Gleich am nächsten Tage war Clo Lecart zu ihrer Schwester gereist. Nur weg vom Besitze Lecarts!

Es war ein stummes Wiedersehen.

Sie sprachen wenig.

Hilde war erst besorgt gewesen, ihre Schwester die schrecklichen Stunden, die sie mitgemacht hatte, vergessen zu lassen. Doch zu allen Versuchen schüttelte Clo traurig den Kopf:

»Laß gut sein, Hilde, das wird für mich nimmer anders.«

Nach solchen Worten sah sie wieder mit starren Augen in das Grün des Waldes, der sich mit herbstlichen Farben zu schmücken begann.

In Hilde war frohe Zuversicht, seitdem sie von Hansens Werk wußte.

Sie hoffte auf die Zukunft mit allen Nerven des liebenden Weibes.

Auch Vater mußte nun einsehen, daß er sich in ihm getäuscht hatte, daß seine Ansichten irrige gewesen.

Klaus Tiedemann hatte wenig Zeit für seine Kinder.

Es gab viel zu tun durch Lecarts Zusammenbruch.

Als sie sich das erstemal wieder gegenüberstanden, hatte Lecart den alten Ton versucht. Doch Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf:

»Jetzt reden wir anders.«

Lecart wollte nicht einsehen, daß er seine Rolle ausgespielt hatte. Mein Gott, dachte er, die Zeche, die ließ sich wieder in Betrieb setzen, die Geldgeber warteten schon, wenn Klaus Tiedemann hinter ihm stand. Der würde doch nicht den Skandal vor aller Augen wollen, und überhaupt was sagte Clo zu all diesem?

Als er Tiedemanns Antwort erhielt, senkte er den Kopf, um eine Nuance bleicher:

»Das sind Ausgeburten kranker Nerven; ich verstehe dich nicht, wie du, ein klar und nüchtern denkender Mensch, so etwas glauben kannst.«

Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf:

»Sie ist ein armes, durch uns beide ruiniertes Geschöpf.«

Lecart kannte seinen Schwiegervater nur mehr in wenigen Zügen. Er war ein anderer geworden seit jener Schreckensnacht.

Es schien, als sei er sich seines Menschenwertes erst klar geworden, als er allein gegen die Masse stand, und doch obsiegte.

Nun trug er den Kopf aufrecht und brach mit manchem, das er früher geduldet hatte.

Ein neuer Hauch war in sein Haus eingezogen.

Gerhard und er saßen oft bis in die Nacht hinein: sie besprachen die Zukunft des Lecartschen Besitzes.

Auch die Mansbergschen Fabriken standen still.

Bei der zuständigen Bergbehörde war Anzeige gegen Lecart erstattet worden wegen Fahrlässigkeit in den Ventilations- und Sicherheitseinrichtungen. Es hieß, er hätte alle Vorschriften außer acht gelassen, um nur möglichst viel aus seinen Gruben herausschlagen zu können.

Mehr als neunzig Menschen hatten bei dem Raubbau ihr Leben gelassen.

Lecart lachte über die Anklagen. Gegen welchen Herrn waren die Arbeiter nicht? Doch es war ein häßliches, gezwungenes Lachen.

Auch über die Spiritusfabriken wußte er keine rechte Auskunft zu geben.

Es war eben eine verunglückte Spekulation. Die Baisse war allzuschnell gekommen; da war es klüger, man ließ den Betrieb ruhen.

Fred Tiedemann hätte mit ein paar Worten Aufklärung geben können, doch er kam erst in zwei Wochen zurück. Er schrieb begeisterte Ansichtskarten von seiner Tour. Auch zum Dichten hatte er sich aufgeschwungen:

»Man wird ein anderer Mensch in der freien Natur, das sieht man an jedem Bauernbua ...«

Die Karte trug der Wolny Unterschrift.

Fred beteiligte sich noch an einer Tourenkonkurrenz, bevor er heimkehrte:

Der Automobilklub des Nachbarstaates unternahm einen Besuch in die befreundete Hauptstadt.

Mehr als hundert Herren der ersten Gesellschaftskreisegalten als Teilnehmer. Auch ein Prinz des kaiserlichen Hauses hatte gemeldet. Da durfte Fred Tiedemann nicht fehlen.

In einer Nachschrift schrieb er, daß er von Lecarts Mißgeschick in einer Zeitung gelesen hätte und daß er hoffte, daß dies Unglück weiter keine unangenehmen Folgen haben würde.

Mit lauten Worten sprach Hilde ihren Aerger über Freds Art aus, doch Klaus Tiedemann riet zur Mäßigung.

Er begann sich wieder ins Geschäft einzuleben. Keiner hielt strenger die Arbeitsstunden ein als er.

Vieles war zu erledigen und zu besprechen.

Die Gläubiger Lecarts drängten auf Klärung seiner Lage, sie wollten ihre Schritte danach einrichten. Wenn ihn sein Schwiegervater nicht hielt, war er verloren.

Klaus Tiedemann wollte alles möglichst rasch zu Ende bringen, schon um Clos willen, die von Tag zu Tag nervöser wurde.

Die Ehegatten hatten sich seit Lecarts unfreiwilliger Rückkehr nicht gesprochen.

Keiner der beiden Teile verlangte danach. Die Abrechnung kam ...

Klaus Tiedemann sah abermals zur Tür und horchte.

»Lecart ist noch immer nicht da.«

Gerhard saß ihm gegenüber und nickte.

Görnemann hatte eine zweistündige Besprechung mit seinem alten Chef gehabt.

