Die graue Karyatide beugte sich vornüber und blickte auf die sich immer gleichbleibende Menge zu ihren Füßen; unendlich war die Verachtung, die sich im alten Stein der Augen ausdrückte; unendlich war der Überdruß, unendlich die Verzweiflung.
Und — o, hätte sie doch die Kraft!
Wie hätten sich die muskulösen Arme über die steinernen Schultern gereckt; und der von dem Meißel zerhauene Nacken — wie flöge er wild nach oben; in einem lauten, verzweifelten, langgezogenen Brüllen risse sich der Mund auf; du hättest gesagt: »Es ist das Brüllen des Sturmes« (so brüllten die schwarzen Tausende von Mützen der Huligans während der Pogrome). Wie aus einer Lokomotive würde sich auf die Straße ein Dampfstrom ergießen; die von der Straße losgerissene Balkonbalustrade würde erstauntauf das Pflaster aufschlagen und in laut tönende, feste Steine zerfallen (so fielen bald darauf die Steine gegen die Fenster der Regierungsgebäude); zu einem Steinhagel würde dieses Meißelwerk werden, während es erst in der trüben Luft einen ebenso trüben wie blendenden Bogen bilden würde; und als blutige Splitter würden diese Hagelkerne auf den erschreckten Hüten der hier monoton, langsam, leblos Vorüberziehenden liegenbleiben . . .
An diesem grauen Petersburger Tage flog auf einmal die schwere, prächtige Tür auf; der graue, glattrasierte Lakai mit Goldtressen auf dem Revers sprang heraus, um dem Kutscher das Zeichen zu geben; die Pferde zogen wild an und rollten pfeilschnell den lackierten Wagen an das Portal heran; der graue Lakai mit dem glattrasierten Gesicht streckte sich mit dümmster Miene in Positur, während Apollon Apollonowitsch Ableuchow mit vorgebeugtem Rücken, unrasiert, mit krankhaft aufgedunsenem Gesicht und herabhängender Unterlippe seine schwarz behandschuhte Hand an den Rand des glänzend schwarzen Zylinders führte.
Apollon Apollonowitsch warf einen kurzen, von Gleichgültigkeit erfüllten Blick auf den Lakai, auf den Wagen, auf den Kutscher, auf die schwarze Brücke, auf die gleichmäßige Fläche der Newa, in der sich die dumpfe, vielschlotige Ferne zeichnete, während sich hinten aschgrau die Wassiljewski-Insel breitete mit den vielen Tausenden von Streikenden, die sie beherbergte.
Der stramme Diener schlug die Wagentür zu, die das alte Wappen, einen Ritter, von einem Einhorn durchbohrt, trug; der Wagen stürmte in den schmutzigen Nebel hinein, an der mattdunklen Riesensilhouette des Issakijdoms, an dem Reiterdenkmal des Kaisers Nikolaus vorbei,auf den Newskij, wo die Massen sich stauten, wo sich mit leichtem Säuseln der rote flatternde Stoff über die Straße spannte; die schwarzen Konturen des Wagens, die Silhouette vom Dreimaster des Lakaien durchschnitt plötzlich die schwarze, dichte Masse, aus der lauter Gesang dem Wagen entgegenschlug.
Der Wagen hielt in der Menge.
»Mais j’espère . . .«
»Sie hoffen?«
»Mais j’espère que oui«, schallte des Ausländers Stimme hinter der Tür.
Die Schritte Alexander Iwanowitschs auf der Holzdiele der Terrasse tönten absichtlich laut; Alexander Iwanowitsch liebte es nicht zu horchen. Die ins Zimmer führende Tür war halb offen.
Es wurde immer dunkler — blauer.
Man achtete auf seine Schritte nicht. Alexander Iwanowitsch Dudkin beschloß, nicht weiter zu horchen, und er überschritt die Schwelle des Zimmers.
Ein schwerer Duft erfüllte hier die Luft: eine Mischung von Parfüm und scharfer Säure eines Medikamentes.
Soja Sacharowna Fleisch erging sich wie immer in Liebenswürdigkeiten. Sie gab sich die größte Mühe, einen fremden Besucher zum Bleiben zu bewegen; der Fremde wehrte aber dankend ab.
Es wurde immer dunkler — blauer.
»Ah, ich freue mich sehr, Sie zu sehen, sehr . . . Es ist furchtbar nett, daß ich Sie sehe . . . Putzen Sie bitte die Füße ab, und nehmen Sie Ihren Überzieher ab.«
Alexander Iwanowitsch drückte kühl Sojas Hand.
»Ich hoffe, Sie haben einen sehr schönen Eindruck vonRußland gewonnen . . . Nicht wahr? . . .« wandte sie sich wieder an den Fremden. — »Welcher Aufstieg!«
Der Franzose trocken:
»Mais j’espère . . .«
Soja Sacharowna Fleisch rieb sich die vollen Händchen und sah mit ihrem liebkosenden, doch etwas verlegenen Blick bald den Franzosen, bald Alexander Iwanowitsch an; sie hatte runde Augen, die ihr aus den Augenhöhlen hervorquollen. Soja Sacharowna mochte etwa an die Vierzig sein; Soja Sacharowna war eine Brünette mit großem Kopf; ihre festen Wangen waren emailliert, und der Puder fiel von ihnen herunter.
»Er ist noch nicht da . . . Sie kommen doch zu ihm?« fragte sie wie beiläufig Alexander Iwanowitsch; in dieser flüchtigen Frage verbarg sich eine gewisse Unruhe; vielleicht verbarg sich darin Feindseligkeit; vielleicht sogar Haß; doch die Unruhe, Feindseligkeit und der Haß verdeckte der Blick und das liebenswürdige Lächeln; so verdeckt die klebrige Süßigkeit der Bonbons, die allenthalben in den Läden verkauft werden, all den Schmutz der ungelüfteten Räume, wo sie gemacht werden.
