VI

VI

Über zwei Monate waren vergangen. Während dieser ganzen Zeit war Rudin fast nicht aus Darja Michailownas Hause gekommen. Sie konnte ihn nicht mehr entbehren. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, ihm von sich zu erzählen und sich von ihm erzählen zu lassen. Einmal hatte er abreisen wollen, unter dem Vorwande, seine Geldmittel seien erschöpft – sie gab ihm fünfhundert Rubel, was ihn nicht hinderte, weitere zweihundert von Wolinzow zu borgen. Pigassow besuchte Darja Michailowna bedeutend seltener als vorher: Rudin übte durch seine Gegenwart auf ihn einen Druck aus, den übrigens Pigassow nicht allein empfand.

»Ich mag ihn nicht, diesen eingebildeten Menschen,« pflegte er zu sagen, »seine Ausdrucksweise ist unnatürlich, ganz so wie bei den Helden in russischen Romanen. Mit einem: Ich! fängt er an, hält dann wie gerührt inne … Ich, also, ich … Und er zieht die Worte so lang. Habt ihr geniest, so wird er euch sogleich auseinandersetzen, warum Ihr geniest und nicht gehustet habt … lobt er euch, so klingt es, als befördere er euch zu einer höheren Rangstufe … fängt er aber an, sich selbst zu schelten, dann zieht er sich geradezu in den Schmutz herab – nun, denkt ihr, der darf sich jetzt nicht mehr bei Tageslicht zeigen!Nichts davon! Noch heiterer stimmt es ihn, so daß man glauben könnte, jene bitteren Worte hätten ihm nur zu Erfrischung und Kräftigung gedient, wie ein Schluck bitteren Schnapses!« Pandalewski empfand eine gewisse Scheu vor Rudin und machte ihm mit einiger Vorsicht den Hof. Wolinzows Stellung, Rudin gegenüber, war eigentümlicher Art. Dieser nannte ihn einen Ritter und rühmte ihn, er mochte zugegen sein oder nicht, über die Maßen; Wolinzow aber konnte ihn nicht liebgewinnen, und seine schmeichelhaftesten Komplimente erzeugten in ihm unwillkürlich Ungeduld und Ärger. ›Er macht sich wohl gar über mich lustig!‹ dachte er, und eine feindselige Stimmung überschlich ihn dann. Wolinzow versuchte Herr über sich zu werden; es ging nicht: die Eifersucht nagte heimlich an ihm. Aber auch Rudin, der Wolinzow stets geräuschvoll entgegenkam, ihn einen Ritter nannte und Geld bei ihm borgte, fühlte sich nichts weniger als zu ihm hingezogen. Es wäre nicht leicht zu bestimmen gewesen, was in beiden Männern vorging, wenn sie einander freundschaftlich die Hände drückten und ihre Blicke sich begegneten …

Bassistow fuhr fort, vor Rudin die äußerste Hochachtung zu empfinden und jedes seiner Worte im Fluge zu haschen. Dieser aber beachtete ihn wenig. Einmal brachte er mit ihm einen ganzen Morgen zu, unterhielt sich von den wichtigsten Weltfragen und Weltaufgaben und erregte inihm das lebhafteste Entzücken, nachher beachtete er ihn nicht mehr … Es war demnach nur eitles Gerede gewesen, wenn er nach reinen und ergebenen Seelen Verlangen geäußert hatte. Mit Leschnew, der mit seinen Besuchen bei Darja Michailowna begonnen hatte, ließ Rudin sich niemals in einen Wortstreit ein, ja er schien ihm auszuweichen. Leschnew seinerseits behandelte ihn gleichfalls kalt, ließ aber immer noch nicht seine letzte Meinung über ihn laut werden, was Alexandra Pawlowna sehr unangenehm berührte. Sie beugte sich vor Rudin – zu Leschnew aber hatte sie Vertrauen. Alle im Hause Darja Michailownas unterwarfen sich den Launen Rudins: seinen geringsten Wünschen wurde nachgekommen. Die Verteilung der täglichen Beschäftigungen hing von ihm ab. Nicht eine einzigepartie de plaisirkonnte ohne ihn zustande kommen. Alle unerwarteten Ausflüge und Überraschungen waren übrigens nicht sehr nach seinem Geschmack, und er nahm teil daran wie Erwachsene am Spiel der Kinder, mit freundlicher und etwas gelangweilter Miene. Dagegen mischte er sich in alles: räsonierte mit Darja Michailowna über Gutsverwaltung, Kindererziehung, Wirtschafts- und Geschäftsangelegenheiten überhaupt; hörte ihre Pläne an, schätzte auch Unwichtiges nicht zu gering und schlug Verbesserungen und Neuerungen vor. Darja Michailowna war entzückt darüber – doch dabei blieb es. Bezüglich der Gutsverwaltung folgte sie denRatschlägen ihres Verwalters, eines ältlichen, einäugigen Kleinrussen, eines gutmütigen, doch listigen Schelmes. – »Das Alte ist fett, das Neue ist hager,« pflegte er zu sagen und schmunzelte und blinzelte dabei wohlgefällig.

Außer mit Darja Michailowna hatte Rudin mit niemandem so häufige und lange Unterredungen wie mit Natalia. Er steckte ihr insgeheim Bücher zu, vertraute ihr seine Pläne und las ihr die ersten Seiten künftiger Aufsätze und Werke vor. Das Verständnis dafür fehlte ihr oft, doch daran lag Rudin anscheinend wenig, wenn sie ihn nur anhörte. Dieses nahe Verhältnis zu Natalia war Darja Michailowna nicht ganz unangenehm. Mag sie immerhin – dachte sie – mit ihm hier auf dem Lande schwatzen. Er findet Gefallen an ihr, wie an einem kleinen Mädchen. Gefahr ist nicht dabei, und jedenfalls lernt sie von ihm … In Petersburg will ich das alles anders einrichten.

