Um dieselbe Zeit etwa, als der Hauptmann an sich erfuhr, daß auch der beste Reiter stürzen kann, besuchte Klara ihren Schwiegervater. Er saß bei offenen Fenstern im Erker, und um seinen mächtigen Ledersessel herumwaren die mechanischen Tische mit Schriftstücken bedeckt. Gerade ging Lebus, der Sekretär, mit den Stenogrammen, um sie auszuarbeiten. Ehe er noch die Tür erreichte, rief ihm der Geheimrat nach: »Und Georg soll sofort meinen Brief hinübertragen. – Ach – Klara! Mein Kind – Ich hab’ schon gewartet, wo du bleibst!«
Sie küßte ihm die Stirn.
»Guten Morgen, Vater – ich wagte nicht, zu stören. Du weißt, jetzt geht der Verunglückte sogar dir vor. Als ich von Severinshof zurückkam, hattest du schon den Generaldirektor bei dir. Ich hörte eure Stimmen, als ich eintreten wollte. Und dann weiß ich ja – halb elf kommt Lebus.«
»Ja. Thürauf kam sofort aus dem Auto zu mir herauf. Hatte den Nachtzug von Rotterdam nach Hamburg benutzt, wo ja gleich Anschluß ist. Kannst dir denken, wie bekümmert und ärgerlich er war! Durchbruch! Produktionsstörung! Ein Mann verunglückt! Wie geht es ihm denn?«
»Sylvester hat heute mehr Hoffnung als gestern. Die Nacht war gut. Und ich bin bei dem Mädchen gewesen, das der Mann liebt. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie war verlegen und mitleidig. Sie will ihn besuchen und ihm verzeihen.«
Der Geheimrat lächelte.
»Du bringst sie noch zusammen.«
»O nein,« sagte Klara, »nein – wie sollte ich das wagen. – Wenn sie ihn nicht liebt ...«
Er hörte die heftige Abwehr in ihren Worten. Sie fühlte selbst: sie hatte es zu leidenschaftlich gesagt.
Eine kurze Stille, schwer von Inhalt, legte sich über beide. Klara wollte diese Befangenheit zerstören.
»Ich denke,« sagte sie, »man wollte Thürauf nichtsvon dem Vorfall depeschieren? Es hätte ja auch keinen Zweck gehabt. Aber er kam sofort zu dir herauf? Das sieht doch aus, als wußte er schon? ... Ach – vom Chauffeur ...«
»Nicht der Chauffeur. – Denk dir – von Wynfried!«
»Von Wynfried?« wiederholte sie in großem Erstaunen, »der ist doch heute früh mit der ›Klara‹ nach Warnemünde gesegelt – begleitet als Outsider die Wettfahrt – wollte doch an Bord übernachten?«
Er hatte sich den Sonnabend, trotz des schweren Vorfalls auf dem Werk, in einer so fröhlichen Stimmung gezeigt, wie weder sein Vater noch seine Frau ihn je gesehen. Am späteren Nachmittag war er mit dem Motorboot nach Travemünde gefahren, wo ja zurzeit auch die »Klara« lag. Er wollte den Bierabend des Jachtklubs mitmachen, der unter dem Vorsitz des Kaisers stattfand. Vater und Frau fanden es selbstverständlich. Am Sonntag vormittag, so war der Plan, sollte die »Klara« dann die Wettfahrt in der Lübecker Bucht begleiten, später dachte Wynfried am Klubessen im Kurhause teilzunehmen und am Montag früh mit nach Warnemünde zu kreuzen. Es erschien als das bequemste, von Sonnabend an Wohnung an Bord zu nehmen, um so mehr, als nun Klara an den Vergnügungen des Sonntags nicht teilnehmen wollte. Auf Wynfrieds Wunsch war sie dazu entschlossen gewesen; er hatte sich sogar vor einigen Tagen das Kleid zeigen lassen, in welchem sie bei dem Festdiner erscheinen sollte. Ihr Hang zur Einfachheit war ihm immer beunruhigend.
