Chapter 4

Deshalb teile ich auch nicht deine Meinung, daß eine Auseinandersetzung mich ihm wieder näher bringen könnte. Was in aller Welt sollte ich ihm auseinandersetzen? Kann ich ihm sagen: Lieber Elmenreich, Sie sind ja ein ganz anderer Mensch, als ich dachte –?

Und dann! Versuch' einmal, ihm mit Vorwürfen zu kommen! Da hast du schon verspielt. Er übertrumpft dich gleich: »habe ich nicht immer gesagt, daß ich ein ganz gewöhnliches Subjekt bin, ein unerträglicher Kerl, ein Mensch, den man sich drei Schritt vom Leib halten muß –« und so fort. Das ist freilich nur Maske. Im Grunde verletzt es ihn so wie uns Uebrige, wenn man schlecht von ihm denkt, obwohl er jedermann beständig dazu auffordert – – Nein, nein, es giebt keine Reparatur durch Auseinandersetzungen, sobald man von jemandem enttäuscht ist. Was immer zwei Menschen in einem solchen Fall einander sagen: Der eine kann es nicht verzeihen, daß er enttäuscht worden ist, und der andere kann es nicht verzeihen, daß er enttäuscht haben soll ...

»Ja, große Dinge sind im Werk«, sagte Pipin und errötete vor Vergnügen. »Wir haben stundenlange Unterredungen, der Meister, der Graf und ich. Was sagen Sie zu diesem Trifolium, gnädige Frau? Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich zu solchen geistigen Ehren gelangen werde!«

»Sie sind eben auch ein maßlos eitler Patron!« brummte Elmenreich.

Dagegen verwahrte sich Pipin mit Eifer. Ob er sich denn nicht darüber freuen dürfe, daß so überlegene Menschen wie der Meister und der Graf ihn ihres Umgangs würdigten? Und ob es denn nicht ein einwandfreier Ehrgeiz sei, nach geistiger Erweckung zu trachten? Nach der Erleuchtung, die man empfange, wenn höhere Geister sich einem offenbaren?

»Erweckung! Erleuchtung! Schau, schau! So weit sind Sie schon vorgeschritten? Dietermini techniciwenigstens haben Sie brav auswendig gelernt! Aber ich werde Ihnen etwas sagen, Pipin: wenn zwei Raubvögel einen Spatzenin ihre Mitte nehmen, so thun sie es nicht, um ihn zu »erwecken« oder zu »erleuchten«, sondern um ihn zu rupfen.«

Pipin wurde dunkelrot bis an die Haarwurzeln. Er stand auf, ging aufgeregt einige Schritte hin und her und schien mit einer heftigen Antwort zu ringen. Elmenreich aber fuhr fort:

»Nicht als gewöhnliche Gauner natürlich, nicht mit eingestandener Hinterlist, Gott bewahre! Sondern in aller Unschuld und Selbstverständlichkeit, als eine Sache, die geborene Raubvögel thun können, ohne sich etwas zu vergeben. Das gehört zu den Eigenheiten derspecies, lieber Pipin; und Sie würden gut daran thun, wenn Sie von Ihrem Standpunkt aus sämtliche »höhere Menschen« ein für allemal als Raubvögel betrachteten und sich mit ihnen nicht weiter einließen.«

Als er aber sah, daß er damit Pipins Mitteilsamkeit abgeschnitten hatte, lenkte er wieder ein:

»Uebrigens thun Sie, was Sie wollen; mich geht ja die Sache nichts an. Ich will nichts gesagt haben – Gott bewahre mich davor, daß ich mir einfallen lasse, einen erwachsenen Menschen zu bevormunden –« woran er noch einige längere Betrachtungen über das Verkehrte und Vergebliche des Besserwissens fügte.

Pipin fand noch immer nicht den Faden seiner Mitteilung wieder; da fragte er endlich geradezu: »Also Pipin, legen Sie nur los: was ist denn da oben im Werk?«

»Sie sind heute nicht in der Stimmung«, versetzte Pipin ausweichend. »Ich sehe schon, heute hätte ich wieder Pech mit jedem Wort –«

Elmenreich ärgerte sich über diesen ungewohnten Widerstand. Es war unverkennbar: er wollte nicht ausgeschlossen sein von den Vorgängen, zu denen man ihn nicht mehr einlud. Sollte die wegwerfende Gleichgültigkeit, die er sonst diesen Vorgängen gegenüber zur Schau trägt, nicht ganz echt sein? Nur eine Form, die er sich zurechtgelegt hat, weil er sich in keiner anderen äußern kann? Aber niemals würde er das zugeben. Er, der nicht ansteht, sich selbst das Schlechteste nachzusagen, wenn es darauf ankommt, seine Selbsterkenntnis zu zeigen, er würde sich um keinen Preis diese kleine Schwäche eingestehen. Denn als ich nun halb im Scherz zu ihm sagte: »Sie interessieren sich also doch ein wenig für das, was auf dem Berg Alvernia weiter geschieht –?« stieß er nur einen kleinen verächtlichen Pfiff aus, stand auf und ging davon.

»Warum haben Sie das gesagt?« fragte Pipin vorwurfsvoll. »Eine solche Bemerkung ist doch das sicherste Mittel, ihn zu vertreiben. Undwas für ein Glück wäre es, wenn er sich wirklich dafür interessierte!«

Dann erzählte er: Nichts Geringeres habe der Graf im Sinne, als »eine Verbindung mit der übersinnlichen Welt« zu finden. Und zu diesem Zwecke veranstalte er täglich mit dem Meister Uebungen. Ueber diese Uebungen wußte Pipin nichts Näheres; er war noch nicht vorgeschritten genug, um sie mitzumachen, so wurde ihm gesagt. Ein glücklicher Zufall aber habe es gefügt, daß in der Person der Bäuerin dem Meister ein Medium von wunderbaren Fähigkeiten zur Verfügung stehe. Der Graf selbst sage, verglichen mit dieser Frau sei er nur ein bescheidener Anfänger in der Wissenschaft des Uebersinnlichen. Und doch sei der Graf von einer so großen Entschlossenheit und Leidenschaft im Experiment, daß er geäußert habe: »Für eine neue Sensation setze ich jeden Augenblick Leib und Leben auf's Spiel.« Dabei trage er sich mit sehr weitschauenden Plänen. Die Resultate dieser Forschungen sollten nicht das Geheimnis einiger Weniger bleiben: Dem Meister müsse ein Wirkungskreis geschaffen, es müsse ein Weg gefunden werden, auf dem er sich der Welt offenbaren und dazu beitragen könne, sie aus den Wirrnissen der Gegenwart zu erlösen.