»Ich werde auf ihn warten.«
Alexander Iwanowitsch verneigte sich vor dem Franzosen, dann langte er nach einer der Birnen, die in einer Fruchtschale auf dem Tisch standen; Soja Sacharowna stellte darauf die Schale etwas weiter weg; Alexander Iwanowitsch aß Birnen gar zu gern. Soja Sacharowna ließ inzwischen den Franzosen nicht los:
»Ja, ja, ja: wir erleben Dinge von geschichtlicher Bedeutung . . . Überall Mut und Jugend . . . Der zukünftige Geschichtsschreiber wird . . . Glauben Sie es nicht? Besuchen Sie nur die Meetings . . . Hören Sie nur die Reden voll überschwenglicher Gefühle; sehen Sie sich nur die Begeisterung an . . .«
Der Franzose schien keine Lust zur Fortsetzung des Gesprächs zu haben.
»Pardon, madame, monsieur viendrat il bientôt?«
Um dieses Gespräch, das sonderbarerweise sein nationales Gefühl verletzte, nicht zu hören, trat Alexander Iwanowitsch ans Fenster, wobei er fast über einen buschigen Bernhardiner stolperte, der auf dem Boden liegend gemächlich einen Knochen bearbeitete.
Aus den Fenstern des kleinen Landhauses sah man das Meer: es wurde immer dunkler — blauer.
Das Auge des Leuchtturms drehte sich im Kreise um; das Licht flimmerte — eins, zwei, drei! — und es erlosch; der dunkle Mantel eines Passanten flatterte in der Ferne; noch weiter sah man, wie sich die Wellen wiegten; die Lichter am Ufer lagen wie verstreute Funkensplitter da; der vieläugige Strand borstete sich mit seinem Schilf; weit, weit tönte eine Sirene.
Was für ein Wind!
»Bitte, da ist die Aschenschale . . .«
Die Aschenschale blieb vor Alexander Iwanowitschs Nase stehen; doch Alexander Iwanowitsch war ein sehr empfindlicher Mensch: er warf den Zigarettenstummel in den Topf des Blumenstocks am Fenster, aus einem Protestgefühl heraus.
»Wer singt denn da?«
Soja Sacharowna machte eine Geste, aus der hervorging, daß sie den Fragenden als einen rückständigen Menschen betrachtete.
»So? Das wissen Sie nicht? . . . Ja, gewiß: Sie wissen es eben nicht . . . Also: es ist nämlich Schischnarfijew . . . was das aber heißt — hinter seinen vier Wänden hocken . . . Schischnarfijew hat sich uns allen sehr angeschlossen . . .«
»Ich habe diesen Namen schon irgendwo gehört . . .«
»Schischnarfijew hat sehr viel Kunstsinn . . .«
Soja Sacharowna sagte die letzten Worte mit solcher Betonung, als hätte Alexander Iwanowitsch an den künstlerischen Fähigkeiten des genannten Sängers in unangebrachter Weise Zweifel geäußert. Doch Alexander Iwanowitsch dachte gar nicht daran, die Talente des Künstlers zu bemäkeln.
Er fragte bloß:
»Ist er Armenier? Bulgare? Georgier?«
»Nein, ach nein . . .«
»Chorwate? Persier?«
»Ja, er ist ein Persier aus Schemacha; er war vor kurzem bei dem Aufruhr in Ispaganj beinahe umgebracht worden . . .«
»Ah, so: er ist also ein Jungperser?«
»Selbstverständlich . . . Sie wußten es nicht? . . . Schämen Sie sich . . .«
Soja Sacharowna übergoß ihn mit einem verächtlichen Blick und wandte sich wieder dem Franzosen zu:
Alexander Iwanowitsch hörte der Unterhaltung der beiden nicht zu, natürlicherweise: er horchte aber auf die hoffnungslos zerrissene Baritonstimme; der Held Jungpersiens sang eine tiefelegische Romanze, und tiefe Wehmut wehte von ihr auf Alexander Iwanowitsch. Flüchtig ging es aber Alexander Iwanowitsch nebenbei durch den Kopf, daß Soja Sacharownas Gesichtszüge den verschiedensten schönen Frauen entnommen sein konnten: der einen die Nase, der anderen der Mund, der dritten die Ohren. Zusammen ergaben die Züge jedoch ein Gesicht, das keinesfalls angenehm wirkte und das nichts weniger als schön war. Ihrem Typus nach gehörte aber Soja Sacharowna zu den üppigen orientalischen Brünetten.
Die laut plappernde Stimme Soja Sacharownas drang indessen doch an Dudkins Ohr:
»Es handelt sich wohl um das Geld?«
Schweigen.
»Das Geld aus dem Auslande wird man wohl benötigen.«
Zur Antwort eine unruhige Handbewegung.
»Nach der Zerstörung der Organisation in T. T. wäre es ratsamer für Ihren Redakteur, nicht hierherzukommen . . .«
Der Franzose gab keinen Laut von sich.
»Denn es sind Dokumente entdeckt worden . . .«
Alexander Iwanowitsch hörte wieder das elegische Singen des Jungpersers. Inzwischen schien der Franzose die Geduld verloren zu haben. Etwas barsch sagte er:
»Je serai bien triste d’avoir manqué l’occasion de parler à monsieur.«
»Sie können ebenso mit mir sprechen . . .«
»Excusez, dans certain cas je préfaire parler personnellement . . .«
Ein Busch schlug mit seinen Zweigen an das Fenster.
Zwischen den Zweigen sah man die weiße Gischt der Wellen schimmern, dämmerig und blau schaukelte ein Segelboot auf den Wellen, und über den Segeln verdichtete sich blau der Abend.
Die Segel schienen zu entschwinden in diesem dämmernden Blau.
Da hielt plötzlich vor der Gartentür eine Droschke, und ein korpulenter Herr wälzte sich aus ihr herunter. Die ungelenken Finger der mit einem halben Dutzend hin und her baumelnder Pakete beschwerten Hand suchten lange im Portemonnaie herum; eine unterm Arm gehaltene Tüte rutschte dabei nach unten, und flugs kullerten mehrere schöne Äpfel im Schmutz der Straße.
