Erstes Kapitel

Der erste Zusammenstoß vor dem Zeughaus.Erstes Kapitel

Der erste Zusammenstoß vor dem Zeughaus.

Der erste Zusammenstoß vor dem Zeughaus.

Über der breiten Hauptstraße, die in Dresden vom Blockhaus in einer schnurgeraden Linie nach dem Bautzner Platz lief, lag die Dämmerung.

Es war ein sonniger Oktobertag gewesen. Der Wind hatte die letzten Fäden des Altweibersommers über die buntbelaubten Äste der Bäume gehängt, und auf den Bänken der breiten Mittelallee hatten sich zahlreiche Spaziergänger ausgeruht und die behagliche Wärme der Sonnenstrahlen genossen. Jetzt war es kühl, und der Abendwind bewegte leise die Zweige. Die vergilbten Blätter schwebten unaufhörlich zur Erde nieder und wurden vom Winde überallhin verstreut.

Unter den dichten Baumreihen war es belebt. Friedliche Bürger schlenderten Arm in Arm mit ihren Frauen die Allee hinab, junges Volk trieb allerhand Allotria, und Kinder tummelten sich spielend zwischen den Spaziergängern. Besonders lebhaft war es auf dem unteren Teil der Hauptstraße. Hier stand, gegenüber der Dreikönigskirche,breit und wuchtig die alte Kaserne des 1. Linien-Infanterieregiments Prinz Albert.

Aus vielen Fenstern dieses großen Baues sahen Soldaten heraus, die mit untenstehenden jungen Mädchen plauderten oder mit vorübergehenden Bekannten Begrüßungen austauschten. Hier und da baumelten über ihren Köpfen an einer Schnur frischgescheuerte Halsbinden und Feldmützen. Zuweilen blieben die auf der Allee Lustwandelnden wohl ein Weilchen stehen, um den Melodien der alten Soldatenlieder zu lauschen, die aus der Kaserne schallten.

Inzwischen war es dunkel geworden, und die wenigen Gaslaternen flammten trübe auf. Auch in den Mannschaftsstuben wurde Licht gemacht.

Die Soldaten hatten heute Brotfassen. Aus diesem Grunde war das breite Hauptportal der Kaserne, wie an jedem dieser Tage, dicht umlagert. Besonders Kinder und einfache Frauen drängten sich heran, um für wenige Groschen ein frisches Kommißbrot zu erhandeln.

Unter dem hohen Torbogen stand der Posten vor dem Gewehr, die Ungeduldigen von Zeit zu Zeit zurückweisend. Hinter ihm unterhielt sich in der breiten Halle eine Anzahl jüngerer Unteroffiziere im Drillichanzug.

Plötzlich rief halblaut eine Stimme: »Der Kasernendienst!«

Im Nu kam Bewegung in die Gruppe, denn das Herumstehen im Hauptportal war verboten. Aller Blicke richteten sich nach dem auf den Kasernenhof mündenden Ausgang. Dort stand, durch die in der Mitte der Vorhalle hängende Gaslaterne nur spärlich beleuchtet, eine hohe, straffe Gestalt. Von dem breiten Gesicht war indem Halbdunkel nicht mehr zu sehen als ein martialischer, weißer Schnurrbart. Auf der Brust trug der unbemerkt Herangekommene ein dickes Notizbuch, das zwischen ein paar geöffnete Waffenrockknöpfe geschoben war.

Da tönte es scharf und befehlend durch das Portal:

»Korporal Mißbach!«

»Herr Feldwebel!« antwortete eine laute Stimme, und von der Gruppe der Unteroffiziere löste sich einer und eilte zu dem Rufer hin. Zwei Schritte von ihm entfernt blieb er kerzengerade stehen, die Hände an die Hosennaht pressend.

»Bist du für heute fertig?« fragte der Schnurrbärtige leise.

»Ja, Vater,« antwortete der junge Korporal.

»Hat deine Kompagnie nicht noch Instruktionsstunde?«

»Nein.«

»Dann wollen wir zusammen Abendbrot essen. Geh' voran, ich komme sogleich.«

Der Korporal machte auf den Hacken stramm kehrt und verschwand.

Inzwischen hatten sich die übrigen Unteroffiziere unbemerkt aus dem Staube gemacht, und das Hauptportal war leer. Der Posten vor dem Gewehr, ein älterer Soldat, stand erwartungsvoll auf seinem Platz. Die äußerliche Ruhe, die er zur Schau trug, konnte ein geübtes Auge nicht über seine innere Unrast hinwegtäuschen.