Anfänglich dachte der Graf an die Veranstaltung großer Volksversammlungen, in denen derMeister persönlich zum Volke reden und durch die Kraft des gesprochenen Wortes Macht über die Gemüter gewinnen sollte. Denn der Graf – hier wurde Pipin ein wenig unsicher – der Graf teile durchaus nicht die Meinung, daß das Auftreten des Meisters kürzlich kein glückliches gewesen sei. Obwohl er sich über den erhofften Erfolg nach einer gewissen Richtung hin keiner Täuschung hingeben könne, erscheine merkwürdigerweise in seiner Erinnerung das »Fest des ersten Versuches« als eine geradezu epochale Veranstaltung, als eines der ergreifendsten und bedeutendsten Ereignisse seines Lebens, das bei allen Teilnehmern einen unauslöschlich tiefen Eindruck hinterlassen haben müsse.

»Ich bin schon ganz irr an meiner eigenen Erinnerung«, fuhr Pipin fort. »Der Graf ist so durchdrungen von seiner Auffassung, daß er keinen Einwand gelten läßt. Zum Glück will der Meister selbst nicht aus seiner Verborgenheit hervortreten und zeigt sich nur ungern einer größeren Volksmenge.«

Und so hatte Pipin, der durch den Einfluß des Grafen trotzalledem einigermaßen »irr an seiner Erinnerung« geworden zu sein schien, die Gründung einer Zeitung vorgeschlagen, derenspiritus rectorMeister Wendl sein solle – eine Idee, die der Graf mit Begeisterung aufgriff.Diese Zeitung sollte das Organ der Vermittlung zwischen dem Meister und der Welt bilden; der Graf wolle auch dafür sorgen, daß sich ein Kreis von schreibekundigen Jüngern um den Meister versammle, damit »alle seine dunklen Worte in eine gemeinverständliche Fassung gebracht und den niedrigeren Intelligenzen verdolmetscht« würden. Ein solches Unternehmen müsse ohne Zweifel das ganze geistige Leben der Gegenwart reformieren; erst jetzt werde die alte Erfindung der Buchdruckerkunst ihre wahre segensreiche Kraft entfalten können, denn das gedruckte Wort reiche ja unendlich weiter als das gesprochene und geschriebene; ein neuer Menschheitsbund, ein Bund der erlesensten Geister werde auf diese Weise ins Leben treten; neue Geisteskräfte, die bisher in der Menschheit geschlummert hätten, würden Gestalt annehmen und zu wirken beginnen ...

Die gräflich Hermosasche Phantasie hatte ein bereitwilliges Gefäß gefunden, aus dem sie nun, erwärmt durch die Flamme dieses naiven Herzens, wieder überfloß. Pipin glaubt, was er sagt, er ist innig überzeugt davon – und doch ist er ein schlechter Apostel. Man hört ihm zu und lächelt. Man lächelt – selbst wenn man ihm so gutgesinnt ist wie ich.

Er bemerkte es und stutzte. »Sie sind alsonicht der Meinung, daß eine solche Zeitschrift Erfolg haben müßte, gnädige Frau? Aber wenn zwei Menschen wie Meister Wendl und der Graf die Welt nicht in Bewegung setzen können, wer sollte es dann? Da muß doch was ganz Großartiges zu Stande kommen, nicht? Meinen Sie nicht?«

Ich fand es in diesem Augenblick unmöglich, seinen guten Glauben zu stören. »Warten wir erst, bis die Zeitung herauskommt«, sagte ich ausweichend. »Bis dahin ist ja noch lange Zeit –.«

»Oh nein! Die Vorarbeiten sind weiter fortgeschritten, als Sie denken –«

»Aber einen Verleger oder Herausgeber, kurz einen Menschen, der das Geld dazu hergiebt, werden Sie nicht so leicht finden, fürcht' ich –«

Pipin errötete wieder heftig. »Der ist schon gefunden«, versetzte er mit niedergeschlagenen Augen. »Der Graf wird Herausgeber und – ich Eigentümer sein.«

»Das heißt, Sie werden derjenige sein, der die Geschichte bezahlt? Denn Sie wissen doch, der Graf hat kein Vermögen?«

»Ganz richtig! Der Graf wird seinen Teil im Geistigen beitragen und ich im Materiellen, so haben wir es vereinbart, und so ist es auch in Ordnung. Umgekehrt ginge es freilich nicht!«

Dabei lachte er von Herzen. Und mit seiner wichtigsten Miene erzählte er, alles sei schon bis ins kleinste Detail ausgedacht und durchgesprochen – sogar einen Namen habe der Graf schon gefunden. »Leiweriam«, so werde das Blatt heißen.

»Leiweriam? aus welcher Sprache ist das?«

»Aus gar keiner. Es ist kein Sinnwort, sondern ein Klangwort, wie der Graf sagt, nämlich ein Wort, das nicht einen Begriff auslöst, sondern durch den bloßen Klang ein Gefühl. Auf das Gefühl muß man wirken, nicht auf den Verstand, das ist die Ansicht des Meisters; und darin liegt nach seiner Meinung der große Fehler der europäischen Kultur, daß sie den Verstand der Menschen hypertrophiert hat, daß sie sozusagen eine Ueberproduktion an Bewußtsein erzeugt hat –«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich eilig. Wenn nun auch Pipin anfängt, zu predigen und Weltanschauung zu propagieren –!

* * *

Abends bei Tisch, bevor der Graf da ist.

Dr. Kranich zu Pipin: »Wir müssen wieder einfältig werden, Pipin, schlicht und einfältig wie unsere Großväter. Unser Brot selbstbacken, unseren Kohl selbst bauen, eine Familie gründen, an unserem Charakter arbeiten. Keinen Alkohol mehr, kein Nachtkaffeehaus! Auch keine französischen Romane mehr: Die Bibel als einzige Lektüre, dieses Buch voll strenger Seelengröße und Sittenreinheit –«

Elmenreich: »Mna!«

Pipin nachdenklich: »Jetzt weiß ich nicht, Dr. Kranich, meinen Sie das mit dem Kohl bauen und dem Brot backen wörtlich oder nur so allegorisch? Und warum eigentlich soll man das alles selber machen?«

Dr. Kranich: »Um des inneren Friedens willen.«

Elmenreich: »Lieber Arthur, Sie ergeben sich neuestens einem unverantwortlichen Kultus der Phrase. Sie bemerken gar nicht, daß Sie da einen sehr gewöhnlichen Kurs eingeschlagen haben. Das ganze Leben des gewöhnlichen Menschen besteht aus einer Summe von Phrasen. Sobald man aber diese Phrasen auf ihren reellen Gehalt hin durchdenkt –«