Der Herr beugte sich, um die Äpfel vom Boden aufzulesen; sein Mantel ging ihm dabei auf, und er schienschwer zu keuchen; beim Schließen der Gartentür wären ihm die Pakete beinahe wieder in den Schmutz gefallen.
Endlich schritt er auf dem gelben, von Sträuchern umsäumten Gartenweg dem Hause zu; sofort verbreitete sich eine drückende Atmosphäre; der mit einer Ohrenmütze bedeckte geierartige Kopf saß schwer auf den Schultern; die tiefsitzenden Äuglein aber liefen diesmal nicht unruhig hin und her (wie sie es immer taten, wenn ein fremder Blick sie traf); die tiefsitzenden Augen blickten müde und fest zu den Fenstern des Hauses hinüber.
Alexander Iwanowitsch bemerkte sogar in diesen Augen eine besondere, eigene Freude, zu der sich Müdigkeit und Traurigkeit gesellten — eine rein tierische Freude, nach der Hetze des Tages bald ausruhen, sich erwärmen und in ausgiebiger Weise seinen Hunger stillen zu können. So erscheint das Raubtier, während es in seine Höhle zurückkehrt, zahm und mild und läßt die auch ihm innewohnende Gutmütigkeit erblicken; es beschnuppert dann wohlwollend sein Weibchen und leckt die freudig winselnden Jungen ab.
War daser?
Ja, das warer; undersah diesmal harmlos und prosaisch aus; und doch: es warer.
»Da kommt er auch!«
»Enfin . . .«
»Lipantschenko! . . .«
»Guten Tag . . .«
Mit freudigem Knurren sprang der gelbe Bernhardiner auf und warf sich, mit einem Satz an die andere Ecke des Zimmers gelangend, seinem Herrn auf die Brust.
»Fort, fort, Tomy! . . .«
Lipantschenko, bemüht, die Pakete vor dem Hunde zu schützen, hatte nicht ein mal Zeit gehabt, seine ungerufenenBesucher in Augenschein zu nehmen: auf seinem breiten, flachen Gesicht drückte sich teils Humor, teils hilfloser Zorn aus; ein direkt kindlicher Zug huschte plötzlich in seinem Gesicht auf:
»Schon wieder das Ablecken!«
Er wandte sich hilflos von Tomy ab und rief:
»Soja Sacharowna, so helfen Sie mir doch loszukommen . . .«
Aber schon berührte die breite Hundezunge ehrfurchtslos die Nasenspitze des Herrn; dieser schrie laut auf (und dabei, man denke nur, lächelte er) . . .
»Aber Tomy!«
Da erst bemerkte er die Besucher, die auf ihn warteten und etwas ungeduldig über das Familienidyll lächelten; die Heiterkeit verschwand aus seinem Gesicht, und er sagte etwas barsch und wenig höflich:
»Bitte, gleich . . .«
Dabei bebte die herunterhängende Unterlippe, und man konnte ihr ablesen:
»Selbst hier keine Ruhe . . .«
Er ging in eine Ecke und bemühte sich lange, die neuen und etwas engen Überschuhe abzustreifen; dann legte er ebenso langsam den Überzieher ab, wobei er schwer und mühevoll etwas aus der Tasche hervorzog (man hätte glauben können — einen zwölfläufigen Browning); was aber zum Vorschein kam, war — eine Puppe.
Diese Puppe warf er auf den Tisch mit den Worten:
»Das ist für Akulinas kleine Manja . . .«
Da sperrte jeder der Besucher den Mund auf.
Endlich wandte sich der Hausherr, indem er sich die erfrorenen Hände rieb, mit gewissem, verlegenem Mißtrauen an den Franzosen:
»Bitte . . . da hinein . . . da . . .«
Zugleich warf er Dudkin zu:
»Bitte gefälligst zu warten . . .«
Seltsam!
Das Verhalten dergewissen PersönlichkeitDudkin gegenüber hatte bis zu diesem Tage den Charakter größter Verbindlichkeit getragen; ja, es war nur Verbindlichkeit gewesen, und zwar Verbindlichkeit etwas zudringlicher Art; durch Monate hindurch, bei den verschiedensten Anlässen oder auch ohne diese hatte die gewisse Persönlichkeit ein Ornament aus Schmeichelei um Dudkin gewoben: diese Schmeichelei ernst zu nehmen — das war so angenehm gewesen.
Und Dudkin hatte sie ernst genommen.
Er hatte die gewisse Persönlichkeit wohl verachtet, er hatte ihr gegenüber einen physiologischen Widerwillen empfunden; ja, er hatte all diese Tage, die für ihn eine Krise in seinem tiefsten Glauben bedeuteten, jede Begegnung mit der Persönlichkeit gemieden. Doch diese hatte ihn überall zu erreichen gesucht; seine oft mehr als spöttischen Bemerkungen mit stoischer Gleichmütigkeit, zuweilen sogar mit zynischem Lachen entgegengenommen; hätte er sie über den Grund dieses Lachens gefragt, sie hätte geantwortet:
»Ich lache — über Sie.«
Dudkin hatte sich bemüht, der Persönlichkeit zu beweisen, daß das Programm ihrer Partei unhaltbar sei, abstrakt, blind — sie war damit einverstanden; doch wußte Dudkin, daß sie bei der Festsetzung des Programms mitgearbeitet hatte; hätte er die Persönlichkeit gefragt, ob nicht ihrer Meinung nach bei der Ausarbeitung desProgramms etwas wie Provokateurgeist mitgespielt habe, die Persönlichkeit hätte beteuert:
»Nein, sicherlich nicht; diese Annahme ist eine Frivolität . . .«
Dudkin hatte endlich versucht, die Persönlichkeit durch sein mystisches Kredo zu verblüffen, indem er die Behauptung aufstellte: das Soziale, die Revolution sei keine Verstandeskategorie, sondern eine göttliche Forderung des Alls; die Persönlichkeit hatte nichts gegen die Mystik gehabt; sie hörte aufmerksam zu und bemühte sich sogar — zu verstehen.