Jetzt betrat der Kasernendiensthabende mit langsamen Schritten die leere Torhalle. Ein kaum merklicher Seitenblick durch das Fenster der erhöht liegenden Wachtstube belehrte ihn, daß man darin nur auf das Zeichen wartete.Noch einmal trat der Fuß des Revidierenden nieder, – da legte die Schildwache die Hand an den Mund und rief mit lauter Stimme:

»Rrrraus!«

In demselben Augenblick flog die Tür der Wachtstube auf, und die Mannschaft eilte auf den Korridor. Die Soldaten rissen ihre Gewehre aus den Stützen, stampften die kurze Treppe hinunter und stellten sich in einem Gliede schnurgerade auf. Der Kasernendiensthabende stand währenddessen unbeweglich inmitten der Halle und musterte das Heraustreten der Wache mit scharfen Blicken.

Jetzt war das Glied ausgerichtet. Der wachthabende Sergeant trat mit einer Linkswendung einen Schritt vor und kommandierte, daß seine Stimme von den Mauern zurückschallte:

»Schultert – Gwehr!«

Die Gewehre krachten an die linken Schultern.

»Präsentiert – Gwehr!«

Derselbe scharfe Ton wie vorher, als sollten die Schäfte zersplittern. Dann herrschte lautlose Stille. Der Kasernendiensthabende rührte sich noch immer nicht von seinem Platze. Aber seine Augen verschlangen förmlich die Präsentierenden.

Da näherte er sich endlich dem rechten Flügel des Glieder und der Sergeant meldete:

»Als Wachthabender! Parole Leipzig. Auf Wache und Posten nichts Neues!«

Als das Wort Leipzig fiel, blitzte es in den Augen des Revidierenden auf, und er rieb die Zähne aufeinander, daß die langen Spitzen des starken Schnurrbarts zuckten. Dann ging er mit langsamen Schritten die Wacheab, jeden Mann mit durchdringendem Blick auf Haltung und Anzug musternd.

Den regungslos stehenden Soldaten wurde während dieser wenigen Sekunden schwül, und jeder riß sich zusammen. Denn Feldwebel Mißbach, der in der Reihe der Subalternoffiziere Kasernendienst tat, genoß im ganzen Regiment ein Ansehen, das schon an Furcht grenzte.

Jetzt ging er hinter der Wache entlang. Jeder Mann reckte sich unmerklich noch höher auf, und die Nacken preßten sich an Halsbinde und Waffenrockkragen. Plötzlich blieb er stehen, fuhr einem Soldaten mit der Hand unter den Tschako und schnarrte nur das eine Wort:

»Haarschnitt!«

Der Gemeinte zuckte vor Schreck leise zusammen. Diese verstohlene Bewegung war dem scharfen Auge des Feldwebels nicht entgangen.

»Stillstehen!« herrschte er den vor Aufregung Zitternden an. »Der Kerl springt im Gliede 'rum wie'n Sack voll Flöhe.«

Der Soldat stand wie eine Bildsäule und wagte nicht Atem zu holen. Erst als er gewahr wurde, daß auf die Zurechtweisung nichts folgte und der Revidierende weiterging, beruhigte er sich langsam.

»Die Wache ist gut aufgestellt,« sagte Feldwebel Mißbach außergewöhnlich wohlgelaunt zum Wachthabenden. »Tragen Sie ins Journal ein: Revision fünf Uhr fünfundfünfzig.«

»Schultert – Gwehr! – – – Beim Fuß – Gwehr! – – – Trett – ab!«

Damit ging die Wachtmannschaft auseinander, froh,daß die Revision so gut abgelaufen war. »Der liebe Gott« – wie Feldwebel Mißbach im Regiment allgemein genannt wurde – hatte heute seinen guten Tag.

Unterdessen war der Korporal Heinrich Mißbach durch eine lange Flucht matterhellter Korridore und über einige Treppen gegangen, bis er das Revier der 3. Kompagnie erreicht hatte. Hier öffnete er die erste Tür, schlug den dunkeln Wollvorhang dahinter zurück und betrat die väterliche Wohnung. Am Fenster saß eine weibliche Gestalt, die beim Schein einer dicken Stearinkerze nähte.

»Guten Abend, Linchen!«

Das Mädchen ließ die Arbeit sinken und sah auf. Als sie den Bruder erkannte, huschte wie ein Sonnenstrahl ein mattes Lächeln über ihr bleiches und eingefallenes Gesicht.

»Guten Abend, Heinrich!« erwiderte sie. Und ihre großen Augen blieben an der Gestalt des Eingetretenen hängen.

Heinrich Mißbach ging zu dem gelben Kachelofen, legte die Hände auf den Rücken und lehnte sich stumm daran.