Es war ihm nun leichter ums Herz, er hatte sich alles Drückende von der Seele geredet.

Klaus Tiedemann grübelte und blätterte in den Papieren, die den Tisch in hohem Stoß bedeckten.

Große Summen standen auf dem Spiel:

»Ich verstehe nicht, wieso Fred die Fabriken so stark belehnen konnte; es ist ja mehr, als sie überhaupt wert sind!«

»Das war stets unser Streit, Vater; ich hätte keinen Heller gegeben.«

Klaus Tiedemann seufzte:

»Wenn wir sie übernehmen, ist der Verdienst von ein paar Jahren hin.«

»Und doch werden wir es tun müssen.«

Wieder schwiegen beide.

Gerhard hatte einen Bleistift ergriffen und rechnete auf einem Blatt Papier herum.

Es war ganz still; nur vom Vorraum hörte man das Klingeln des Telephons.

Dann hob Gerhard den Blick:

»Wir sind die Hauptgläubiger; wenn wir alles aufgeben, verlieren wir zuviel! In ein paar Jahren kann man wieder anfangen zu verdienen; wir haben ja manches Etablissement, das passiv ist.«

Nachdenklich sagte sein Vater:

»Nur sehe ich kein Mittel, wie man das Ganze wieder hoch bringen kann.«

»Doch, Vater, du mußt bedenken, daß er alles hat verkommen lassen, daß er von der Fabrikation nichts versteht. Er hat die Fabriken doch nur gekauft, um seinen Gläubigern damit die Augen auszuwischen — alles andere war ihm gleich. Wenn man geschickt arbeitet und die Schnaps- und Branntweinproduktion auf ein bescheidenes Maß einschränkt, so läßt sich viel erreichen. Ich würde das Hauptgewicht auf die Spiritusfabrikation legen. Spiritus kann heutzutage die Konkurrenz mit allen flüssigen Brennstoffen aufnehmen. Der Nutzeffekt ist glänzend, die Herstellung nicht allzu teuer und die Preise nicht schlecht. Da läßt sich schon etwas machen. Als Ersatz für Benzin und Petroleum hat er große Vorzüge. Bei unserer ausgedehnten Landwirtschaft können Spiritusmotoren als Lokomobilen ausgezeichnete Verwendung finden. Natürlich müßte man die Kartoffeln soviel als möglich selbst bauen. Zum Beispiel in den Kohlenrevieren; statt daß man Getreide baut oderWiesenland läßt, müßte man alles in Kartoffeläcker umwandeln. Das Klima und der Boden sind günstig die Fracht ist billig — auf die Art könnte man beide Unternehmungen gewissermaßen vereinigen.«

Klaus Tiedemann nickte:

»Hätte man das vor Jahresfrist getan, so stünde die Sache anders.« Er trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch und seufzte. »Na, wer weiß, wozu die Sache gut ist! ...«

Er sprach nicht weiter, denn Lecart trat ein:

»Guten Tag!«

Er sah schlechter aus als sonst.

Als ob nichts geschehen wäre, bot er Tiedemann die Hand; Gerhard ignorierte er in alter Gewohnheit.

Er reichte seinem Schwiegervater das Tabatiere, das voll von Zigaretten war:

»Willst du dir nicht nehmen? Ich habe sie erst heute frisch bekommen!«

Als er keine Antwort erhielt, zündete er sich selbst eine Zigarette an und legte die Beine übereinander, daß das magere Bein im schottischen Strumpfe sichtbar wurde. Den Rauch vor sich hin blasend, sagte er dann:

»Also machen wir die Sache rasch ab!«

Klaus Tiedemann nickte.

»Ich würde am liebstenalleinmit dir sprechen«, sagte Lecart.

»Gerhard bleibt!«

»Bitte«, mit nachlässiger Bewegung warf sich Lecart in den Sessel zurück und sah nach dem Plafond.

Das hatte er denn doch nicht notwendig, sich von den Pfeffersäcken etwas gefallen zu lassen!

Es war gerade genug, daß er ihnen Rede stand!

Tiedemann wich Gerhards Blicken aus.

Er ordnete die Papiere und legte sie vor Lecart:

»Hier hast du die Schuldverschreibungen und alles bezüglich der Mansbergischen Liegenschaften.«

Lecart tat einen kurzen Blick:

»Das kenn' ich. Was weiter?« Er warf die Lippen auf und schob die Hand in die Tasche.

Aerger überkam Klaus Tiedemann über des anderen Art, doch er zwang sich zur Ruhe:

»Du mußt dich jedenfalls äußern, wie du dir die Zukunft denkst.«

Lecart lachte spöttisch. »Das ist gerade so, als wenn die Henker des Delinquenten Pläne für sein späteres Leben anhören. Die Vorschläge mußt wohl du machen.«

Der Alte schüttelte den Kopf:

»Es ist dein Besitz, um den es sich handelt.«

»Auf dem Papier!«

»Da hast du leider recht.« Tiedemanns Stimme ward lauter. »Wäre es nach mir gegangen, wir hätten diesen traurigen Ruhm nicht. Du mußt großen Einfluß auf meinen Sohn ausgeübt haben, daß er dich so unterstützte.«

Lecart lachte höhnisch: »Einfluß? — Ich bin schließlich sein Schwager, und«, er sah verächtlich auf die beiden vor ihm Sitzenden, »der einzige in der Familie,der ihn versteht und ihn unterstützt, in bessere Kreise zu kommen.«

»Mit meinem Geld!«

Drohend sah ihn der Alte an; überrascht wendete Lecart den Kopf: Was war das für ein Ton? »Du sprichst, so gut du es eben verstehst,« sagte er hochtrabend, »das entschuldigt dich.«

Des Alten Stirn färbte sich dunkelrot: »So wirst du bei mir nichts ausrichten; entweder du redest vernünftig mit mir, oder ich übergebe alles deinen Gläubigern; die sollen dann machen, was sie wollen.«

»Parbleu, das wäre das Rechte,« die Zigarette entfiel des anderen Hand, »das ist dein Ernst doch nicht?« Er sah erschreckt auf seinen Schwiegervater.