Aber nun konnte sie nicht. – Alles in ihr wehrte sich gegen Fest und Lärm und Frohsinn. – Würden nicht die Augen des Verunglückten ihr immer zusehen? Diese Augen voll Qual?
Und die Erschütterungen, die durch ihr geheimstes Seelenleben gegangen? –
»Verzeih,« bat sie, »daß ich dich nicht begleite. Wenn du den armen Judereit in seinem ersten grauenvollen Schmerz gesehen hättest, möchtest du auch nicht. Und ich habe ihm versprochen, ihn dreimal am Tage zu besuchen.«
»Du bist sentimental,« antwortete Wynfried scherzend, »das hätt’ ich nicht vermutet. – Aber wie wird es nun? Ich hatte deine Freundin Agathe nebst Duenna eingeladen, uns Sonntag vormittag zu begleiten?«
»Aber Agathe soll sich doch durch mein Fernbleiben nicht stören lassen. – Und Fräulein von Gerwald ist doch dabei –«
»Ja, die wahrt immerzu das Dekorum. – Das ist ihre Mission, ihr Beruf, ihr Schicksal,« lachte Wynfried.
Wie dankbar war Klara, daß er keine Verstimmung zeigte. Und sie rühmte sein liebenswürdiges Wesen vor seinem Vater.
So nahm er für mehrere Tage Abschied und stellte es als wahrscheinlich hin, daß er von Warnemünde aus noch nach Rügen oder vielleicht nach den dänischen Inseln hinübersegeln werde.
Und nun hatte der Generaldirektor ihn in Lübeck getroffen, auf dem Bahnsteig der Hamburger Züge. Der Vater erzählte, was Thürauf berichtet: Wynfried habe vorgezogen, im Hotel zu übernachten, und nach einer etwas allzu späten Sitzung mit Klubfreunden dann die Zeit verschlafen. Das Gewitter sei dazugekommen – er habe den schweren Seegang gefürchtet, etwas verkatert wie er sei, und die »Klara« allein lossegeln lassen, um sie nun in Warnemünde wieder zu treffen, wohin er mit der Bahn fahre.
Klara lächelte und meinte: das wirke nicht sehr sportmäßig ...
Der Geheimrat lächelte nicht. Er hatte in Thüraufs kühlen, klugen Augen einen besonderen Ausdruck gesehen. Eine ferne, leise Unruhe wollte aufsteigen: war es vielleicht dem Generaldirektor aus irgend einem Grunde zweifelhaft, daß Wynfried auch wirklich nach Warnemünde fuhr? Es gibt so lächerlich kleine Umstände und Zufälle, die verräterisch sind. Ein Billett, das aus der Hand fällt – der Fahrplan, der aussagt, daß um diese Zeit gar kein Zug nach dem angegebenen Ziel fährt ... Aber nein. – Was für törichte Mißtrauensgedanken. – Wozu brauchte Wynfried Heimlichkeiten? Er konnte kommen und gehen, wann und wohin er wollte. – Keine Tyrannei, keine Fragen belästigten ihn.
Und er bat in seinen beschämten Gedanken dem Sohn ab, daß er immer noch nicht felsenfest im Glauben an ihn sei.
»Ich habe uns zu heute abend einen Gast eingeladen,« sagte der Geheimrat nun. Und auf Klaras fragenden Blick fügte er hinzu: »Ja – Marning.«
Sie erschrak. Aber auf dergleichen hatte sie vorbereitet sein müssen – war es auch, denn sie wußte ja, daß er seinen Posten nicht sofort verlassen könne. Da waren Formalitäten zu erfüllen – ein Offizier ist kein freier Mann. Sie wußte auch sofort, wie sie ihm ausweichen könne.
Denn es schien ihr wie Entweihung, ihn noch einmal zu sehen.
An das feierliche Lebewohl durfte sich nicht das Nachspiel alltäglicher Begegnungen voll Heuchelei hängen.