Aber sie vermochte es nicht zu verstehen.
Alle Einwendungen, alle radikalen Äußerungen hatte die Persönlichkeit schweigend hingenommen; dann klopfte sie ihm auf die Schulter und zog ihn mit ins Wirtshaus, wo sie vor dem Tischchen sitzend den ewigen Kognak tranken; zuweilen hatte ihm die Persönlichkeit unter dem Geräusch des Orchestrions gesagt:
»Ich? Was bin ich? — nichts . . . Ich bin nur ein Unterseeboot; Sie aber sind ein Panzerkreuzer; ein großes Schiff gehört ins große Wasser . . .«
Und dabei hatte die Persönlichkeit ihn in die Dachkammer gejagt, ihn an die Dachkammer gefesselt und aus dem menschlichen Verkehr ausgeschaltet; der Panzerkreuzer lag im Hafen, ohne Mannschaft, ohne Kanonen; die einzigen Reisen, die er in der letzten Zeit gemacht hatte, waren nur — ins Wirtshaus und zurück; die Persönlichkeit hatte all diese Wochen, die für Dudkin eine Periode des Protestes bedeuteten, dazu benutzt, um aus ihm einen — Säufer zu machen.
Die Persönlichkeit war ihm immer gastfreundlich entgegengetreten, und Dudkin hatte das sichere Gefühl: käme er in eine Lage, wo er ernster Hilfe bedürfte, die Persönlichkeit würde ihm diese ohne weiteres leisten; das erschien selbstverständlich.
Zum erstenmal ergab sich heute dazu die Gelegenheit.
Er hatte Ableuchow versprochen, ihm den Knoten lösen zu helfen. Doch konnte er es nur mit Hilfe der Persönlichkeit ausführen; durch eine unheimliche Verkettung von Umständen hatte Ableuchow sich in ein förmliches Teufelsnetz verfangen; Alexander Iwanowitsch glaubte, er brauche nur der Persönlichkeit von der Sache zu berichten und diese würde die Fäden schon herausfinden.
Was ihn also veranlaßte, hierherzukommen, war das Wort, das er Ableuchow gegeben hatte. Und nun — sieh mal einer her!
Der verletzende Ton, den die Persönlichkeit ihm gegenüber jetzt angeschlagen hat, war ihm in ebensolchem Maße neu wie unangenehm (es war der Ton, dessen sich der hohe Beamte einem Bittsteller gegenüber bedient; mit dem der Chefredakteur dem über Diebstähle und Brände berichtenden Reporter entgegentritt; in dem der Kreisschulinspektor zu dem Kandidaten auf die Lehrerstelle in — Solwytschegotsk oder Sarepta spricht).
Sieh mal einer her! . . .
Also: nach Beendigung seiner Unterhaltung mit dem Franzosen (der Franzose hatte sich bereits entfernt) trat die Persönlichkeit gegen alle Gepflogenheit nicht aus ihrem Arbeitszimmer, sondern blieb dort sitzen, vor dem Schreibtisch, als wäre Alexander Iwanowitsch überhaupt nicht da, als wäre er nicht ein guter Bekannter, sondern —weißder Teufel! — irgendein Bittsteller, dem es an Zeit nicht fehlen darf . . .
Es wurde immer dunkler — blauer.
In dieser sich ausbreitenden Dunkelheit, in der Halbdämmerung des Arbeitszimmerchens, saß die Persönlichkeit, den viereckigen Kopf ganz über den Schreibtisch gebeugt, und wie ein häßlicher dunkelgelber Fleck hob sich ihr Rücken im schwachen Fensterlicht ab.
Alexander Iwanowitsch zuckte scharf mit den Achseln und wandte dem Rücken seinen eigenen Rücken zu; er begann mit vollständig unabhängigem Ausdruck an seinem kleinen Schnurrbärtchen zu zupfen; er wollte eine beleidigte Miene aufsetzen, brachte es aber nur zu einer unabhängigen; er zupfte an seinem Bärtchen mit einem Ausdruck, als hätte er mit dem Rücken dort am Schreibtisch nichts zu tun. Eigentlich hätte er aufspringen und die Tür hinter sich zuschlagen sollen, doch das durfte er nicht: die Lebensruhe Nikolai Ableuchows hing von seinem Gespräch mit der Persönlichkeit ab; er konnte also weder weggehen noch die Tür zuschlagen.
Alexander Iwanowitsch hüstelte, um der Persönlichkeit seine Ungeduld kundzutun . . . Doch klang dieses Hüsteln wie das eines Abcschützen, den es beim Anblick des Lehrers im Halse zu würgen begann. Was war mit ihm? Woher diese Schüchternheit? Er fürchtete die Persönlichkeit keinesfalls: er fürchtete sich nur vor den Halluzinationen, die ihn in seiner Dachkammer heimzusuchen pflegten, vor der Persönlichkeit wahrhaftig nicht . . .
Die Persönlichkeit fuhr fort zu schreiben.
Alexander Iwanowitsch hüstelte wieder; dann wieder. Diesmal reagierte sie.
»Bitte sich zu gedulden . . .«
Dieser Ton!
Endlich erhob sich die Persönlichkeit leicht vom Sitz und wandte sich um; sie machte mit der dicken Handfläche eine einladende Geste:
»Bitte . . .«
Alexander Iwanowitsch wurde eigentümlich verwirrt; sein Zorn, der alle Grenzen überschritt, fand darin seine Äußerung, daß er die allgemein gebräuchlichsten Worte plötzlich vergessen hat:
»Ich . . . sehen Sie . . . ich komme . . .«
»?«
»Wie Sie wissen . . . oder übrigens . . . Zum Teufel!«
Und er brachte trocken und kurz hervor:
»Ich komme in einer geschäftlichen Angelegenheit . . .«
Die Persönlichkeit aber lehnte sich im Lehnstuhl zurück (wie gern hätte er sie jetzt in ihrem Lehnstuhl erwürgt!), maß ihn mit vernichtendem Blick und trommelte mit den dicken Fingern auf dem Tisch; dann brummte sie etwas gedämpft:
»Ich mache Sie aufmerksam . . . Ich habe heute für lange Erörterungen nicht genug Zeit, daher . . .«
Na, also!