Darja Michailowna täuschte sich. Nicht wie ein kleines Mädchen schwatzte Natalia mit Rudin: sie lauschte gierig seinen Worten, bemühte sich, in den Sinn derselben einzudringen und unterwarf seinem Urteile ihre Gedanken, ihre Zweifel; er war ihr Erzieher, ihr Führer. Fürs erste kochte es bei ihr nur im Kopfe … in einem jungen Kopfe kocht es aber nicht lange, ohne daß das Herz auch ein Wort mitredet. Was für wonnevolle Minuten verbrachte Natalia, wenn, wie es oft vorkam, Rudin im Garten auf einerBank, im leichten und lichten Schatten einer Esche, anfing ihr Goethes Faust, Hoffmann, die Briefe Bettinas oder Novalis vorzulesen, und er sich dabei beständig unterbrach, um ihr zu erläutern, was ihr dunkel schien! Sie sprach das Deutsche nicht gut, wie fast alle unsere jungen Damen, verstand es aber vollkommen, und Rudin war ganz in deutscher Poesie, deutscher Romantik und deutscher Philosophie versunken und zog Natalia nach sich in jene höheren Regionen. Eine unbekannte, erhabene Welt enthüllte sich dem aufmerksamen Blicke des jungen Mädchens. Von den Seiten des Buches, das Rudin in der Hand hielt, strömten gleich einer Flut entzückender Musik wunderbare Bilder, neue, lichte Gedanken unaufhörlich in ihre Seele über, und in ihrem Herzen, das von edler Freude hoher Empfindungen erschüttert worden, erglimmte und entbrannte sanft der heilige Funken der Entzückung …

»Sagen Sie doch, Dmitri Nikolaitsch,« redete sie ihn einst an, als sie vor ihrem Stickrahmen am Fenster saß, »Sie werden für den Winter wohl nach Petersburg fahren?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Rudin, das Buch, in welchem er herumblätterte, auf die Knie sinken lassend, »wenn ich die Mittel dazu auftreibe, fahre ich hin.«

Er sprach träge: er fühlte sich ermattet und war den ganzen Morgen über müßig gewesen.

»Wie sollten Sie die nicht finden?«

Rudin schüttelte den Kopf.

»Ihnen deucht es so!«

Und er warf einen bedeutsamen Seitenblick auf sie.

Natalia wollte etwas sagen, hielt jedoch inne.

»Sehen Sie,« begann Rudin und wies mit der Hand nach dem Fenster, »sehen Sie jenen Apfelbaum: er ist gebrochen unter der Last und Fülle seiner Früchte. Ein treues Sinnbild des Genies …«

»Er ist gebrochen, weil er keine Stütze gehabt hat,« erwiderte Natalia.

»Ich verstehe Sie, Natalia Alexejewna; es ist aber für den Menschen nicht so ganz leicht, sie zu finden, diese Stütze.«

»Mir scheint, das Mitgefühl anderer … Einsamkeit aber muß jedenfalls …«

Natalia verwirrte sich ein wenig und wurde rot.

»Und was wollen Sie im Winter auf dem Lande anfangen?« setzte sie rasch hinzu.

»Was ich anfangen werde? Ich werde meine große Abhandlung beendigen – Sie wissen – vom Tragischen im Leben und in der Kunst – ich setzte Ihnen vorgestern den Plan auseinander – und werde Ihnen den Aufsatz zustellen.«

»Und werden ihn drucken lassen?«

»Nein.«

»Warum aber nicht? Für wen wollen Sie denn arbeiten?«

»Nun, wenn es für Sie wäre?«

Natalia senkte den Blick.

»Das wäre für meinen Verstand zu hoch.«

»Wovon handelt, wenn ich fragen darf, der Aufsatz?« fragte bescheiden Bassistow, der in einiger Entfernung saß.

»Vom Tragischen im Leben und in der Kunst,« wiederholte Rudin. »Hier, Herr Bassistow wird ihn auch lesen. Übrigens bin ich, was den Grundgedanken angeht, noch nicht mit mir im reinen. Ich habe mir bis jetzt noch nicht hinreichend die tragische Bedeutung der Liebe klargemacht.«

Rudin ließ sich gern und häufig über Liebe aus. Beim Worte Liebe war Mlle. Boncourt bisher immer zusammengefahren und hatte die Ohren gespitzt wie ein alter Schlachtgaul, der die Trompeten hört; nachher aber wurde sie es gewohnt und begnügte sich, die Lippen zusammenzuziehen und in Zwischenräumen Tabak zu schnupfen.

»Mich dünkt,« bemerkte Natalia schüchtern, »das Tragische in der Liebe – das ist die unglückliche Liebe.«

»Keineswegs!« erwiderte Rudin, »das ist eher die komische Seite in der Liebe … Man muß diese Frage ganz anders stellen … tiefer hineingreifen … Die Liebe!« fuhr er fort, »in ihr ist alles Geheimnis, wie sie kommt, wie sie sich entwickelt, wie sie verschwindet. Bald zeigt sie sich plötzlich, unzweideutig, freudig, wie der Tag; bald glimmt sie lange, wie die Glut unter der Asche, und bricht als Flamme in der Seele aus,wenn alles bereits zerstört ist; bald schleicht sie sich schlangenhaft ins Herz hinein und unerwartet wieder hinaus … Ja, ja; das ist eine bedeutsame Frage. Und wer liebt wohl zu jetziger Zeit? Wer erkühnt sich zu lieben?«

Rudin wurde nachdenkend.

»Weshalb zeigt sich aber Sergei Pawlitsch schon so lange nicht mehr?« fragte er plötzlich.

Natalia wurde über und über rot und senkte den Kopf auf ihren Stickrahmen.

»Ich weiß es nicht,« antwortete sie leise.

