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Darja Michailownas Tochter, Natalia Alexejewna, konnte auf den ersten Blick nicht gefallen. Sie war noch nicht vollständig ausgebildet, mager, von bräunlicher Gesichtsfarbe und hielt sich etwas gebückt. Die Züge ihres Gesichtes jedoch waren edel und regelmäßig, obgleich etwas breit für ein siebzehnjähriges Mädchen. Besonders schön trat ihre reine und glatte Stirn über den leicht geknickten Augenbrauen hervor. Sie sprach wenig, aber hörte und schaute mit Aufmerksamkeit, fast unverwandten Blickes, als wollte sie sich über alles Rechenschaft geben. Sie war oft unbeweglich, in Gedanken versunken, und ließ die Arme herabhängen; es zeigte dann ihr Gesicht den Ausdruck innerer Gedankentätigkeit … Ein kaum merkliches Lächeln spielte um ihre Lippen und verschwand wieder; die großen dunklen Augen hoben sich sanft …Qu’avez vous?pflegte sie dann Mlle. Boncourt zu fragen und ihr vorzuhalten, daß es sich für ein junges Mädchen nicht schicke, den Kopf hängen zu lassen und zerstreut auszusehen. Natalia war aber nicht zerstreut: im Gegenteil, sie lernte fleißig, las und arbeitete gern. Sie fühlte tief und stark, aber im stillen; schon als Kind hatte sie selten geweint, jetzt seufzte sie sogar selten und wurde nur bleich, wenn etwas sie betrübte. Die Mutter sah in ihr ein wohlgesittetes, vernünftiges Mädchen, nannte sie scherzweise:mon honnête homme de fille,hatte jedoch keine hohe Meinung von ihren Geistesfähigkeiten. »Meine Natascha ist kalt von Natur,« pflegte sie zu sagen, »nicht wie ich … um so besser. Sie wird glücklich sein.« Darja Michailowna täuschte sich. Übrigens nicht jede Mutter kennt ihre Tochter.

Natalia liebte ihre Mutter, hatte aber kein volles Vertrauen zu ihr.

»Du hast nichts vor mir zu verbergen,« sagte einmal Darja Michailowna zu ihr, »sonst würdest du wohl ein wenig geheimtun, denn du hast deinen Kopf für dich.«

Natalia blickte ihrer Mutter ins Gesicht und dachte: und warum sollte ich nicht meinen Kopf für mich haben?

Als Rudin sie auf der Terrasse traf, schritt sie eben mit Mlle. Boncourt ins Zimmer, um ihren Hut aufzusetzen und in den Garten zu gehen. Ihre Morgenbeschäftigungen waren bereits beendigt. Man hatte aufgehört, Natalia als Kind zu behandeln, Mlle. Boncourt gab ihr schon lange keinen Unterricht mehr in der Mythologie und Geographie; doch mußte Natalia jeden Morgen – in ihrer Gegenwart – historische Bücher, Reisebeschreibungen und andere erbauliche Schriften lesen. Darja Michailowna traf die Auswahl, scheinbar einem ihr eigenen System folgend, in der Tat aber gab sie Natalia alles, was ihr ein französischer Buchhändler aus Petersburg zuschickte, ausgenommen natürlich Romane von Alexander Dumas Sohn und Comp. Diese Romanelas Darja Michailowna selbst. Mlle. Boncourt pflegte ganz besonders streng und sauer Natalia über ihre Brille anzuschauen, wenn letztere historische Bücher las: nach den Begriffen der alten Französin war die ganze Geschichte voll unerlaubter Dinge, obgleich sie von den berühmten Männern des Altertums, Gott weiß warum, nur einzig und allein den Kambyses kannte, und aus neuerer Zeit – Ludwig den XIV. und Napoleon, den sie nicht leiden konnte. Natalia las aber auch solche Bücher, deren Dasein Mlle. Boncourt nicht ahnte: sie kannte den ganzen Puschkin auswendig.

Natalia errötete etwas, als sie mit Rudin zusammentraf.

»Sie wollen spazierengehen?« fragte er sie.

»Ja. Wir gehen in den Garten.«

»Darf ich mich Ihnen anschließen?«

Natalia sah Mlle. Boncourt an.

»Mais certainement, monsieur, avec plaisir,« rief eilig die alte Jungfer.

Rudin nahm seinen Hut und folgte ihnen.