»MeinvollerErnst!«

Lecart litt es nicht länger auf dem Sessel; mit langen Schritten durchmaß er das Zimmer; sein Blick blieb auf Gerhard haften. In Haß blitzten seine dunklen Augen:

»Ich habe dir schon vorhin gesagt, ich spreche nur mit dir allein!« schrie er.

Als keine Antwort kam, wiederholte er die Worte:

»... Hast du verstanden?«

»Gerhard bleibt!«

Charles Lecart stampfte den Boden:

»Dann bringst du kein Wort aus mir heraus.«

»Es ist nur dein Schade.«

Sie saßen schweigend.

Nach geraumer Weile fragte Klaus Tiedemann:

»Kannst du nicht Clos Mitgift zur Deckung verwenden?«

»Clos Mitgift? Die ist lange hin.«

Klaus Tiedemann legte den Kopf in die eiskalte Hand. Jeder Nerv zuckte an ihm; doch es galt diesen Kampf mit starkem Willen zu Ende zu führen — seines Kindes wegen.

Clos Mitgift war eine hohe Summe gewesen, mit deren Zinsen beide in Ruhe hätten ihr Leben verbringen können.

»Wie ist das zugegangen?« fragte er.

»Wie das zugegangen ist? Sehr einfach: Wir haben vom Kapital gelebt. Meine Frau ist nicht die billigste; sie ist mit merkwürdig hohen Ansprüchen in die Ehe getreten. Woher sie das hat, weiß ich nicht, von dir gewiß nicht!«

»Alles zugegeben.« Klaus Tiedemann überhörte geflissentlich des anderen Ausfälle. »Aber in so kurzer Zeit?«

»Ich hab' Schulden zu bezahlen gehabt, dann die Reisen und die Repräsentationspflichten. Sah Clo einen Schmuck, so mußte sie ihn haben. Oft mußten wir dreifache Wohnung bezahlen; hier in der Stadt, in irgendeiner Pension und auf dem Lande. Clo hat nichts vom Wirtschaften verstanden; sie ist wie eine Prinzessin aufgewachsen.«

»Clo hat gewiß nicht die Hauptschuld, du hast hoch gespielt.«

»Wer sagt das?«

»Ich weiß es!«

»Hat es meine Frau gesagt?« Er bekam keine Antwort. »Natürlich weißt du es von ihr! Ich sollte wahrscheinlich wie ein Hund leben, wenn ihr die Herren spieltet? Bitter genug, daß ich von euch das Almosen nehmen mußte.«

»Vielleicht wäre es für beide Teile besser, du hättest es nicht getan.« Klaus Tiedemann warf die Papiere durcheinander. »Lassen wir das Streiten, wir kommen damit zu keinem Ende. Wir werden die Mansbergschen Fabriken übernehmen und die übrigen Gläubiger befriedigen.«

Lecart schöpfte neue Hoffnung: »Das ist gar nicht nötig«, sagte er schnell.

»Es ist besser so.«

»Bitte.«

Klaus Tiedemann neigte sich vor; er sah ihn erwartungsvoll an: »Und was ist mit den Gruben?«

Lecart war erstaunt: »Ja, wollt ihr mir denn alles abnehmen?«

»Das wird sich erst zeigen.«

»Wieso?«

»Du weißt, daß gegen dich Anzeige erstattet ist.«

»Was weiter?«

Klaus Tiedemann blickte ernst: »Du mußt wissen, ob 'was Wahres daran ist. Davon hängt alles ab.«

Ueber Lecarts hageres Gesicht lief ein nervöses Zucken: »Was meinst du?«

Durchdringend ruhten des alten Mannes Augenauf ihm: »Du verstehst mich ganz gut. Ob eine Schuld deinerseits vorliegt oder nicht?«

»Das fehlte gerade noch.« Lecart ließ die Hand auf den Tisch fallen. »Woher hast du den Unsinn? Was soll ich für eine Schuld haben?«

»Clo hat davon gesprochen.«

»Clo?« Lecart lachte trocken und netzte die Lippen. »Wovon?«

»Du sollst die Vorschriften außer acht gelassen haben.«

»Albern; die hält nicht einer von uns genau ein.«

»Darum handelt es sich jetzt nicht; ich muß wissen, ob ich mit ehrlichem Gewissen für dich, das heißt für Clo, eintreten kann oder nicht.« Klaus Tiedemann sah sinnend vor sich nieder. »Ich habe Beziehungen, welche dir eventuell nützen könnten, um das Gerede zum Schweigen zu bringen.«

»Das wäre mir sehr recht.« Lecarts Stimme wurde geschmeidig. »Dafür wäre ich dir sehr dankbar. Wer sind die Herren, die mir behilflich sein können?«

»Das wird sich finden.« Nachdenklich strich sich Klaus Tiedemann die faltige Wange; die Hand, die auf der Tischplatte lag, zitterte: »Also, ich kann dir glauben?«

»Ja.«

»Laß, Vater!« Gerhard Tiedemann machte eine jähe Bewegung; er hatte bisher regungslos gesessen. Sein Blick traf Lecart: »Sie lügen!« sagte er ruhig.