»Soll ich dir eine Tasse Kaffee einschenken?« fragte das Mädchen mit herzlicher Bereitwilligkeit, »er ist gerade noch warm.«

Mit diesen Worten war sie zum Tellerbrett gegangen, hatte eine mit bunten Blümchen bemalte Steinguttasse herabgenommen und wollte gerade die eiserne Ofenröhre aufmachen, als der Bruder sagte:

»Ich habe schon in der Menage Kaffee getrunken. Laß es sein, Linchen. Der Vater schickt mich; ich soll mit euch Abendbrot essen.«

Das Mädchen stellte die Tasse schweigend wieder auf den Platz zurück. Beim Hinaufreichen klirrte das Geschirr in ihrer Hand; ihr Arm mochte wohl zittern.

Karoline Mißbach zählte vierunddreißig Jahre. Sie war klein und ein wenig verwachsen.

Heinrich beobachtete seine Schwester verstohlen; er fühlte, daß er sie mit seiner Antwort betrübt hatte. Und es schien ihm, als ob der alte Leidenszug auf ihrem Gesicht heute tiefer ausgeprägt sei, denn sonst. Sie war vor dem Tellerbrett stehengeblieben und wandte ihm den Rücken. Der Anblick ihrer hinfälligen Gestalt und ihre ergebene Haltung schnitten ihm ins Herz.

Mit ein paar langen Schritten war er an ihrer Seite, faßte sie um die Schultern und zog sie an sich.

»Linchen,« sagte er leise und in weichem Ton, »sei nicht so traurig. Es tut mir doch weh, wenn ich's mit ansehen muß.«

Das ältliche Mädchen lehnte den Kopf an die Brust des großen Bruders und sah mit dem Ausdruck eines unsäglichen Glücksgefühls zu ihm auf. Ihr Gesicht war verhärmt und unschön. Aber aus ihren großen Augen strahlte unerschöpfliche Herzensgüte. Jetzt schimmerten diese Augen in feuchtem Glanz.

»Wenn du doch öfters zu mir kommen wolltest, Heinrich!« sagte sie leise. Da schwieg sie auch schon wieder, weil sie den Vorwurf empfand, der in ihren Worten lag. Sie entwand sich den Armen des Bruders und hantierte verlegen vor dem Tellerschrank herum.

Heinrich Mißbach kehrte zum Ofen zurück. Er war ein großer, breitschultriger Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren mit schwerfälligen Bewegungen.

»Sei nicht böse, Linchen,« versetzte er mit leise durchklingender Herzlichkeit. »Du weißt ja …«

Die Schwester seufzte tief.

»Ja, ich weiß,« sagte sie mit unsäglicher Bitterkeit.

»Wenn ich dich bloß aus diesem Kerker befreien könnte!« fuhr der junge Korporal auf, seine natürliche Gelassenheit vergessend. Dazu sah er sich in dem weißgetünchten, mit nüchternem Kasernengerät dürftig ausgestatteten Raum zornig um.

»Heinrich,« flehte das Mädchen, »hier wurden wir ja geboren, und auch unsere Mutter hat hier gelebt.«

Diese Worte schlugen den aufwallenden Zorn des Bruders nieder.

»Bist du gestern bei Marschalls gewesen?« fragte er begütigend.

»Ich war drüben,« antwortete sie. »Und ich soll während des ganzen Winters in jeder Woche aufzweiTage kommen. Valentinens Ausstattung wird genäht.«

Heinrich sah schweigend vor sich nieder.

»Wenn wir diese guten Leute nicht hätten, Linchen,« versetzte er endlich.

Das Mädchen seufzte wieder, antwortete aber nicht.

»Und wenn es unsere leiblichen Eltern wären, sie hätten nicht besser an uns handeln können,« murmelte er.

Die Schwester nickte stumm und senkte den Kopf auf die Brust.

Da fuhr sie plötzlich in die Höhe. Der Tür näherten sich stampfende Schritte, und gleich darauf trat Feldwebel Mißbach in die Stube.

»Na, Junge, da bist du ja schon!« rief er Heinrich zu,der sich beim Eintreten des Vaters unwillkürlich aus seiner bequemen Haltung aufgerichtet hatte.

»Linchen, schaff' Nahrung!« fuhr Mißbach die Tochter mit lauter Stimme an, »ich habe einen wahren Wolfshunger.«

Mit Hast schlug das Mädchen die Doppeltür des Küchenschrankes auf, während Mißbach den Säbel abschnallte und an den eisernen Haken am Türgewände aufhing. Dann zog er den Waffenrock aus und fuhr in eine alte, tuchene Ärmelweste, deren niedriger Kragen mit einer schmalen, weißgrünen Bandborte und zwei Wappenknöpfen besetzt war.