Anfangs machte es Natalia etwas verlegen, an Rudins Seite auf demselben Gartenwege zu wandeln; bald aber wurde es ihr leichter. Er richtete an sie Fragen über ihre Beschäftigungen, und auch darüber, wie ihr das Leben auf dem Lande gefalle. Sie antwortete ihm nicht ohne Schüchternheit, aber ohne jene sich überstürzende Befangenheit, die so oft für Schamhaftigkeit gehalten wird. Es klopfte ihr das Herz.

»Sie fühlen auf dem Lande keine Langeweile?« fragte Rudin, sie mit einem Seitenblick streifend.

»Wie kann man auf dem Lande Langeweile empfinden? Ich bin sehr froh, daß wir hier sind. Ich bin hier sehr glücklich.«

»Sie sind glücklich … Das ist ein großes Wort. Übrigens ist es begreiflich: Sie sind jung.«

Rudin betonte dies letzte Wort in eigentümlicher Weise: es war wie eine Anwandlung von Neid und Beileid, die ihn überkam.

»Ja! die Jugend!« setzte er hinzu. »Das Bestreben der Wissenschaft ist – mit Bewußtsein das zu erringen, was die Jugend von selbst hat.«

Natalia blickte Rudin aufmerksam an: sie hatte ihn nicht verstanden.

»Ich habe mich heute den ganzen Morgen mit Ihrer Mama unterhalten,« fuhr er fort, »eine außergewöhnliche Frau. Ich begreife, weshalb alle unsere Poeten so großen Wert auf ihre Freundschaft legten. Lieben Sie auch Gedichte?« setzte er nach einigem Schweigen hinzu.

Er examiniert mich, dachte Natalia und sagte: »Ja, ich liebe sie sehr.«

»Die Poesie ist die Sprache der Götter. Ich selbst liebe Gedichte. Doch nicht in Gedichten allein liegt Poesie: sie ist überall, sie umfängt uns … Sehen Sie diese Bäume, diesen Himmel an – von allen Seiten strömt Schönheit und Leben hervor; wo aber Schönheit und Leben, da ist auch Poesie.«

»Wollen wir nicht auf der Bank hier Platz nehmen,« fuhr er fort. »So. Mir scheint, ich kann mir nicht erklären warum, daß, sobald Sie sich ein wenig an mich werden gewöhnt haben (er blickte ihr hierbei lächelnd in die Augen), wir gute Freunde sein werden. Was meinen Sie?«

Er behandelt mich wie ein kleines Mädchen, dachte Natalia wieder, und ungewiß, was sie dazu sagen sollte, fragte sie ihn, ob er noch lange auf dem Lande zu bleiben beabsichtige.

»Den ganzen Sommer, den Herbst und vielleicht auch den Winter. Ich bin, wie Sie wohl wissen, wenig begütert; meine Verhältnisse sind zerrüttet, und dann habe ich es auch schon satt, von einem Ort zum andern zu ziehen. Es ist Zeit, daß ich mir Ruhe gönne.«

Natalia sah ihn erstaunt an.

»Sie finden wirklich, daß esfür SieZeit sei auszuruhen?« fragte sie schüchtern.

Rudin wandte sein Gesicht ihr zu.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will sagen,« erwiderte sie mit einiger Verwirrung, »daß andere sich wohl Ruhe gönnen dürfen; Sie aber … Sie müssen arbeiten, müssen sich bestreben, Nutzen zu schaffen. Wer denn wohl, wenn nicht Sie …«

»Ich danke für die schmeichelhafte Meinung,« unterbrach sie Rudin. »Nutzen schaffen … das ist leicht gesagt! (Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht.) Nutzen schaffen!« wiederholte er. »Wenn ich auch die feste Überzeugung hätte: aufwelche Art ich Nutzen bringen könnte – ja, wenn ich sogar Vertrauen in meine eigene Kraft hätte – wo fände ich wohl lautere, mitfühlende Seelen? …«

Und Rudin ließ mit so hoffnungsloser Miene die Hand fallen und senkte so betrübt den Kopf, daß Natalia unwillkürlich die Frage an sich stellte: ob sie denn wohl ausseinemMunde tags zuvor so begeisterte, Hoffnung sprühende Reden gehört habe?

