut mit großer Leichtigkeit bewegt, kann er den Ausdruck seiner Physiognomie sehr oft wechseln und ihr den einer furchtbaren Wuth geben, welcher durch die Beweglichkeit seiner Mähne, die er emporsträuben und nach allen Richtungen hin wenden kann, sehr erhöht wird. Die Löwin ist kleiner, ruhiger und feiger, als der Löwe, doch wenn sie Junge hat, ist sie furchtbarer als er, indem sie sich dann auf Menschen und Thiere ohne Unterschied stürzt, sie tödtet und ihren Kleinen zuträgt, denen sie bei Zeiten lehrt, das Blut zu saugen und das Fleisch zu zerreißen. Der Löwe säuft wie ein Hund. Sein Gebrüll ist so stark, daß man es des Nachts in der Wüste für Donner halten könnte; er stößt es täglich 5 bis 6 Mal aus, besonders häufig, wenn Regen zu erwarten steht. Wenn der Löwe Menschen und Thiere zusammen findet, so fällt er lieber die letztern an, es sei denn, daß ein Mensch ihn schlägt, bei welcher Gelegenheit er den Beleidiger gewiß schnell herausfindet. Der Elephant, das Rhinozeros, der Tiger und das Nilpferd sind die einzigen Thiere, welche ihm Widerstand leisten können und welche er auch gern vermeidet, wenn er kann. Das Fleisch des Löwen hat einen unangenehmen starken Nachgeschmack; doch essen die Neger es gern. Der Löwe gehört dem Katzengeschlecht an, manvergleiche ihn nur mit dem kleinen Kätzchen, welches ihm Gesellschaft leistet. Beide haben 30 scharfe Zähne, beide Pfoten mit langen starken Krallen, die sie nach Belieben einziehen und herausstoßen können; beide haben denselben Bau des Kopfes und tragen denselben Raubthiercharakter.

gehört ebenfalls zum Katzengeschlecht. Während der Löwe als erstes unter den fleischfressenden Thieren gilt, ist der Tiger das zweite. Ihm fehlt die Würde des Löwen; er ist immer blutdürstig und fällt gern die Menschen an. Ihm fehlt auch des Löwen edler Anstand; sein Körper ist zu lang, seine Beine zu niedrig; das Haupt hat keine Mähne, die Augen sind unstät und die Zunge blutroth; er ist von einer unersättlichen Blutgier, von einer empörenden Grausamkeit beseelt; sein einziger Instinkt scheint eine stete Wuth zu sein, welche ihn oft so weit verblendet, daß er seine eigenen Jungen frißt und deren Mutter zerreißt, wenn sie dieselben vertheidigen will.

Glücklicher Weise sind diese Thiere nicht sehr zahlreich und blos auf das heißeste Klima Ostindiens beschränkt.

Wenn der Tiger irgend ein großes Thier, z. B. ein Pferd oder einen Büffel getödtet hat, so zerreißt er es nicht an der Stelle der That, sondern er schleppt es in die Tiefe des Waldes mit einer Leichtigkeit, daß die Schnelligkeitseines Laufes gar nicht durch die Schwere des Gegenstandes gehemmt zu sein scheint. Der Tiger ist vielleicht das einzige Thier, das man nicht zähmen kann; er ist immer bös, sowohl wenn man ihn gut, als wenn man ihn schlecht behandelt. Nicht Gewohnheit, nicht Zeit vermag ihn zu bändigen; er zerreißt die Hand, welche ihm Nahrung reicht, wie die, welche ihn schlägt und alles Lebendige erscheint ihm nur als erschaffen, um seine Beute zu werden. Die Tigerin wirft wie die Löwin 4-5 Junge, und ihre Wuth steigert sich bis zu einem entsetzlichen Grade, wenn man dieselben raubt.

gehört ebenfalls zum Katzengeschlecht. Er sieht wild aus, hat ein stets unruhiges Auge; seine Bewegungen sind heftig und seine Stimme gleicht der eines wüthenden Hundes. Die Zunge ist rauh und sehr roth; die Zähne sind stark und spitzig, die Krallen hart und scharf. Das Fell ist schön, mit schwarzen ringelartigen Flecken besäet. Der Panther gleicht an Gestalt und Größe einer Dogge von guter Raçe, nur mit kürzern Beinen.