Dr. Kranich, in seinem wohlwollendsten Ton:

»Lieber Elmenreich, Sie bewerten die Phrase ganz falsch. Sie sind eben leider ein Intellektualist. Der Intellektualist denkt über die Phrase nach und vernichtet damit ihre wahre Funktion.Die Phrase ist bestimmt, Empfindungen zu wecken und Instinkte auszulösen. Deshalb ist die Phrase das Wirksame und Mächtige; Gedanken aber sind das Ohnmächtigste, was es auf der Welt giebt.«

Elmenreich: »Nur, solange die große Mehrzahl noch auf dem Standpunkte der Negerintelligenz steht, für die das Denken etwas Unerträgliches ist. Man müßte eben die Leute vor allem denken lehren, denken –«

Dr. Kranich: »Um Gottes willen, das fehlte gerade noch, daß auch der Mob anfinge zu denken! Lassen wir doch der großen Mehrzahl ihre gesunde Dummheit; der gebildete europäische Mensch ist ohnedies nur mehr ein Erkenntniskrüppel und Begriffsidiot.«

Hier ergreift Pipin mit glänzenden Augen seine Hand. »Wie glücklich bin ich, daß Sie auch dieser Ansicht sind!« sagt er frohlockend. »Ja, wenn wir solche Bundesgenossen finden –«

»Bundesgenossen? Wir?« Dr. Kranich runzelt seine schöngeschwungenen Augenbrauen.

»Ja, Bundesgenossen, oder wenn Sie wollen, Mitarbeiter! Sie müssen Mitarbeiter unserer Zeitschrift werden, Sie haben ganz dieselben Ansichten und Gesinnungen wie wir; wir haben eine gemeinsame – eine gemeinsame Weltanschauung –«

Dr. Kranich maß ihn vom Fuß zum Kopf mit einem boshaften Blick. Dann sagte er freundlich lächelnd:

»Oh, haben wir das? Wenn es Ihnen Spaß macht – Ihr Mitarbeiter, Pipin, kann ich werden; aber den Meister und den Grafen lassen »wir« aus dem Spiel. Mit denen haben »wir« keine gemeinsamen Bestrebungen!«

»Aber ja, die müssen doch dabei sein! Ohne die geht es doch nicht!«

Dr. Kranich lächelt ohne zu antworten. Dieses Lächeln ist vieldeutig und unergründlich, es ist voll Mutwillen und Bosheit, voll Behagen und Hinterlist, voll Selbstgenügsamkeit und Menschenverachtung – bestrickend und abschreckend zugleich.

*

Pipin schöpft tief Atem und wendet sich zu Elmenreich:

»Und an Sie, Herr Doktor, habe ich auch eine Bitte –«

Elmenreich: »Durch Bitten ist bei mir nichts zu erreichen, lieber Pipin.«

Pipin: »O ich werde nicht nachlassen! Ich werde Sie so lange bitten, Herr Doktor, bis ich Ihnen lästig werde, bis Sie ja sagen, nur ummich los zu werden. Bitten, bitten werde ich – und Sie können keinen Widerstand leisten, wenn man bittet, deshalb sagen Sie, daß man durch Bitten nichts bei Ihnen erreicht.«

Elmenreich, halb ärgerlich, halb liebevoll: »Kindskopf!«

Pipin: »Also ich fange gleich an! Machen Sie es mir leicht – was liegt Ihnen denn daran? Sie sind ja doch viel zu gerecht und zu objektiv, als daß Sie einen Menschen wie Meister Wendl nach einem einzigen mißglückten Versuch beurteilen wollten –«

Elmenreich, barsch: »Davon kein Wort mehr! Dorthin bringen Sie mich nicht, daß Sie's nur wissen. Machen Sie doch Ihre Augen auf, Pipin! Sie waren ja bis vor kurzem ein leidlich vernünftiger Bursche! Es wäre mir leid, wenn Sie in die unrechten Hände kämen. Sagen Sie mir nur, was suchen Sie denn dort oben bei diesem Verschleißer von verschimmelten Weltanschauungen? Glauben Sie wirklich, so ein Amateur-Apostel, der das Religionsstiften als Sport betreibt, kann von einem modernen Menschen ernst genommen werden?«

»Anfänglich schien mir das auch; aber jetzt bin ich bekehrt. Meister Wendl ist etwas, wofür wir modernen Menschen leider kein Verständnis haben – er ist ein Weiser!«

»Sie meinen wohl, Pipin, man braucht bloß ein Dutzend alter Schmöker gelesen und aufgehört haben, sich zu waschen, um ein »Weiser« zu sein? Sie meinen wohl, man ist schon ein »Weiser«, wenn man einen haarigen Mantel trägt und mit Scherben aus der metaphysischen Rumpelkammer hausieren geht? Solche Weise können wir alle jeden Tag werden!«

»Aber warum werden wir es nicht, wenn das so leicht ist?«

»Weil wir zu viel seelisches Anstandsgefühl haben, mein lieber Pipin! Weil wir nicht schamlos genug sind, uns als Narren aufzuspielen! Weil wir nicht unredlich genug sind, zusammengelesene Gedanken für eigene auszugeben! Weil wir nicht –«

In diesem Augenblick kam der Graf. Da brach Elmenreich sofort das Gespräch ab.

(Aus einem Briefe.)

3. September 1893.

... Der Herbst verkündigt sich. Und er verkündigt sich hier wie der Frühling und der Sommer – durch Regen. Aber dieser Regen istnoch ausgiebiger, noch eindringlicher, noch hartnäckiger. Er fällt mit der eiligen Wucht eines Platzregens vom Himmel, zwei Tage, drei Tage, vier Tage, unausgesetzt, eintönig, hoffnungslos. Und kein Windstoß kommt zwischen den hohen Bergwänden herein; unbeweglich liegen die Wolken auf den Abhängen, und alles Wasser, das sie heruntergießen, steigt unverweilt aus den Wäldern wieder zu ihnen hinauf.

Der Wirt und die Kellner gehen mit Armensündermienen herum und entschuldigen sich von früh bis abends für dieses unverantwortliche Wetter. Stündlich sehen sie nach, ob es denn noch nicht schneien will. Denn »wenn's schneit, wird's schön«, und dann beginnt die große Herrlichkeit des Herbstes, das beständige Wetter, auf das sie die Gäste unermüdlich von Woche zu Woche vertröstet haben.