Sie sprach, ein wenig stockend: »Und ich wollte dich gerade um Entschuldigung bitten – ich war so lange nicht bei Agathe – ich wollte sie heute am späteren Nachmittag besuchen – wenn sie mich dann zum Abendbrot –«
»Aber Kind! Warum so verlegen, weil du mal einen kleinen eigenen Plan hast! Wenn dich die Gewitterluft nicht stört – ich fürchte, es gibt noch was – wie sticht die Sonne! – Im Grunde ist es vielleicht ganz gut, daß ich Marning allein habe. – Möchte viel mit ihm reden reden – Wichtiges.«
»Du?!« fragte sie. »Du – mit ihm?«
Sie saß ganz befangen und verwirrt auf ihrem Stuhl da – die Hände um ihr Knie gefaltet, vorgebeugt – und dachte immer: »Es ist doch schwer. – Das muß ich lernen –«
Gleichgültig von ihm sprechen. –
»Ja, mein Kind, was wirst du sagen: ich will ihn auffordern, ganz zu uns zu kommen!«
Sie fuhr in die Höhe – stand leichenblaß da – ein Laut brach von ihren Lippen – fast ein leiser Schrei.
Das kam zu jäh – darauf hatte sich ihr Herz nicht rüsten, sich nicht vorweg mit Haltung umpanzern können.
Und der alte Mann sah sie an – in einem tiefen Erstaunen, das in eine langsam heraufdämmernde Angst überging.
Was war das? ...
Und nun sagte die junge Frau mit fliegendem Atem und befehlend – ja befehlend: »Das wirst du nicht tun!«
Sie, die Bescheidene, stand da wie eine Herrscherin.
Und was flammte denn in ihren Augen?
Der Alte fühlte sein Herz klopfen. Aber er vermochte doch mit leidlicher Ruhe zu fragen: »Und warum nicht?«
Sie antwortete nicht gleich. Sie konnte sich nicht in seine Arme werfen und sagen: »Weil ich ihn liebe – weil ich es nicht ertragen könnte, ihn immer, immer sehen zu müssen ...«
Sie ging mit hastigen Schritten im Zimmer hin und her.
Plötzlich dachte sie: »Meine Mutter hat das gleiche getragen!«
Wie ein Segen kam der Gedanke über sie.
Es gelang ihr, sich zu fassen. Sie fühlte: mit der Schwere der Prüfung mußte und würde ihre Tapferkeit wachsen.
Sie begriff, nun hieß es: lügen!
Hatte sie sich nicht schon verraten? Die Wahrheit nur zu ahnen, würde schon eine zu schwere Last für das Gemüt des alten Mannes werden – nein, die konnte und sollte er nicht tragen.
Sie auf ihn wälzen, hieße: ihre Tat des Dankes auslöschen – –
Woher eine Lüge nehmen?
Lügen müssen glaubhaft sein – sonst sind sie noch schlimmer als harte Wahrheiten.
»Wenn ich sagte: Wynfried wird eifersüchtig werden, daß man einen solchen Mann zu seinem Mitarbeiter ausbilden will?«
Vielleicht war es nicht einmal eine Lüge. Klara kannte ja ihren Gatten gar nicht. Sie kannte einen schönen, immer verbindlichen, liebenswürdig-freundlichen Mann von angenehmsten Formen und vornehmen Lebensgewohnheiten, der in den ersten Monaten ihrer Ehe auch in zärtlichen Aufwallungen sich als Liebender gebärdet hatte. An dem urteilsfähige Beobachter eine starke und raschbewegliche kaufmännische Begabung festgestellt hatten.
Von dem, was an Möglichkeiten im Grunde seines Wesens schlummerte, wußte sie nichts. –
So blitzschnell das alles durch sie hinging – sie fühlte doch: dies große, forschende Auge ruhte wartend auf ihr. Und sie sagte, was ihr eingefallen war.