In Persien und andern Theilen von Asien pflegt man den Panther zur Jagd zu benutzen, ohne ihn jedoch zähmen zu können, denn er verliert nie seinen wilden Charakter und wenn man sich seiner bedienen will, bedarf esgroßer Mühe, um ihn abzurichten und noch größere Vorsicht, um ihn auszuführen und zu benutzen.

ist zahlreicher und weiter verbreitet als der Panther. Sie lebt gewöhnlich in Arabien und im südlichen Asien; man bedient sich ihrer dort zur Jagd, weil in den heißen Ländern Asiens die Hunde selten sind. Die Unze hat indeß den Geruch nicht so fein wie der Hund und kann das Wild nicht nach seiner Fährte verfolgen; auch würde es nicht im schnellen Laufe verfolgen können, sondern jagt nur nach dem Gesicht und kann sich nur aus dem Hinterhalt auf ihre Beute stürzen und sie niederwerfen.

hat dieselben Gewohnheiten und denselben Charakter, wie der Panther, aber man kann ihn nicht so leicht zähmen; er bewohnt den Senegal und Guinea, wo man ihn sehr häufig findet. Panther, Unze und Leopard bewohnen nur die hintersten Landesstrecken von Asien und Afrika; sie halten sich am liebsten im dichten Walde und am Ufer der Flüsse auf oder auch in der Nähe entlegener menschlicher Wohnungen, wo sie den Hausthieren auf dem Wege nach der Quelle gern auflauern. Sie fallen selten Menschen an.Leicht erklettern sie Bäume, von deren Zweigen sie auf ihre Beute herabstürzen. Obgleich sie meistens sehr mager sind, so gilt ihr Fleisch doch als Leckerbissen für den Reisenden.

Wilhelm wendete bald sein Interesse von dem Bericht des Menageriebesitzers ab und den Affen zu, welche auch gar zu lustig anzuschauen waren. Sie befanden sich in einem großen Bauer, worin sie unaufhörlich umhersprangen. Ueberall gab es allerliebste Affengruppen. Hier flöhte eine alte Aeffin ihr Kind mit mütterlicher Liebe; dort wickelten sie einige Bonbons aus Papierhüllen und grinzten freudig über den Fund. Manche balgten sich, andere schaukelten sich in großen Ringen, die mit Seilen aufgehängt waren, oder sie wiegten sich in Zweigen, die man im innern Raum des Bauers angebracht hatte. Wilhelm meinte immer, diese Thiere müßten Menschen sein, weil sie so menschliche Bewegungen zeigten.

Was ihn aber mehr als alles andere an diesen Affenbauer fesselte, das waren die zahllosen Kinder, welche umherstanden und im Anschauen vertieft nicht Acht hatten auf ihre Habseligkeiten. So war es dem kleinen Taschendieb schon gelungen, einige Taschentücher und einen wohlgefüllten Arbeitsbeutel zu rauben und in seine Rocktasche zu verbergen.

Der Kater mit dem Löwe

Rosaurus in dem Löwenkäfig.

Und ist das Fädchen noch so fein gesponnen,Am Ende kommt es doch ans Licht der Sonnen.

Und ist das Fädchen noch so fein gesponnen,

Am Ende kommt es doch ans Licht der Sonnen.