»Ich würde Sie daher bitten, mein Lieber, sich kürzer und deutlicher zu fassen . . .«
Und das Kinn in das Doppelkinn vergrabend, wandte die Persönlichkeit einen starren Blick gegen das Fenster, hinter dem mit leichtem Geräusch die Blätter von den Bäumen fielen.
»Seit wann, bitte, haben Sie mir gegenüber diesen . . . diesen Ton? . . .« kam es plötzlich aus Alexander Iwanowitsch, doch klang es nicht bloß ironisch, sondern auch verlegen.
Die Person unterbrach ihn aber wieder: unterbrach in unangenehmster Weise:
»Also?«
Sie kreuzte die Hände über der Brust.
»Ich komme in einer Angelegenheit . . .« — und er stockte . . .
»Also?! . . .«
»Von großer Wichtigkeit . . .«
Zum dritten Male unterbrach ihn die Persönlichkeit:
»Das Maß der Wichtigkeit wollen wir lieber später erläutern.«
Und sie kniff die Äuglein zusammen.
Sonderbarerweise wurde nun Dudkin vollständig verwirrt, errötete und hatte das Gefühl, kein Wort hervorbringen zu können. Er schwieg.
Auch die Persönlichkeit schwieg.
Die vom Baum sich lösenden roten Blätter schlugen ans Fenster, wirbelten und flüsterten miteinander; die Zweige (die vertrockneten Skelette) zeichneten ein schwarzgraues Netz hinter den Glasscheiben; der Wind pfiff; das schwarz-neblige Netz begann zu schaukeln; das schwarz-neblige Netz begann zu raunen. Unzusammenhängend, verworren, hilflos erzählte Alexander Iwanowitsch von dem Inzident des Ableuchow; je weiter er aber, die Störungen und Hindernisse der Sprache überwindend, in der Erzählung kam, desto schroffer und trockener wurde die Haltung der Persönlichkeit; ihre Stirn glättete sich, die schwulstigen Lippen hörten auf zu saugen; bei der Stelle der Erzählung aber, wo der Provokateur Morkowin auf die Oberfläche trat, zog die Persönlichkeit bedeutungsvoll die Brauen in die Höhe und machte eine schnuppernde Bewegung mit der Nase, als hätte die Unverfrorenheit des Erzählers an dieser Stelle ihren Höhepunkt erreicht und die Geduld der Persönlichkeit ihre Grenze überschritten:
»Ah . . . Sehen Sie? . . . Und was haben Sie gesagt? . . .«
Alexander Iwanowitsch fuhr zusammen:
»Was ich gesagt hab’? . . .«
»Nichts, nichts; fahren Sie fort.«
Vollständig verzweifelt schrie Alexander Iwanowitsch heraus:
»Aber ich hab’ ja alles gesagt! Was soll ich noch erzählen?!«
Mit dem Kinn auf das Doppelkinn gestützt, senkte die Persönlichkeit den Kopf, seufzte, sah vorwurfsvoll, ohnedas übliche Zwinkern (der Blick war jetzt traurig), Alexander Iwanowitsch an und sagte kaum hörbar:
»Häßlich . . . Sehr, sehr häßlich! Sie sollten sich schämen! . . .«
Alexander Iwanowitsch fühlte, wie sein Herz hüpfte; und — o Grauen! — beim Worte »Sie sollten sich schämen« fühlte er, wie seine Wangen von einer Röte übergossen wurden; aus den Worten des furchtbaren Partners hörte er deutlich die verborgene, vernichtende Drohung heraus; Alexander Iwanowitsch fuhr unruhig auf seinem Sitz hin und her und bemühte sich, seine nicht begangene Schuld sich ins Gedächtnis zu rufen.
Seltsam: er hatte nicht den Mut zu fragen, was die verborgene Drohung eigentlich bedeute und was das Wort »sich schämen« in diesem Zusammenhang heißen sollte. Er schluckte es einfach herunter.
»Wie soll ich nun diesen provokatorischen Brief Ableuchow erklären?«
Die schmale niedere Stirn näherte sich der seinen.
»Wieso provokatorisch? Er ist keinesfalls provokatorisch . . . Ich muß Sie ernüchtern. Der Brief an Ableuchow war von mir geschrieben.«
Diese Worte waren mit einer Würde ausgesprochen, die alles, Zorn, Vorwürfe und verletzenden Ton überwog; mit einer Würde, die sich sogar bis zur Milde herabließ.
»Wie? Den Brief haben Sie geschrieben?«
»Und er ist durch Ihre Hände gegangen — erinnern Sie sich nicht? Oder haben Sie es vergessen?«
Das Wort »vergessen« sprach die Persönlichkeit so aus, als wäre es selbstverständlich, daß Alexander Iwanowitsch es nicht vergessen hat und sich nur — weiß Gott warum? — stellte, als wisse er nichts mehr davon; die Persönlichkeit ließ ihn übrigens deutlich fühlen, daß sie mit ihm jetzt wie die Katze mit der Maus zu spielen beabsichtige.
»Erinnern Sie sich: ich übergab Ihnen den Brief damals im kleinen Restaurant . . .«
»Ich gab ihn aber nicht Ableuchow, sondern Warwara Ewgrafowna, ich versichere Sie . . .«
»Ah was, lassen wir es doch, Alexander Iwanowitsch; wir sind unter uns, mein Lieber, und brauchen vor einander keine Komödie zu spielen: der Brief hat den Adressaten gefunden, alles andere sind leere Ausreden . . .«
»Und Sie sind der Verfasser des Briefes?«
Dudkins Herz hüpfte und klopfte, als wollte es sich losreißen und davonlaufen; wie ein Büffel würde es gleich zu brüllen anfangen und — sich davonmachen.