»Weil Wynfried eifersüchtig werden könnte, wenn dueinen anderen heranziehst, der sich möglicherweise zu einem Rivalen heraufarbeiten kann.«
»Keine Sorge,« sprach der Geheimrat, »ich habe Wynfried von meinem Einfall gesagt – er ist mir nicht von gestern auf heut gekommen. – Und Wynfried ist sehr einverstanden. Der ist froh über jeden Mitarbeiter, der ihn entlastet. – Und wenn Marning nach ein paar Jahren sich so eingearbeitet hätte, daß man ihn an eine leitende Stelle setzen kann, wäre niemand zufriedener als Wynfried. Ich muß es einmal aussprechen: sein Interesse am Werk ist das des Sportmannes. – Es ist nicht diese umspannende, ideale Empfindung, die das Volkswirtschaftliche, Wissenschaftliche, das Kulturelle in unserer Tätigkeit fast noch über den Gewinn stellt ... In Marning habe ich ein merkwürdiges Verständnis, ja eine Begabung für all dies erkannt. Denke doch auch, welche Aussichten für ihn, der so arm ist ...«
Sie fühlte, daß die großen Augen eine besondere Wachsamkeit behielten – fühlte sich belauert. Und nahm sich noch fester in die Hand.
»Nun – dann!« sagte sie. Und sie dachte: »Wie dürfte ich ihm zerstören, was ihn in freiere, größere Verhältnisse bringen kann?«
Mochte er entscheiden nach seinem Willen und Wunsch!
»Wir werden stark bleiben,« dachte sie. Und es war wie ein Schwur!
Aber die forschenden Augen mußten ja getäuscht werden.
»Wie du immerfort voraussorgst, Vater,« sagte sie. »Manchmal denk’ ich, du bist wie ein Forstmann, der die Setzlinge pflanzt, die erst späteren Generationen als große Bäume Schatten geben können. Wenn wir alle mal nicht mehr sind, wird dein Enkel als Greis noch sagen: das hat mein Großvater begonnen.«
»Ich weiß nicht, Klara. Vielleicht ist alles Vorausdenken Kurzsichtigkeit – vielleicht sind wir bei unserer Arbeit von Schranken umgeben, die wir nicht einmal ahnen, weil uns noch die Möglichkeit fehlt, sie zu erkennen. Dein Sohn vielleicht wird sie spüren und zersprengen. Wer will denn heute sagen, unter welchen Bedingungen mein Enkel einmal das Eisen aus den Erzen schmilzt! Vielleicht wirft die Wissenschaft uns bald unsere braven Winderhitzer um und macht die Gebläsemaschinen unnötig, mit denen wir den Koks im Hochofen die heiße Luft zublasen, damit sie rascher brennen. Wir wissen ja schon, daß wir dabei als Ballast all den Stickstoff in der Luft mitschleppen. Vielleicht glückt es schon bald, daß wir reinen Sauerstoff verwenden können. Versuche sind schon im Gange. Sie haben ergeben, daß die Leistungsfähigkeit der Hochöfen, bei geringerem Koksverbrauch, erheblich gesteigert würde. Und der abfallende Stickstoff ließe sich dann wieder zu Salpetersäure und Kalkstickstoff für landwirtschaftliche Zwecke verwerten.«
Er seufzte.
»Sieh mein Kind,« schloß er melancholisch, »wenn ich an all diese Entwicklungen denke ... Schwer ist es, sich zu sagen: du mußt davon. – Man möchte wissen, wie es weiter wird, welche Wunder noch zu Selbstverständlichkeiten werden. In dieser Begierde, zu wissen, die vielleicht jedem Menschen eingeboren ist, der etwas Phantasie hat, liegt das Geheimnis des Erfolgs von Büchern, die uns die Zukunft vormalen. Man scheint beim Lesen in ihr mitzuleben. Merkwürdig schwer, sich vorzustellen: ich bin einmal nicht mehr dabei. – Es muß doch wohl so ein Stück Unsterblichkeitsrecht in uns stecken.«
Nun dachte Klara: er ist abgelenkt – er sucht nicht mehr, weshalb ich so erschrak ...
Er aber dachte: Noch schwerer wäre es, fort zu müssen, wenn Zerstörungen drohen. – Weshalb entsetzte sie sich so? Was will da an mein Haus herankommen? ...