Lecarts Augen wurden klein; sie funkelten wie dieeines Raubtieres. Auch Klaus Tiedemann war zusammengefahren, in seiner erkünstelten Ruhe jäh gestört. Hastig, fragend flogen seine Blicke von einem zum anderen.

»Sie werden das zu beweisen haben«, kreischte Lecart und trat einen Schritt näher.

»Ich spreche nichts, das ich nicht schwarz auf weiß vor mir habe.«

Gerhard wich dem Blick des anderen nicht aus; seine grauen Augensterne hielten ihn im Schach. Mit unsicherer Stimme, aus der verhaltene Wut klang, fragte Lecart: »Wo sind die Beweise?«

»Sie werden Ihnen nicht unbekannt sein.« Ein roter Fleck begann auf Lecarts gelber Wange zu brennen. »Waren die Ventilationsschächte in Ordnung?«

Lecart preßte die schmalen Lippen zusammen: »Ja.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Die Kommission hat es bestätigt.«

»Das heißt gar nichts. Sie haben als Grubenbesitzer allzuviel Einfluß auf deren Zusammensetzung, und überdies kann sich die Kommission getäuscht haben.«

Lecart war bleich geworden: »Das kommt nicht vor.«

»So sagen wir, sie ist getäuscht worden!«

Lecart streckte den Kopf weit vor, seine Augen waren drohend aufgerissen, die Adern am mageren Hals schwollen an unter dem stürmischen Herzschlag:

»Wer gibt Ihnen das Recht, so mit mir zu sprechen?« keuchte er.

Gerhard stand auf und faltete ein Papier auseinander; er sah zu seinem Vater hinüber: »Die Kommission hat richtig entschieden. Sie haben recht. Auf den ihr vorgelegten Plänen und Rissen sind die Luftschächte vollkommen entsprechend eingezeichnet, aber«, er hob die Stimme, »die Kommission konnte nicht wissen, daß in Wirklichkeit seit Monaten der wichtigste Luftweg verschüttet sei; so hat man sie und die Arbeiter, die gehorchen mußten, betrogen!«

Mit kreidebleichem Gesicht fuhr Lecart an des anderen Gurgel. »Du sollst es büßen, mir so etwas gesagt zu haben.«

Mit starken Händen fing Gerhard die schlagenden Arme. Er warf Lecart zurück. Mit zuckenden Lippen sagte er: »Hier hast du, Vater, deine Familie!«

Der alte Mann regte kein Glied; er starrte vor sich nieder.

Minuten vergingen.

Lecart ordnete seine Kleider; sein hastiges Atmen klang laut durch die Stille. Wie die Augen einer Katze, die auf der Lauer liegt, glimmten seine Pupillen. So standen sie eine Weile sich gegenüber.

Dann klang ein stöhnender Laut — sie sahen nach dem alten Mann.

Klaus Tiedemann richtete sich auf.

Ein harter, erbarmungsloser Zug war um seinen Mund.

»Die Gruben gehen in unseren Besitz über,« sagte er, »du hast mit allem nichts mehr zu schaffen.Was du getan hast, trennt dich auf ewig von mir. Einen Betrüger beherbergt meine Familie nicht.«

Lecart wollte auffahren. Drohend trat der alte Mann vor ihn; seine kleine Gestalt schien zu wachsen:

»Clo wird mit sich ins reine kommen müssen. Ebenso du! Nur drängt für dich die Zeit, du kannst nach alldem nicht verlangen, daß ich für dich aussage. Gerhard und Clo haben von dem furchtbaren Betrug gesprochen. Ich hab' es nicht geglaubt, trotzdem die Beweise nur allzu klar lagen. Ich habe noch immer an einen Irrtum gedacht.« Er schüttelte den Kopf und ballte die Faust. »Ich hätte dich gehalten, so schwer mir's auch gewesen wäre, hättest du dein Unrecht eingestanden; du hast es nicht getan.« Er maß Lecart von Kopf zu Füßen. »Ich bin zwar nur ein Kaufmann, der schlichte Manieren hat; so kann ich weiter nicht raten, aber Sie werden, Baron Lecart, Mittel und Wege finden müssen, sich vor dem Kerker zu schützen, in den Sie gehören. Das wird Ihnen ja nicht so schwer fallen, Sie sind stets findig gewesen.« Er wandte ihm den Rücken. »Ich glaube, wir sind fertig.«

Mit festen Schritten ging Klaus Tiedemann zur Tür; die Tränen standen in seinen Augen.

Schon am nächsten Tage schrieb Lecart. Das Kuvert trug seiner Familie Wappen. Er schrieb in knappen Worten, daß er nach dem, was vorgefallen sei, es als selbstverständlich ansähe, das Haus nicht mehr zu betreten, in welchen er derartigen Invektiven ausgesetzt sei. Er bedauerte nur, daß ihm keine anderen Mittel als seine Verachtung zur Verfügung stünden. Den Rechtsweg wolle er mit Rücksicht auf seine arme Frau und die Gesellschaft nicht betreten. Zum geschäftlichen Teile seines Briefes übergehend, teile er mit, daß er alle Angelegenheiten seinem Rechtsfreund übergeben hätte, da der gestrige rohe Auftritt seinen ohnehin alterierten Nerven den Rest gegeben hätte. Er zöge sich auf unbestimmte Zeit in ein Sanatorium zurück, um seine Gesundheit womöglich wiederherzustellen, deren schlechter Zustand ihn auch bewogen hätte, sich auf einige Zeit seines freien Verfügungsrechtes zu begeben. Er habe seinen Advokaten zu seinem Kurator bestellt und ersuche, sich in allen Dingen an diesen allein zu wenden, da er nunmehr vollkommen ausgeschaltet sei. Mit Rücksicht darauf werde auch die gegen ihn schwebende Klage hinfällig.

