»Immer nur hereinspaziert, meine Herrschaften, in die gute Stube.« T. A. Hansen ließ die Schellen klingen, seine Stimme war von Stunde zu Stunde lustiger geworden. »Wer zahlt, wird gemalt, wer nicht zahlt, wird angemalt.«
Lachende Menschen wogten vorüber und riefen zu ihm in der Schalksnarrentracht Scherzworte hinauf. Jeder kannte ihn und seine Zeichnungen, die allwöchentlich beim Erscheinen Lach- und Aergernisausbrüche nach sich zogen. Lohgeruch war in der Luft und ließ das Licht, das sich in tausendfältigen Strahlen brach, trübrötlich erscheinen.
Beim Riesenportal fuhren noch immer Wagen vor: Gäste, die erst in Gesellschaft gewesen und nun kamen, trotzdem es draußen bereits zu dämmern begann.
Jan Wolny, der sich unfreiwillig komisch mit seinen ernsten Bewegungen im Phantasiekostüm eines »Milchstraßenkehrers« ausnahm, ließ sich müde auf einen Sessel vor Hansens Bude fallen: »Jetzt hätt' ich den Unsinn bald genug.«
Hansen sah prüfend über die kauflustige Menge, die sich noch immer zwischen dem Musikpavillon undden Verkaufsständen drängte und schob. Er schüttelte den Kopf. »Bevor die nicht alles gesehen und betastet haben, ist an ein Ende nicht zu denken.« Er zuckte die Achseln. »Ein Händedruck von einer Dame der Gesellschaft um teueres Geld kommt den Leuten als überirdisch vor, das müssen Sie bedenken Herr Baron.«
Jan Wolny seufzte. »Mir ist das alles ekelhaft.«
Hansen sah den Sprechenden scharf an:
»Wirklich? Dann müssen Sie mir die Hand geben ...« Hansen fuhr herum; seine Schulter war berührt worden. Es war Hilde Tiedemann.
»Wie geht es?« Aufrichtige Freude über die paar Minuten, die sie nun beisammen sein konnten, sprach aus ihrem schönen Gesicht. »Was macht Ihre Arbeit?«
Hansen drückte die kleine Hand, welche in sein Leben eingegriffen hatte: »Es geht vorwärts!«
Ihre leuchtenden Blicke trafen sich ...
Jan Wolny hatte sich diskret entfernt und war die Avenue hinuntergebummelt, an seiner Mutter vorüber, die hier mit Fred Tiedemann die Honneurs machte. Seitwärts stand das Mondschifflein, auf dem Frau Luna am Festzug teilgenommen hatte. Fred Tiedemann war der Anführer der reisigen Schar gewesen, die sie beschützte. Mit forschendem Blicke hinter den gesenkten Wimpern beobachtete Jan seine Mutter und den anderen, der so selbstverständlich tat. Er preßte die Zähne aufeinander und ging weiter. Wenige Schritte später traf er Fürst Solt. Der war im Frack,mit einem Riesenorden, welcher die ganze Brust bedeckte, als Monddiplomat. Sie grüßten sich und sprachen ein paar verbindliche Worte.
Klaus Tiedemann sah Clo zu, wie sie die wenigen noch durstigen Herren bediente; in den Zwischenräumen, wenn der Champagnerpavillon leer war, plauderten sie. Jetzt, als sie Jan Wolny anrief, schloß er die vom Staube entzündeten Augen, die ihn schmerzten, und lehnte sich bequem in den Rohrsessel zurück: All die entblößten Frauenschultern, die runden Arme und zierlichen Füßchen in durchbrochenen Strümpfen und verschwiegenem Spitzengeräusch waren eingetreten für die Armut des Nächsten. Gab es größere Aufopferung? Brunn-Bennigsens Mann saß zu Hause bei den drei Kindern; den Tag über plagte er sich im Bureau. Er war klein und häßlich; sie gingen nie gemeinsam in Gesellschaft. Klaus Tiedemann hatte ähnliches ertragen. In ohnmächtigem Aerger hatten oft seine Zähne aufeinandergeknirscht, wenn sein jähes Temperament Liebe verlangte. Nicht umsonst trugen die Kinder sein heißes Blut in ihren Adern. Es waren lange Kämpfe gewesen, bis er mit sich ins reine kam und durchArbeitzur Ruhe zu kommen suchte. Davon war der Haß geblieben gegen das Weib. Die Jahre ebbten alles, und die Männlichkeit schwand. Er seufzte und hatte Sehnsucht nach Ruhe.
Leo hatte vielleicht das beste Los unfreiwillig gezogen, der hatte jetzt schon bald ausgeschlafen.
Klaus Tiedemann dachte an ihn. Er lachte inGedanken: wie warm die kleine Behrens sich um ihn erkundigt hatte, unddieEnttäuschung, als sie hörte, daß er überhaupt nicht kam! In dem alten Manne war ein eigentümliches Gefühl gewesen, als er so sein jüngstes Kind auch schon vollwertig eingetreten fand in die Arena der menschlichen Instinkte. Es freute als Vater und kränkte als Mann.
Als Hilde Tiedemann von Hansens Bude zu ihrer Schwester herübereilen wollte, stand plötzlich Olthoff vor ihr.
Er schien auf sie gewartet zu haben.
Sie gingen zusammen der Fontäne zu, die in tausend Farben schillerte, — es war mit der Zeit leer um sie geworden.
In Hildes Seele war noch der Widerschein des anderen.
Ihre Stimme klang freier als sonst, und ihre Augen sahen lebhafter.
Das dünkte Olthoff ein gutes Zeichen.
Leise zog er ihren Arm fester an sich.
Sie widerstrebte; er sah sie an:
»Jetzt sagen sie, Fräulein Hilde, ist das Leben nicht schön?«
»O ja,« lächelte sie.
»Vor wenigen Wochen haben wir uns noch gar nicht gekannt — und nun ...«, er beugte sich herab und sah ihr tief in die Augen.
Sie suchte den Arm zu lösen:
»Mir ist schwül, ich möchte hinaus ins Freie,«stammelte sie und blickte sich suchend um. Doch sie sah nur Lecart, der mit einer Bretteldiva plänkelte. Er fragte eben, wie teuer ein Kuß sei zu so vorgerückter Stunde, und aus Barmherzigkeit für die Armen, so konnte er Hildes Blicke nicht sehen!
Die laue Nachtluft strich herein und kühlte ihre heißen Schläfen.
Olthoff preßte die Lippen zusammen.
Sein ganzes Leben war ein Kampf gewesen, um sich über Wasser zu halten. Er hatte stets nur verschämte Armut und diesen verwischenden Hochmut sein eigen genannt.
Nun winkte ihm Rettung, er fand die Gedanken seiner Erziehung: In diesem Bürgerhause war alles, was er ersehnte — Geld.
Alles andere würde sich schon finden.
An Liebe glaubte er nicht; er hatte sie selbst von klein auf vergebens gesucht. Hilde wich seinen Blicken aus. Leise sagte er:
»Hilde!« Sie gab keine Antwort. Die ganze Verzweiflung seiner Lage und der Aerger über die lächerliche Komödie, die er hier zu spielen gezwungen war, überkamen ihn. »Sagen Sie, Fräulein Hilde, merken Sie nicht meine ehrliche Sympathie?«
Sie schüttelte den Kopf und fand keine Antwort, nur ihr Arm schmerzte, den Olthoff nicht freigab.
»Nun?« Mit funkelnden Augen sah er sie an. Den ganzen Abend hatte er auf diesen Augenblick gewartet, er mußte bald zum Ende kommen, sonst hieß es denbunten Rock ausziehen, der ekligen Gläubiger wegen. Er war nicht der Mann, der mit sich spaßen ließ; die anderen Tiedemanns wußte er hinter sich. Sein Name wog viel auf. Dies schwache Geschöpf sollte seine Pläne nicht mutwillig kreuzen.
»Antworten Sie mir doch!« seine Stimme, wider Willen, klang roh, sein verlebtes Gesicht bekam einen brutalen Ausdruck. »Können Sie mich denn nicht ein wenig gern haben?« Der Inhalt der Worte stach hart ab von dem drohenden Ton, in dem er zu ihr sprach.
Hilde warf den Kopf zurück; sie war bleich bis in die Lippen geworden: »Nun haben Sie ihre Art gezeigt«, sagte sie stolz.