Aber jetzt ist der Zorn über den »ewigen Regen« nicht mehr zu beschwichtigen. Die Langeweile wächst und mit der langen Weile der Ueberdruß an den Genüssen des Landlebens. Alle Promenaden, alle Aussichtspunkte, alle Jausenstationen hat man unzählige Male abgegrast; was steht da noch Großes zu erwarten, wenn auch nächste Woche wieder schönes Wetter wäre? Und die Vorstellung der Stadt mit ihren Kaffeehäusern und Theatern, mit ihrem vielsagendenLärm und ihrem geschäftigen Hinundher, das den Eindruck einer so wunderbaren Wichtigkeit in der Seele der Müßiggänger erzeugt, wird täglich unwiderstehlicher. Flucht, Flucht von allen Seiten. Der Speisesaal ist schon halb leer, und so still geht es zu, daß Elmenreich mit seiner lauten Stimme für sämtliche Anwesende spricht, sobald er eine Bemerkung macht. Er ist der Chorführer der Mißvergnügten; von Tisch zu Tisch steigert sich beim Eintreten sein Grimm über die unerhörten Unbilden der Witterung. »Morgen früh reise ich ab«, das ist sein stehendes Wort. Da er alle Anwesenden kennt und mit jedem dritten Menschen einen Händedruck wechselt, dauert es stets ziemlich lange, bis er in den Hafen unseres eigenen Tisches einläuft ...

* * *

Im Speisesaal. Dr. Kranich zu Elmenreich, der eben seine Bekannten absolviert hat:

»Eine scheußliche Unsitte, dieser europäischeshakehands-Verkehr! Man sieht, daß Sie noch robuste Nerven haben, Elmenreich, die gesegneten Nerven der früheren Generation! Alle diese heißen oder kalten, fetten oder knochigen, schwitzenden oder klebrigen Hände der Reihe nach in diemeine zu bekommen –fi donc! In diesem Punkt halte ich es mit den Chinesen, die das Christentum ablehnen, weil die Missionäre ihnen gleichzeitig das Handgeben angewöhnen wollen.«

Statt zu antworten, starrte Elmenreich mit angespannter Aufmerksamkeit auf die Eingangsthür. Man sah durch die Scheiben eine Ansammlung von Regenschirmen und Regenmänteln, die sich eine Zeitlang draußen herumbewegten, ehe die Glasthür sich öffnete.

Dann trat Pipin mit Eugenie ein, hinterdrein die Stiefmutter an der Seite des Grafen. Sie ließen sich an einem Tische in einiger Entfernung von uns nieder. Der Graf schien sich verabschieden zu wollen, obwohl die Stiefmutter ihn mit ihrem zuthunlichsten Lachen zum Bleiben nötigte, und schon einen Stuhl zurechtrückte. Allein erst, nachdem Pipin sich ins Mittel gelegt hatte, setzte sich der Graf, zögernd und widerwillig, nieder. Mutter und Tochter bemühten sich fortwährend angelegentlich um ihn; Eugenie wurde beinahe lebhaft und ihre Augen leuchteten in erhöhtem Glanz, so oft sie sich auf das Gesicht des Grafen richteten.

Elmenreich hatte aufgehört zu essen. Sprachlos verfolgte er die Dinge, die da drüben geschahen, als seien es die seltsamsten und unerhörtesten Vorgänge.

Er murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Und dann zu mir gewendet, blaß vor Erregung:

»Sehen Sie, das ist es, was ich an den Weibern verächtlich finde: diesen Mangel an Ehrgefühl, diese Unfähigkeit zu unterscheiden! Unglaublich! Sich so gewohnheitsmäßig anzubieten, ohne jede Empfindung dafür, was für ein Exemplar man vor sich hat! Es ist eine Schmach!«

Das sagte er halblaut in seinen Bart, unverwandt hinüberstarrend. Endlich stieß er seinen Sessel zurück, legte die Serviette mit einem Faustschlag auf den Tisch und ging hinüber.

Dort begrüßte er kurzangebunden die Damen, übersah den Grafen und setzte sich demonstrativ zwischen diesen und Eugenie. Das Gesicht des Grafen hellte sich auf, dasjenige Eugeniens verfinsterte sich.

Ich bemerkte zu Dr. Kranich, Elmenreich mache es wie die Hunde, die einen Bissen stehen lassen; aber wenn ein zweiter kommt, der danach schnappt, so wollen sie ihn doch selber haben.

»Stimmt nicht ganz«, antwortete Dr. Kranich lächelnd. »Denn hier ist kein zweiter Hund, der nach dem Bissen schnappt. Zum mindesten nicht der Graf.«

»Dann aber verstehe ich wirklich diese Eifersucht nicht.«

»Es ist auch nicht Eifersucht. Einer so simplen und primitiven Empfindung ist Elmenreich gar nicht fähig.«

»Wenn nicht Eifersucht, was ist es sonst?« Dr. Kranich zuckt die Achseln. »Giebt es nicht viele Empfindungen, für die wir noch keine Etikette besitzen? Der Fall Elmenreich scheint so zu liegen: Elmenreich hält diese junge Dame nicht für geeignet, die Würde seiner Frau zu bekleiden. Er achtet sie nicht.Néanmoinsist er verliebt in sie – und darum wird er immer wild, wenn sie etwas thut, was ihm besonders unwürdig erscheint. Denn seine Liebe möchte gar zu gern über seinen Verstand Herr werden, wie das so üblich ist bei der Liebe. Elmenreichs Verstand ist aber nicht unterzukriegen; er sitzt ihm auf dem Genick wie der gelbe Zwerg im Märchen, und Elmenreich muß dorthin laufen, wohin der befiehlt. Und weil der gelbe Zwerg um eine Nasenlänge über den Menschen Elmenreich hinausragt, so hält ihn dieser für ein höheres Wesen, und reicht ihm unterthänigst sein Herz zum Fraße hin. Manchmal aber will sich das Herz nicht gutwillig fressen lassen – und dann wird Elmenreichs Betragen eben »unverständlich«.

* * *

In einer Regenpause ging ich heute mit ihm den Fußweg um den See. Der Weg ist beinahe einsam geworden, so viele Sommergäste hat das schlechte Wetter schon vertrieben. Alle Uebriggebliebenen benützen den ersten trockenen Augenblick, um wieder ihren Spaziergang anzutreten; Elmenreich findet noch genug Hände zu schütteln.

Auch Eugenie mit ihrer Stiefmutter kommt uns entgegen.

Es war an einer Stelle unweit des Ortes, wo der Weg eine ziemlich lange Strecke geradlinig fortläuft; man kann dort einen Kommenden schon von weitem erblicken. Auf einmal machten die beiden Damen kehrt und gingen ihren Weg wieder zurück. Nach einigen hundert Schritten bogen sie in einen Seitenweg ein, der dort mündet. Es war die ganz unzweideutige Ablehnung einer Begegnung.