Plötzlich vernahm man Geräusch an der Thür und es hieß: — „die kleine Prinzessin käme, um die Thiere zu sehen.“ Alles blickte nach ihr hin und freuete sich über ihr freundliches Grüßen und über ihren hübschen Anzug. — Wie sie vor den Käfig des großen Löwen trat, stieß sie einen lauten Schrei der Ueberraschung und des Entsetzens aus, denn sie erkannte auf den ersten Blick ihren Rosaurus. Sie wollte auch gleich mit der Hand durch die Eisenstäbe fahren, um den kleinen Liebling zu streicheln und zu trösten, aber Mlle. Gogo riß sie erschrocken zurück. — Der Menageriebesitzer wurde sogleich gefragt, wie er zu dem Kätzchengekommen sei? und er erzählte, daß er es einem unbekannten Knaben abgekauft habe, welcher noch in diesem Augenblick hier gewesen, — er wolle sogleich nach ihm suchen.

Wilhelm war aber nicht zu finden und das ging auch ganz natürlich zu; denn als er das Gespräch über das Kätzchen hörte, wurde ihm bang ums Herz und er kroch unter einen Tisch, worauf Papageien standen, und dessen unterer Raum mit einem Leinwandvorhang versehen war; da war er sicher geborgen. Durch ein Loch konnte er Alles sehen, was in der Menagerie vorging, und hören konnte er auch Alles. So mußte er denn Zeuge sein, wie der Menageriebesitzer das Kätzchen aus dem Löwenkäfig holte und einen Thaler erhielt, während er doch nur einen Groschen dafür bezahlt hatte. Wilhelm ärgerte sich recht, daß er nicht selbst ein so gutes Geschäft gemacht habe.

Es wurde ihm indeß sehr unheimlich unter dem Tisch zu Muthe; denn es befand sich unter demselben eine große Aeffin im Wochenbette, welche den unberufenen Eindringling mit den langen Armen in den Nacken kratzte, und unter dem Käfig der Aeffin stand der eines brütenden Pelikans, welcher, ebenfalls entrüstet über die Störung, Wilhelm so arg biß, daß die Hosen zerrissen und das Blut strömte. Er, der schon so wenig Sitzefleisch in der Schule hatte, fürchtete auf diese Weise ganz untüchtig zum Sitzen zu werden und als die Nachsuchung zu Ende war, benutzte er den Moment, wo ein dicker Herr sich vor den Tisch gestellthatte, um hervor zu kriechen und sich hinter diesem verborgen zu halten.

Da aber das Böse in seinem Herzen nie schlummern konnte, so entging es seiner Aufmerksamkeit nicht, daß der dicke Herr eine sehr wohlgefüllte Börse, woraus er so eben ein Extra-Trinkgeld für die Schlange gezahlt hatte, in die linke Rocktasche steckte. Die Schlange fraß nämlich so eben eine Taube in gewohnter grausamer Weise, indem sie mit der freundlichsten Miene von der Welt dieselbe beleckte und durch ihren Speichel schlüpfrig und geschmeidig machte; dann zog sie das arme Thier unbarmherzig in ihren Rachen, und man fühlte, wie es im tiefen Schlund noch zappelte.

Wilhelm meinte, der dicke Herr sähe gewiß so aufmerksam zu, daß er es nicht merken würde, wenn seine zarte Hand ihm in die Tasche griff, und die Börse heraus holte und im Hui war diese Hand auch drinnen. Aber in demselben Augenblick fühlte Wilhelm, daß sie von einer anderen, kräftigeren Hand gefaßt wurde, welche unter dem Rocke schon mußte geruht haben; zu gleicher Zeit ward sein Ellbogen ergriffen und mit Riesenkraft auf einen Ruck sein Unterarm wie ein dürres Stück Holz zerknickt. Wilhelm schrie vor Schreck und vor Schmerz und als der dicke Herr sich ihm zuwendete, da erkannte er in ihm denselben, der ihm neulich die zwei Ohrfeigen und den Groschen gegeben hatte. Es war der Herr Polizei-Präsident. „Aha, sagtedieser, wir kennen uns schon; jetzt hoffe ich, stiehlst du so bald nicht wieder.“

Das ganze Publikum war aufmerksam auf den schreienden Knaben geworden und auch die Prinzessin wollte ihn bedauern und ihm etwas schenken. Aber der Menageriebesitzer erzählte ihr, daß es derselbe Knabe sei, der ihren Rosaurus für den Löwen verkauft habe; auch fanden sich beim Ausleeren seiner Taschen eine Menge gestohlener Gegenstände. „Nein, dieser verdient kein Mitleid!“ meinten die Leute.