»Steh' nicht wie ein Pfahl, Junge!« rief Mißbach mit seiner schallenden Stimme. »Jetzt ist's aus mit den Honneurs. Hier bist du gemütlich zu Hause. Nicht wahr, Linchen?«

Das Mädchen lächelte demütig.

»Setz' dich da her, Heinrich! Und du trag' auf!«

Der junge Mann gehorchte und nahm dem Vater gegenüber am Tische Platz. Linchen ging zum Fenster, holte den eisernen Leuchter und stellte ihn auf den weißgescheuerten Tisch. Dann brachte sie das Abendbrot. Mißbach ergriff den frischen Brotlaib, kratzte mit dem Messer drei fromme Kreuze darauf und schnitt auf.

»Das Ränftchen kriegt heute der Junge,« sprach er und warf Heinrich den knusperigen Anschnitt zu.

»Frisches Wurstfett von Beilichs,« sagte Linchen, dem Vater den Napf hinschiebend.

»Ausgezeichnet!« frohlockte dieser und strich das grünliche Fett dick auf die Schnitte.

»Hier, Junge – und nun iß!«

Linchen setzte sich zwischen Vater und Bruder an die Schmalseite des Tisches und schnitt eine saure Gurke in Scheiben.

Mißbach war ein hoher Fünfziger, von straffer, soldatischer Haltung. Seine Brust war breit, und der weißhaarige Kopf saß auf einem wahren Stiernacken. Seine gute Stimmung war offensichtlich.

»Kinder,« versetzte er, mit vollen Backen kauend, »heute ist der Tag von Leipzig. Gott straf' mich, – mein Ehrentag! Laßt's euch erzählen, wie's zuging.«

Die Geschwister kannten die nun folgende Geschichte schon auswendig.

»Halt!« rief Mißbach, bevor er begann, lief zur Tür und schrie hinaus:

»Hegenbarth!«

Linchen trat währenddessen zum Schrank und nahm ein großes Glas mit silbernem Deckel heraus, auf dem inmitten eines erhaben gearbeiteten Eichenkranzes ein kleiner Tschako aufgelötet war. Das war das Bierglas, das Feldwebel Mißbach von den Offizieren des Regiments am Tage seines dreißigjährigen Dienstjubiläums als Geschenk erhalten hatte.

Soldat Hegenbarth, Mißbachs Faktotum, trat in die Stube, nahm das Glas und brachte es nach erstaunlich kurzer Zeit mit dunkelm Bier gefüllt zurück.

»Also, der Tag von Leipzig!« rief Mißbach mit blitzenden Augen. »Prost!«

Nachdem er einen tiefen Zug getan, wischte er mit dem Handrücken den Schaum von dem langen Schnurrbart, strich rasch ein paarmal die Enden hinaus und begann:

»Ihr wißt, wie ich's im Sommer Anno dreizehn bei meinem Gutsherrn nicht mehr aushielt. Als von Leipzig die Kunde ins Land ging, eine Anzahl Studenten hätte sich den Preußen angeschlossen, marschierten wir ihrer fünf Bauernjungen aus dem Sächsischen geradeswegs in die Festung Magdeburg hinein. Hier lernten wir rasch den Schießprügel gebrauchen. Ein paar Wochen darauf standen wir schon unter Blüchers Kommando. Alles war fieberhaft erregt; man munkelte, es würde bald losgehen.

Da krachten von Leipzig her Kanonen. Wir schrien auf vor Ungeduld! Was befiehlt aber der schuftige Bernadotte dem Blücher? Marschieren Sie nach Wittenberg! Doch unser Alter war viel zu schlau. Er ließ sich durch Napoleons Geflunker nicht täuschen wie der Schwedenprinz. Pariert also vor dem Feind nicht Order, sondern rückt nach Leipzig! Wär's schief gegangen, so hätten sie ihn vor den Sandhaufen gestellt!

Bei Möckern kriegen wir endlich den Marmont zu packen, aber gleich so fest, daß ihm die Luft ausgeht. Gottstrambach! Wir waren einfach nicht mehr zu halten. Ganze Bataillone brachen vor ohne Kommando, über Hecken, Zäune und Mauern hinweg. Die Franzosen hatten das Dorf besetzt und wollten es nicht hergeben. Wir stürmen! Kartätschen schlagen in uns ein und metzeln die Kompagnien reihenweis nieder. Wir stürmen! Da sind wir Mann an Mann. Jetzt war ihnen das letzte Brot gebacken!