»Was für ein herrlicher, vortrefflicher Mensch,« sagte aufstehend Rudin. »Das ist einer der besten Vertreter des jetzigen russischen Adels …«

Mlle. Boncourt betrachtete ihn von der Seite mit ihren kleinen, französischen Augen.

Rudin ging einige Male durchs Zimmer.

»Haben Sie vielleicht die Bemerkung gemacht,« hub er an, sich rasch auf den Absätzen umdrehend, »daß die Eiche – und die Eiche ist ein starker Baum – ihr altes Laub erst dann abwirft, wenn das neue bereits hervorzubrechen beginnt?«

»Ja,« erwiderte langsam Natalia, »ich habe das beobachtet.«

»Ganz dasselbe ist auch der Fall mit alter Liebe in einem starken Herzen: sie ist bereits abgestorben, hält sich aber noch immer; und nur eine andere, neue Liebe vermag sie zu verdrängen.«

Natalia erwiderte nichts.

»Was soll das bedeuten?« dachte sie.

Rudin blieb eine Weile stehen, schüttelte die Haare und entfernte sich.

Natalia ging auf ihr Zimmer. Lange blieb sie in Nachdenken versunken auf ihrem Bettchen sitzen, lange dachte sie über die letzten Worte Rudins nach, drückte plötzlich die Hände zusammen und brach in Tränen aus. Worüber sie geweint hat – das weiß Gott allein! Sie selbst wußte nicht, warum sie so plötzlich weinen mußte. Sie trocknete ihre Tränen, doch von neuem flossen sie, gleich dem Wasser einer lange verhaltenen Quelle.

An eben diesem Tage war Rudin der Gegenstand eines Gesprächs zwischen Alexandra Pawlowna und Leschnew. Anfangs wollte letzterer sich durch Schweigen abfinden; sie hatte es aber darauf angelegt, etwas aus ihm herauszubringen.

»Ich sehe,« sagte sie zu ihm, »Dmitri Nikolajewitsch gefällt Ihnen nach wie vor nicht. Ich habe Sie absichtlich bis heute nicht befragt; jetzt aber müssen Sie die Gewißheit gewonnen haben, ob in ihm eine Veränderung vorgegangen ist, und ich wünsche zu erfahren, weshalb er Ihnen nicht gefällt.«

»Sehr wohl,« erwiderte Leschnew mit gewohntem Phlegma, »wenn Sie wirklich so ungeduldigsind; doch, merken Sie sich’s, Sie müssen nicht böse werden …«

»Nun, fangen Sie an, fangen Sie an.«

»Und lassen Sie mich ausreden, bis zu Ende.«

»Gut, gut; fangen Sie an.«

»So will ich Ihnen denn sagen,« begann Leschnew, sich langsam auf den Diwan niederlassend, »mir gefällt Rudin in der Tat nicht. Er ist ein kluger Mensch …«

»Das ist nicht zu leugnen!«

»Er ist ein auffallend kluger Mensch, wenn auch im Grunde gehaltlos …«

»Das ist leicht gesagt!«

»Obgleich im Grunde gehaltlos,« wiederholte Leschnew, »das tut aber weiter nichts: wir sind alle gehaltlose Menschen. Ich rechne es ihm sogar nicht als Schuld an, daß er herrschsüchtigen Geistes ist, träge, nicht sehr kenntnisreich …«

Alexandra Pawlowna schlug die Hände zusammen.

»Rudin nicht sehr kenntnisreich!« rief sie aus.

»Nicht sehr kenntnisreich,« wiederholte Leschnew ganz in demselben Tone, »auch daß er es liebt, auf Kosten anderer zu leben, eine Rolle spielen will und so weiter … das ist alles in der Ordnung. Schlecht ist es aber, daß er kalt ist wie Eis.«

»Er, diese feurige Seele, kalt!« unterbrach ihn Alexandra Pawlowna.

»Ja, kalt wie Eis, und er weiß es und spielt den Feurigen. Schlecht ist das,« fuhr Leschnew,allmählich sich belebend, fort, »denn es ist ein gefährliches Spiel, das er spielt – gefährlich, nicht für ihn, versteht sich, keinen Kopeken, kein Härchen setzt er auf die Karte – andere dagegen setzen ihre Seele ein …«

»Von wem, wovon reden Sie? Ich verstehe Sie nicht,« sagte Alexandra Pawlowna.

»Schlecht ist, daß er nicht ehrlich ist. Weil er ein Mann von Geist ist, muß er den Wert seiner Worte kennen, – und doch läßt er sie von seinen Lippen fallen, als ob sie ihm aus dem Herzen kämen … Nun ja, er ist beredt; seine Beredsamkeit ist aber nicht die eines Russen. Und dann – verzeiht man auch der Jugend Schönrednerei, in seinem Alter ist es eine Schande, am Getön eigener Worte Gefallen zu finden, eine Schande, sich derartig zur Schau zu stellen.«

»Mich dünkt, Michael Michailitsch, für den Zuhörer ist es ganz gleich, ob man sich zur Schau stellt oder nicht …«

»Bitte um Vergebung, Alexandra Pawlowna, es ist nicht ganz gleich. Es kann mir jemand ein Wort sagen und es dringt mir durch Mark und Bein, ein anderer sagt mir genau dasselbe Wort und vielleicht noch schöner – und es wird mir nicht einmal das Ohr kitzeln. Woher kommt das?«

»Das heißt,IhrOhr wird es nicht kitzeln,« unterbrach ihn Alexandra Pawlowna.

»Ja, mein Ohr,« erwiderte Leschnew, »obgleich ich vielleicht große Ohren habe. Die Sacheist die, daß Rudins Worte eben nur Worte bleiben und niemals zu Taten werden, dennoch aber können diese seine Worte Verwirrungen erzeugen in einem jungen Herzen und dasselbe zugrunde richten.«

»Von wem, von wem reden Sie aber, Michael Michailitsch?«

Leschnew zögerte.