Bald nach drei Uhr, als eben rasch verprasselnder Gewitterregen mit einem Blitz und Donnerkrach vorbeigezogen war, kam Leupold mit einer Bestellung. Marnings Bursche hatte diesmal genau telephoniert.
Klara hörte mit ruhigem Gesicht und sprach: »Also kein Gast zum Abend. – Sagen Sie meinem Schwiegervater, daß ich nur einen kurzen Besuch auf Lammen machen würde und ihm beim Abendessen jedenfalls Gesellschaft leistete. – Ach – ja – und: fragen Sie doch nachher einmal bei Frau Doktor Lamprecht an, was für ein Unfall denn das ist, den Herr von Likowski hatte ...«
Der Himmel verdüsterte sich und ward hell – dies launische Wetterleben da oben verhieß nichts Gutes. Der besorgte alte Herr ließ durch Leupold noch besonders darauf aufmerksam machen. Aber Klara blieb eigensinnig dabei: sie habe es sich nun einmal vorgenommen.
Sie wollte nicht im Hause sein, wenn Stephan es betrat – gerade heute nicht. – Eine zufällige Begegnung war möglich, ein Ruf des alten Herrn konnte sie herbeizwingen. Und heute, wo eine so große Frage an ihn herankam, sollte kein Blick von ihr, kein Beben ihrer Stimme zu einem Einfluß werden. –
Halb sechs fingen die Wolken an, ihren Inhalt herabzuschütten. Und als der alte Herr trotzdem unter seinem Fenster den hellen Warnruf des Gabrielshorns hörte, hinter dem drein gleich die Hupe ihren dunkeln Laut ertönen ließ, da wußte er: Klara fuhr davon!
Seine Stirn runzelte sich. Er dachte wieder an den angstvoll ausgestoßenen Befehl – sah wieder ihren Schreck und das, was aus ihren Augen flammte.
Und er fragte sich kaum noch – erfühlte: sie flieht vor diesem Mann!
Sein Ausdruck wurde gramvoll. –
Und Klara fuhr im Regen. Er sprühte herein und sprengte Tropfen auf ihr hellgraues Kleid. Sie beachtete es nicht. Sie hätte die schwüle Luft in geschlossener Karosserie nicht ertragen.
Zum erstenmal empfand sie die Schnelligkeit des Fahrens als Wohltat für die Nerven.
Über die Hochbrücke glitt mit dumpfen Schüttern das Auto. Blitzschnell huschte das Bild des Flusses am Auge vorbei, und eine Sekunde haftete das blaugraue Band, auf dem eine Schlange dahinkroch, deren Kopf rauchte: ein Schleppdampfer mit mehreren langen, bedeckten Lastkähnen hinter sich drein; und der Regen, der sich darauf herniederstürzte.
Die Landschaft flog vorüber. Und diese Flucht der Dinge nötigte der Seele Ruhe auf. –
Klaras Auto bog von der Landstraße ab und in die noch junge Allee hinein, die zwischen jetzt tropfenden Ebereschen bis an das Portal von Lammen führte.
Aber als man vor diesem stattlichen Portal hielt, öffnete es sich nicht. Niemand eilte dienstbeflissen herzu. Klara saß und wartete, ihr Chauffeur ließ die Hupe wiederholt rufen.
Endlich zeigte sich im Fenster einer der sonst Blausilbernen in gestreifter Leinenjacke. Als er erkannte, wer im Auto saß, kam er herausgerannt.
Frau Baronin würden gewiß sehr bedauern. Die Damen seien heute vormittag abgereist.
Klara sagte: »Abgereist?«
Das klang fragend und erstaunt – während sie nur dachte: nun komme ich zu früh zurück.