»Verzeihung, ich bin überreizt, und Sie taten mir bitter unrecht.« Seine Stimme klang hastig, als wollte er kein Mittel unversucht lassen.
Sie gab nimmer Antwort.
»Fräulein Hilde!« Wut und Verzweiflung klangen zusammen. Sie wandte sich ab, Jan Wolny zu: »Bitte, führen Sie mich zu meiner Schwester, Herr Baron!« Jan Wolny verneigte sich und bot ihr wortlos den Arm.
Olthoff blieb stehen.
Nun war die Schlacht verloren.
Er knirschte mit den Zähnen.
Er hatte zu rasch geschlagen; doch seine Reserven waren erschöpft gewesen, und Wein und Stimmung hatten den Rest verdorben.
Er sah zu Behrens hinüber, die sich zum Aufbruch rüsteten. Vielleicht dort?! ...
Fahles Morgenlicht fiel durch offene Türen.
Sie waren eben vom Feste nach Hause gekommen.
Als Klaus Tiedemann, vor Leos Tür, keine Antwort bekam, überfiel ihn plötzlich harte Angst — er wußte nicht warum. Er riß die Tür auf und blieb starr stehen:
Leos Bett war unberührt, das Zimmer leer. Leo hatte sein Vertrauen mißbraucht, war heimlich weg, trotzdem er wußte, wie schlecht es ihm bekommen konnte. Vielleicht war ihm etwas zugestoßen? Die Füße versagten dem alten Manne den Dienst. Er ließ sich auf den Sessel neben der Tür fallen.
So saß er eine Weile und wartete, daß seine Gedanken ruhigere Formen annahmen.
Er hörte Hildes Stimme nicht, die aus dem Gang zweimal seinen Namen rief, er sah ihr Erschrecken beim Eintritt und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Wo war sein Kind?
Mit zitternder Hand drängte ihn Hilde zur Tür: »Er wird schon ausgegangen sein, Papa.«
Hoffnungslos sah er sie an und schüttelte den Kopf: »Er hat ja gar nicht geschlafen.«
Sie gab keine Antwort, und dunkle Vorahnung ließ sie schaudern.
Fred saß im Speisezimmer und aß kaltes Fleisch. »Wo steckt ihr denn so lange?« rief er ihnen zu. »Eßt mit, und dann legen wir uns schlafen.«
»Leo ist nicht zu Hause!«
»So?« Er kaute den Bissen zu Ende. »Er wird nachts ausgewesen sein; er wird gleich kommen.«
Mit scheuem Blick, der sich noch nicht zu hoffen getraute, sah ihn sein Vater an:
»Meinst du?«
»Natürlich, was soll denn sonst sein?«
»Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist?«
»Laß dich nicht auslachen!«
Fred wollte dem Mädchen läuten; doch der alte Mann legte abwehrend die Hand auf den elektrischen Taster:
»Nicht,« bat er, »ich kann jetzt niemanden sehen.«
Hilde zündete die Flamme unter dem Teekessel an.
Sie warteten.
Die Sonne stieg höher. In den Parkanlagen vor dem Hause stimmten Amseln ihre Stimmen.
Leute im Sonntagsstaat gingen vorüber.
Glockengeläute schwamm über die vielen Dächer; sie läuteten die Wandlung ein.
»Ich werde zur Polizei fahren, meint ihr nicht?« Klaus Tiedemann war halb aufgestanden und sah forschend auf Fred.
»Aber laß dich nicht auslachen, Papa, daß es die Leute gleich an die große Glocke hängen: Dem Klaus Tiedemann sein Jüngster ist heute nacht nicht nach Hause gekommen. Warte nur ruhig; er wird schon kommen, und dann schimpf' ihn zusammen!« Er gähnte. »Ich leg' mich jetzt schlafen.«
Die beiden anderen blieben.
In dem festlichen Aufzug, die verwelkten Blumen vor der Brust, fröstelte sie.
Jeder Laut, der von der Straße heraufklang, tat ihnen weh.
So verging die Zeit.
Es läutete.
Sie fuhren zusammen und horchten.
In scheuer Erwartung sahen sie sich nicht an.
Es war Gerhard Tiedemann, der kam, von seinem Vater den Abschied zu verlangen.
Die beiden Männer standen sich gegenüber, wortlos und stumm.
Dann brach der Jüngere das Schweigen:
»Du weißt, Vater, warum ich hier bin?« Klaus Tiedemann nickte. »Es geht nicht länger zusammen mit Fred. Du hast ihm die Macht gegeben. Was soll ich? Du hast andere Kinder, die du liebst. Ich bin dir nur Pflicht. Du schämst dich meiner. Darum laß mich gehen; man kann brieflich leichter Vater und Sohn sein als im Leben nebeneinander.«
Klaus Tiedemann hörte mit halben Ohren.
Gestern hätte er noch die Antwort gewußt, jetzt schwieg er.
»... Fred ist kein Kaufmann und schämt sich seines Berufes. Er tut mehr für seine teuren Verwandten als für die Firma; er stärkt das ökonomisch, was er bekämpfen sollte ...«
Gerhard schwieg und sah auf seinen Vater, der totenblaß geworden war:
Drunten fuhr ein Wagen vor. Er stürzte zum Fenster. »Sie bringen ihn«, keuchte er. Er wankte zur Tür.
Gerhard warf den Kopf zurück; er sah durchs Fenster:
Von einer Schar Neugieriger umgeben, stand unten ein Rettungswagen.
Sie hatten Leo auf sein Zimmer gebracht. Er war bei Bewußtsein.
Klaus Tiedemann reichte dem Ambulanzarzt, der von der Hilfsstation mitgekommen war, die Hand.
»Ich danke Ihnen!« Scheu senkte er den Blick, unsicher mit sich selbst, ob er nicht unrecht gehandelt, daß er ihm nichts anderes als seinen Dank geboten. Er war ja gewöhnt, jeden Schritt, der für ihn geschah, zu bezahlen!
»Die Sache wird vorübergehen. Wie viele haben nicht schon in der Jugend einen Blutsturz gehabt und sind heute die stärksten Leute?« Der Arzt, der erst vor wenigen Monaten absolviert hatte und als armer Bauernsohn froh war, sich beim Rettungskorps seine Praxis holen zu dürfen, nickte ihm freundlich zu. »Dem Hausarzt, bitte, sagen Sie meine Beobachtungen.« Er verbeugte sich linkisch, der reichen Umgebung ungewohnt, und ging. Er hatte es nicht über sich gebracht, dem alten Manne zu sagen, bei wem und in was für einem Hause er seinen Sohn aufgefunden hatte.
Fred Tiedemann kam mit verschlafenen Augen aus seinem Zimmer und fragte ungehalten: »Was gibt's?«
Sein Vater gab keine Antwort.
Er sah an ihm vorbei zur Stiege, über welche der Hausarzt kam.
Der untersuchte lange und gründlich, dann schüttelte er dem Vater, der in tausend Aengsten vor der Tür gewartet hatte, die Hand: »Kopf hoch, Herr Tiedemann, es wird wieder werden! Der Junge hätte nicht lumpen sollen, ich habe es Ihnen ja gesagt. Er schläft jetzt, lassen Sie ihn ruhig. Ich sehe gegen Abend wieder her.« Er wendete sich zu Hilde: »Na, Fräulein, jetzt spielen Sie ein wenig Krankenschwester, wird Ihnen verflucht gut stehen.« Der alte Junggeselle lachte. »Nur nicht so verzagte Augen — ein Lump ist er halt, der Herr Bruder. Adieu!« Bei der Tür wendete er sich nochmals um: »Niemanden ins Zimmer lassen! Ja? Er muß ganz ruhig liegen bleiben, eine zweite Blutung verträgt er nicht.«
Hilde umfing ihren Vater.
»Ich nehme mich schon zusammen,« Tiedemann schluckte die Tränen hinunter und sah zu Leos Zimmer, »sieh nur, daß alles in Ordnung ist!«
»Ja, Papa ...«
Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf. »Daß der Bub mir hat das antun müssen!« Er stützte den Kopf in die Hand und grübelte. Er kam aus den Sorgen nicht heraus:
Die Frau gestorben! Von dem, was vorausgegangen, wollte er nicht sprechen! Nun Leo, alles in einem kurzen Jahre!