»Sie wünschen zu wissen, von wem ich rede? Von Natalia Alexejewna.«

Alexandra Pawlowna wurde für einen Augenblick verwirrt, lächelte aber gleich darauf.

»Du lieber Gott!« begann sie, »was für sonderbare Einfälle Sie immer haben! Natalia ist noch ein Kind; und dann, gesetzt es wäre auch etwas daran, so werden Sie doch nicht glauben, daß Darja Michailowna …«

»Darja Michailowna ist vor allem eine Egoistin und lebt nur für sich; dann aber ist sie so sehr von ihrer Erfahrung in Erziehung der Kinder überzeugt, daß es ihr nicht einmal einfällt, um ihre Tochter besorgt zu sein. Bewahre! Wie könnte sie das! Ein Wink, ein majestätischer Blick – und alles muß wie am Drahte gehen. Das ist’s, woran diese Gnädige denkt, die sich eine Beschützerin der Künste und Wissenschaften dünkt, sich für einen hohen Geist und Gott weiß was noch hält, in der Tat aber weiter nichts ist als ein altes Weltdämchen. Natalia ist kein Kind; glauben Sie mir, sie gibt sich häufigeren und tieferen Betrachtungen hin als wir beide.Und da mußte solch ein ehrliches, leidenschaftliches Gemüt auf diesen Schauspieler, diesen Gecken stoßen! Übrigens ist auch dies in der Ordnung.«

»Gecken! Sie nennen ihn einen Gecken?«

»Natürlich ihn … Sagen Sie doch selbst, Alexandra Pawlowna, was für eine Rolle spielt er bei Darja Michailowna? Den Götzen, das Orakel des Hauses vorstellen, sich in die Wirtschaft, in häusliche Klatschereien und Lappalien mischen – ist das wohl eines Mannes würdig?«

Alexandra Pawlowna blickte Leschnew mit Erstaunen an.

»Ich erkenne Sie nicht wieder, Michael Michailitsch,« sagte sie. »Das Blut ist Ihnen ins Gesicht gestiegen, Sie sind in Aufregung. – Nein, wahrhaftig, da steckt etwas anderes dahinter …«

»Nun, da haben wir’s! Sagt man einer Frau die Wahrheit auf sein Gewissen – sie wird sich nicht zufrieden geben, bevor sie nicht irgendeinen nichtigen Nebengrund erdichtet, weshalb man gerade so und nicht anders geredet hat.«

Alexandra Pawlowna wurde böse.

»Bravo, Monsieur Leschnew! Sie fangen an, die Frauen nicht besser zu behandeln, als Herr Pigassow es tut; doch, mit Ihrer Erlaubnis, wie scharfsichtig Sie auch sein mögen, wird es mir doch schwer, zu glauben, daß Sie in so kurzer Zeit alle und alles durchdringen konnten. Mirscheint, Sie sind im Irrtum. In Ihren Augen wäre Rudin eine Art Tartüffe.«

»Das ist’s eben, daß er nicht einmal ein Tartüffe ist. Tartüffe, der wußte wenigstens, um was es ihm zu tun war; dieser aber, trotz seines Verstandes …«

Leschnew hielt inne.

»Nun denn, dieser also? Reden Sie aus, Sie ungerechter, garstiger Mensch!«

Leschnew erhob sich.

»Hören Sie, Alexandra Pawlowna,« begann er, »ungerecht sind Sie, nicht ich. Sie zürnen mir wegen meines strengen Urteils über Rudin: ich habe ein Recht, mich über ihn streng zu äußern! Vielleicht habe ich dieses Recht nicht um billigen Preis erkauft. Ich kenne ihn gut: habe lange mit ihm zusammen gelebt. Erinnern Sie sich, ich versprach Ihnen gelegentlich, unser Leben in Moskau zu erzählen. Wie es scheint, muß ich es wohl jetzt tun. Werden Sie aber die Geduld haben, mich bis zu Ende anzuhören?«

»Reden Sie, reden Sie!«

»Wohlan denn!«

Leschnew begann langsamen Schrittes durch das Zimmer zu gehen, von Zeit zu Zeit blieb er stehen und senkte den Kopf nach vorn.

»Vielleicht ist es Ihnen bekannt,« hub er an, »vielleicht auch nicht, daß ich früh als Waise zurückblieb und bereits im siebzehnten Jahre keine andere Autorität über mich kannte als die eigene. Ich lebte im Hause meiner Tante in Moskau undtat, was ich wollte. Ich war ein ziemlich hohler und selbstsüchtiger Bursche und liebte mich zu brüsten und großzutun. Als ich die Universität bezogen hatte, war mein Betragen das eines Schuljungen und verwickelte mich bald in eine höchst fatale Geschichte. Ich will sie Ihnen nicht erzählen: es lohnt nicht. Ich hatte mir eine Lüge zuschulden kommen lassen, eine ziemlich garstige Lüge … Die Sache kam heraus, ich ward überführt, beschämt … ich war verwirrt und weinte wie ein Kind. Das ereignete sich in der Wohnung eines Bekannten, in Gegenwart unserer Gefährten. Alle machten sich lustig über mich, alle, einen Studenten ausgenommen, der, bitte zu beachten, mehr als die übrigen unwillig über mich gewesen war, solange ich verstockt blieb und meine Lüge nicht eingestanden hatte. Tat ich ihm vielleicht leid – genug, er nahm mich unter den Arm und führte mich zu sich.«