Noch am selben Nachmittag fuhr Klaus Tiedemann zu seiner Tochter.

Es war ein schwerer Weg, und doch ging er aufrechten Hauptes durch den hochstämmigen Laubwald, durch welchen der Weg von der Bahnstation aus führte.

Die Buchen rauschten um ihn, und er atmete in tiefen Zügen, als wolle er all den Dunst und die Häßlichkeit der Stadt aus seinem Innern vertreiben.

Ruhe lag über dem herbstlichen Grün und senkte sich über sein Wesen mit lindem Hauch.

Ein alter Bauer, das Gewehr auf der Schulter, kam ihm entgegen. Ein großer Hund trottete hinter ihm drein, sie sahen beide zufrieden aus.

Kinderstimmen hallten zwischen den hohen Stämmen des Waldes. Sie gehörten Ausflüglern an, die für wenige Stunden der lärmenden Großstadt entflohen waren.

In schwerem Fluge schwang eine Krähe sich über die Lichtung; noch lange klang ihr rostiger Schrei.

Bald war Tiedemann am Ziel.

Er öffnete die Gartenpforte.

Auf dem Vorplatz war ein Ruhesessel in die Sonne gerückt. Clo ruhte darauf; Hilde saß daneben und las aus einem Buche vor.

Als sie seinen Schritt auf dem Kies hörte, stand sie rasch auf; auch Clo hob den Kopf.

»Bleibt sitzen!« Er winkte ihnen zu und kam näher.

Clo war bleich, ihr Gesicht trug einen leidenden Zug;trotz der warmen Herbstsonne hatte sie eine Decke über die Knie gezogen.

Sie sprachen von gleichgültigen Dingen, von den wenigen Neuigkeiten, die sich in den letzten Tagen zugetragen hatten:

Gestern nachmittag hatte es gewittert; darauf war die Temperatur plötzlich stark gefallen. Heute früh war es kühl gewesen. Die Schwalben sammelten sich bereits zum Flug.

Sie sprachen mit leiser Stimme und sahen aneinander vorbei.

Klaus Tiedemann hatte auf seinem Wege gefällte Stämme bemerkt; nun redete er davon.

Clo gab rasche Antwort: man baute einen Fahrweg durch den Wald zur neuen Anstalt.

Klaus Tiedemann fragte, welchem Zweck der Neubau dienen werde. Hilde gab keine Antwort; sie machte hinter seinem Rücken ihrer Schwester Zeichen, zu schweigen. Die bemerkte es nicht.

»Für Lungenkranke im ersten Stadium.«

Besorgt sah Hilde auf ihren Vater, sie mied jedes Wort, das ihn an Leos frühes Ende erinnern konnte.

Doch sie schien sich getäuscht zu haben. Mit ruhigen Worten sprach er weiter.

Dann legte er die schwere Hand auf die Armstütze von Clos Sessel:

»Hat dir Lecart geschrieben?«

»Nein«, ihre Lippen wurden schmal.

»Da lies«, er reichte ihr den Brief und sah zu Boden, auf dem Ameisen hin und her krochen.

Mit leisen Schritten ging Hilde davon.

Er nickte ihr zu, dann sah er in scheuer Erwartung zu Clo.

Sie hatte den Mund halb geöffnet. Röte erschien auf ihren schlaffen Wangen.

Noch einmal überflog sie die wenigen Zeilen, dann ließ sie das Blatt sinken:

»Siehst du Papa? ...«

»Ja Kind!« Er stützte den Kopf in die Hand: »Was soll nun werden?«

Sie zuckte die Achseln.

Ein leiser Hauch ging über die Bäume, ein paar dürre Blätter wehten über ihre schmale Hand.

Dann trat ein trotziger Zug um den feinen Mund:

»Ich laufe ihm nicht nach.«

»Nicht so!« Klaus Tiedemann rückte näher, sein eigenes Leben stand ihm vor Augen: das ließ ihn milde Worte finden: »Du mußt gerecht sein; es ist so viel zu gleicher Zeit auf ihn eingestürmt, daß er Nachsicht verdient.«

»An mich hätte er denken können.«

»Gewiß, Kind, aber ...«

Sie warf den Kopf zurück:

»Nichts, Papa, glaube mir, nichts, er war stets so.«

Wieder schwiegen beide.

»Und sage mir, Papa: er hat nicht zu widersprechen versucht, hat nicht den Willen gehabt, aus eigener Kraft das Unglück gutzumachen?«

»Nein!«

Sie richtete sich auf: »So sind wir fertig!«

»Nicht so,« bat er mit sich selbst im Widerstreit.

Heftig widersprach sie:

»Was soll sonst werden? Soll ich an seiner Seite weiter leben, da er sich in seiner ganzen Erbärmlichkeit gezeigt hat? Das kann ich nicht!«

»Das verlangt auch niemand von dir.«

»Und auch später nicht, nie mehr!« Ein nervöses Zucken lief über ihr Antlitz: »Hätte er alles eingestanden und mich gebeten, ihm beizustehen, ich hätte es getan. Nichts hätte mich davon zurückgehalten. Aber so, da er sich feige allem entzieht, nein das kann ich nicht! ...«

Klaus Tiedemann senkte den Kopf. Er fand keine Widerrede. Es war sein eigenes Denken.