Gerhard kam ihm wieder in den Sinn. Man hatte ihn nicht richtig behandelt. Es war zu viel für seinen alten Kopf. Er konnte die Unterschiedeseiner Kinder nicht versöhnen, die er selbst geschaffen hatte ...
Er seufzte. Von unten klang das Rasseln eines Automobils herauf. Hastig schloß er die Fenster; wie leicht konnte Leo aufwachen!
Fred trat über die Schwelle in tadellosem Salonanzug. Er zog die Handschuhe über:
»Gott sei Dank, Papa; Hilde erzählte mir, der Arzt sagte, es hätte keine unmittelbare Gefahr; nur äußerste Ruhe sei notwendig?« Er sah seinen Vater fragend an: »Ich habe doch recht verstanden?«
Klaus Tiedemann nickte mit schiefem Kopfe:
»Ja, wir wollen es hoffen.«
»Adieu, Papa, ich muß weg, weil ich Roller versprochen habe, ihn abzuholen; dafür malt er mir den ‚Franklin’, wenn er heute gewinnt.«
»Du fährst zum Rennen,« Klaus Tiedemann sah seinem Sohne ernst in die Augen, »wo Leo so krank ist?«
»Du bist komisch, Papa; soll ich mich auch vor ihn hin setzen und ihn anschauen? Reden dürfen wir mit ihm so nichts. Was soll ich also daheim?«
»Du hast recht.« Beinahe eilig reichte Klaus Tiedemann ihm die Hand. »Geh und unterhalte dich gut!«
Er schien froh, als sich die Tür hinter Fred schloß.
Er hatte immer geglaubt, mit den Seinen ein festes Ganzes zu bilden; nun, das erstemal, da er die Probe machte, stand er allein.
Bitterkeit überkam ihn.
Es gab nichts, was Menschen auf ewig verband. Es war alles Trug! Die Ehe, die Liebe, die Freundschaft. Sie hielten nur zusammen, solange alles glatt ging; beim leisesten Windhauch floh das eine und ließ das andere allein. Wenn ihm sein Kind starb? Wer trug die Schuld? Die Eltern, die es ins Leben gesetzt? Er, der er zu schwach gewesen mit ihm? Oder niemand, und war alles nur blinder Zufall?
Er war schon über die Fünfzig, als Leo geboren wurde. Vielleicht hatte er ihm zu wenig Kraft gegeben? Ein hartes Leben lag hinter ihm; doch Klaus Tiedemann hatte stets seine Kinder zu stärken gesucht. Er hatte Individualitäten in ihnen gefunden, gleich, ob sie vorhanden gewesen waren oder nicht. Sie ließen sich nicht künstlich züchten. Dem Weibe hatte er die Eigenart geleugnet und gerade das schien sie zu haben: Hilde blieb bei ihm als Gefährte der ängstlichen Stunden ...
Sie saß ihm zur Seite und horchte mit ihm auf das kurze, schnelle Atmen Leos, das durch die angelehnte Tür drang.
Und wenn der Kranke sich drin bewegte, dann legte sie ihm die kühle Hand auf und streifte mit ihren heißen Lippen seine faltige Stirn, ehe sie nachsehen ging.
Der Sonntagnachmittag strich vorüber, still und lang; noch immer war Leo nicht aufgewacht.
In leisem Gespräche saßen Vater und Tochter:
»Dann muß er gleich nach dem Süden, auf längere Zeit, Papa! Mit dir; das wird dir auch gut tun.«
»Ich kann von hier nicht weg! Du mußt mit ihm gehen, Hilde.«
»Aber Papa, was hast du denn hier zu tun?«
Klaus Tiedemann lächelte traurig:
»Nichts.« Er näherte seinen Mund ihrem Ohr. »Ich kann Fred nicht allein lassen.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Mir ist angst, Hilde.« Er legte seinen Kopf am ihre Schulter. »Ich glaube immer, nun fängt das Unglück an. Das Leben ist auf unsere Ruhe eifersüchtig geworden — nun müssen wir es büßen.«
»Was du dir für trübe Gedanken machst!« Hilde hatte für ihren Vater noch nie einen so herzlichen Ton gefunden. »Im Gegenteil, das ist jetzt nur eine vorübergehende Trübung, damit wir uns nachher desto mehr freuen können.«
»Worauf denn?«
»Na, hörst du, Papa, auf viel! Jetzt wird Fred und später Leo dir eine liebe Tochter ins Haus bringen, dann wirst du Großpapa und hast ganz kleine, süße, winzige Enkelkinder.« Hilde schmiegte sich an ihren Vater; von ihrer Rede, die sie begonnen hatte, um ihn zu zerstreuen, floß langsam der Inhalt auf sie über und nahm sie gefangen in ungeahnter Seligkeit. Sie legte den Kopf an ihn; er streichelte sie.
»Du bist gut, Hilde!« Klaus Tiedemann empfanddie Weihe dieser Stunde, die ihm ein Kind zu eigen gab.
Sie saßen eng aneinandergelehnt und schwiegen.
Dann, als schämten sie sich ihrer Stimmung, begannen sie vom Feste zu reden, von diesem und jenem, das ihnen aufgefallen war. Als Hansens Name fiel, wurde sie schweigsam. Immer wieder kam Klaus Tiedemann auf Olthoff zurück. Er erhielt nur spärliche Antworten.
Schon dunkelte es, da klang eine schwache Stimme aus dem Nebenzimmer: »Papa?« Etwas Fremdes griff Klaus Tiedemann nach dem Herzen. Sein Kind verlangte nach ihm, mit dem ersten Laute des wiedererlangten Lebens. Er ging auf den Zehenspitzen zur Tür. »Vorsicht, Papa!« Hilde hielt den Finger auf den Mund. Er nickte und trat ein.
Die Dämmerung lag in den Ecken des Zimmers und ließ Leos Gestalt in den weißen Kissen undeutlich erkennen.
»Verzeih! mir, Pa!«
»Kind, bleib ruhig und sprich nicht viel.«
Er küßte den Sohn auf die eiskalte Stirn, auf der Schweißtropfen standen.
»Nicht fortgehen, Pa!«
»Nein, Kind, ich bleib' bei dir.«
Er ließ sich am Fußende des Bettes nieder und nahm Leos schmale Hand. Sie saßen minutenlang schweigend, und aus dem dunklen Fleck, den Leos Gesicht in der beginnenden Dunkelheit gab, leuchtetenin fremder Kraft seine Augen. Dann begann er wieder: »Verzeih' mir; ich weiß, ich hab' dich betrogen.«
Ein Zittern lief durch seine Gestalt.
»Laß doch, Kind!«
»Nein, Pa, ich muß dir das noch sagen: du hast mir immer zu viel nachgegeben, drum bin ich auf solche Gedanken gekommen. Du hast immer auf mich Rücksicht genommen und ich gar nicht auf dich! Du bist zu gut zu mir gewesen, du hättest mit mir nicht über alles reden sollen. Ich habe bis heute nacht«, ein Schauer schüttelte ihn, »an gar nichts geglaubt, vor gar nichts Achtung gehabt, — nun«, seine Stimme nahm hohle Färbung an, »verstehe ich das Leben.« Er suchte sich aufzurichten: »Nur das Leben in uns hat Wert, nicht das Gefühl, gelebt zu haben.«
Erschöpft hielt er inne, Klaus Tiedemann regte sich nicht. In seinem Kopfe hämmerten die Pulse. Sein Kind sprach Worte, die er vergebens gesucht hatte ein Leben lang: Aeußerlichkeiten des Lebens, Reichtum und Stellung waren Ereignisse untergeordneter Wichtigkeit gegen das, was im Menschen lebte und ihn führen konnte zu innerem Glück. DasinnereGlück!
Klaus Tiedemann stand langsam auf:
Leo war aus Ermattung wieder in Schlaf gefallen. Klaus Tiedemann horchte: Unruhig ging Leos Atem; abgerissene Worte kamen auf seine Lippen. Herbe Angst befiel den alten Mann; er tastete sich zur Tür: »Man muß zum Arzt, Leo gefällt mir gar nicht, er fängt zu phantasieren an!«
Schon war Hilde in die Höhe.
Klaus Tiedemann horchte wieder:
Ein kalter Hauch lief ihm über den Rücken.