Aber er litt doch große Schmerzen; blaß und zitternd stand er da und alle Blicke waren auf ihn gerichtet; ein Wundarzt, welcher zufällig in der Nähe war, untersuchte den Arm und erklärte, derselbe müsse sogleich eingerichtet werden.

„Das soll in meinem Haus geschehen,“ sagte der Polizei-Präsident; „ich will ihn bei mir verpflegen lassen und auch alle Kosten tragen. Seine Eltern taugen gewiß nicht viel, sonst würde der Junge nicht so durchtrieben sein.“

So wurde denn Wilhelm fortgebracht, während die kleine Prinzeß mit ihrem Rosaurus sich nach Haus begab und sich vornahm, ihm das Leben noch viel angenehmer als früher zu machen. — Sie konnte sich gar nicht denken, wie er in des bösen Knaben Hände gekommen sei und als Mlle. Gogo endlich nähere Erkundigungen einzog, und man nach der Beschreibung Wilhelms und nach dem Arbeitsbeutel,den er noch besaß, die lange Jenny als die Ursache von Rosaurus Verschwinden erkannte, da wurde der Letzteren erklärt, daß sie nie wieder bei der kleinen Prinzessin eingeladen werden solle, was allerdings eine große Strafe und auch eine große Schande war. Der Vater schickte sie hierauf in ein Institut und man hoffte, sie werde von da artiger zurückkehren.

Es war recht gut, daß Wilhelm in gute Pflege kam, denn zu Hause fehlte es ja an Allem. Sein Vater hatte beim Holzlesen einen jungen Baum abgehauen und war dabei ertappt worden, da mußte er zur Strafe für die Waldbuße arbeiten und da die Mutter nichts verdienen konnte, so war kein Geld zu Hause.

Im Hause des Präsidenten fehlte es indeß an Nichts. Wilhelm lag im reinlichen Bett in einer hübschen Kammer. Eine freundliche Magd bediente ihn und pflegte ihn. In den ersten Tagen bekam er blos Wassersuppen und kühlende Getränke zu genießen, später sorgte man für kräftigere Nahrung; ein freundlicher Arzt besuchte ihn täglich und der Präsident brachte ihm Bilder und Bücher und setzte sich stundenlang an sein Bett, um ihm Geschichten zu erzählen, er wußte deren sehr schöne: von klugen Kindern, die anstatt ihre Geistesgaben auf das Lernen oder etwas Nützliches zu richten, sie benutzten, um andere Menschen zu überlisten und zu betrügen; er erzählte auch von Verbrechen, die langegeheim gehalten wurden, endlich aber doch ans Tageslicht kamen und den Uebelthäter zur Strafe brachten.

In einem kleinen Städtchen lebte einst eine glückliche Familie; die Eltern waren brav und die Kinder gut erzogen. Nur ein Sohn, Namens Ludwig, gab durch seinen heftigen Charakter oft Ursache zur Unzufriedenheit; dabei hatte er ein rachsüchtiges Gemüth und in den Stunden seines Zorns hatte er manchem Freund schon weh gethan und oft die Geschwister schwer gekränkt. Trotz aller Vorstellungen hatte er diesen Fehler nicht abgelegt; er war nun 16 Jahr, confirmirt, und noch immer brach von Zeit zu Zeit, bei unbedeutender Gelegenheit, seine blinde Wuth aus und äußerte sich in irgend einer Unthat, deren Folgen indeß nie so bedeutend waren, daß sie eine andere Strafe als die Rügen des Vaters veranlaßt hätte.

Eines Tages war Ludwig mit dem Sohn eines Gutsbesitzers beim Tanzen in Streit gerathen; in Wuth entbrannt, wollte er mit der Faust auf seinen Gegner losgehen, dieser aber, stärker wie er, ergriff ihn beim Kragen und warf ihn zur Thür hinaus.