Wie die leibhaftigen Teufel fahren wir in ihre Artillerie und bringen die Kanonen zum Schweigen. Aber weiter! Eine Kirchhofsmauer hemmt unsern Lauf. Helftmir hinauf, schrei' ich. Da heben mich schon starke Arme hoch. Ich trete auf die Mauerkrone, – krach! fährt vor mir ein Schrapnell in den Boden und wirft eine Wolke von Erde und Steinen auf mich. Ich falle rückwärts von der Mauer hinab, die Augen voll Sand. Man stellt mich von neuem hinauf, und ich springe hinunter. Andere folgen mir. Zwischen den Stätten der Dahingeschiedenen hebt nun eine grausige Schlächterei an.

Da sehe ich, nicht weit entfernt, einen baumlangen Franzosen, der auf einer Stange einen flügelspreizenden Adler aus glänzendem Erz trägt. Das Blut steigt mir ins Hirn! Ich breche quer durch die Kämpfenden, bis ich vor dem Goliath stehe. Her damit! schrei' ich ihn an und will ihm den Stock aus den Händen reißen. Er lohnt mir's mit einem Fußtritt. Da hau' ich ihm die Flinte über den Schädel, daß der Kolben zersplittert, – und mit ihm seine Stirn. Der Riese stürzt wie ein Sack nieder; ich habe die Stange mit dem Vogel! Jetzt fallen mich die Rothosen an wie Wölfe. Blind vor Wut faß' ich mein Gewehr an der Mündung und schwing' es im Kreise um mich herum.

Da bekam manch einer eine arge Kopfnuß! Aber ich hatte die Trophäe und hätte sie für's ewige Leben nicht wieder hergegeben!«

Feldwebel Mißbach hatte sich warm geredet. Jetzt schlug er mit der Hand auf die Tischkante, beugte sich über das Bierglas und sagte eindringlich:

»Kinder! Vierzig Kanonen haben wir an diesem Tage genommen, aber nur einen einzigen Adler. Und das war der meinige!«

Heinrich hatte anfänglich nur mit Widerstreben derErzählung zugehört. Allmählich hatte ihn jedoch die packende Schilderung mit fortgerissen. Jedesmal, wenn der Vater mit seiner anschaulichen Lebhaftigkeit diese Szene erzählte, wurde Heinrich warm. Wahrlich, ihn trennte innerlich eine Kluft von seinem Vater. Aber zuweilen empfand er fast widerwillig eine stumme Hochachtung vor ihm.

»Als nach dem Feldzug die Eisernen Kreuze verteilt wurden,« fuhr Feldwebel Mißbach fort, »erhielt ich eines der ersten. Und wie wir aus Frankreich zurückgekehrt waren, da hatte ich mich des Pflugs und des Dreschflegels entwöhnt. Nachdem die Freiwilligen ihren Abschied erhalten hatten, bot ich unserm jetzigen Regiment meine Dienste an. Man stellte mich jungen Dachs mit der hohen Auszeichnung, die in Sachsen nur noch wenige trugen, mit Freuden ein. Heute jährt sich der Tag von Leipzig zum fünfunddreißigsten Male!«

Mißbach legte das Messer beiseite. Das war für Linchen das gewohnte Zeichen. Sie lief zum Pfeifenbrett, wo sie stets einen frisch gestopften Kopf bereit hielt, und brachte die lange Pfeife. Dann schlug sie einen Funken vom Stahl, fing ihn mit dem Zunder auf und hielt diesen an den Tabak, worauf Mißbach unter großem Behagen mit mächtigen Zügen den Rauch vor sich hinpaffte.

»Was ich noch sagen wollte,« hob er wieder an und lehnte sich dabei zurück: »Kinder, ihr wißt, daß wir jetzt in einer ganz verteufelten Zeit leben. Die Welt dreht sich nicht mehr friedlich rundum wie bisher. Man möchte sie aus den Angeln heben. Vor ein paar Monaten wurde in Berlin so ein bißchen Revolution gespielt. Gott seiDank mißglückte der Versuch. Andere Städte hatten Geschmack daran gefunden und folgten. Hierzulande ist man friedlicher gesinnt. Aber allerlei dunkle Ehrenmänner blasen insgeheim in die Funken unter der Asche. Und so leid mir's tut, wenn ich's aussprechen muß: der Herr Advokat Marschall …«

»Vater!« rief das Mädchen mit angsterfüllten Augen und zitternden Lippen. Aber schon erschrak sie ob ihrer Kühnheit.

»Ja, Linchen, ich muß es aussprechen,« fuhr Mißbach mit ungewohnter Duldsamkeit fort, »unser Herr Advokat gehört auch zu den Friedensstörern. Ich weiß ja, daß ihr sagen möchtet, er hat uns viel Gutes erwiesen. Niemand kann's leugnen. Aber – die Pflicht vor allem! Bis zu meiner Sterbestunde soll's ihm unvergessen sein, wie er an eurer Mutter und an mir und an euch gehandelt hat. Und die Madam nicht weniger. Alles das darf uns aber nicht hindern, den richtigen Weg zu gehen.«

Mißbach schwieg. Die Geschwister tauschten rasch einen verstohlenen Blick aus.