Hatte er sich getäuscht?
Hatte Leo geröchelt?
Er zwängte seinen Kopf in die Türspalte. Er hörte nichts.
Hatte er zu atmen aufgehört?
Er machte ein paar leise Schritte vorwärts und brach in die Knie:
Leos Gestalt hing vornüber aus dem Bette, vor dem das Blut mit dunklem Flecke stand. Leos Augen waren glasig aufgerissen — er war tot.
Von unten klang die Hupe eines Automobils; Fred Tiedemann kam mißmutig vom Rennen zurück; »Franklin« war geschlagen worden.
Gleich nach Leos Begräbnis hatte Klaus Tiedemann sein Landhaus bezogen.
Es litt ihn nicht länger in der Stadt. Die vielen Menschen taten ihm weh.
Stundenlang saß er allein am Waldrand, von dem der Blick hinüberschweifen konnte über Täler und Höhen nach der Stelle, wo sein Kind ruhte.
Ein starrer Zug stand auf seinem Gesichte, und die Augen sahen einwärts in verzehrendem Feuer.
Nie sprach er das in Worten aus, was in ihm vorging. Nur hier und da nickte er aus solchen Stimmungen heraus Hilde zu. Es war ein stummes Trostsprechen, daß er wieder anders werden wollte; man sollte ihm nur Zeit lassen, sich zurechtzufinden.
Dann gingen sie stumm nebeneinander durch den träumenden Wald nach Hause.
Das Zimmer, das Leo in den Ferien stets bewohnt hatte, betrat er nicht.
Zu lebhaft standen noch die Erinnerungen der letzten Wochen im Vordergrund.
Oft preßte er die Hände an die Ohren, damit endlich daraus der Klang der polternden Schollen weiche, die auf Leos Sarg hämmerten und seine Ruhe störten. Noch immer hörte er Heinz Behrens' ungeschlachte Stimme:
»Du tust mir leid, Tiedemann, du hast Unglück in deiner Familie; er war ein lieber Mensch, und meineKleine kann sich kaum trösten.« Dann hatte er mit seiner groben Hand die Tränen aus den buschigen Wimpern gewischt und war gegangen.
Jan Wolny hatte stumm daneben gestanden mit zusammengepreßten Lippen, den Kopf gesenkt. Nur als Hilde aufschluchzte in bitterem Schmerze, hatte er aufgesehen, und sein Blick war zu Fred Tiedemann hinübergeflogen, fragend und mahnend.
Fürst Solt hatte ein paar Worte gesprochen, eckig und schlicht, wie der Mensch so schwach sei und einen nach dem anderen fallen sehen müßte, bis er selbst daran käme. Er war der letzte seiner Familie und ihm traten die Tränen in die Augen.
Ueber den Zinskasernen stand rot die untergehende Sonne, als sie zurückfuhren in ihr stillgewordenes Heim ...
Immer wieder zogen die Bilder an Klaus Tiedemann vorbei.
Tief gebeugt trug er den Kopf.
Wenn der Mond aufstieg, saß er bis in die Nacht hinein und horchte dem Lispeln der Birken, die mit ihren langsam wandelnden Schatten Zwiesprache hielten.
Sternschnuppen fielen durch die Nacht.
Wohl blieben ihm noch drei Kinder. Gerhard hatte nach Leos Tod nicht mehr vom Weggehen gesprochen; doch die Schuld blieb auch.
Immer wieder grübelte Klaus Tiedemann nach, ob es Bestimmung sei, die Leo so früh abberufen, oder ob, in anderer Umgebung aufgewachsen, er zu halten gewesen wäre.
Hatte Hilde recht gehabt mit ihren Warnungen?
Nichts gab Antwort!
Hilde war ihm nähergetreten seit jenem stillen Nachmittag, an dem sie sich in Angst um Leo fanden.
Sie war die einzige, deren Gegenwart er ertrug.
Sie ging stundenlang stumm neben ihm her und spann ihre eigenen Gedanken, die von denen ihres Vaters nicht allzusehr verschieden waren.
Sie folgte seiner gebeugten Gestalt; er schritt mit den Händen auf dem Rücken querfeldein über die Ackerschollen; sein weißes Haar flog im Abendwinde.
Um sie war die Ruhe des sinkenden Tages.
Schon saßen die Schatten in den Waldecken und färbten sie bläulich. Langsam zog der Rauch von den Bauerngehöften.
Er blieb stehen.
Dann fragte er mit schweren Worten ganz unvermittelt:
»Glaubst du, daß es Hansen ehrlich meint?«
Ehe sie noch Antwort geben konnte, ging er weiter, den Kopf gesenkt, als sei er sich nicht bewußt, gesprochen zu haben.
Als sie die Höhe erreicht hatten, sah er sie fragend an:
»Nun?«
In seinem zermarterten Gesicht war die Sorge, die ihn zerfraß.
»Ja, du kannst ihm vertrauen.«
Er wiegte den Kopf hin und her:
»Er hat so aufrichtig darein gesehen an Leos Grab. ‚Wer weiß, ob das Leben nicht nur Vorbereitung ist auf den Tod, das wahre menschenwürdige Sein, das dann erst beginnt; darum wollen wir ihm die Ruhe gönnen’, so hat er gesagt, Hilde, damals. Ich weiß es Wort für Wort!«
Er hielt inne, um seines Schmerzes Herr zu werden, der bei der Erinnerung vorbrach. Dann begann er wieder in ferner Gedankenqual: »Es ist so schwer, das Rechte im Leben zu treffen, jedes Wort ist so verantwortungsvoll; ich hab' immer das Beste gewollt ...« Ein stockender Seufzer schwellte seine Brust: »Leo ist tot, Clo muß auch nicht glücklich sein: sie hat so geweint am Grabe und mich gebeten, ihr beizustehen, wenn's mal so weit mit ihr ist.« Er nickte ein-, zweimal: »So hat es kommen müssen.«
Ueber das Wolkengrau im Westen lief ein fahler Schein. Ferner Donner grollte über die Felder, auf denen die Grillen sangen.
Hilde legte sich tröstend an den Mann, dem sein Lebensabend so unfroh geworden war.
»Hab' Vertrauen, Vater, es kommen wieder fröhliche Tage.«
Er machte sich los und sah ihr tief in die Augen; dann fragte er: »Liebst du Hansen?«
Sie zuckte zusammen.
Wie mußte es Vater aufnehmen, wenn sie ihn auch verlassen wollte? Doch vielleicht war jetzt die richtige Stunde, seinen Widerstand zu besiegen. Seine Augen ruhten ernst auf ihr, beinahe ängstlich, als hoffte er auf ein Wort, das ihm wieder Glauben leihen sollte fürs Leben. Sie sah nach dem roten Fleck jenseits der Berge, wo die Sonne gestorben war, und richtete sich auf:
»Ja«, sagte sie mit festem Wort.
Eine Weile stand er regungslos. Dann sagte er heiser: »Hilde, so ein Wort bindet auf ewig und ist doch zu leicht gesprochen. Du mußt ihn lieber haben alsdein eigenes Leben, mußt es freudig für ihn geben! Kannst du das?« Angst redete aus seinen Worten.
Sie nickte.
»Du mußt nur an ihn denken! Jede seiner Sorgen ist eine doppelte für dich. Du mußt auf alles verzichten können für ihn.«
»Das kann ich.«
Er sah sie an mit flackernden Blicken. In seinen Augen kämpften fremde Gewalten. Sie gewannen die Oberhand. »Das hat noch jede gesagt,« seine Finger griffen erregt durch die Luft, die heiß wie Brodem über die Felder strich, »noch jede!« Er lachte, daß die Laute schneidend Hilde ins Ohr gellten, »in Schwüren gelobt und nie gehalten. Das Weib ist schwach und elend!« Er richtete sich auf: »Daß du mir nimmer davon sprichst! Du bist ein töricht Kind. Das einzige, was Bestand hat, ist Geld, und das hat Hansen nicht.«
»Vater!« In heißer Entrüstung flammten Hildes Augen.
»Schweig!« Klaus Tiedemann wendete den Schritt: »Das Wetter zieht näher; wir wollen nach Hause gehen.«
Als der Hochsommer kam, war Klaus Tiedemann ein anderer geworden.
Er dachte ruhiger über Leos Tod.