»Doch nein,« setzte er hinzu, und schüttelte ungestüm seine Löwenmähne, »Unsinn das, Sie haben recht. Ich danke Ihnen, Natalia Alexejewna, danke Ihnen von Herzen. (Natalia wußte entschieden nicht, wofür er ihr dankte.) Ein Wort von Ihnen hat mich an meine Pflicht erinnert, hat mir meine Bahn vorgezeichnet … Ja, ich muß handeln. Ich darf mein Talent, wenn ich es wirklich besitze, nicht verbergen; ich darf meine Kräfte nicht in Geschwätz, in leerem, nichtsnutzigem Geschwätz und eitlem Gerede vergeuden …«

Und es ergoß sich seine Rede wie ein Strom. Er sprach schön, begeistert, hinreißend – über Kleinmütigkeit und Trägheit, über die Notwendigkeit, Taten zu vollbringen. Er machte sich selbst Vorwürfe, bewies, daß sich über das, was man leisten wolle, im voraus auszulassen, ebenso nachteilig wäre, wie wenn man eine reifende Frucht mit einer Nadel anstechen wollte, das sei nur nutzlose Vergeudung der Kräfte und Säfte. Erbehauptete, es gäbe keinen edleren Gedanken, der nicht Anklang fände, daß nur jene Menschen unverstanden blieben, die entweder selbst noch nicht wüßten, was sie wollen, oder solche, die nicht wert seien, verstanden zu werden. Er sprach lange und schloß seine Rede damit, daß er Natalia nochmals dankte und ganz unerwartet, ihr die Hand drückend, sagte: »Sie sind ein herrliches, edles Wesen!«

Diese Freiheit setzte Mlle. Boncourt in Erstaunen, die, trotz ihres vierzigjährigen Aufenthaltes in Rußland, mit Mühe das Russische verstand und nur die anmutige Schnelligkeit und das Fließende in der Rede Rudins bewunderte. Er galt überhaupt in ihren Augen als eine Art Virtuos oder Künstler, und an Leute dieses Schlages durften keine Schicklichkeitsforderungen gestellt werden.

Sie erhob sich von ihrem Platze und ihr Kleid hastig zurechtklopfend, machte sie Natalia darauf aufmerksam, daß es Zeit sei heimzukehren, um so mehr, damonsieur Volinsoff(so nannte sie Wolinzow) sich zum Frühstück habe einfinden wollen.

»Da ist er bereits!« fügte sie mit einem Blicke nach einer der Alleen, die zum Hause führten, hinzu.

Und wirklich zeigte sich Wolinzow in einiger Entfernung.

Mit unentschlossenen Schritten trat er näher, begrüßte alle schon von weitem und, mit leidendemAusdruck im Gesichte, sich zu Natalia wendend, fragte er:

»Ah! Sie gehen spazieren?«

»Ja,« antwortete Natalia, »wir waren im Begriff, nach Hause zurückzukehren.«

»Ah!« sprach Wolinzow. »Nun, so wollen wir gehen.«

Und alle machten sich nach dem Hause auf.

»Wie ist das Befinden Ihrer Schwester?« fragte Rudin mit besonders teilnehmender Stimme Wolinzow. Auch am Abend vorher war er sehr freundlich gegen ihn gewesen.

»Ich danke recht sehr. Sie befindet sich wohl. Sie wird vielleicht heute kommen … Sie unterhielten sich vorhin, wie mir schien, als ich herkam?«

»Ja, wir unterhielten uns. Natalia Alexejewna hat ein Wort fallen lassen, das eine gewaltige Wirkung auf mich hervorgebracht hat …«

Wolinzow fragte nicht, was für ein Wort das gewesen sei, und in tiefem Schweigen erreichten alle das Haus der Darja Michailowna.

Vor dem Essen fand sich die Gesellschaft wieder im Salon ein. Pigassow jedoch erschien nicht. Rudin war nicht aufgelegt; er bat fortwährend Pandalewski, aus Beethoven vorzuspielen. Wolinzow schwieg und schaute vor sich hin. Nataliablieb der Mutter immer zur Seite und war bald in Gedanken versunken, bald mit ihrer Arbeit beschäftigt. Bassistow verwandte die Augen nicht von Rudin, immer in der Erwartung, er werde etwas Kluges vorbringen. So vergingen ziemlich einförmig drei Stunden. Alexandra Pawlowna kam nicht zu Mittag – und Wolinzow ließ gleich nach beendigter Tafel seine Kalesche anspannen und fuhr davon, ohne von jemand Abschied genommen zu haben.