»Das war Rudin?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Nein, es war nicht Rudin … das war ein Mensch … er ist jetzt schon tot … das war ein ungewöhnlicher Mensch. Er hieß Pokorski. Ihn mit wenigen Worten zu schildern, bin ich nicht imstande, kommt sein Name mir auf die Lippen, dann vergeht mir die Lust, von jedem anderen zu sprechen. Das war eine erhabene reine Seele und ein Geist, wie er mir nachher nicht wieder vorgekommen ist. Pokorski bewohnte ein kleines, niedriges Stübchen im Halbgeschosse einesalten, hölzernen Häuschens. Er war sehr arm und schlug sich, so gut es ging, mit Unterrichtgeben durch. Es kamen Zeiten, wo er nicht einmal mit einer Tasse Tee seinen Gast zu bewirten imstande war, und sein einziger Diwan war dermaßen eingesessen, daß er einem Boote nicht unähnlich sah. Dennoch, trotz des Mangels an Bequemlichkeiten, besuchten ihn viele. Es hatten ihn alle lieb und er zog die Herzen an. Sie können sich nicht vorstellen, wie angenehm und heiter es sich in seinem ärmlichen Stübchen saß! Bei ihm wurde ich mit Rudin bekannt. Er hatte sich damals bereits von seinem Fürstensöhnchen getrennt.«

»Was hatte denn jener Pokorski Besonderes an sich?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Wie soll ich Ihnen das erklären? Poesie und Wahrheit – das zog alle zu ihm hin. Bei seinem hellen, weiten Geiste war er liebenswürdig und unterhaltend, wie ein Kind. Noch jetzt tönt sein frohes Lachen in meinen Ohren nach, und dabei

›Glühte er still und unauslöschlich für das GuteWie vor dem Heiligenbild die nächtliche Lampe …‹

›Glühte er still und unauslöschlich für das GuteWie vor dem Heiligenbild die nächtliche Lampe …‹

›Glühte er still und unauslöschlich für das GuteWie vor dem Heiligenbild die nächtliche Lampe …‹

›Glühte er still und unauslöschlich für das Gute

Wie vor dem Heiligenbild die nächtliche Lampe …‹

wie sich über ihn ein halbverrückter, überaus liebenswürdiger Poet unseres Kreises ausgedrückt hat.«

»Und wie sprach er?« fragte wieder Alexandra Pawlowna.

»Er sprach gut, wenn er aufgelegt war, dochnicht auffallend. Rudin war schon damals zwanzigmal beredter als er.«

Leschnew hielt inne und kreuzte die Arme übereinander.

»Pokorski und Rudin glichen einander nicht. An Rudin war gleich mehr Glanz und Effekt, mehr Phrase, und – wenn Sie wollen – mehr Begeisterung. Er schien viel mehr Talent zu besitzen als Pokorski, in der Tat aber war er, im Vergleich zu ihm, ein armer Wicht. Rudin entwickelte ganz vorzüglich jeden beliebigen Gedanken und disputierte meisterhaft; die Gedanken entsprangen aber nicht aus seinem Kopfe: er stahl sie anderen, vorzüglich Pokorski. Dieser war äußerlich ruhig und sanft, fast schwach – liebte die Frauen bis zur Narrheit, zechte gern und würde von niemandem eine Beleidigung ertragen haben. Rudin schien voll Feuer, Kühnheit, Leben, war jedoch im Innern der Seele kalt und beinahe ein Poltron, solange seine Selbstliebe nicht angefochten wurde: dann aber konnte er aus der Haut fahren. Er suchte beständig, andere zu beherrschen, tat es aber immer im Namen allgemeiner Prinzipien und Ideen und gewann dadurch wirklich großen Einfluß auf viele. Es ist wahr, niemand liebte ihn; ich war vielleicht der einzige, der sich an ihn geschlossen hatte. Sein Joch wurde ertragen … Pokorski unterwarfen sich alle von selbst. Rudin vermied aber auch niemals, sich mit dem ersten besten in Unterhaltung oder Wortstreit einzulassen … Er hatte nichtviel gelesen, jedenfalls aber bedeutend mehr als Pokorski und wir alle, überdies besaß er einen systematischen Verstand und ein ungeheures Gedächtnis, dies alles aber verfehlt niemals seine Wirkung auf die Jugend! Ein Resultat muß sie haben, Abschlüsse, wenn auch falsche, aber es müssen Abschlüsse sein! Ein durchweg ehrenhafter Mensch taugt dazu nichts. Versuchen Sie es, der Jugend zu gestehen, daß Sie ihr reine Wahrheit nicht reichen können, weil Sie selbst solche nicht besitzen … die Jugend wird Sie nicht anhören wollen. Sie geradezu hinter das Licht führen können Sie aber auch nicht. Es ist durchaus notwendig, daß Sie selbst, wenn auch nur zur Hälfte, glauben, Sie seien im Besitze der Wahrheit … Darum war denn auch die Wirkung, die Rudin auf unsereinen ausübte, so mächtig. Nun sehen Sie, ich sagte Ihnen soeben, daß er nicht viel gelesen hatte; es waren aber philosophische Bücher, die er las, und sein Kopf war so eingerichtet, daß er aus dem, was er gelesen hatte, sogleich das Allgemeine herausnahm, sich an die Wurzel der Sache klammerte und dann erst von derselben aus, nach allen Seiten hin, klare und gerade Gedankenfäden zog, geistige Fernsichten eröffnete. Unseren damaligen Kreis bildeten, offen gestanden, Knaben – und nur oberflächlich gebildete Knaben. Philosophie, Kunst, Wissenschaft, das Leben selbst – alles das waren für uns nur Worte, vielleicht auch Begriffe, anziehende, herrliche, aber zerstreute, vereinzelteBegriffe. Von einem allgemeinen Zusammenhange dieser Vorstellungen, von einem allgemeinen Weltgesetze hatten wir keine Ahnung, nichts davon stand vor unseren Blicken, obgleich wir unbestimmt disputierten und uns abmühten, uns Licht darüber zu verschaffen. Hörten wir Rudin sprechen, so glaubten wir zum ersten Male, ihn endlich erfaßt zu haben, diesen allgemeinen Zusammenhang, wir wähnten, der Vorhang sei endlich vor uns aufgehoben! Gesetzt auch, er habe nicht Eigenes vorgetragen – was tat es! Eine regelmäßige Ordnung war in unserem ganzen Wissen eingetreten, alles Verworrene hatte sich gesammelt, geschichtet und war vor uns aufgewachsen, wie ein Bau, überall war Licht und wehte Lebensgeist … Nichts blieb unverständlich, zufällig: aus allem sprach vernünftige Notwendigkeit und Schönheit, alles bekam eine klare und zugleich geheimnisvolle Bedeutung, jede vereinzelte Erscheinung im Leben tönte wie ein Akkord, und wir selbst, von einer heiligen Scheu, einem sanften Herzensschauer erfüllt, dünkten uns belebte Gefäße jener ewigen Wahrheit, ihre Werkzeuge, zu etwas Großem berufen … Kommt Ihnen das nicht lächerlich vor?«