Die Persönlichkeit klopfte bedeutungsvoll auf den Tisch, wobei sie ihre Gleichgültigkeit mit steinerner Festigkeit vertauschte; dann rief sie:
»Warum wundern Sie sich? . . . Weil ich den Brief an Ableuchow geschrieben habe? . . .«
»Freilich . . .«
»Verzeihen Sie, ich muß aber sagen: Ihr Erstaunen grenzt an offenkundige Heuchelei . . .«
Dudkin näherte sich mit einem Ruck der Persönlichkeit.
»Hören Sie: entweder bin ich verrückt oder — Sie!«
Die Persönlichkeit zwinkerte ihm zur Antwort nur zu:
»Also!?«
Ihr ganzes Aussehen sprach:
»He, he, Väterchen: glaubst, ich habe nicht bemerkt, wie du vorhin geblickt hast? . . . Du glaubst, mit mir kannst du . . .«
Dann aber: ganz plötzlich wurde sie heiter, fast lustig, sah ihren Partner mit gekünstelter dummer Dreistigkeit an und schnalzte mit der Zunge, als wollte sie sagen:
»He, mein Lieber, ein gemeiner Kerl bist doch du, nur du, nicht ich . . .«
Laut sagte sie aber nur:
»Ahhh! . . .«
Dann aber, wie ein satanisches Lachen unterdrückend, ließ die Persönlichkeit streng, aber wohlwollend ernst ihren schweren Arm auf Dudkins Schulter nieder, dachte einen Augenblick nach und fügte hinzu:
»Häßlich . . . Sehr, sehr häßlich . . .«
Alexander Iwanowitsch überkam das ihm wohlbekannte sonderbare, drückende Gefühl des Vernichtetwerdens durch ein Etwas, das gleich auf dem dunkelgelben Fleck seiner Tapete auftauchen würde; Alexander Iwanowitsch empfand eine ihm unbewußte Schuld; er sah hin, und es war ihm, als hätte sich eine Wolke über ihn gesenkt, ganz tief; als lief diese Wolke von der Persönlichkeit zu ihm, als steige sie wie Rauch aus der Persönlichkeit hervor.
Die Persönlichkeit aber saß da, das schmalstirnige Gesicht ihm zugewendet, und sprach immer wieder:
»Häßlich . . .«
Ein schweres Schweigen trat ein.
»Übrigens werde ich die weiteren Beweise abwarten: ohne Beweise geht es natürlich nicht . . . Aber immerhin: die Anklage wiegt schwer; so schwer, das muß ich sagen, daß . . .« — Die Persönlichkeit seufzte.
»Aber welche Beweise meinen Sie?«
»Sie selbst will ich vorderhand aus dem Spiel lassen . . . Wie Sie wissen, gehen wir in der Partei nur auf Grund von Tatsachen vor . . . Die Tatsachen aber, die Tatsachen . . .«
»Was für Tatsachen meinen Sie?«
»Die Tatsachen über Sie werden gesammelt . . .«
Das hat noch gefehlt!
Die Persönlichkeit erhob sich vom Lehnstuhl, und während sie die Spitze einer Havanna abschnitt, begann sie leise eine Melodie zu pfeifen; sie hüllte sich in undurchdringliches Wohlwollen; dann schritt sie mit gemessenen Schrittenins Speisezimmer hinüber, faßte freundschaftlich den dort sitzenden Schischnarfijew an der Schulter.
In die Richtung der Küche, von wo ein angenehmer Bratengeruch herüberzog, rief er:
»Ich habe einen Mordshunger . . .«
Dann mit einem Blick den gedeckten Tisch musternd:
»Ein Schnäpschen noch . . .«
Dann schritt sie zurück in das Arbeitszimmer.
»Ihr Herumsitzen beim Hausmeister . . . Ihre Freundschaft mit der Polizei des Reviers, mit dem Hofknecht . . . Ihre Gelage in Gesellschaft des Polizeibeamten Woronkow . . .«
Auf den verständnislosen, fragenden Blick Dudkins — einen von Grauen erfüllten Blick — setzte Lipantschenko, das heißt die Persönlichkeit, ihr boshaftes, zweideutiges Flüstern fort, indem sie die Hand auf Dudkins Schulter legte.
»Als ob Sie es nicht selbst wüßten? Warum die verwunderten Augen? Sie wissen am Ende gar nicht, wer der Woronkow sei?«
»Wer Woronkow sei? . . . Woronkow? . . . Aber was hat das mit der Sache zu tun? . . . Was ist dabei? . . .«
Aber Lipantschenko, die Persönlichkeit, brach in ein Lachen aus und faßte sich vor Lachen an die Hüften:
»Das wissen Sie nicht?«
»Das behauptete ich nicht: ich weiß schon . . .«
»Na, also!«
»Woronkow ist ein Schreiber im Polizeirevier, und er besucht oft den Hausmeister Matwej Morschow . . .«
»Sie haben Zusammenkünfte, Sie unterhalten sich mit einem Polizeispitzel wie der letzte Provokateur . . .«
»Aber erlauben Sie . . .!«
»Sie brauchen kein Wort, kein Wort zu sagen«, wehrtedie Persönlichkeit, mit der Hand fuchtelnd, jeden Erwiderungsversuch des zu Tode erschrockenen Dudkin ab.