Rache brütend ging Ludwig nach Hause; er mußte vor einem Bauerngut vorbei, welches dem Vater seines Gegnersgehörte und einst dessen Erbtheil werden sollte. Er konnte seinem Beleidiger wohl keinen größern Schabernack anthun, als wenn er dasselbe niederbrannte. Noch immer war er in der Aufregung des Zorns und rasch griff er nach dem Feuerzeug und warf einige glimmende Schwammstückchen ins Fenster. Da diese aber nicht gleich zündeten, nahm er ein Wachslichtchen, welches auf der Schwester Weihnachtsbaum gestanden hatte, und warf es brennend in das Stroh. — Dann ging er weiter. Er hatte kaum die böse That gethan, als sein Zorn sich legte und er sie zu bereuen anfing; er hoffte, es werde nicht Feuer fangen. Als er aber eine Stunde zu Bette war, vernahm er den Feuerlärm. Er eilte nach der Brandstätte, er half mit löschen und retten; er war unermüdlich und scheuete keine Gefahr. Er holte sogar ein Kind aus den Flammen, wobei er selbst sehr beschädigt ward; aber nichts konnte das ungestüme Pochen seines Herzens beschwichtigen. Das Gut war niedergebrannt; die Besitzer dankten denen, die beim Retten behülflich gewesen waren und Ludwig vor allen Andern; der Dank that diesem aber sehr weh. Er hätte gern sein Hab’ und Gut hingegeben, um ihn zu entschädigen. — Man quälte sich mit Vermuthungen, wer das Feuer angelegt habe; weder der Gutsbesitzer noch dessen Sohn hatten Jemand beleidigt; sie kannten keinen Feind; man hatte nichts gefunden von dem Mordbrenner, als ein Wachsstöckchen, welches verlöscht war und seinen Zweck nicht erfüllt hatte.Es giebt so viele Wachsstöckchen in der Welt. Dieses konnte unmöglich auf den Schuldigen führen.

Ludwig ward täglich ernster und mehr in sich gekehrt. Seine Wangen erbleichten, er schlief nicht des Nachts; sein Gewissen quälte ihn; auch fürchtete er, man möge doch einmal entdecken, daß er ein Mordbrenner sei und ihn dafür bestrafen. Eines Tages wurde er wirklich abgeholt und verhört. — Einer der Untersuchungsrichter war mit Ludwigs Vater zusammen in der Residenz gewesen und sie hatten zusammen die bunten Wachslichter für den Weihnachtsbaum gekauft; so wußte er, wo solche Lichter waren; kaum war diese Spur gefunden, so gedachte man des Streites, welchen Ludwig am Vorabend des Brandes gehabt. Dann bemerkte man sein unruhiges Wesen, seine bleichen Wangen. Er ward verhört, gestand und wurde auf viele Jahre ins Zuchthaus verurtheilt. So kommt selbst das Geheimnißvollste an den Tag.

Christian, der Sohn eines Tagelöhners, ging einst an einem Garten vorüber, wo Aprikosen an einem Baume hingen. Die Früchte waren ganz reif und hatten die schönsten rothen Backen. „Das will ich mir merken,“ dachte der naschlustige Knabe, „heute Nacht, wenn es dunkel ist, da komme ich und hole sie mir.“ — Als er fort war, kam Peter, der Sohn des Hirten; sein Vater hatte ihn betteln geschickt und er kam heim mit einem Sack voll Brodrinden. Aber er war sehr müde, und da er noch weit von Hausewar, legte er sich vor die Gartenthür, welche eine Art von Obdach bot, und schlief ein. — Er wachte auf durch ein Geräusch und sah Jemand in den Garten steigen. Christian hatte sich zwar vorsichtig umgeschaut, aber den in dem Schatten der Thür ruhenden Hirtenknaben nicht entdeckt. Der kleine Peter erkannte dagegen beim Mondenschein den Einsteigenden, wollte ihn aber nicht stören, weil er fürchtete, derselbe könne ihn schlagen. Er legte sich also auf die andere Seite und schlief weiter. Am andern Morgen ward er unsanft von dem Gärtner geweckt, welcher ihn für den Dieb hielt und ihn durchaus vor die Polizei schleppen wollte; aber Peter betheuerte seine Unschuld, er zeigte den Inhalt seines Bettelsacks vor und nannte, da alles nichts half, den wirklichen Dieb. Wirklich fand der Gärtner, welcher gleich in Christians Wohnung ging, die gestohlenen Früchte, während Christian noch fest schlief; er hatte ja einen Theil der Nacht durchwacht und war fest überzeugt, daß Niemand ihn gesehen habe. — Gott sieht es aber immer und weiß es auch immer also zu lenken, daß die menschliche Gerechtigkeit es erfahre und daß schon auf Erden die Strafe den Verbrecher erreicht.