»Der Herr Advokat ist von der Oppositionspartei, wie sie die Leute nennen. Viele hohe Herren gehören ihr an, das ist unbestritten. Sogar Minister sind dabei und – wie gesagt – selbst Offiziere. Das mag jeder für sich verantworten, wenn's von ihm gefordert wird. Ich will jedenfalls meine Hände rein halten. Und ihr habt zu handeln wie euer Vater. Deshalb verlange ich von euch, daß ihr das Haus des Herrn Advokaten so lange meidet, bis er nicht mehr in dem Ruf steht, gegen die alte Ordnung zu räsonnieren. Heinrich, du verstehst mich,« schloß Mißbach mit einem strengen Blick auf seinen Sohn.»Und du, Linchen, gibst die Nähtage bei der Madam vorderhand auf!«

Das stille Mädchen mit dem Duldergesicht saß mit niedergeschlagenen Augen regungslos. Aber in ihrer Brust stieg – wohl zum erstenmal in ihrem Leben – ein Sturm herauf, und die bleichen Wangen färbten sich dunkelrot.

»Vater,« versetzte sie mit mühevoller Zurückhaltung, »nur ein paar Wochen laß mich noch hingehen.«

Mißbach blies gleichmütig den grauen Rauch in die Luft.

»Unmöglich, Linchen.«

»Valentinens Wäscheausstattung soll fertiggestellt werden.«

»Warum nicht? Dafür findet sich jeden Tag eine Näherin.«

Das Mädchen zitterte vor Aufregung. Der Widerstand, den sie geleistet, brach schon zusammen. Ihre Kraft war nur stark im Dulden, nicht im Kämpfen. Sie krampfte unter dem Tisch die Hände ineinander und stieß in flehentlichem Ton aus:

»Vater, du bist grausam! Bedenke doch, wie gern wir zu Marschalls gehen.«

»Mehr als mir lieb ist.«

»Besinn' dich auf alles, was wir ihnen zu danken haben …«

Mißbach trank ruhig sein Bier aus.

»Heul' nicht, Mädel,« sagte er kurz. »Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß wir diesen Leuten Dank schulden. Der Herr Advokat ist ein Ehrenmann! Wer das jemals in Abrede gestellt hätte, wär' mein Feind gewesen. Aber seit einiger Zeit ist auch in ihn, wie inso manchen andern hochachtbaren Mann, der Teufel gefahren. Ich darf es nicht mehr länger mit ansehen, daß meine Kinder im Hause eines Anhängers der Opposition ein- und ausgehen. Basta!«

Heinrich hatte während dieser Unterhaltung still vor sich hin gesehen. Sein Denken und Tun war von Natur aus schwerfällig; darin unterschied er sich aufs schärfste von seinem Vater. Aber wenn er sich in etwas verbissen hatte, so ließ er auch nicht wieder davon ab. Einen gefaßten Vorsatz verfolgte der junge Mann mit äußerster Zähigkeit.

Jetzt räusperte sich Heinrich und versetzte stockend:

»Wer kann denn aber behaupten, daß die Demokraten sich nicht um das Wohl des Volkes sorgten? Die Männer, die an der Spitze dieser Bewegung stehen, werden bloß deshalb angefeindet, weil sie anders wollen, als die Regierung.«

Mißbach nahm die Pfeifenspitze aus dem Mund und sah seinen Sohn mißbilligend an.

»Und die offene Gewalt, die sie anderwärts schon anwendeten?« sagte er barsch. »Warum reizen sie die Menge auf, bis Blut fließt? So machten sie es in Berlin und erst vor kurzem auch in Wien. Ich habe nicht danach zu fragen, was die Volksaufwiegler beabsichtigen, und ob noch so viel ehrenwerte Männer in ihrem Lager sind. Ich bin Soldat. Damit ist es entschieden, welche Gesinnung ich habe. Sie wenden sich wider Regierung und König. Das genügt für mich, sie als meine Feinde anzusehen!«

Heinrich ließ sich durch diese Worte aber nicht irre machen. Doch schwieg er. Denn der Vater betrachtete jede Gegenrede, wie er wußte, als Widerspruch. Und dieErziehung der Geschwister war von Jugend an darauf gerichtet gewesen, sein Urteil als höchste Wahrheit anzusehen und sich unter seinen eisernen Willen zu beugen.