»Nicht im mindesten!« erwiderte Alexandra Pawlowna gedehnt. »Warum glauben Sie das? Ich verstehe Sie nicht ganz, finde es aber nicht lächerlich.«

»Seit der Zeit sind wir freilich klüger geworden,« fuhr Leschnew fort, »das muß uns allesjetzt wie Kinderei vorkommen … Doch, ich wiederhole es, wir hatten damals Rudin viel zu verdanken. Pokorski stand unvergleichlich höher als er, dagegen ist nichts zu sagen; Pokorski flößte uns allen Feuer und Kraft ein, er fühlte sich indessen zu gewissen Zeiten schlaff und wurde schweigsam. Er war ein nervöser, krankhafter Mensch; wenn er aber seine Flügel entfaltete – Gott! Wohin nahm er dann seinen Flug! Gerade in das tiefste Blau des Himmels hinein! In Rudin hingegen, diesem schönen und stattlichen Jungen, gab es viel Kleinliches; er machte sogar Klatschereien; seine Leidenschaft war es, sich in alles zu mischen, über alles sein Wort abzugeben, alles zu erklären. Seine rührige Tätigkeit gönnte sich niemals Ruhe … ein politischer Geist das! Ich rede von ihm, wie ich ihn damals gekannt habe. Er hat sich übrigens leider nicht verändert. Und auch in seinen Überzeugungen ist keine Veränderung eingetreten … bei fünfunddreißig Jahren! … Das kann nicht jeder von sich sagen.«

»Setzen Sie sich,« sagte Alexandra Pawlowna zu ihm, »Sie brauchen ja nicht wie ein Perpendikel das Zimmer zu durchlaufen!«

»Mir ist’s so bequemer,« erwiderte Leschnew. »Kaum war ich in den Kreis Pokorskis hineingeraten, so war ich wie umgewandelt: ich demütigte mich, fragte, lernte, freute mich, empfand eine Art von Ehrfurcht, wie wenn ich in einen Tempel getreten wäre. Und in der Tat, wennich an unsere Zusammenkünfte zurückdenke, ja, bei Gott, es war viel Gutes, ja Rührendes in ihnen. Stellen Sie sich eine Gesellschaft von fünf, sechs jungen Burschen vor, ein einziges Talglicht brennt, es wird ein abscheulicher Tee getrunken mit altem, ganz altem Zwieback dazu; zugleich aber betrachten Sie unsere Gesichter und hören unsere Reden! In den Blicken eines jeden – Entzücken, es glühen die Wangen, das Herz klopft, wir reden von Gott, von Wahrheit, von der Zukunft der Menschen, von Poesie, – zuweilen auch Unsinn, lassen uns von einem Nichts hinreißen; was tut das aber! … Pokorski sitzt da, mit untergeschlagenen Beinen, seine Hand stützt die bleiche Wange: seine Augen leuchten. Rudin steht mitten im Zimmer und redet, redet schön, das treue Abbild eines jugendlichen Demosthenes vor dem brausenden Meere; Ssubotin, der Poet mit verwühltem Haar, stößt von Zeit zu Zeit und wie im Traume abgebrochene Sätze aus; ein vierzigjähriger Bursche, Sohn eines deutschen Pastors, Scheller genannt, der wegen seines beständigen, unverbrüchlichen Schweigens unter uns sich den Ruf eines überaus tiefen Denkers erworben hatte, schweigt auf ganz besonders feierliche Weise – und der heitere Stschitow selbst, der Aristophanes unseres Kreises, wird stille und lächelt bloß; zwei drei Neulinge horchen mit begeistertem Entzücken auf … Und die Nacht zieht unbemerkt in stillem Fluge wie auf Fittichen vorüber. Da graut schonder Morgen, und gerührt, heiter, ehrsam, nüchtern – an Wein dachte man damals bei uns nicht – und mit einer gewissen, der Seele wohltuenden Müdigkeit gehen wir auseinander … Noch jetzt denke ich daran, wie ich, ganz in Rührung zerflossen, die menschenleeren Gassen durchstreifte und sogar den Sternen zutrauliche Blicke zuwarf, als wären sie mir näher gerückt und verständlicher geworden … Oh! Die herrliche Zeit damals, und ich kann nicht glauben, daß sie nutzlos verlorengegangen ist! Und sie ist es auch nicht – sie ist nicht verloren, selbst für diejenigen nicht, welche nachmals in der Alltäglichkeit des Lebens untergingen … Wie oft sind mir dergleichen Leute, einstige Kommilitonen, vorgekommen! Man hätte glauben können, ganz vertiert wäre der Mensch, – und es bedürfte nur des Namens Pokorski –, so wurde sogleich alles Gute, das in ihm übriggeblieben war, rege, wie wenn man in einem schmutzigen und finsteren Gemache ein liegengebliebenes Fläschchen voll Wohlgeruch öffnet …«

Leschnew schwieg; sein bleiches Gesicht hatte sich gerötet.