Die zähe Lebenskraft hielt ihn am Leben fest.
Fred Tiedemann kam selten; er konnte die Großstadt nicht missen mit ihren Vergnügungen und Zerstreuungen. Oder wenn: Vor wenigen Tagen hatte er sich verabschiedet; er gedachte zu seiner Erholung eine längere Automobiltour zu unternehmen. Baronin Wolny würde ihn dabei begleiten.
Als Klaus Tiedemann darüber den Kopf schüttelte, lachte er überlegen:
»Papa, du bist ein Philister. Das ist heute allgemein üblich, daß man gemeinsam Reisen macht.«
»Sie hat doch einen erwachsenen Sohn?«
»Eben deswegen, — der braucht sie gewiß nicht mehr. Weißt du,« fuhr Fred fort, »wenn ein Mann den Weibern gefällt, so kann er alles mit ihnen machen, gleich wer die Frau ist; natürlich« — sein Blick umfaßte seines Vaters Konturen — »muß er tadellos gebaut sein und ruhende Kräfte in sich tragen, sonst ist's besser, er läßt es bleiben.«
Der Alte preßte die Lippen zusammen und gab keine Antwort.
Fred wußte wenig Neues zu berichten:
Klagen über Gerhard und Görnemann, die zu ängstlich wären und keinen Geschäftsgeist besäßen.
Es ergaben sich oft lange Pausen in der Unterhaltung.
Fred war zweiter Vizepräsident des Automobilklubs geworden; auch in das Renndirektorium war er gewählt worden.
Das gab mannigfache Arbeit und viele Verpflichtungen, von denen Vater und Schwester keine Ahnung hatten.
Beim Fortgehen kramte er noch eine Neuigkeit aus:
Olthoff hatte sich mit Heinz Behrens' Jüngster verlobt. Klaus Tiedemann sah rasch und ängstlich nach Hildes Gesicht. Doch das blieb ruhig, sie sagte:
»Da ist mir das Mädchen leid.«
»Mir höchstens um die Wechsel leid, die ich für ihn giriert habe! Na, die wird sein Schwiegervater einlösen, und schließlich bin ich durch ihn in den Rennklub gekommen.« Fred wendete sich zu seinem Vater. »Was sagst du zu Behrens? Der alte Lümmel sucht es uns nachzumachen.«
Klaus Tiedemann seufzte.
Dann küßten und umarmten sie sich. Fred bat den Vater, während seiner Abwesenheit ein wenig auf das Geschäft zu achten. Man könnte dem Alten und Gerhard doch nicht ganz trauen.
Nun fuhr Klaus Tiedemann jede Woche einmal zur Stadt.
Wenn er zurückkam, war er in aufgeräumter Stimmung.
Es drängte ihn zu sprechen.
Er erzählte Hilde von seiner Jugendzeit, von den überseeischen Ländern, die er kennengelernt hatte, von den Sitten der Leute. Er suchte die alten Erinnerungen hervor, als wollte er sich die Vergangenheit wieder ins Leben rufen, um damit die Gegenwart zu füllen.
Er sprach davon, wie er zwei Tage nichts zu essen gehabt hatte und an Selbstmord dachte, wie er auf der Kaimauer zu New York über den gurgelnden Wassern gestanden, während das Schiff wieder auslief, das ihn gebracht hatte und das nun andere holte, die auch das Glück suchten. Schwer lag die Rußfahne des Rauchfanges auf der hochgehenden See.
Er wurde Kellner, um sein Leben zu fristen. Durch einen Zufall fand er eine Stelle.
Vom ersten Tage an legte er zurück; lieber darbte er, um die Summe sparen zu können, die er sich vorgenommen hatte.
Wenn die Firma sich mit Hunderttausenden beteiligte, tat er es mit seinem Hungergeld: so waren beider Interessen eng verknüpft.
Man wurde aufmerksam auf ihn; er verlor nie, sein scharfer Blick behielt stets recht; seinem Wort nicht folgen war gleichbedeutend mit Verlust.
Er gewann schnell Einfluß; sein Name wurde bekannt. Einmal folgten sie ihm nicht; die Firma geriet in Zahlungsschwierigkeiten. Es war der große Tabakkrach, der ihn auf eigene Füße stellte.
Nun ging es aufseineGefahr!
Stets kam er den anderen zuvor. Oft war es ein wildes Wagen. Die Wangen röteten sich, wenn er so sprach.
So hatte Hilde ihren Vater nie gesehen.
Von Görnemann erzählte er, und daß er selbst nie Autorität besessen hätte; der letzte Lehrjunge war ihm so viel wie seine besten Kunden. Damals hatte sich in ihm der Glaube befestigt, daß nur die Jugend Fortschritt gäbe; das hob ihn über die anderen.
Mit leisen Worten redete er davon, wie man die Mühen schnell vergesse, wie hinter jedem Tage der vergangenen Zeit unsägliche Qual gewesen.
Hilde sann nach, wie Schwäche und Kraft in ihrem Vater eng beisammen standen.
Auch an Hansen dachte sie, an dem sie Aehnliches bemerkte.
Was mochte der treiben? Ging sein Werk vorwärts?
Nur hier und da schrieb sie ihm ein paar Zeilen.
Antwort erhielt sie nie: es war ihres Vaters wegen, der die Post immer zuerst in die Hand bekam, nicht möglich.
Auf das Gespräch an jenem Gewitterabend waren beide nicht mehr zurückgekommen.
Es war am Morgen eines schwülen Sommertages.
Hilde Tiedemann ordnete den Frühstückstisch, der auf der Terrasse stand, vor welcher der Wald lag, in dichten, grünen Beständen.
Sie horchte dem Kuckucksruf und zählte in lächelndem Widerwillen den Laut.
Achtmal war er erklungen. Wenn der Volksmund recht behielt!
Sie fuhr sich über die Augen und seufzte.
Der Sommer ging in wenigen Wochen zu Ende, und das alte Leben begann vom neuen.
Ihr Vater hatte sich geändert; er war ruhiger und gerechter geworden, wie stets, wenn er allein war, ohne fremden Einfluß.
Hilde war sich bewußt, in der Stadt den Verlust Leos mehr zu empfinden als hier draußen. Sie sah keinen Ausweg, ihre Familie von dem eingeschlagenen Wege abzubringen. Dazu gehörte eine starke Hand, und die hatte von allen nur Gerhard, der nicht zu Worte kam.
Mit ihrem Stiefbruder mußte sich die Sache klären. Des öfteren sprach ihr Vater nun von dessen großen Fähigkeiten. Wie würde das Fred aufnehmen?
So spann sie im Warten ihre Gedanken. Ihre Blicke folgten unabsichtlich den Fliegen, die auf der weißen Wand herumeilten und dann als schwarze Punkte unverrückbar in der Sonne festhielten, daß ihre Flügel seidig glänzten.
Wieder hob der Kuckuck an.
Sie warf den Kopf herum. Die Gartenpforte hatte geklungen.
Noch verdeckten die Büsche den Kommenden.
Nun wurde er frei. Es war ein Mann, hager und gebeugt; mit großen, stolpernden Schritten kam er durch den Garten direkt auf das Haus zu.
Sie erschrak, ohne sich bewußt zu werden, warum.
Er sah auf; es war Görnemann. An der Art, wie er den Hut zog, erkannte sie ihn.
Sie ging ihm über die Stufen entgegen.
Sein faltiges Gesicht war heftig gerötet, und seine Augen sahen unsicher; sie suchten den Boden in Aufregung und Verwirrung.
»Wo ist ihr Herr Vater?«
»Er ist noch im Hause; er muß jeden Augenblick kommen. Aber was ...?«
»Ich muß ihn sofort sprechen.« Er zog ein blaugeblümtes Taschentuch und wischte sich die Stirn. Dann stieg er rasch die Stufen hinan.
»Es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen?« Hilde legte in Angst die Hand auf seinen Arm. »Sagen Sie doch!«
»Nein, nichts Schlechtes.« Er suchte sich frei zu machen. »Aber Ihren Herrn Vater muß ich sprechen!« Er trat eilig ein, im selben Augenblick, als Klaus Tiedemann von der anderen Seite kam:
»Sie hier?« Tiedemann zögerte und blieb betreten stehen.