Elmenreich hatte im ersten Moment seine Schritte beschleunigt; dann blieb er stehen und sah starr den Verschwindenden nach. Mit einem finster schmerzlichen Ausdruck schüttelte er ein paarmal den Kopf wie über etwas Unbegreifliches, für das es nach dem normalen Verlauf der Dinge keine Erklärung giebt. Es schien mir, als ginge ihm dieser kleine Zwischenfall sehr nahe, mehr noch, daß er ihm unverhältnismäßig wehe that.

Da es ganz vergeblich ist, zu seiner Seele im Augenblick der Empfindung einen Zugang zu suchen, begnügte ich mich, gleichfalls nur den Kopf zu schütteln. Aber selbst dieses Kopfschütteln war schon ein zu eigenmächtiger Eingriff in sein Erleben. Kaum bemerkte er es, da wurde seine Miene gleich beherrscht und kalt. Er lachte höhnisch auf.

»Sie sehen, gnädige Frau, ich bin in Ungnade gefallen! Das Fazit ist, daß man mich ausstreicht und sein Glück anderwärts versucht. Ist es der eine nicht, so ist es der andere. Fräulein Eugenie scheint übrigens eine Vorliebe für uneinnehmbare Festungen zu haben: je unzugänglicher man ist, desto erpichter wird sie. Sie gehört offenbar zu jenen Weibern, denen gegenüber man sich nach bekanntem Rezept mit einer Peitsche bewaffnen muß. Mna! Jetzt ist sie aber an die unrechte Adresse gekommen; da könnte sie höchstens reüssieren, wenn sie selbst die Peitsche in die Hand nähme. Pfui Teufel! So gar keinen Instinkt zu haben!«

In dieser lieblosen und geringschätzigen Weise redete er einige Minuten lang hastig, mit gezwungenem Lachen dazwischen. Dann verstummte er wieder, verlor sich in Gedanken, vergaß seine Miene, die in ihren früheren schmerzlichen Ausdruck zurückfiel. Endlich auffahrend:

»Verzeihen Sie, gnädige Frau: aber dieser langsame Schritt ist mir heute unerträglich. Manchmal hat man das Bedürfnis, sich ordentlich auszulaufen. Ich verabschiede mich – Sie verzeihen!«

Er ging in heftigem Tempo vorwärts, bis er die Abzweigung des Weges erreichte, welche die Entflohenen benützt hatten. Auf dieser Abzweigung verschwand auch Elmenreich wie mit Siebenmeilenstiefeln ...

* * *

Pipin unternimmt unermüdlich neue Angriffe auf die Festung Elmenreich. Als er heute abermals mit dem Zeitungsprojekt herausrückte, faßte ihn Elmenreich wieder einmal bei den Schultern und schüttelte ihn, als ob er ihn mit Gewalt aus einem Traume aufwecken wollte.

»Mensch, Mensch, so nehmen Sie doch Vernunft an! Wozu habe ich Ihnen denn kürzlich meine Meinung gesagt? Nützt denn gar nichts bei Ihnen?«

Pipin richtete sich mit Heiterkeit seinen Rock, den ihm Elmenreich halb ausgezogen hatte. Nun ja, Elmenreich habe neulich einige Witze über den Meister gemacht – aber er könne doch nicht annehmen,daß er, Pipin, auf ein paar gelungene Witze hin im Ernst von dem Meister und dem Grafen abfallen werde?

Und dann begann er gleich wieder, mit inständiger Beharrlichkeit in Elmenreich zu dringen, daß er »mitarbeiten« solle. Er war mehr denn je durchdrungen davon, daß etwas geschehen müsse, daß die Zeit gekommen sei, und wiederholte alles, was er mir darüber gesagt hatte, mit eindringlichem Nachdruck zu Elmenreich, ohne sich durch dessen unaufhörliche Unterbrechungen beirren zu lassen. Der geduldige Zuhörer Pipin hatte endlich selbst einmal das Wort an sich gerissen und behauptete es dem ungeberdigsten aller Zuhörer gegenüber durch die Gewalt seiner Ueberzeugung.

»Geschehen, geschehen, was soll denn geschehen?« schrie Elmenreich endlich erbittert. »Können Sie die Gesetze ändern, nach denen sich alles Geschehen unabänderlich vollzieht? Sehen Sie denn nicht ein, daß alles Geschehen bloß der Ausdruck für einen Zustand ist? Ja, die Welt ist schlecht und gemein – diese alte Wahrheit braucht gar keiner Bestätigungen mehr. Aber zu ändern giebt es da nichts. Ich werde Ihnen das an einem naheliegenden Exempel beweisen: wenn ein Mensch, der voll Güte und gutem Glauben ist, ausgenützt und mißbraucht wird, so ist dassehr häßlich und sehr traurig – aber er wird ausgenützt und mißbraucht, weil er wehrlos ist gerade durch seine Güte und seinen Glauben, sintemal die Menschen Raubtiere sind, die über den Wehrlosen herfallen und ihn auffressen. Dieses einfache Exempel schreiben Sie sich hinter die Ohren, Pipin, und geben Sie sich nicht dazu her, den verkappten Ehrgeiz anderer Personen mit Ihrem guten Geld und Ihrem guten Glauben zu bezahlen.«

»Aber wenn mich Ihr einfaches Exempel gar nicht überzeugt? Ich meinesteils kann nicht finden, daß die Menschen der Güte und Gläubigkeit ausgenützt und mißbraucht werden; warum sollte ich da annehmen, daß die Menschen im allgemeinen Raubtiere sind –?«

»So, Pipin? Sie sind also in Ihrem Leben noch nie ausgenützt, noch nie mißbraucht worden?«

»Ach Gott, mich meinen Sie mit Ihrem Exempel, Herr Doktor? Nun ja, es ist ein paarmal vorgekommen, daß mir hinterdrein Gedanken darüber aufgestiegen sind, ob ich in einer Sache nicht der Gefoppte war. Aber wenn auch – was liegt denn da dran? Sie sagen ja selbst, daß das schon einmal so ist und nicht zu ändern. Also giebt es in einem solchen Fall nichts, als sich mit Heiterkeit in das Unvermeidliche ergeben und sichdenken, daß es auf ein paar Gauner und Gaunerstreiche mehr oder weniger nicht ankommt; deshalb bleibt die Welt doch voll von lieben, wunderbaren, großartigen Menschen –«

»Mna –«

»Und weil Sie schon mich als Exempel genommen haben: auf mich paßt es am allerwenigsten. Denn ich bin ja ein besonders bevorzugter Mensch, ein wahres Glückskind, dem lauter unverdiente Herrlichkeiten in den Schoß fallen. Muß denn mein Herz nicht übergehen vor Glück und Dankbarkeit, wenn ich sehe, wie ich unablässig von allen Seiten königlich beschenkt werde? Gleich zum Beispiel – Sie, Herr Doktor! Sie meinen es so gut mit mir, daß Sie sogar dem Grafen und dem Meister Unrecht thuen, weil Sie denken, die beiden könnten am Ende mit mir nicht ganz aufrichtig umgehen –«

Er ergriff Elmenreichs Hand und sah ihn mit seinen lichtblauen Augen beweglich an. Unversehens fiel er ihm um den Hals.