Er fühlte sich beklommen. Schon lange liebte er Natalia, hatte es aber noch nicht gewagt, ihr seine Neigung zu gestehen, und unter diesem ängstlichen Zustande litt er aufs grausamste … Sie sah ihn gerne – doch blieb ihr Herz ruhig: darüber täuschte er sich nicht. Er hatte auch nicht gehofft, ihr zärtliche Gefühle einzuflößen und erwartete nur, sie werde mit der Zeit, wenn sie sich vollkommen an ihn gewöhnt haben würde, ihm näherstehen. Was konnte ihn denn beunruhigen? Was für eine Veränderung hatte er in diesen paar Tagen wahrgenommen? Natalias Benehmen gegen ihn war ganz so wie vorher …

War es die Befürchtung: er kenne Natalias Charakter nicht, sie sei ihm fremder, als er geglaubt habe – war’s Eifersucht, die in ihm erwacht war, oder hatte er eine dunkle Ahnung von etwas Schlimmem … genug, er litt, so sehr er sich auch zu beherrschen suchte.

Als er bei seiner Schwester eintrat, saß Leschnew bei ihr.

»Warum so früh zurückgekehrt?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Ich weiß es selbst nicht! Ich langweilte mich.«

»War Rudin da?«

»Er war da.«

Wolinzow warf seine Mütze hin und setzte sich.

Alexandra Pawlowna wandte sich mit Lebhaftigkeit zu ihm.

»Ich bitte dich, Sergei, hilf mir, diesem starrsinnigen Menschen da« – sie wies dabei auf Leschnew – »begreiflich zu machen, daß Rudin ungewöhnlich klug und beredt ist.«

Wolinzow brummte etwas in den Bart.

»Ich widerstreite Ihnen durchaus nicht,« begann Leschnew, »ich zweifle nicht an Rudins Geist und Beredsamkeit; ich sage bloß, daß er mir nicht gefällt.«

»Hast du ihn denn gesehen?« fragte Wolinzow.

»Ich habe ihn heute morgen bei Darja Michailowna gesehen. Er ist ja jetzt ihr Großwesir. Es wird die Zeit kommen, wo sie auch ihn verabschiedet – von Pandalewski allein wird sie sich niemals trennen –, jetzt aber herrscht jener. Jawohl, ich habe ihn gesehen! Er saß da – und sie zeigte mich ihm: da schauen Sie einmal, mein Bester, was für sonderbare Kerle wir hier haben. Ich bin kein Zuchtpferd – bin es nicht gewohnt, vorgeführt zu werden. Da bin ich ohne Umstände davongefahren.«

»Warum warst du denn aber bei ihr?«

»Wegen einer Vermessung; aber das ist nur ein Vorwand: sie wollte sich ganz einfach meine Physiognomie besehen. Eine große Dame – wir kennen das!«

»Seine Überlegenheit ist Ihnen störend – das ist es!« sagte mit Feuer Alexandra Pawlowna, »das ist es, was Sie ihm nicht vergeben können. Ich aber bin überzeugt, daß er nicht nur Verstand, sondern auch ein vortreffliches Herz hat. Betrachten Sie nur seine Augen, wenn er …«

»Von hoher Tugend spricht …«[3], setzte Leschnew hinzu.

»Sie werden mich böse machen und zum Weinen bringen. Es tut mir in der Seele leid, daß ich bei Ihnen geblieben und nicht zu Darja Michailowna gefahren bin. Sie waren es nicht wert. Hören Sie auf, mich zu reizen,« setzte sie mit weinerlicher Stimme hinzu. »Es wird besser sein, Sie erzählen mir etwas aus seinen Jugendjahren.«

»Aus Rudins Jugendjahren?«

»Ja doch. Sie sagten mir ja, Sie kennten ihn gut und seien schon lange mit ihm bekannt.«

Leschnew erhob sich und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ja,« begann er, »ich kenne ihn gut. Sie wollen, daß ich Ihnen seine Jugend erzähle?Wohlan! Er ist in T. geboren, eines armen Gutsbesitzers Kind. Sein Vater starb früh und er blieb mit der Mutter allein. Sie war eine herzensgute Frau und liebte ihn über alles; sie lebte sehr sparsam, und das wenige Geld, was sie hatte, gab sie für ihn aus. Seine Erziehung hat er in Moskau erhalten, anfänglich auf Kosten eines Oheims, dann aber, als er aufgewachsen und flügge geworden war, auf Rechnung eines reichen Fürstensöhnchens, den er ausgewittert hatte … schon gut, verzeihen Sie, ich werde nicht mehr … mit welchem er sich befreundet hatte. Dann bezog er die Universität. Dort wurde ich mit ihm bekannt und sehr intim. Von unserem damaligen Leben erzähle ich Ihnen ein anderes Mal. Jetzt geht es nicht. Dann reiste er ins Ausland …«

Leschnew ging noch immer im Zimmer auf und ab; Alexandra Pawlowna folgte ihm mit den Blicken.