»Ja,« Sebastian Görnemann schien in großer Verwirrung,»ich bin gleich herausgefahren, Sie müssen es wissen.« Er sah mit halber Wendung nach Hilde, dann sagte er mit plötzlichem Entschluß und hob den Kopf: »Herr Tiedemann, ich muß Sie unter vier Augen sprechen.«
»Kommen Sie,« der Angeredete öffnete die Tür ins Schlafzimmer, dessen Fenster auf die Terrasse gingen, »hier sind wir allein.« Er wendete sich. »Und du, Hilde, richte das Frühstück auch für Herrn Görnemann« — der hob abwehrend die Hand — »wir kommen gleich.«
Er schob dem anderen einen Sessel zurecht:
»Was gibt es?«
Der alte Mann keuchte, und seine Hand zitterte, als sie nach der Tasche fuhr. Er legte ein Telegramm auf den Tisch: »Es ist ein großes Unglück auf Herrn Lecarts Freundschaftszeche geschehen. Mehr als hundert Leute sind verunglückt. Die Arbeiter revoltieren; Frau Clo ist in Gefahr.«
Klaus Tiedemann riß den Zettel an sich und las mit gierigen Augen.
Es blieb still um die beiden Männer; nur von draußen rief der Kuckuck.
Klaus Tiedemann preßte die Lippen zusammen: auf der Stirn lag Falte an Falte.
Die Augen belebten sich. Er stand auf.
»Ich fahre!« Er sah auf die Uhr. »In wenigen Minuten geht mein Zug; Sie schicken mir sofort Gerhard nach; ich muß jemanden um mich haben, auf den ich mich verlassen kann!« Er setzte den Hutauf. »Sie bleiben in der Stadt, Görnemann, das Weitere telegraphiere ich.«
Görnemann sah auf: Es war die Stimme und die Art zu sprechen, wie sie sein Herr geübt — vor langen Jahren.
Klaus Tiedemann tat einen Blick durchs Fenster:
Hilde hatte auf der Terrasse die Zeitung entfaltet und las mit lachenden Augen. Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf. Sie las vom Bilde T. A. Hansens, das so viel Aufsehen erregte, und das ihn in die erste Reihe stellte; er hatte sein Wort gehalten. Es waren nur wenige Zeilen, die ihr neues Leben gaben. »Erdgeist« hatte er sein Werk genannt. — — —
... Als der Zug in der Bergwerksstation hielt, stand Klaus Tiedemann bereits auf dem Trittbrett des Waggons.
Der kleine Perron war voll von Menschen, die schrien und gestikulierten.
Es wollte Abend werden. Schon brannten die rußigen Lampen auf dem Bahnsteig.
Feuerwehrmänner und Knappen von anderen Gewerkschaften umgaben ihn.
Mit starkem Arm trennte er die Menge.
Der leichte Jagdwagen wartete.
Neben dem Kutscher saß der Jäger, das Gewehr auf den Knien.
»Damit die Hunde Respekt haben; die Gendarmenverstärkung kommt erst in der Frühe.«
Klaus Tiedemann drängte zwei halbnackte Bubenauseinander, die ihm pfeifend den Weg verstellten; der eine spuckte nach seinen Stiefeln.
»Vorwärts!«
Die Pferde zogen an.
Klaus Tiedemann war im Wagen aufrecht stehen geblieben und hörte der beiden Männer Bericht.
Heute früh, bald nachdem die Tagschicht eingefahren, war das Unglück geschehen. Es mußten sich giftige Gase entzündet haben. Bis vor kurzem war an ein Einfahren der Rettungsmannschaft noch nicht zu denken gewesen.
Klaus Tiedemann hob den Kopf nach rechts, wo sich in der abendlichen Dämmerung über den Getreidefeldern mächtige Rauchwolken schoben.
»Dort?«
»Nein, das ist die Maximilianszeche, die brennt seit 30 Jahren. Die Zeche 2 liegt da links drüben!«
Sie bogen in die Dorfstraße ein.
In dichten Wolken wehte der Staub.
Die niederen, aus Lehm gebauten Häuser schienen verlassen.
Alt und jung mochte an der Unglücksstelle weilen.
Ein paar Steine flogen den Pferden zwischen die Beine.
Sie stiegen, daß sie der Kutscher kaum halten konnte.
In rasender Eile ging es an dem Parkgitter vorbei.
Der Mond stand bleich mit seiner Scheibe auf dem Himmel.
Der Wagen hielt vor der Freitreppe.
Klaus Tiedemann eilte die Stufen hinan.
Niemand öffnete ihm; er hastete von Zimmer zu Zimmer; die Angst beflügelte seine Schritte.
»Mein Kind.« Er riß Clo an sich und bedeckte ihr bleiches Gesicht mit Küssen. »Mein armes Kind.«
Ein krampfartiges Zucken überlief sie, dann hing sie wie leblos in seinen Armen.
Er bettete sie vor das Fenster, durch das der kühle Abendwind strich.
Sie gab seine Hand nicht frei.
So saßen sie schweigend, nur der Herzschlag hämmerte durch die Stille.
Hier und da klang vom Schacht ein Klingelsignal oder halbverwehtes Rufen herüber.
Mit milden Worten sprach Klaus Tiedemann seinem Kinde Mut zu. Daß sich alles im Leben gäbe — ganz von selbst —, was vordem unerträglich geschienen! Man wisse nicht, wie das Unglück entstanden sei. Niemand trage die Schuld. Es seien ja alles bisher nur Mutmaßungen.
Mit irren Blicken sah sie im Zimmer herum; bei jedem Laut schauerte sie zusammen:
»Er hat seine Arbeiter betrogen, ich hab' drum gewußt.« Sie bedeckte mit den zuckenden Händen das Gesicht und warf sich in krampfhaftem Schluchzen in die Kissen.
Klaus Tiedemann griff eine kalte Faust an den Rücken:
»Weißt du, was du redest?« Er dämpfte dieStimme. »Du kannst deinen Mann ins Zuchthaus bringen mit solchen Worten.«
»Sei's drum.« Leidenschaftlich richtete sie sich in die Höhe. »Er hat es hundertfach verdient; ich hasse ihn und alle seinesgleichen. Oh, wie ich ihn hasse!« Sie glitt zu Boden und schlug schwer mit dem Kopfe auf die Dielen.
Mit zitternden Händen hob er sie auf.
Nun lag sie ruhig; nur von Zeit zu Zeit erschütterte ihr Körper in tränenlosem Schluchzen.
Mit dem Nachtzuge kam Gerhard.
Er sprach wenige Worte und begab sich an die Unfallstelle.
Die paar Beamten, die Lecart hielt, durften sich nicht blicken lassen.
Ihr Leben war in Gefahr.
Lecart war vor wenigen Tagen zu einem seiner Freunde auf die Jagd gereist. Der Streik war ja beendet gewesen!
Die Arbeiter hatten wegen angeblich schlechter Ventilation der Gruben die Einfahrt verweigert.
Hielt dies noch ein paar Tage an, versiegten ihm die letzten Hilfsquellen. Er wendete sich an die Bergbehörde. Er legte Pläne und Karten vor; es war alles in Ordnung, das hätte die Untersuchung gezeigt, sagte man den Leuten.
Was blieb ihnen übrig? Die Ihren verlangten Brot.
Nun war das Unglück geschehen!
Weiber und Kinder umgaben den Schachteingang.
Der Mond goß sein kaltes Licht über die vielköpfige Menge.
Drohendes Murmeln lief durch die Reihen, als verlangten sie ihre Männer von der Erde zurück, der sie so lange ungestraft ihre Kinder entrissen hatten.
Hier und da klang scharf eine Explosion herauf.
Leute, die unten gewesen, erzählten, daß man helle Flammen sähe.
Der Brand dauerte an, und damit sank die letzte Hoffnung.
Die Rettungsmannschaft war endlich eingefahren. Man hatte auf den Zechen Lecarts nur ungenügende Schutzapparate.
So waren Stunden vergangen, bis sie von fremden Zechen kamen.
Und jede Sekunde konnte über das Leben entscheiden.
Neuer Haß war dadurch entstanden, der sich in häßlichen Ausrufen Luft machte.
Nur die Hoffnung, noch Lebende da unten zu finden, dämmte die Erbitterung, welche in den Augen der Leute glimmte.
Ein Funken konnte zünden und die Massen zu blindwütigem Vorgehen veranlassen.