Sein Fuß zeichnete Kreise auf Kreise in den Kies.

Tiefe Stille war um die beiden.

Mit fliegendem Atem begann sie wieder:

»Du kannst dich, Papa, in meine Lage nicht hineindenken; du weißt nicht, was es mich für eine Ueberwindung kostete, ihn nicht schon früher zu verlassen. Doch ich war feig und dachte eng. Hier draußen ist es mir klar geworden, wie nichtig und lächerlich eigentlich alles an ihm war, vom Anfang an. Erst flößte mir seine hochtrabende Art, mit der er jedermann behandelte, Achtung ein, dann nahm ich sie selbst an: warum weiß ich nicht. Es mag wohl unser Blut gewesen sein. Doch bald kam die Ernüchterung. Aber nicht einmal mir selbst gestand ich sie zu. Warum sollten zwei Menschen nicht auch gleichgültig nebeneinander leben können!«

Klaus Tiedemann nickte.

»Wir ritten gemeinsam spazieren, wir gingen zusammen in Gesellschaften und aßen vom selben Tisch.« Sie lachte gepreßt. »Wie viele machen es nicht so, ihr ganzes Leben lang! Auch du und Mama lebtet ähnlich. Das hielt ich mir stets vor Augen — warum sollte es bei mir nicht auch so gehen? Manchmal wollte ich ihn verlassen, nach irgendeiner Szene, von denen es so viele gab — doch ich schreckte zurück, aus Angst vor der Meinung der anderen; es war mir ja so von klein auf eingeimpft worden.« Sie hob die Hand und betrachtete die Ringe, die feine Rillen in die Haut zogen: »Erst im Gespräch mit Hilde, erst in den letzten Tagen habe ich anders denken gelernt. Vater,« sie neigte sich vor, in ihren Augen war wieder das nervöse Zucken, »steh nicht wider Hilde auf, sie liebt aus vollem Herzen, zertritt das bißchen Glück nicht, das unsere Familie noch hat ...«

Er gab keine Antwort, er saß mit hängenden Armen.

Noch immer haftete Vorurteil an ihm. Ein langes Leben waren seine Gedanken anderen Weg gegangen. Zu weit lag die Jugend zurück:

»Wir wollen nicht von Hilde, wir wollen von dir reden«, sagte er ausweichend.

»Nun gut.« Sie sah mit forschenden Blicken auf ihn. »Wie denkst du dir meine Zukunft?«

Er seufzte:

»Du wirst vielleicht anders denken lernen — milder ...«

»Glaubst du daran?«

Er gab keine Antwort.

»Du glaubst es selbst nicht.« Frei sahen ihre Augen. »Warum sollen wir nicht einmal nur an uns denken und nicht an die anderen? Er hat mir die Jugend gestohlen und dir schwere Verlegenheit bereitet. Warum sollen wir das nicht ändern, wenn es in unserer Kraft ist?«

Erstaunt sah er auf sein Kind.

Sie empfand seinen Blick:

»Ja, Papa, ich bin eine andere geworden — Gott sei Dank! — in letzter Stunde. Der Mensch hat nur kurze Zeit auf Erden, jeder Tag ist ein unersetzlicher Verlust, den er nicht lebt nach eigenem Gutdünken, und ich soll mein ganzes Leben verlieren? Nein,« sie stand auf, »Lecart ist für mich tot!«

»Kind,« stammelte er, »Kind, überlege es dir gut!«

»Da ist nichts zu überlegen! Schau, Papa!« sie faßte seine Hand. »Was kann ein Mädchen einem Manne mehr geben, als ich getan? Freudig hätte ich alles gelitten, hätte er nur an mich geglaubt. Du bist ja selbst meiner Meinung,« sie legte ihren Kopf an den ihres Vaters, »du glaubst nur, du hättest die Pflicht, mich zurückzuhalten, doch du bist im Irrtum. Er hat unseren ehrlichen Namen gebrandmarkt, er ist nicht besser als ein Dieb, da er dich um dein Geld betrog.«

In schwerem Groll schloß Klaus Tiedemann die Faust: »Da hast du recht.«

»Siehst du, Papa, willst du weiter mit ihm verkehren?«

Verwundert sah er auf, seine Augenlider waren rot gerändert. »Ich? Ich bin mit ihm fertig!«

»Und ich soll mit ihm weiterleben?«

Die alte Hilflosigkeit überkam ihn:

»Ich wollte nur alles versuchen, weil ich eben keinen anderen Ausweg sehe.«

Sie küßte seine faltige Stirn. »Der Ausweg«, sie hob die Hand zu dem blauen Himmel, auf dem weiße Wölkchen segelten, »dort ist er — die Freiheit!«

Mit ängstlichen Augen sah er sie an. Eine Art Schwindel befiel ihn. Die Ahnung fremder Welten, die er noch nicht kannte. Doch er stand am Eingang. Er ließ den Blick rundumgehen, von einem Baum zum anderen, vom Efeu, der sich eigenwillig emporrankte, zum Springbrunnen, dessen Wasser in schimmernde Tropfen zerfiel: »Eine geschiedene Frau ist Freiwild — ihr Leben ist unstet, von den Reden der Leute vergiftet.«

»Besser als eine morsche Ehe.« Sie faßte seinen Arm, lebhaft wurde ihr Blick. »Heute hab' ich Gröden getroffen.«

»Hat er dich erkannt?«

Sie lachte: »Wir sprachen fast eine Stunde. Er fand mich sehr verändert.«

Klaus Tiedemann stand auf und ging der Terrasse zu. Er schüttelte den Kopf.