»Aus dem Auslande«, fuhr er fort, »schrieb Rudin seiner Mutter äußerst selten und hat sie nur einmal besucht, auf zehn Tage … Die Alte starb auch in seiner Abwesenheit in fremden Armen, hat aber bis zu ihrem Todesstündchen nicht das Auge von seinem Bildnisse verwandt. Als ich in T. lebte, besuchte ich sie. Sie war eine gute, überaus gastfreie Frau und pflegte mir immer eingemachte Kirschen vorzusetzen. Ihren Mitja liebte sie unsäglich. Die Herren aus der PetschorinschenSchule[4]werden Ihnen sagen, daß wir immer diejenigen lieben, die selbst wenig fähig sind, Liebe zu fühlen; mir aber scheint es, daß alle Mütter ihre Kinder lieben, besonders die fern von ihnen Weilenden. Später traf ich mit Rudin im Auslande zusammen. Dort hatte ihn eine Dame, eine unserer russischen Damen, an sich gezogen, ein Blaustrumpf, weder jung noch hübsch, wie sich’s auch für einen Blaustrumpf schickt. Ziemlich lange schleppte er sich mit ihr umher und ließ sie dann im Stich … doch nein, entschuldigen Sie: sie ließ ihn im Stiche. Und auch ich verließ ihn zu jener Zeit. Das ist alles.«

Leschnew schwieg, strich mit der Hand über die Stirn und ließ sich wie erschöpft auf einen Lehnstuhl nieder.

»Wissen Sie aber wohl, Michael Michailitsch,« begann Alexandra Pawlowna, »Sie sind, wie ich sehe, ein boshafter Mensch; wahrhaftig, Sie sind nicht besser als Pigassow. Ich bin überzeugt, daß alles, was Sie gesagt haben, wahr ist, daß Sie nichts hinzugedichtet haben, und dennoch, in welch mißgünstigem Lichte haben Sie das alles dargestellt! Die alte Frau, ihre Mutterliebe, ihr einsamer Tod, jene Dame … Wozu alles das? … Wissen Sie wohl, man kann das Leben des allerbesten Menschen mit solchen Farben schildern – ohne etwas hinzuzufügen, wohlverstanden –, daß sich jeder davor entsetzen wird! Das ist auch Verleumdung in ihrer Art!«

Leschnew erhob sich und begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ich hatte durchaus nicht die Absicht, Ihnen Entsetzen einzuflößen, Alexandra Pawlowna,« brachte er endlich heraus. »Ich bin kein Verleumder. Übrigens«, setzte er nach einigem Schweigen hinzu, »in dem, was Sie gesagt haben, ist ein Teil Wahrheit. Ich habe Rudin nicht verleumdet; doch – wer weiß! – vielleicht hat er sich seit jener Zeit verändert – vielleicht bin ich ungerecht gegen ihn.«

»Da haben Sie es! … Versprechen Sie mir also, daß Sie die Bekanntschaft mit ihm erneuern, ihn gehörig ergründen und mir dann erst Ihre schließliche Meinung über ihn sagen wollen.«

»Wenn Sie es wünschen … Warum schweigst du aber, Sergei Pawlitsch?«

Wolinzow fuhr zusammen und erhob den Kopf, als hätte man ihn aus dem Schlafe gerüttelt.

»Was sollte ich sagen? Ich kenne ihn nicht. Übrigens habe ich heute Kopfweh.«

»Du bist wirklich etwas bleich,« bemerkte Alexandra Pawlowna.

»Ich habe Kopfweh,« wiederholte Wolinzow und verließ das Zimmer.

Alexandra Pawlowna und Leschnew sahen ihm nach und tauschten einen Blick miteinander, dochohne ein Wort zu sprechen. Weder ihm noch ihr war es ein Geheimnis, was im Herzen Wolinzows vorging.


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