Elmenreich machte sich von ihm frei. »Was sind das für Kindereien!« sagte er unwirsch. Und gleich beschleunigte er seine Schritte, und ging allein voraus.

Betrübt sah ihm Pipin nach. Als er aber bemerkte, daß Elmenreich in einiger Entfernungstehen blieb, um uns wieder herankommen zu lassen, sagte er ganz beglückt:

»Er wird doch nachgeben, glauben Sie nicht, gnädige Frau? Er hat ja ein so weiches Herz; deshalb ist er immer so grob.«

* * *

(Aus einem Briefe.)

5. September 1893.

... Es ist, als ob er die Menschen von innen heraus erleuchtet sähe, in strahlenden, feurigen Farben, wie seltene Blumen, deren Anblick das Herz höher schlagen macht. Und das versetzt ihn zuweilen in Anfälle der Entzückung, daß er mit nassen Augen herum geht und sich selig preist, daß er auf der Welt ist. In solchen Augenblicken scheint sich die verborgene Schönheit und unzugängliche Tiefe jeder Eigenart vor ihm aufzuthun und ihn zum Eingeweihten ihrer letzten Geheimnisse zu erheben. Dann begreift er alles mit liebreichem Verständnis, auch das ihm Entgegengesetzte, auch das ihm Feindliche – er betrachtet es durch ein anderes Medium als durch seinen bescheidenen Verstand, mit einer Helligkeit und Ueberlegenheit der Seele, die aus irgend einer unbekannten, besonderen Fähigkeit entspringt.

Wenn seine Psyche in ihren alltäglichen Zustandzurückfällt, wird allerdings wieder die Unzulänglichkeit seiner intellektuellen Mittel das Vorherrschende.

»Pipinsmaîtresse facultéeist die Dummheit«, sagte neulich Dr. Kranich; »ehren wir sie und lassen wir sie walten, wie es ihr gebührt.« Dr. Kranich hat etwas mit Pipin gemein: er betrachtet wie dieser alles, was geschieht, als gut – allerdings aus einer weniger liebevollen Grundstimmung der Seele. Als das regierende Weltprinzip erkennt er das Gesetz an, daß der Schwächere durch den Stärkeren aufgefressen wird: und weil es das Weltprinzip ist, bedeutet es für ihn das Recht nach göttlicher Ordnung. Daher spricht er diesen Grundsatz überall mit Offenheit, ja mit einer Art Unschuld aus.

Als ich ihn fragte, ob er nicht auch glaube, daß die Gemeinschaft, die der Graf mit Pipin angeknüpft hat, nur auf eigennützige Absichten zurückzuführen sei, und daß Pipin in dieser Zeitungsgeschichte um sein Geld gebracht werden wird, versetzte er beinahe entrüstet:

»Da fragen Sie noch, gnädige Frau? Das ist doch selbstverständlich –!«

Und auf meinen Einwand, daß man doch versuchen müßte, diesen armen Pipin davor zu bewahren:

»Für einen Menschen wie Pipin ist esbyall meanseine Ehre, mit zwei relativ interessanten Persönlichkeiten, wie der Graf und Herr Wendl, zusammen zu sein. Und wenn er für diesen Umgang tüchtig zahlen muß, so ist das nur in Ordnung ...«

* * *

(Aus einem Briefe.)

7. September 1893.

... In der letzten Zeit hatte es den Anschein, als sollte Elmenreichs Herz über den gelben Zwerg – wie Dr. Kranich seinen Verstand nennt – triumphieren. Seit Eugenie ihre Gunst dem Grafen zugewendet hat, oder genauer gesagt, sich um die Gunst des Grafen bewirbt, hat er seine ablehnende Haltung aufgegeben. Während er sich früher sorgfältig von Eugenie fern gehalten und alle Gelegenheiten, mit ihr allein beisammen zu sein, vermieden hatte, heftete er sich jetzt an ihre Fersen, verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Sogar in eine Tarockpartie mit dem Oberst hat er sich eingelassen – was beinahe mit einem Duell geendet hätte, da er so zerstreut spielte, und der Oberst in seinen Ausdrücken nicht sehr wählerisch ist, wenn es gilt, Vergehen wider den heiligen Geist des Kartenspiels zu rügen.

Elmenreichs Benehmen war freilich nicht das eines zärtlichen Verliebten; aber wenn man mit seiner Art und Weise vertraut ist, konnte man wohl aus seinen bitteren und stacheligen Reden die Erregung heraushören, die in ihm arbeitete. Ich weiß nicht, ob Eugenie verstand, daß er seinen Gefühlen dieses rauhe Gewand anziehen muß, um sich mit ihnen abzufinden; so oft ich sie und ihn beisammen sah, verfiel sie noch immer in jene Ratlosigkeit ihm gegenüber, die von den ersten Zeiten an die Schwäche ihrer Stellung bildete. Jetzt aber verbarg sie ihre Ratlosigkeit unter einer hochmütigen Gleichgiltigkeit – und, gespielt oder echt, diese Gleichgiltigkeit gab ihr eine viel größere Macht über ihn als ihre früheren Bemühungen, ihm zu gefallen. Damit hielt sie ihn beständig in Atem, damit lenkte sie diesen widerhaarigen Liebenden nach ihrem Willen, zwang ihn, sich zähneknirschend zu unterwerfen. Er hat wahrhaftig kein glückliches erotisches Temperament: Die Liebe ist bei ihm kein Aufblühen seines ganzen Wesens, keine freudige Verschmelzung der eigenen Person mit einem anderen Ich: sie ist ein wilder Kampf gegen das Eindringen einer fremden Gewalt, eine Empörung, eine Rebellion. Der gelbe Zwerg geberdet sich wie ein Rasender, verfällt in Krämpfe, schlägt alles nieder, was in seinen Bereich kommt. Dennoch unterlag er Schritt fürSchritt. Elmenreichs Laune wurde im selben Verhältnis schlechter und schlechter – aber sie berechtigte zu der Erwartung, daß in dem Augenblick, als die Entscheidung gefallen war, ein jäher Umschlag eintreten müsse.