Ein Klingelzeichen aus der Tiefe!
Atemlos lauschen die zerlumpten Gestalten.
Die bleichen Gesichter drängen sich an das rostige Schachtgitter.
Es öffnete sich mit schütterndem Klirren:
»Glück auf!«
Zwei Leichen, verunstaltet und halb verkohlt, werden aus den Karren gehoben.
Tote!
Kein Wort wird laut.
Der Fahrstuhl verschwindet; die Grubenlichter versinken:
»Glück auf!«
Schluchzen erschüttert die Luft, leidenschaftliche Anklagen werden laut und machen sich in gellenden Schreien Luft.
Wieder kommen Tote.
Eine reiche Ernte! Lauter stille Gestalten, oft unkenntlich, mit verzerrten Gliedern.
Warum ist das Schicksal so erbarmungslos?
Warum?
Die Menge findet die Antwort. In Haß leuchten die Augen dem Herrenhause zu, von dem nur wenige Fenster licht scheinen.
Schlafen sie schon, während sie hier ihre Toten beweinen?
Ein Ton grenzenlosen Schmerzes klingt über die Fläche.
Ein Wortführer stellt sich an die Spitze.
Lange Zungen über das Blachfeld vorausschickend, wälzt sich die wütende Menge gegen Lecarts festes Haus.
Weiber und Kinder voran.
Prügel werden geschwungen; hier und da blitzt ein Messer.
Das Mondlicht zeichnet bleiche Schatten.
Klaus Tiedemann hört das Toben der Menge; ein zäher Widerstand bemächtigt sich seiner: er wird ausharren bis zum Ende.
Mit Augen, in denen der Wahnwitz flackert, sieht sein Kind zu ihm auf:
»Was wollen sie, Vater?«
»Ich weiß nicht.«
Er läßt das Haus schließen, das Parkgitter bietet Widerstand.
Es wird zum Aeußersten kommen!
Knurrend schnuppern die zwei riesigen Neufundländer an dem Gitter.
»Vater!«
»Was ist?« Er beugt sich zu ihr nieder und küßt sie auf die Stirn. »Was willst du?«
»Nimm mich weg,« stammeln ihre weißen Lippen, »nimm mich weg; wenn du mich hier läßt, geh' ich zugrunde.«
In tiefer Bewegung preßt er sie an sich:
»Ich bin ja bei dir, Kind, es kann dir nichts geschehen.«
Sie schüttelte den Kopf:
»Nicht jetzt, — die fürcht' ich nicht. Dann, wenn er wieder da ist ...«
»Du meinst deinen Mann?«
Ihre Finger beben. »Nimm mich fort, er ist so roh; seinen Blick ertrag' ich nicht, Vater!« schreit sie auf und wirft sich ihm an die Brust. »Dort hat er gesessen und vor sich hin gestiert, dann hat er's getan.«
Der alte Mann beißt die Zähne zusammen; er kann's nicht glauben. Das Leben kann nicht alles stürzen, was er gebaut hat.
»Du siehst schwarz, Kind, — deine Nerven sind übermüdet. — Lecart hat dich gern wie ich.«
»Meinst du?« Sie bricht in gellendes Lachen aus. »Gern, das habt ihr mir damals gesagt, als ich eurem Willen widerstrebte. Lieber in Armut gestorben, als noch einmal so ein Leben! Gröden war nichts für mich, den habe ich nicht haben dürfen, weil er nichts hatte, kein Vermögen und keinen Namen, — und Lecart hatte beides in euren Augen.«
In bitterer Verzweiflung klingt ihre Stimme: »Nun habt ihr euren Willen, habt eure Familie rein gehalten, so rein, daß der Schlechteste da draußen zu gut für euch ist.« Ihre Worte fallen wie klingender Stahl durch das Halbdunkel der Mondnacht, und ihr Vater beugt das Haupt, als nun die Anklage laut wird, die er nicht zu Worte kommen lassen wollte, aus verfehlter Liebe zu seinen Kindern. »Bei den Armen, da ist es Berechnung eines verfehlten Lebens, wenn er nach dem Gelde greift, ohne Liebe, bei uns ist es ein Verbrechen, wie die Sonne kein ärgeres bescheint, wenn wir dem Herzen nicht seine Stimme lassen, sondern schachern, noch immer nicht froh unseres Besitzes.« Ihre Hand klagt ihren Vater an. »Du, du ganz allein hättest auftreten können, hättest mir mein Recht wahren sollen, das einzige, das schönste, das wir besitzen. Du hast dich gebeugt und hast geschwiegen, als meine Mutter ihren Plänen folgte. Schritt für Schritt mit der Unermüdlichkeiteines kranken Willens. Sie sah die Welt vom Krankenbett und in den engen Grenzen ihrer einseitigen Erziehung. Du aber hast dich selbst durchgerungen, bist in der Welt herumgekommen wie kaum einer, und hast doch nicht den Mut der eigenen Ueberzeugung gehabt! Vater, Vater, du weißt nicht, was ich gelitten!! Vom ersten Tage der Ehe an war es ein Kampf! Ich ließ mich betören von euren Reden, ihr wolltet ja stets keine Verantwortung übernehmen, das war euch das Wichtigste. Ich glaubte eueren Vorstellungen, ihr spieltet ja so breit euere Erfahrung auf, und ich war ein unerfahrenes Kind, das kaum wußte, was Liebe sei. So bin ich euch gefolgt! Ich war meinem Manne stets nur ein Mittel seiner Leidenschaft und seiner Berechnung. Deinem Schwiegersohne öffneten sich viele Türen, die vordem verschlossen gewesen! Oft hab' ich innerlich geschäumt, wenn er gegen dich den Hochgeborenen herausdrehte und du es dir bieten ließest in deiner Schwäche. Vater, weißt du, was es heißt, an einen Menschen gekettet sein, den man haßt?« Ihre Augen sprühen Blitze. »Nächtelang bin ich neben ihm gelegen und habe geflucht: ihm und mir. Vor dem Altar, als er uns auf ewig verband, hat der Priester Gottes Worte gesprochen: ‚Wenn mich zwei Menschen in der Liebe um etwas bitten, es soll ihnen gewährt sein.’« Wieder schüttert ihr schrilles Lachen. »Ja, ich habe gebetet — aber nicht um ein Kind, nein, um unser beider Tod!«
Sie tritt näher. Wie eine Mahnung klingen ihre Worte:
»Du bist auf falschen Wegen mit all den Deinen! Es ist die letzte Stunde, Vater, kehr' um, ehe es zu spät ist. Leo ist tot. Wer wird der Nächste sein?Willst du die ungeheure Schuld tragen, mit starrem Sinn ins Unglück rennen? Hör' nicht auf Fred, hör' auf niemanden, hör' nur auf dich allein!« Sie faßt mit schlagenden Armen ihres Vaters Rechte. »Laß Hilde mir nicht nachfolgen, laß es genug sein an mir!«
Sie hebt den Kopf in atemloser Spannung.
Die Hunde vor dem Hause schlagen an; die rauhen Stimmen zerreißen die Stille der Nacht.
Ihr fällt der Kopf nach rückwärts. Klaus Tiedemann horcht, sein Kind in den Armen.
Wüste Rufe kommen näher.
Er sieht in Clos starre Augen, die tief in ihren Höhlen liegen. Sein Kopf ist dumpf, ein eiserner Druck hält ihn gefangen.
Das ist die Frucht seines Lebens!
Tief beugt er sich herab: ihre Blicke hängen ineinander. Nicht Vater und Kind sind es, die nun rechten, es ist Mann und Weib.
»Höre mich!« Schwer kämpft sich Tiedemanns Stimme aus der Brust. »Ich bin aus niederem Stande und hab' vieles erst im späten Leben kennengelernt, was euch als Kinder schon geläufig war. Ich hab' lange Jahre nur den Gedanken gehabt, Geld zu verdienen und dadurch etwas in der Welt zu werden.«
Er stockt und will schweigen, doch die lauten Rufe lösen ihm die Zunge; sie prallen an die Wände und hallen in langen Wellen. Wer weiß, ob er überhaupt in wenigen Minuten es noch wird sagen können? Das Geheimnis seines Lebens!