»Weshalb aber, wann – haben Sie sich mit Rudin entzweit?« fragte Alexandra Pawlowna mit verwundertem Blick.

»Ich habe mich nicht mit ihm entzweit; ich trennte mich von ihm, als ich ihn im Auslande genau kennengelernt hatte. Aber schon in Moskauhätten wir uns entzweien können. Schon damals spielte er mir einen bösen Streich.«

»Was war denn das?«

»Das will ich Ihnen sagen. Ich war … wie soll ich mich ausdrücken? Zu meiner Figur paßt das nicht … ich war von jeher sehr geneigt, mich zu verlieben.«

»Sie?«

»Ja, ich! Das ist sonderbar, nicht wahr? Dem ist aber doch so … Nun, ich verliebte mich also damals in ein sehr liebliches Mädchen … Warum sehen Sie mich denn so an? Ich könnte Ihnen von mir eine bei weitem wunderbarere Geschichte erzählen.«

»Was für eine Geschichte? Wenn ich fragen darf? Sie machen mich neugierig.«

»Einfach folgende: Zu jener Zeit in Moskau pflegte ich bei Nacht mich zu einem Rendezvous einzustellen … mit wem meinen Sie wohl? Mit einer jungen Linde am Ende eines Gartens. Ich hielt ihren dünnen und schlanken Stamm umfangen, und es deuchte mir, ich umfasse die ganze Natur, und das Herz wurde mir weit und verging in Liebe, als ob wirklich die ganze Natur sich in dasselbe ergossen hätte … Ja, so war ich! … Doch was! Sie glauben vielleicht auch, ich hätte damals keine Verse gemacht? Ich habe es dennoch getan, ja sogar eine Nachbildung des ›Manfred‹ von Byron! Unter den handelnden Personen kam ein Gespenst vor, mit Blut auf der Brust, und, wohl verstanden, nichtsein eigenes Blut, sondern das Blut der Menschheit überhaupt … Ja, ja, also wundern Sie sich nicht … Doch, ich fing an, von meiner Liebe zu erzählen. Ich machte also die Bekanntschaft eines jungen Mädchens …«

»Und hörten auf, zu der Linde zu gehen?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Hörte auf hinzugehen. Jenes junge Mädchen war ein herzensgutes, allerliebstes Geschöpfchen mit lebhaften, klaren Augen und hellklingender Stimme.«

»Sie schildern sehr gut,« bemerkte mit einem feinen Lächeln Alexandra Pawlowna.

»Sie aber sind eine strenge Richterin,« erwiderte Leschnew. »Nun, dieses Mädchen wohnte bei ihrem greisen Vater … Doch ich will mich nicht in Details einlassen. Ich muß Ihnen aber wiederholen, daß dieses junge Mädchen wirklich herzensgut war – goß sie mir doch immer beim Tee das Glas bis zum Rande voll, wenn ich auch nur um ein halbes gebeten hatte! … Drei Tage nach unserem ersten Zusammentreffen war ich schon in Liebe zu ihr entbrannt, am siebenten Tage hielt ich es nicht mehr aus und teilte Rudin alles mit. Junge Leute, wenn sie verliebt sind, können es nicht für sich behalten; ich beichtete also Rudin alles. Ich stand damals ganz unter seinem Einflusse, und dieser Einfluß, ich muß es unverhohlen bekennen, war in vieler Hinsicht wohltuend. Er war der erste, der mich nicht geringachtete, er gab mir den nötigen Schliff. Pokorskiliebte ich leidenschaftlich, aber ich empfand eine gewisse Scheu vor seiner reinen Seele, Rudin stand mir näher. Als er von meiner Liebe hörte, geriet er in unbeschreibliches Entzücken, gratulierte mir, umarmte mich und begann sogleich mich belehren, mir die große Wichtigkeit meiner neuen Lage auseinanderzusetzen. Ich war ganz Ohr … Nun, Sie wissen ja, wie er zu reden versteht. Seine Worte machten auf mich einen außerordentlichen Eindruck. Ich bekam auf einmal eine merkwürdige Achtung vor mir selbst, nahm eine ernsthafte Miene an und lachte nicht mehr. Ich weiß es noch, ich fing sogar an, vorsichtiger aufzutreten, als trüge ich in der Brust ein Gefäß, mit kostbarer Flüssigkeit angefüllt, die ich zu verschütten befürchtete … Ich fühlte mich so hoch beglückt, um so mehr, da mir unverkennbare Beweise von Wohlwollen zuteil wurden. Rudin äußerte den Wunsch, die Bekanntschaft des Gegenstandes meiner Liebe zu machen, und vielleicht war ich es selbst, der darauf bestand, daß er ihm vorgestellt werde.«

»Nun, ich sehe, sehe jetzt, wo dies hinausläuft,« unterbrach ihn Alexandra Pawlowna. »Rudin hat Ihnen Ihren Gegenstand abgejagt, und Sie können es ihm bis jetzt nicht verzeihen … Ich wollte wetten, ich habe es getroffen!«