Nun, der Umschlag ist eingetreten, – fast gleichzeitig mit dem schönen Wetter – aber die Entscheidung ist ausgeblieben. Irgend etwas hat sich zwischen Elmenreich und Eugenie ereignet – niemand kann erraten, was. Mit einem Male hat er seine Ruhe und Sicherheit zurückgewonnen, geht mit spöttischer Höflichkeit an derjenigen vorüber, die noch kurz vorher nur in seiner Sehweite aufzutreten brauchte, um ihn in einen Zustand nervöser Unruhe zu versetzen. Der Fieberanfall ist wieder überstanden – auf einen äußeren Anlaß hin, oder durch eine innerliche Wandlung, wer weiß es? Treibt er bloß ein grausames Spiel mit ihr? Unterhielt er sich damit, bei ihr Hoffnungen zu erwecken, um in dem Augenblick, als sie darauf eingehen will, ihr hohnlachend den Rücken zu kehren? Ich bemühe mich vergeblich, einen Schlüssel zu finden; wieviel er auch redet, über seine wahren Empfindungen läßt er sich doch keine Andeutung entschlüpfen. Er geht mit einer selbstzufriedenen Miene herum, die er sonst nicht hat, mit der Miene eines Siegers, oder mindestens eines Menschen, der einer Gefahr glücklichentronnen ist. Diese Miene scheint zu sagen: mich kann man nicht täuschen; ich behalte immer Recht.

Aber du wirst sagen, daß solche Interpretationen fremder Mienen etwas ganz Willkürliches sind. Ach, Liebster, unser ganzes Wissen von dem, was in den Seelen unserer Nebenmenschen vorgeht, ist ja nichts als eine willkürliche Interpretation! ...

* * *

Entwölkung. Eine unwiderstehliche Gewalt liegt in diesem Wetterschauspiel; die Seele verwandelt sich mit dem Himmel. Alles Schwere, Trübe scheint zu versinken, sich zu verflüchtigen, sich in eine himmlische Bläue aufzulösen.

Nun ruht das Firmament wie ein seidenes Zelt auf den beschneiten Gipfeln. Und in der tiefen Windstille dieses Thalkessels, unhörbar und unsichtbar, hebt die Luft ein wundersames Spiel an. Sie fließt von der blauen Kühle der Felsenwände herab und bringt den Hauch des Schnees mit sich; sie legt sich auf die sonnigen Matten hin, wo sie an den späten Blüten würziger Kräuter nippt, und schwebt erwärmt empor, um sich mit dem feuchten Atem der Wälder vollzusaugen,streicht über die taufunkelnden Wipfel, in deren Schatten sie sich erfrischt, bis sie wieder herabsinkt und auf dem Spiegel des Sees hingleitet, trunken von Düften, von allen zarten Gaben des Waldes, der Wiese, des Wassers. In diesem Spiel wird sie zu einem reineren, leichteren, freudigeren Element; man atmet sie, man überläßt sich ihr, geneigt, an alles zu glauben, wovon die hohen und einsamen Geister geträumt haben, wenn ihre Stimmung lauter, frei und spielerisch war wie die Luft des Hochgebirges.

*

Wir fahren im Boot; Pipin rudert, Elmenreich sitzt ihm gegenüber und steuert. Als Pipin bemerkt, daß Elmenreich ungewöhnlich guter Laune ist, fängt er gleich an: »Aber nicht wahr, Herr Doktor, zeigen wenigstens darf ich Ihnen die Vorarbeiten zu unserer Zeitung? Wenigstens ansehen werden Sie sich ein paar Blätter?«

Elmenreich, zwischen Aerger und Gelächter: »Gott steh mir bei, was für eine Wanze hab' ich mir in diesem Pipin zugezogen! Wenn ich gewußt hätte, daß der Besuch da oben mir so teuer zu stehen kommen sollte –«

Pipin hört auf zu rudern, legt seine Hand auf Elmenreichs Knie und sagt überredend:»Eines dürfen Sie aber nicht leugnen, Herr Doktor: der Meister hat Dinge gesagt, die – die Ihnen aus der Seele gesprochen waren, Dinge, die einen Eindruck auf Sie gemacht hätten, wenn Sie sich nicht absichtlich widersetzt hätten!«

Elmenreich wird sehr aufmerksam. Er richtet einen scharfen Blick auf Pipin. »Dinge, die mir aus der Seele gesprochen waren? Ich verstehe nicht ganz, Pipin – was für Dinge denn?«

Pipin, arglos: »O verstellen Sie sich nicht, Herr Doktor! Ich habe es ganz gut bemerkt, daß Sie wenigstens über den ersten Teil seiner Rede etwas – etwas betroffen waren. Wie hätte das auch keinen Eindruck machen sollen, da es doch nur Ihretwegen gesprochen wurde, sozusagen auf Sie gemünzt war –«

Elmenreich: »Also das war's! Eindruck sollte auf mich gemacht werden! Man weiß die Stelle, wo ich verwundbar bin, und da läßt man auf diese Stelle zielen. Lieber Pipin, sagen Sie dem Grafen, daß er sich verrechnet hat. Er mag mich für einen Ertrinkenden halten, meinetwegen – aber daß er glaubt, er könne mich mit seinen ausgedroschenen Strohhalmen zu sich an's Land ziehen, das ist einfach komisch. Das Land, auf dem er sitzt, ist keine Gegend für mich, sagen Sie ihm das; lieber kämpfe ich mein ganzes Leben lang mit Wellen und Winden, bevor ich dort vorAnker gehe. Wenn man ausgefahren ist, um einen neuen Weltteil zu entdecken, darf man nicht vor dem hohen Meer bange werden ... O diese Weltumsegler! Es geht ihnen umgekehrt wie dem Kolumbus: sie verkünden mit Triumph, daß sie eine neue Welt entdeckt haben, und bemerken gar nicht, daß sie in den wohlbekannten alten Hafen eingelaufen sind, wo schon seit längeren Jahrtausenden alle abgetakelten und seeuntüchtigen Herrschaften zu landen pflegen.«

Er war sehr vergnügt geworden. Etwas wie Stolz funkelte in seinen Augen; unter seinem mächtigen Bart kräuselten sich seine Lippen in einem mutwilligen Lächeln.

Als er Pipins niedergeschlagene Miene bemerkte, klopfte er ihm auf die Schulter:

»Na Pipin, Kopf hoch! Sie sind als Lotse ausgeschickt worden, um ein vermeintliches Wrack einzuholen, und Sie finden ein gutes Fahrzeug, das seinen Kurs fortsetzt – da haben Sie keine Ursache, Trübsal zu blasen, alter Schwede!«

Ein gutes Fahrzeug, das seinen Kurs fortsetzt! War das wirklich derselbe Elmenreich, der bisher das Leben unter der Perspektive seiner Wertlosigkeit betrachtete?