»Ich wiederhole: die Tatsache einer offenen Provokateurtätigkeit Ihrerseits ist noch nicht definitiv festgestellt, aber . . . Ich warne Sie, aus Freundschaft warne ich Sie, Alexander Iwanowitsch, mein Liebling; Sie haben ein böses Spiel begonnen . . .«
»Ich?«
»Treten Sie zurück, ehe es zu spät ist . . .«
Die Äuglein unter der schmalen Stirn sprachen:
»So—o—o, Väterchen . . . Wie hastdudir wohl die Sache gedacht?«
Der Speichel spritzende Mund aber sagte:
»Tuen Sie doch nur nicht so harmlos . . .«
»Es fällt mir ja gar nicht ein . . .«
»Ganz Petersburg weiß es schon . . .«
»Was weiß es?«
»Von der Zertrümmerung der Parteiorganisation in T. T.«
»Was?!«
»Ja, ja . . .«
Wenn es die Absicht der Persönlichkeit war, Dudkins Gedanken von der Spur, die ihn auf die wirklichen Motive ihres Benehmens bringen konnte, abzulenken, dann hat sie dieses Ziel durch die Nachricht von der Zerstörung der sehr wichtigen Organisation in T. T. völlig erreicht; diese Nachricht traf wie ein Blitzstrahl den schwachen Alexander Iwanowitsch:
»Herr Jesus Christus!«
»Jesus Christus!« — höhnte die Persönlichkeit, »Sie haben jedenfalls früher davon gewußt als wir alle . . . Wir wollen es aber, ehe die Sache nicht unwiderleglich erwiesen ist, auf sich beruhen lassen. Häufen Sie jedochdie Verdachtsmomente nicht: sprechen Sie kein Wort von der Ableuchowaffäre.«
Alexander Iwanowitsch schien in diesem Augenblick sehr idiotisch ausgesehen zu haben, denn die Persönlichkeit fuhr fort zu lachen und ließ dabei in aufreizender Weise den schwarzen Schlund zwischen den Reihen der Zähne sehen: genau so aufreizend gähnt der Schlund im Gesicht eines abgehäuteten Kadavers.
»Tuen Sie nicht so, mein Lieber, als wäre Ihnen die Rolle Ableuchows unbekannt gewesen; und als ob Sie nicht wüßten, daß ich ihn durch den gegebenen Auftrag dafür strafen wollte; tuen Sie doch nicht, als wüßten Sie nicht, wie dieser schuftige Kerl seine Rolle gespielt hat: ich gestehe, er hat es geschickt gemacht; seine Rechnung war gut — die Rechnung auf allerlei Sentiments und Charakterschwächen, wie zum Beispiel Sie es zu verkörpern geruhen.«
Mit dem Vorwurf der Charakterschwäche schien die Persönlichkeit einen Teil der Schuld von Alexander Iwanowitsch nehmen zu wollen und sich so in gewissem Grade weichen Gefühlen zugänglich zu zeigen; das hatte bewirkt, daß sich Alexander Iwanowitsch in der Tat wie von einer Last befreit fühlte und daß er es nun bereits versuchte, sich einzureden, er habe vorhin die Persönlichkeit falsch beurteilt.
»Ja, die Berechnung war schlau: der edle Sohn haßt seinen Vater und ist bereit, diesen ins Jenseits zu befördern; inzwischen treibt er sich unter uns herum, hält Referate und ähnliches Zeug; sammelt nebenbei Dokumente und wartet, bis er ihrer genügend besitzt, um sie — seinem verehrten Vater zu unterbreiten . . . Und dabei fühlen sie sich alle von dieser Schlange in sonderbarer Weise angezogen . . .«
»Aber, Nikolai Stepanowitsch, er hat . . . er hat geweint . . .«
»Geweint . . . Und das hat Sie in Erstaunen versetzt? . . . Sie sind doch ein eigentümlicher Kauz: Tränen — das ist ja etwas ganz Übliches bei den Verrätern aus der Intelligenz; ein gebildeter Verräter glaubt selbst an die Aufrichtigkeit der Tränen, die er vergießt; und vielleicht bedauert er es auch in diesem Augenblick, daß er Verräter geworden ist; aber uns nützen diese Tränen nicht im geringsten . . . Sie, Alexander Iwanowitsch, weinen doch auch jetzt . . . Natürlich will ich nicht damit sagen, daß auch Sie ein Schuldbelasteter sind . . .«
Und das war ja eine Lüge, denn soeben noch hatte die Persönlichkeit von einer solchen Schuld gesprochen; diese offenbare Lüge erfüllte Alexander Iwanowitsch für einen Augenblick mit unendlichem Grauen; durch sein Unterbewußtsein flog es wie ein Blitz: »Hier wird dir ein Handel vorgeschlagen: du wirst aufgefordert, eine niederträchtige Verleumdung als wahr hinzunehmen und mit diesem Preis eine Verleumdung deiner eigenen Person abzuwehren« . . . Doch blitzte es ebennurim Unterbewußtsein auf, denn die Wahrheit voll zu sehen hinderte die gegen den Tisch geneigte, schmale Stirn der Persönlichkeit, die bedrückende Atmosphäre eines nahenden Verhängnisses, das Flimmern in den kleinen Äuglein und das »So, soo, Vä—terchen« . . . Und Dudkin begann bereits zu glauben, daß er der Verleumdung glaube.
»Sie sind, Alexander Iwanowitsch — davon bin ich überzeugt — rein; was aber Ableuchow betrifft: hier in dieser Schublade hab’ ich Dokumente, die ich im nötigen Augenblick dem Parteigericht unterbreiten werde . . .«
Da begann die Persönlichkeit in wildem Tempo auf und ab durchs Zimmer zu rennen, von einer Ecke schräg zur anderen, und schlug sich mit der dicken Faust auf die Brust. Ihre Stimme aber trug Töne wahrhaftigen Gekränktseins bis zur Verzweiflung — ja, ihre Stimme klangdirekt vornehm (der Handel schien günstig abgeschlossen zu sein).