»Und Sie würden Ihre Wette verlieren, Alexandra Pawlowna: Sie sind im Irrtum. Rudin hat mir meinen Gegenstand nicht abgejagtund wollte ihn mir auch nicht abjagen; er hat aber dennoch mein Glück zertrümmert, obgleich ich ihm jetzt, wenn ich es mit kaltem Blute betrachte, Dank dafür wissen möchte. Damals aber verlor ich beinahe den Verstand. Rudin wollte mir keineswegs schaden – im Gegenteil! Doch, getreu seiner unglückseligen Gewohnheit: jede Regung des Lebens, des eigenen sowohl wie des anderen, an ein Wort zu spießen, wie den Schmetterling an die Nadel, begann er uns über uns selbst aufzuklären, unser Verhältnis, unser gegenseitiges Benehmen zu analysieren, er zwang uns despotisch, ihm Rechenschaft abzulegen von unseren Gedanken, erteilte uns Lob und Tadel, ja – wollen Sie es glauben – er ließ sich mit uns sogar in einen Briefwechsel ein! … Kurz, wir wurden durch ihn ganz und gar irre aneinander! Ich würde wohl damals schwerlich meine Schöne geheiratet haben, soviel gesunder Verstand war mir noch geblieben, wir hätten aber immerhin, gleich Paul und Virginie, einige glückliche Monate verbringen können; so aber kam es zu Mißverständnissen und Spannungen aller Art – mit einem Worte, es wurde ein völliger Wirrwarr daraus. Das Ende vom Liede war, daß Rudin eines schönen Morgens aus seinen eigenen Reden die Überzeugung herausschälte: es läge ihm, als dem Freunde, die heilige Verpflichtung ob, den greisen Vater von allem in Kenntnis zu setzen, und das hat er auch getan.«

»Wäre es möglich?« rief Alexandra Pawlowna aus.

»Ja, doch nicht zu vergessen, mit meiner Einwilligung – das ist das Wunderbare! Ich erinnere mich jetzt noch, welch ein Chaos ich damals im Kopf mit mir umherschleppte: es drehte sich und verrückte sich in demselben alles, wie in einer Camera obscura: was weiß gewesen, zeigte sich schwarz, Schwarzes – weiß, Lüge schien Wahrheit, Einbildung – Pflicht geworden zu sein … Oh! Noch jetzt fühle ich mich beschämt, wenn ich daran denke! Rudin, – der verlor den Mut nicht … warum sollte er es auch! Er flog nur so hinweg über Mißverständnisse und Verwicklungen aller Art, wie die Schwalbe über den Teich.«

»Und so schieden Sie denn von Ihrem Mädchen?« fragte Alexandra Pawlowna, das Köpfchen naiv auf die Seite neigend und die Augenbrauen heraufziehend.

»Ich schied von ihr … und es war ein schlechtes, ein beleidigendes, ungeschicktes, unnützerweise offenkundiges Scheiden … Ich weinte, sie weinte und der Teufel weiß, was daraus wurde … Es hatte sich da ein gordischer Knoten zusammengezogen – er mußte durchhauen werden, das tat wehe! Übrigens fügt sich alles auf der Welt zum besten. Sie hat einen braven Mann geheiratet und lebt jetzt glücklich …«

»Gestehen Sie es, Sie haben Rudin doch nichtvergeben können …« warf Alexandra Pawlowna ein.

»Sie irren sich!« erwiderte Leschnew, »geweint habe ich wie ein Kind, als ich bei seiner Abreise ins Ausland Abschied von ihm nahm. Die Wahrheit zu sagen, ist mir aber doch, schon damals, ein Stachel in der Seele steckengeblieben. Und als ich später im Auslande mit ihm zusammentraf … je nun, da war ich auch schon älter geworden … Rudin erschien mir in seinem wahren Lichte.«

»Was war es denn, was Sie an ihm entdeckt hatten?«

»Nun, alles, wovon ich Ihnen vor einer Stunde erzählte. Doch genug von ihm. Vielleicht endet noch alles gut. Ich wollte Ihnen nur beweisen, daß, wenn ich über ihn ein strenges Urteil fälle, ich es nicht tue, weil ich ihn etwa nicht kenne … Was indessen Natalia Alexejewna betrifft, so will ich nicht unnütze Worte verlieren; Sie aber mögen auf Ihren Bruder achtgeben.«

»Auf meinen Bruder! Was ist denn mit ihm?«

»Sehen Sie ihn doch nur an. Bemerken Sie denn nichts?«

Alexandra Pawlowna senkte den Kopf.

»Sie haben recht,« sagte sie, »mein Bruder … seit einiger Zeit erkenne ich ihn nicht wieder … Glauben Sie aber wirklich …«

»Still! Er kommt, deucht mir,« flüsterte Leschnew. »Natalia ist gewiß kein Kind mehr, glaubenSie mir’s, obschon sie unerfahren ist wie ein solches. Sie werden sehen, dieses kleine Mädchen wird uns noch alle in Erstaunen setzen.«

»Wodurch meinen Sie?«

»So meine ich: solche kleine Mädchen pflegen sich ins Wasser zu stürzen, Gift zu nehmen und dergleichen mehr. Beurteilen Sie sie nicht nach ihrem ruhigen Aussehen, sie besitzt heftige Leidenschaften und auch Charakter, verlassen Sie sich darauf!«

»Nun, mir scheint, Sie versteigen sich in das Reich der Dichtung. Einem solchen Phlegmatiker wie Ihnen könnte auch ich noch als ein Vulkan erscheinen.«

»O nein!« äußerte Leschnew lächelnd … »Was Charakter anbetrifft – davon besitzen Sie, Gott sei Dank, nichts.«

»Was ist das wieder für ein unartiger Ausfall!«

»Wie? Ich bitte Sie, das ist ja das allergrößte Kompliment …«

Wolinzow trat herein und warf einen mißtrauischen Blick auf Leschnew und seine Schwester. Er hatte in der letzten Zeit etwas abgenommen. Beide redeten ihn an; er würdigte aber ihre Scherze kaum eines Lächelns und hatte, wie sich einst Pigassow über ihn äußerte, die Miene eines »melancholischen Hasen«. Es hat aber wohl kaum jemals einen Menschen gegeben, der nicht, wenn auch nur einmal in seinem Leben, eine noch schlechtere Miene gezeigt hätte. Wolinzowfühlte, daß Natalia sich von ihm abwandte, mit ihr aber, so deuchte es ihm, schwand auch der Boden unter seinen Füßen.


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