Clo war an seiner Seite; sie sprach weiter von Gröden:

»Denk' dir, Papa, er baut hier die neue Anstalt! Ist das nicht ein Zufall?«

Er nickte, dann sah er sich scheu um:

»Du hast zu Hilde nicht gesprochen?«

Verständnislos blickte sie ihn an:

»Wovon?«

Er schluckte und sah zu Boden:

»Von dem, was ich dir von meiner ersten Ehe erzählt habe, damals ...«

»Nein; wenn du willst, sag' ich's auch niemandem.«

»Ich bitte dich drum,« er atmete auf, »es ist mir zwar ganz gleich, aber lieber ist's mir doch so ...«

»Gewiß, Papa.«

Er nickte: »Sprich weiter — ich hätte es nur sonst vergessen!«

»Armer Papa!«

Er wich ihrer Hand aus. »Da ist Gröden wohl öfters hier?« sagte er.

»Jeden dritten Tag! Das nächste Mal will er mir die Pläne zeigen; er war ganz Feuer und Flamme darüber. Er hat die notwendigen Studien in England gemacht.«

»Von mir sprach er nichts?«

»Nein, aber von Lecarts Unglück wußte er.«

Sie standen vor dem Haus.

Er ließ sie über die Stufen vorangehen und sah sich noch einmal um.

Dürre Blätter fielen zu Boden, Herbstzeitlosen sproßten daraus empor.

Wenige Tage später kam Fred. Er hatte die Tourenfahrt vorzeitig abbrechen müssen und war mißmutig nach Hause gefahren, da ihm kein Preis mehr winkte: Gleich nach dem Start hatte er ein Bauernfuhrwerk überfahren und war, einige Stunden später, derart bei einer Straßenkrümmung an einen Baum gerannt, daß er mit Achsen- und Federbruchen pannesaß.

Auch Baronin Wolny war mit ihm zurückgekehrt.

Mit Clo sprach er ein paar verbindliche Worte, wie man es mit jedem Fremden tut. Der Name Lecart war ebensoschnell aus seinem Gedächtnis geschwunden wie der Olthoffs und vieler anderer vordem. Man lernte sich kennen, schloß Freundschaft und vergaß sich, wenn die beiderseitigen Interessen erschöpft waren.

Klaus Tiedemann wußte nicht zu entscheiden, ob Fred stets so gewesen war oder ob ihm sein Wesen jetzt nur mehr auffiel. Nie war ihm seines Sohnes hochfahrende Art so zum Bewußtsein gekommen als nun, da er Familie und Geschäft vernachlässigte, um seiner Liebhaberei willen, zu denen in erster Linie Frau Wolnys üppige Gestalt zählte.

Fast jeden Abend weilte er bei ihr. Es drohte ein offener Skandal zu werden.

Hatte früher Klaus Tiedemann sich über derartige Eroberungen seiner Söhne — wie er es nannte — gefreut, so waren sie ihm nun unangenehm, weil das Schicksal seinen Sinn wieder auf die ernste Seite des Lebens geleitet hatte.

Er sah jetzt nur Kraft- und Zeitverschwendung, worin er früher Anerkennung seiner Kinder erblickt hatte.

Zwischen Klaus Tiedemann und seinem Sohne war noch nicht viel über Lecarts Geldoperationen gesprochen worden, jeder mied das Thema. Klaus Tiedemann wollte nicht gern erinnert werden, daß er es gewesen war, der als erster, bei Clos Heirat, Lecarts teurer Verwandtschaft Vorschub geleistet hatte. Als Fred erfuhr, daß die Ordnung der Angelegenheit in Gerhards Händen läge, da lachte er spöttisch:

»Gib ihm doch gleich das ganze Geschäft, dann hat die arme Seele ihre Ruhe.« Freds Aerger hielt nicht lange an; in dem Augenblicke, da er der Wolny weiche Arme wieder an seinem Halse spürte, versank alles für ihn. Er lag hilflos in ihren Banden, und die routinierte Frau freute sich ihres vollkommenen Sieges: er war Naturbursche in der Liebe, und das naive Zugreifen und Genießen schuf dem Weibe, das durch vieler Männer Hände gegangen war, neue Abwechslung.

Sie lebte noch einmal die Genüsse ihrer Jugend und vergaß so alles andere.

Jan Wolny stand zähneknirschend vor dem Zimmer seiner Mutter; doch nie fand er den Mut, sie zu einer Aussprache zu zwingen. Er verstand seinen Vater, deraus dem Leben gegangen war, weil die feine Art des Edelmannes sich auflehnte gegen die Mißachtung der eigenen Frau.

Doch Jan Wolny trug beider Blut in seinen Adern: das verwegene Zirkusreiterblut und das der polnischen Könige. Noch ging er mit geballten Händen und fand nicht den Entschluß des Handelns ...

Leos Geburtstag war herangekommen.

Hilde wollte ihrem Vater die Aufregung ersparen, und bat Fred, einen Kranz auf dem Grabe seines Bruders niederzulegen.

Es waren die ersten Worte, welche die beiden, seit Freds Rückkehr, mitsammen sprachen.

Er zeigte auf die farbige Weste, die er trug, und sah in unverhohlenem Erstaunen drein:

»Ich? Was geht denn das mich an?«

Sie maß ihn von Kopf zu Füßen.