»Was reden wir aber lange von Dingen, die uns nichts angehen,« versetzte Mißbach ungeduldig. »Du bist wie ich Soldat, Heinrich. Was ich von mir sagte, gilt ebensogut für dich! Wir haben unsern Fahneneid geschworen. Seitdem gehören wir mit Leib und Seele dem König. Was sich gegen ihn richtet, trifft auch uns. Wenn er seine Soldaten ruft, marschieren wir. Und damit Gott befohlen. Blitz und Donnerschlag soll den treffen, der anders denkt!«

Während der letzten Worte stand Feldwebel Mißbach auf, ging in die Ecke zum Spucknapf und klopfte die kalte Asche aus dem Pfeifenkopf.

»Jetzt muß ich die Bodenräume revidieren, mein Kasernendienst ruft wieder,« sagte er, zum Säbel greifend. »Wenn ich zurückkomme, mach' ich auf dem Sofa ein Nickerchen. Gegen elf weckst du mich, Linchen! Dann will ich die Kasernentore noch ein Stündchen im Auge behalten. Vor allem aber jetzt ein frisches Glas Bier in der Kantine. Heute ist Leipzig! Mein Ehrentag! Teufel nochmal!«

Damit stampfte er hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Gleich darauf hörten die Zurückgebliebenen vom Korridor her seine scheltende Stimme.

Jetzt sahen sich die Geschwister stumm an. Der verzweifelte Blick des Mädchens begegnete dem trotzigen des Bruders.

»Heinrich,« wehklagte Linchen, »nun verlangt der Vater auch noch dieses Opfer von uns.«

»Er ist ein Unmensch,« knirschte der junge Mann. »Ah …, wie das wohltut, einen so liebevollen Vater zu haben!«

»Glaub' mir, er empfindet Freude dabei, wenn er uns das Marschallsche Haus verbietet; er ahnt es, wie schwer er uns damit trifft,« versetzte Linchen.

Dazu weinte sie still in sich hinein.

»Ich weiß es,« antwortete Heinrich dumpf, während ein furchtbarer Zorn in ihm heraufstieg. »Schon von frühester Jugend an,« fuhr er mit zusammengebissenen Zähnen fort, »hat er uns gequält. Wenn er wußte, daß wir eine Freude hatten, so dämpfte er sie. Ja, er brachte uns selbst in frohe Stimmung, um diese bald wieder zu verscheuchen, weil man vor allem in der Lust Maß halten müsse. Wie oft hat er unsern kindlichen Frohsinn nicht grausam in Leid verwandelt. Der Mensch sei nur geschaffen, damit er seine Schuldigkeit tue, war sein immer wiederkehrendes Wort. Pflicht hieß der Knüppel, mit dem er jede heitere Regung in uns niederschlug. Pflicht und immer wieder – Pflicht!«

Der junge Mann sah finster vor sich nieder. Seine starken Fäuste lagen auf dem Tisch. Ihr Zucken verriet die gewaltige Erregung, die den Phlegmatischen durchzitterte.

Da fuhr er auf.

»Verflucht sei die Pflicht, die der unschuldigen Freude den Ausdruck wehrt und das Leben zur Qual macht! Heuchelei und Unnatur ist das, nichts anderes!«

Linchen war erschrocken zusammengezuckt. In solchem Zorn hatte sie den Bruder noch nicht gesehen. Sie neigte sich zu ihm und schmiegte sich zitternd an seine Brust.Diese Bewegung machte den Wütenden ruhiger. Und im plötzlichen Aufwallen seines mitleidigen Herzens preßte er die Zitternde an sich. Er wußte, daß ihr Leben noch ärmer an Freude gewesen war, als das seinige. Seit seiner frühesten Jugend hatte die ältere Schwester Mutterstelle bei ihm vertreten. Während langer Jahre hatte sie keine Liebe genossen, bis er herangewachsen war und sie sich beide fest aneinander geschlossen. Von unscheinbarer Gestalt wie die Mutter und mit einem tiefen Stachel im Herzen, war sie wie die Verstorbene freudlos durchs Leben gegangen.

»Linchen, sei nicht traurig,« sagte Heinrich schmeichelnd und strich der Schwester die Haarsträhnen von den eingefallenen Schläfen zurück. Sie sah ihn an, und ein ganzer Himmel von Liebe brach aus ihren vergrämten Augen, seine Freundlichkeit lohnend.

»Ich habe ja dich, Heinrich,« stammelte sie, unter Tränen lächelnd.

Der junge Mann merkte, wie sich auch seine Augen füllten. Da stand er rasch auf, um Linchen seine Weichheit nicht sehen zu lassen.