Ich konnte mich nicht enthalten, eine Anspielung darauf zu machen: »Aber damals, als wir zum Fest des ersten Versuches unterwegswaren, haben Sie ganz anders geredet, Elmenreich!«

Er sah mich groß an, und verstand zuerst gar nicht, was ich meinte. Pah, eine momentane Verstimmung! Sollte man etwa für jedes Wort einstehen, das man in einem Moment des Verdrusses von sich giebt? Als ob man immer das ganze Programm seiner Existenz auf den Lippen hätte!

Ja aber – wonach könne man einen Menschen sonst beurteilen, wenn nicht nach seinen Aeußerungen?

Man solle eben nicht ewig »beurteilen« wollen –

Also nicht beurteilen, sondern sich eine Vorstellung von ihm machen, von den inneren Zuständen seiner Seele –

Aber Elmenreich war entschieden nicht gesonnen, sich seine Laune durch Reminiszenzen verderben zu lassen. Die Gelegenheit war zu günstig; nun ließ er sich die Zügel schießen. Er begoß den unglücklichen Tänzer mit der Lauge seines Spottes; er sprudelte von witzigen Einfällen und vernichtenden Bosheiten über, und ergötzte sich selbst so sehr an dem Feuerwerk, das er hervorbrachte, empfand eine so große Lust an dem glänzenden Spiel seiner eigenen Gedanken, daß er ganz das Aussehen eines freudigen, selbstbewußten, hochgemutenMenschen bekam, der das Leben als ein königliches Kampfspiel aufnimmt und seinen Platz siegreich behauptet.

* * *

Pipin saß mit einer wunderlichen Miene bei Tisch. Wenn man ihn anredete, antwortete er in feierlicher Geistesabwesenheit; er hörte gewissermaßen nur mit einem Ohre zu, während er mit dem anderen einer fernen Musik zu lauschen schien.

Kaum waren wir mit dem Essen fertig, als er Elmenreich bat, ihn nach Hause begleiten zu dürfen. Und mir flüsterte er zu: »Kommen Sie mit, gnädige Frau; wenn Sie dabei sind, ist er doch eher für etwas zu haben.«

Wir setzen uns an den Tisch im Freien, wo Elmenreich nachmittags seinen Tschibuck zu rauchen pflegt und über die Hecke weg mit jedem dritten Menschen, der vorübergeht, ein Gespräch abhält.

Dort zieht Pipin mit vieler Behutsamkeit ein kleines Paket beschriebener Blätter aus seiner Brusttasche. Blaß vor Bewegung legt er sie Elmenreich hin. »Die ersten Beiträge«, lispelt er fast unhörbar.

Elmenreich ergreift sie mißtrauisch und betrachtet sie von vorne und hinten. »Von Ihrer Hand –?«

»Abgeschrieben«, ergänzt Pipin eilig. »Denn da der Meister eine so unleserliche Schrift hat –«

»Danke. Da weiß ich schon genug!«

Er schiebt die Blätter energisch von sich weg. Pipin schiebt sie tapfer wieder zurück.

»Aber anschauen können Sie sich doch die Sachen«, sagt er flehentlich. »Sie wissen ja noch gar nicht, was drin steht.«

»Na, ich denke, die »Weisheit« des Meisters habe ich schon in seiner Predigt genossen –«

»Das ist aber ganz was Anderes, etwas ganz Besonderes! Hier haben wir die Visionen des Meisters –«

»Visionen? Ist der Meister mit dem Grafen zusammen schon bei Visionen angelangt?«

»So buchstäblich dürfen Sie das nicht nehmen. Es ist nur die Form, in der er seine Gedanken mitteilt.«

Elmenreich scheint doch neugierig geworden zu sein; er nimmt in der That die Blätter und fängt an, darin zu blättern.

Pipin verliert beinahe die Fassung. Er giebt mir unter dem Tische seine Hand: diese arme, einfältige Hand ist kalt und zittert.

»Donnerwetter«, sagt Elmenreich, »da giebtes ja gar verführerische Leckerbissen: »Versuch über die Magie des Gebetes«, »Versuch über die mystische Vereinigung mit der Allseele«, »die Entschleierung der Lebensmysterien.« »Von den geheimen Entzückungen der Seele« – – Hier fing Elmenreich an, laut vorzulesen.

»Sich hinzugeben! ...

Sich hinzugeben dem geliebten Menschen in der Inbrunst der geistigen Vereinigung! Hand in Hand, Aug' in Aug', Brust an Brust überströmen zu lassen in sich das berauschende Fluidum seiner Lebenswärme ......

Sich hinzugeben den Geboten eines Meisters, das Werkzeug seines Willens und seiner Gewalt, vernichtet vor der Majestät eines Mächtigeren, hingestreckt durch den, der uns unter seine beseligende Herrschaft zwingt! Ihn erleiden in der mystischen Wollust der Entselbstung ...

Siehe, ich bebe, ich glühe, ich brenne – nimm mich hin, ergreife mich, erdrücke mich, laß mich der Schemel deiner Füße sein ...«

Elmenreich unterbrach seine Vorlesung. Was denn das heißen solle, daß Pipin ihm die Machwerke des Grafen als Visionen des Herrn Wendl auftische? Ob der Graf glaube, er brauche sich bloß hinter einem anderen zu verstecken, und man werde ihn nicht erkennen? Und ob Pipin selber wirklich nicht genug rechtschaffenes Empfindenhabe, um die schielende Seele zu erkennen, die sich hinter dieser zweideutigen Manier verberge? Pfui Teufel!

Zornig warf er die Blätter auf den Tisch, daß sie auseinanderflogen und auf den Boden fielen.

Pipin sammelte sie behutsam und ordnete sie wieder. Einen Teil steckte er zu sich, den anderen legte er vor sich hin. »Der Graf ist so eigensinnig«, sagte er entschuldigend. »Was kann da ein Mensch wie ich machen? Ich habe gleich gesagt, das ist nicht die richtige Manier – aber er glaubt, er kennt Sie besser als ich. Und da er Sie ja um soviel länger kennt als ich –«

Elmenreich macht eine ungeduldige Bewegung.

»Hören Sie nur dieses eine noch«, fährt Pipin flehentlich fort. »Und – und lassen Sie mich es Ihnen lieber vorlesen, ja, darf ich?«

Ohne Elmenreichs Einwilligung abzuwarten, liest er mit steigender Bewegung und einer Stimme, die vor Ergriffenheit bebt:


Back to IndexNext