Mit heiserer Stimme, den Blick scheu um sich werfend, keucht er: »Ich war auch ein Mensch von Fleisch und Blut und hab' geglaubt an den Inhaltder Welt! Ich hab' mir ein Weib genommen aus niederem Stande, wie ich es selbst war, drüben über dem Wasser. Sie sollte mir beistehen, sollte mir die trüben Gedanken scheuchen, wenn ich müde nach Hause kam. Und sie hat es getan — ein paar Jahre lang. Da hab' ich den Grundstein gelegt. Da hab' ich Riesenkräfte gehabt. Dann haben wir ein Kind bekommen — Gerhard. Nun hab' ich erst recht gewußt, wofür ich arbeite. Wochenlang hab' ich keinen anderen Gedanken gehabt als Geschäft und Geld! Nicht aus Habsucht, nein; für meine Familie! Ich hab' wenig Zeit gehabt: Da hab' ich's nicht merken können — in meinem eigenen Haus!«
Die Stimme überschlägt sich. Unten heulen die Hunde gegen das Gitter.
»Sie hat mich betrogen, ist mit einem anderen davon, hat mich allein gelassen mit meinem Kinde. Damals«, Klaus Tiedemanns Stimme hob sich, »hab' ich den Glauben abgeschworen, hab' ich alles von mir getan. Keine Plage war mir zu viel gewesen; jede Erniedrigung hab' ich ertragen für mein Weib, das war mein Lohn! Mich hat es drüben nicht mehr gelitten, ich bin herüber, hab' mein Kind im Stich gelassen und alles andere. Vom Anfang hab' ich wieder begonnen. War es früher Ehrgeiz, der mich trieb, so war es nun Haß! Ich bin schwindelnd gestiegen; sie sollte von mir hören da draußen irgendwo in der Welt, sollte sich eingestehen müssen, daß sie einen schlechten Tausch getan ... So bin ich einsam geblieben lange Jahre; dann hat mich wieder die alte Sehnsucht gefaßt, ich wollte Frau und Kind haben. Doch nun wollte ich der Herr sein, darum hab' ich mir ein Weib gekauft — deine Mutter! Es war Wahnsinn, aberWahnsinn aus bitterer Seelennot. Ich erwartete nichts mehr, sie gab mir nichts. Ich wollte nur euch, auf euch hab' ich alles übertragen, was die andern von mir nicht nehmen wollten — meine Liebe. Ich war stets unscheinbar, meine Geburt hing an mir mit eisernen Ketten, — so wollte ich mir in euch jemanden ziehen, der an mich glaubte. Ich hab' eure Mutter unterschätzt. Sie entriß mir Stück um Stück. Da hab' ich zum Schluß in alles gewilligt; mein Leben war im unnützen Kampfe vertan.« Mit starren Augen sah er zur Erde. »Einst hab' ich an Liebe geglaubt, da ward' ich betrogen; da ich anders dachte, erst recht!« Er bricht jäh ab; die Tür fliegt auf: Gerhard steht auf der Schwelle. »Sie sind da!«
Ein Hagel von Steinen zerschellt die Fenster. Dumpfes Geheul, das durch die zerbrochenen Scheiben sich doppelt und dreifach verstärkt, übertäubt das Todesgewinsel der niedergeschlagenen Hunde.
Ein Schuß fällt aus dem unteren Stockwerk.
»Der Jäger.« Clo Lecart zerrauft sich das Haar; ihre schrillen Schreie erschüttern Vater und Sohn, ihre bebenden Lippen stammeln irre Laute.
Scheiben klirren, Steine fliegen.
»Hilfe!« Clo krallt sich in ihres Vaters Kleider. »Hilf, Vater! Dein ist die Macht, und dein ist die Herrlichkeit, dein Wille geschehe auf Erden, vergib uns unsere Schulden.« Ihre Augen flackern.
Klaus Tiedemann steht regungslos und horcht dem donnernden Toben der Menge, das näher dringt und näher.
»Da!« Mit zitternden Händen preßt ihm sein Kind die Waffe in die Hand. »Ich hab' sie lange getragen, ich war zu feig dazu; rette mich Vater, rette mich! DasLeben ist so schön, und ich bin noch so jung.« Wimmernd kriecht sie auf dem Boden und schlägt sich die Brust. »Zu uns komme dein Reich. Unser täglich Brot gib uns heute.«
Klaus Tiedemann hebt den Kopf. Die Waffe klirrt zu Boden.
Gerhard reißt sie an sich. Wieder steht er regungslos.
Sein Vater hat die Tür geöffnet und ist auf den Balkon getreten.
Tobendes Brüllen und Geschrei empfangen ihn; Steine prasseln.
Der Garten wimmelt von Menschen.
»Leute!« ...
Sie heben die Köpfe; noch zweimal wiederholt er den Ruf.
Seine Stimme übertönt die Menge und hallt weit über die Fläche.
Sie stoßen sich an; murrend faßt die Hand fester den Stein.
»... Seid ihr Menschen oder seid ihr wilde Tiere? Seid ihr Vater und Mutter, habt ihr Weib und Kind, oder seid ihr tolle Hunde? Habt ihr all eure Vernunft vergessen, daß ihr nicht des Morgens denkt? Wollt ihr ein Leben lang im Kerker sitzen? Seid ihr Mörder oder Arbeiter? ...«
Mit donnerndem Prall fährt seine Stimme über die Menge.
»... Ihr seid betrogen und belogen. Wen sucht ihr? Lecart ist nicht hier! Ein großes Unglück ist geschehen; doch wir sind alle Menschen, und jeder Augenblick kann uns den Tod bringen. Wenn jemand die Schuld trägt an eurem Unglück, es soll gesühnt werden. Lecartwird seiner Strafe nicht entgehen. Das sage ich euch, Klaus Tiedemann, der so arm war wie ihr, der sich aus eigener Kraft herausgerungen hat, ohne deswegen glücklicher zu werden. Jede Witwe und jede Waise, jeder, der Einbuße an seiner Gesundheit litt, soll reichlich entschädigt werden. Dafür habt ihr mein Wort! Wir wollen gemeinsam trauern und die Toten begraben. Was kann der Mensch anderes tun? Was wollt ihr sonst? Wollt ihr das Weib, das weinend drin auf dem Boden liegt und die Gemeinschaft mit ihrem Manne verflucht? Wollt ihr meinen Sohn morden, der mit euch die Toten bergen half, der denkt wie ihr, der mit demselben glühenden Haß gegen mich ausgerüstet ist wie ihr? Mich?« Klaus Tiedemanns Stimme wird leise. »Mich? Wenn ihr wollt, so tut es, mir ist nicht leid um mein Leben; ich hab' Schweres erlitten und meine Kinder nicht glücklich gemacht.« Wieder hebt er den Kopf; er sieht Hunderte von Augen auf sich gerichtet, sie geben ihm alte Kraft. »Abereinesmüßt ihr bedenken! Ich zahle das Geld, das euere Witwen und Waisen erhalten soll, Lecart tut es nicht, kann es nicht! Wollt ihr die Eueren bestehlen? Was bleibt euch? In wenigen Stunden werden die Gendarmen hier sein; schon sind sie unterwegs. Sie werden schrecklich Gericht halten, und ihr werdet noch mehr zu beweinen haben als jetzt. Kehrt ihr in Ruhe zurück, so soll keinem ein Haar gekrümmt werden, ich selbst will Fürbitte einlegen. Der Lohn soll erhöht werden. Ihr könnt euere Bitten vorbringen, von heut ab bin ich euer Herr! Nicht vergessen will ich, daß ihr Menschen seid! Seht nach eueren Toten! Ich kommezu euch. Ich werd' euch helfen, die schwere Last zu tragen.« Klaus Tiedemann beugt das schneeige Haupt hinab; sein Blick überfliegt die Reihen, die in tiefer Stille stehen; polternd fallen ein paar Steine zu Boden. »Und glaubt mir, nicht Geld macht glücklich; ich war es mehr, als ich arm war und als ich lebte wie ihr. Laßt Haß und Neid beiseite, da drüben liegen die Toten! Wer weiß, wie die jetzt reden würden ...«
Er schweigt.
Von unter klingt gedämpftes Flüstern und Scharren vieler Füße.
Die Gruppen lösen sich.
Klaus Tiedemann tritt zurück.
Durch das ungewisse Mondlicht glänzen ihm Gerhards Augen entgegen.