Linchen deckte nun schweigsam den Tisch ab, und Heinrich verfolgte in Gedanken versunken mit den Augen ihre Bewegungen. Dann trug sie die Kerze wieder zum Nähtisch und setzte ihre Arbeit fort. Da sagte Heinrich der Schwester gute Nacht und verließ sie.

Als er seine Stube betrat, war die ganze Visitation darin versammelt und putzte beim Kerzenschein die Gewehre und Uniformstücke für den Dienst am nächsten Morgen.

Heinrich setzte sich an seinen Tisch am Fenster, stützteden Kopf in die Hand und sah sinnend hinaus in die Dunkelheit und auf die gegenüberliegenden Häuser der Ritterstraße. Unten im Speisesaal schälte eine Kompagnie Kartoffeln; ihr Gesang schallte dumpf aus der Tiefe herauf:

Was nützet mir ein schöner Garten,wenn Andre drin spazieren gehn.

Was nützet mir ein schöner Garten,wenn Andre drin spazieren gehn.

Hinter ihm pfiffen die Mannschaften Tanzbodenmelodien und machten derbe Scherze. Der junge Korporal am Fenster hörte es kaum.

Zu Marschalls sollte er nicht mehr gehen? Die Menschen sollte er meiden, von denen er so viel Liebes und Gutes erfahren?

Der Vater hatte des Advokaten politische Anschauung getadelt! Wer so hohe Ehrbegriffe besaß wie Marschall, wer in der ganzen Stadt solche Achtung genoß und heimlich so viel Wohltaten erwies, – ein solcher Mann sollte einen Vorwurf verdienen? Heinrich lachte bitter in sich hinein, wenn er Marschall mit seinem Vater verglich. Nur ein wenig möchte der Vater von Marschalls Herzensgüte besitzen!

Des Grübelnden Aufmerksamkeit wurde jetzt auf die Vorgänge in der Stube gelenkt. Der Gefreite vom Tagesdienst war mit dem Parolebuch vom Hauptmann zurückgekehrt. Er warf die große Ledertasche auf den Tisch und schnallte das Seitengewehr ab.

»Kameraden,« sagte er laut und nahm den Tschako vom Kopf, »heute ist im Körnergarten zur Erinnerung an die Schlacht von Leipzig Tanz. Wie wär's, wenn wir alle hingingen!«

»Wir haben keine Nachtzeichen,« versetzte einer der Soldaten. »Wenn es anfängt schön zu werden, müssen wir nach Hause.«

»Ach was,« sagte der Gefreite mit gedämpfter Stimme. »Wenn wir kein Blech haben, so streichen wir eben Zapfen. Wer hat denn heute Kasernendienst?«

»Der liebe Gott,« erwiderte ein anderer leise und sah verstohlen nach dem Korporal.

»Ffft,« machte der Gefreite, »das ist freilich faul!«

Einige der Soldaten stimmten trotzdem für das längere Ausbleiben, andere fanden es sehr bedenklich.

Da konnte es Heinrich nicht länger aushalten. Er stand auf und ließ eine Kerze auf seinen Tisch stellen. Dann nahm er seinen kleinen Spiegel aus dem Schrank, kämmte sich vor ihm sorgfältig das Haar, zog seinen besseren Waffenrock und die guten Dienststiefel an und schnallte das Seitengewehr um. Nachdem er noch den Mützenschirm mit dem Rockzipfel blank gerieben, schloß er seinen Schrank zu und verließ die Stube.

Der Abend war fast kalt. Leichter Nebel wallte in den Gassen und trübte die halbkreisförmigen Flammen der Gaslaternen. Auf der Allee waren jetzt nur noch wenig Menschen. Aber vor den hellen Schaufenstern drängten sie sich auf dem Bürgersteig.

An der Ecke der Ritterstraße wohnte ein Kaufmann. Heinrich betrat den Laden und kaufte zwei Dreierzigarren. Hiervon brannte er sich eine an, während er die andere zwischen die Waffenrockknöpfe schob. Seit kurzem war ja den Soldaten das Rauchen auf der Straße gestattet, und von dieser Erlaubnis wurde viel Gebrauch gemacht.

Nun schritt er die Hauptstraße entlang. Ob denn derVater im Ernst daran glaubte, daß er nicht mehr zu Marschalls gehen würde? Heinrich erschien das Verbot mit einem Mal lächerlich. Bis jetzt hatte er in allem das Geheiß des Vaters befolgt, so schwer es ihm zuweilen auch geworden war. Aber hier? Hier konnte, nein, hier wollte er ihm nicht gehorchen! Er hätte damit ja alles aufgeben müssen, was ihm Freude machte. Denn an dieser Familie hing der junge Mann mit seinem ganzen Herzen!


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