»Es ist Leo! Dein Bruder!«

»Das weiß ich ohnehin, mein Fräulein! Aber ich hab' keine Zeit. Ich weiß nicht einmal genau, wo das Grab liegt: ich glaube, ich würde es gar nicht finden.«

»Das sind Ausreden.«

»Also, so sind's Ausreden! Ich mag einfach nicht. Mein Gott, was hat er denn von dem Kranz? Hätt' ihn Papa vernünftiger erzogen und ihm nicht so viel Freiheit gelassen, so wär' er vielleicht noch am Leben — mich laßt mit solchen Dingen in Ruhe.« —

Am Nachmittag fuhren Klaus Tiedemann und Hilde zu Leos frühem Grab.

Ein Riesenobelisk krönte dasselbe; die Trauerweiden hatten dürres Laub.

Mit starren Fingern richtete Klaus Tiedemann den Efeu, der sich im Gitter verflochten hatte. Mit liebevoller Hand strich er über den Rasen. In den Gruftlaternen flackerten die Lichter.

Der Gärtner hatte sie angezündet, er stand abseits und wartete auf sein Trinkgeld; man gab an solcher Stätte gern. Als er es erhalten hatte, schlenderte er davon, die langen Reihen hinunter, eine Blume hinter dem Ohr. Leise pfiff er vor sich hin — er war jung und dachte nicht ans Sterben.

Klaus Tiedemann hielt die Hände verschlungen und sah mit starrem Blick die eingemeißelten Buchstaben: »Da liegt der arme Bub.«

Die fallende Ruhe des Herbstes umgab sie: ein leises Singen war in der Luft, wenn der Wind durch die Zypressen und um die Grabkreuze strich.

Sie schmiegten sich eng aneinander.

Ein paar Fuß unter der Erde, ganz nahe bei ihnen, lag alles, was noch von Leo übrig war.

Alles ließ sich erzwingen, der Widerstand gegen den Tod nicht.

Die heißeste Sehnsucht nach Liebe und Genuß, halbfertige Jugend und verfehlte Leidenschaft, Kindlichkeit und werdende Eigenart — all das lag still da drunten und zerfiel in nichts.

Klaus Tiedemann seufzte, seine Augen waren naß. Mächtig kam die Erinnerung über ihn.

Wofür hatte er gerungen, wenn das das Ende war? Wenn er selbst in seinen Kindern starb und nicht weiterlebte? Was blieb als Lebenswerk? Ein Quell des Verdienstes! Und auch der konnte versiegen,verlangte man allzuviel von ihm. Er dachte Freds.

Gleich da, rechts drüben, lag seine Frau. Wo mochte Gerhards Mutter ausruhen von ihrer Irrfahrt? Lebte sie noch — wie kam es, daß zwei Menschen überhaupt sich fremd sein konnten?

Im Grabe mußte alles verstummen, und doch ruhte der Kampf nie.

Schwere Zweifel faßten den alten Mann, er legte den Arm um Hilde. »Hätt' ich dir doch gefolgt!«

Aus großen, erschreckten Augen sah sie auf. Sie schüttelte den Kopf. »Nicht daran denken, Vater!«

Er seufzte. »Wie wird die Zukunft werden?«

Ihre Blicke glitten über die Friedhofsmauer, auf stahlharten Schienen jagte ein Zug vorbei.

Dann begann er wieder:

»Mir ist es manchmal, als hätt' ich schon einmal gelebt und wäre gestorben gewesen, lange Zeit. So manchen Gedanken, der mir jetzt kommt, hab' ich schon einmal gedacht, vor vielen Jahren. Ist er damals richtig gewesen? Ist er es heut? Es ist so schwer für etwas zu entscheiden, noch schwerer gegen etwas. Jedes Ding hat zwei Seiten. Ich war Leo ein zu schwacher Vater, vielleicht kann ich für Fred ein zu harter werden?« In inniger Liebe sah er sein Kind an. »Du mußt mir beistehen, Hilde; du bist die einzige, die wirklich zu mir hält — willst du?«

»Vater!« Sie warf sich an seinen Hals, ihre Lippen fanden sich; mit tastenden Fingern richtete er ihren Kopf in die Höhe; forschend sah er in ihre Augen: »Bin ich jetzt auf rechtem Weg?«

Sie nickte.

Noch einmal zog er sie an sich:

»Leo wird nicht allzu lange auf mich warten müssen.«

Er brach eine Ranke und verwahrte sie in der Tasche.

Dann winkte er dem Hügel zu:

»Leb' wohl!«

Langsam näherten sie sich dem Ausgang.

Im Heimfahren sprachen sie von Fred. Noch immer hoffte der Vater auf Besserung. Er wartete auf irgendein Ereignis, das ihn zum Handeln zwingen würde; das Schicksal mußte eingreifen — allein fand er nicht die Kraft dazu! Was sollte auch werden, wenn es so weiter blieb?

Als sie in bekannte Straßen bogen, drückte er Hildes Hand. »Ich danke dir ...«

Sie merkte, daß er noch etwas sagen wollte, seine Rede floß wirr und krumm weiter. Er redete vom Erfolg, und wie man sich im Menschen täuschen könnte. Dann kam er auf Clo und Gröden zu sprechen. Dann auf Hildes freudlose Zeit, die er so gern ihr besser gestalten wolle.

Sie verstand ihn nicht.

Der Umschweife überdrüssig, fragte er plötzlich ganz unvermittelt:

»Würde dich Hansens Bild interessieren?«

Das war es! Sie nickte; die Aufregung benahm ihr die Stimme.

»So gehen wir!«

Er öffnete eilig den Schlag des Wagens.


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