Im Anfang hörte Wilhelm nur mürrisch zu; er hatte ja Schmerzen und diese Schmerzen hatte der Mann, welcherda vor ihm saß, verursacht. Nach und nach aber erweichten die liebevollen Worte sein Gemüth; es war ihm oft zu Muthe, als werde es plötzlich vor seiner Seele Tag; als falle ein Schleier vor seinen Augen herab und er erkannte eine Wahrheit; diese Wahrheit hieß aber: Ehrlich währt am längsten.

Eines Tages, als Wilhelm eine schmerzlose Nacht gehabt hatte und zum ersten Mal das Bett verlassen konnte, freilich mit festgeschientem Arm, frug der Präsident ihn mit seiner freundlichen sanften Stimme: „sage mir doch recht aufrichtig, was du denn eigentlich mit deiner Hand in meiner Tasche wolltest?“

Wilhelm. Ich wollte Ihren Geldbeutel herausholen.

Präsident. Wußtest du denn nicht, daß das gestohlen sei?

Wilhelm. O ja! das wußte ich sehr wohl.

Präsident. Wußtest du denn nicht, daß das Stehlen unrecht sei?

Wilhelm. Das wußte ich nicht so ganz genau; ich wußte nur, daß man gestraft wird, wenn man sich dabei ertappen ließ und ich habe mich niemals ertappen lassen (hier lächelte Wilhelm triumphirend).

Präsident. Machte dir denn das Stehlen Freude?

Wilhelm. Ja! sehr große, besonders wenn ich es recht geschickt anfing und wenn es mir mit großer Mühegelang. Auch war ich froh, wenn ich etwas nach Hause brachte; und zu Hause konnte man alles brauchen.

Präsident. Wußten denn deine Eltern, daß das, was du nach Hause brachtest, gestohlenes Gut sei?

Wilhelm schwieg verlegen; er scheute sich, seine Eltern zu verrathen; „die Eltern, sagte er, schickten mich mit der Schwester aus, um zu betteln — es ging aber gar zu langsam, wir brachten nur wenig zusammen, kaum genug, ein Brod zu kaufen und ich wollte doch auch manchmal ein Stückchen Kuchen essen. Man sieht so schöne Sachen bei den Conditoren am Fenster stehen, das giebt Lust zu naschen und ich fand es ungerecht, daß die Reichen allein solche gute Sachen genießen sollten.“

Präsident. Als Gott Reiche und Arme schuf, muß er wohl sehr weise Absichten gehabt haben. Der Arme kann übrigens reich, der Reiche arm werden, der Arme wird aber nur reich durch Arbeit, nicht durch Diebstahl; denn auf der Sünde ruht kein Segen. Ich will dir Mittel an die Hand geben, die dich reich machen können, wenn du brav und arbeitsam werden willst.

Wilhelm. Ja, das will ich!

Präsident. Nun, so gieb mir die Hand darauf, daß du nie wieder fremdes Eigenthum an dich nehmen wirst.

Wilhelm versprach es.

Präsident. Auch versprich mir nie zu lügen.


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