»Später einmal wird man mich — ich versichere Sie — verstehen: jetzt zwingen mich die Ereignisse, die Seuche in ihrem Herd zu ersticken . . . Ja . . . ich handle wie ein Diktator, kraft mir selbst erteilter Befugnisse . . . Es fiel mir schwer, glauben Sie mir, es fiel mir sehr schwer, das Urteil zu unterschreiben . . . Aber . . . Dutzende gehen zugrunde — Ihres Senatorsöhnchens wegen . . . Dutzende gehen zugrunde! . . . Viele sind schon verhaftet . . . Erinnern Sie sich: auch Sie waren schon einmal in größter Gefahr, zugrunde gerichtet zu werden.« (Alexander Iwanowitsch dachte bei diesen Worten, daß er ja schon zugrunde gerichtet worden war.) ». . . Wenn nicht ich . . . Denken Sie an Jakutsk! . . . Sie aber haben Mitleid, setzen sich für ihn ein! . . . Weinen Sie nur, weinen Sie! Grund dazu ist genug da . . . Dutzende werden zugrunde gerichtet!!! . . .«
Die Persönlichkeit blitzte noch einmal mit den Äuglein und verließ das Zimmer.
Dunkel wurde es, schwarz.
Die Dunkelheit überfiel alles; sie heftete sich an alle Gegenstände des Zimmers; Tische, Schrank und Lehnstuhl — alles tauchte in Dunkelheit unter; in dieser Dunkelheit saß mutterseelenallein Alexander Iwanowitsch; Dunkelheit betrat seine Seele — er weinte.
Alle Tonnuancen in den Worten der Persönlichkeit klangen jetzt wieder in Dudkins Ohr, und sie erschienen ihm jetzt aufrichtig; nein, die Persönlichkeit hat nicht gelogen; sein Mißtrauen und Haß gegen sie erklären sich nur durch den Zustand, in dem er sich gerade befand: seine nächtlichen Delirien haben sich für ihn zufällig — durch ein Wort, eine Geste — mit der Persönlichkeit verknüpft.
Eine Lautassoziation — nichts weiter.
Wohl ist es wahr: er hatte auch schon früher Ähnliches der Persönlichkeit gegenüber empfunden; aber wahr ist es auch, daß er der Persönlichkeit verschiedenes zu verdanken hatte und daß sie sich seiner annahm; der Widerwillen, das Grauen vor ihr hat gar keine Berechtigung und erklärt sich nur durch seine Delirien: durch die Erscheinung der braungelben Flecke auf seiner Tapete.
Ach, er ist eben krank, das ist es . . .
Die Dunkelheit brach herein: sie überfiel alles, besiegte alles; ernst und drohend traten Tisch, Lehnstuhl und Schrank im Raum hervor; die Dunkelheit trat in seine Seele ein — er weinte: zum erstenmal erblickte er vor sich Nikolai Apollonowitsch in seiner wahren moralischen Gestalt. Wie kam es, daß er ihn nicht früher erkannt hatte? Wie kam es? . . .
Er erinnerte sich seiner ersten Begegnung mit Ableuchow (in einem ihm bekannten Zirkel hielt damals Nikolai Apollonowitsch einen Vortrag, in dem er alle Werte umwertete): der allgemeine Eindruck war kein angenehmer; dann später: es kann nicht geleugnet werden: Ableuchow hatte doch ein ganz besonderes Interesse für Parteigeheimnisse gezeigt; mit der plump-zerstreuten Miene eines Degenerierten hat er überall seine Nase hineinzustecken gewußt: die Zerstreutheit kann ebensogut eine Heuchelei gewesen sein. Alexander Iwanowitsch sagte sich: ein Provokateur höheren Genres kann sehr wohl das Äußere Ableuchows haben — diese verträumt traurigen Augen (die einem fremden Blick nicht standhielten) wie den Froschausdruck des langgezogenen Mundes; langsam näherte sich Alexander Iwanowitsch der Überzeugung, daß sich Ableuchow in der ganzen Sache höchst sonderbar aufgeführt hatte; und — Dutzende gehen zugrunde! . . .
Je mehr er sich selbst zu überzeugen suchte, daß an derZerstörung der Organisation in T. T. Ableuchow beteiligt war, um so mehr wich das bedrückende Gefühl, das ihn während des Gesprächs mit der Persönlichkeit befallen hatte; eine gewisse Leichtigkeit und Sorglosigkeit rann in seine Seele. Alexander Iwanowitsch hatte seit jeher den Senator besonders gehaßt. Er empfand Apollon Apollonowitsch gegenüber einen Ekel, einen förmlichen Ekel, wie ihn die Menschen vor der Tarantel empfinden; Nikolai Apollonowitsch aber hatte er zuweilen direkt geliebt; jetzt hatten sich für ihn der Senator und der Senatorsohn zu einem gemeinsamen Etwas verschmolzen, das in ihm nicht nur Ekel auslöste, sondern auch den Wunsch hervorrief, diese Tarantelbrut auszurotten, zu vernichten.
»O, ihr Gewürm! . . . Dutzende gehen zugrunde! . . . O, ihr Gewürm . . .«
Selbst die Tausendfüßler sind besser, selbst die gelbbraune Tapete, selbst die Persönlichkeit; in der Persönlichkeit ist wenigstens Größe des Hasses vorhanden; mit der Persönlichkeit kann man sich wenigstens in dem Wunsch, zu zerstören, zu vernichten, eins fühlen.
»O, ihr Gewürm! . . .«
Aus dem Zimmer nebenan lockte bereits der gastfreundlich gedeckte Tisch; allerlei Schmackhaftigkeiten waren auf dem Tisch aufgestellt: Wurst, Aal und kalter Kalbsbraten; man hörte die etwas ermüdete Stimme der Persönlichkeit und die des Schischnarfijew, der sich verabschiedete; endlich war er fortgegangen.
Gleich darauf trat die Persönlichkeit in das Arbeitszimmer, trat zu Alexander Iwanowitsch und legte ihm die schwere Hand auf die Schulter:
»So ist es! . . . Es ist besser, wir streiten uns nicht, Alexander Iwanowitsch: Wenn die, die zueinander gehören, sich herumstreiten, . . . was soll dann überhaupt werden? . . .«