Der Diener meinte, nähere Auskunft geben zu müssen. Förmlich vertröstend setzte er hinzu: »Wahrscheinlich nur auf einige Tage. Ich habe nicht genau verstanden, ob nach Hamburg oder nach Hannover.«
»Nun, ich spreche ein andermal wieder vor.«
Sie hatte sich entschlossen: sie wollte noch nach Pankow. Das dicke Ehepaar würde sich vielleicht wundern. – Gleichgültig. – Und so brauste denn das Auto weiter ins Land hinaus, vom Regen begossen, mit dem kleinen Schweif von Rauch hinter sich. – –
In seinem Riesensessel thronend erwartete unterdessen der alte Herr seinen Besuch. Nicht mit dem freien, wohlwollenden Gefühl des väterlichen Freundes, der einem ihm sympathischen und von ihm hochgeachteten jungen Mann eine Lebenswendung zum Unabhängigen anbieten will. In dieser Stimmung hatte er ihn herberufen. Sie war zerstört. Unruhe und Wachsamkeit war an ihre Stelle getreten. Voller Spannung, von nervöser Ungeduld durchzittert fragte er sich: »Wird Marning ebenso erschrecken wie Klara?«
Und wenn das geschah, dann mußte er die Gründe erfahren – er mußte!
Das Herrische in ihm verband sich mit der heißen Liebe zu seiner Tochter.
Er ertrug keine Unklarheiten vor ihrem Bilde. –
Mit der Pünktlichkeit, die der Geheimrat erwartet hatte, wurde ihm der Freiherr von Marning gemeldet.
»Wie farblos und wie ernst er aussieht,« dachte er.
Aber da war ja erst allerlei anderes zu besprechen; der Geheimrat wußte schon: Likowski hatte den linken Unterschenkel gebrochen. Und er sprach lebhaft davon, wie dem Manne zumute sein müsse, in einem Augenblick so jämmerlich als Opfer eines schikanösen Unfalls festgebundenzu liegen, wo die Kriegsstimmung durch Deutschland fieberte.
Und zwischendurch sah er unruhig nach dem Fenster, denn der Regen nahm den heftigsten Charakter an und strich schräg und dicht hernieder. Und er sagte, daß es seiner Tochter beigekommen sei, in diesem Wetter auszufahren.
Ihm entging nicht das Aufblitzen in dem Auge des jungen Mannes.
Stephan dachte: ich habe es gewußt!
Und dann erlaubte er sich, daran zu erinnern, daß er in wichtiger Sache hergerufen sei.
Der alte Herr legte seine Hände auf die breiten Armlehnen und richtete seinen Kopf gerade auf. Wenn er in dieser Herrscherhaltung zu den tiefer vor ihm Sitzenden herab sprach und sah, hatte er immer etwas von einem Richter und Regenten, dessen Willen schwer zu entrinnen sei.
Auch Stephan wurde von dem Gefühl bedrückt, daß jetzt ein Reiferer und Größerer ihn gleichsam in die Hand nehmen wolle – um mit ihm nach Befund und Gefallen zu verfahren.
Und daß diese Augen bis auf den Grund seines Herzens sehen würden ...
»Ich meine, lieber Marning, es kann Ihnen nicht entgangen sein, daß ich herzlich Teil an Ihnen nehme.«
Stephan verneigte sich im Sitzen.
»Es ist mir nicht entgangen, Herr Geheimrat,« sprach er. »Schon bei den gelegentlichen Begegnungen im Hause meiner Verwandten fühlte ich mich durch die Aufmerksamkeit geehrt, die Sie mir schenkten. Und die gütige Aufnahme, die ich hier gefunden habe, empfinde ich mit Stolz und Dank.«
»Wollen Sie mir gestatten, als väterlicher Freund allerlei Fragen an Sie zu richten?«
»Wem sollte ich lieber dies Recht einräumen? Ich werde mit Wahrheiten antworten.«
»Sie sind mit Ihrem Beruf zufrieden?«
»Vollkommen, Herr Geheimrat.«
»Wir, mein Mitarbeiter und Freund Thürauf und ich, glauben beobachtet zu haben, daß Sie auch für eine Tätigkeit, wie die unsere ist, ein Verständnis haben, aus dem man auf Berufung schließen kann. Denn ein gewisser Grad von Verständnis und Interesse läßt mit Sicherheit auf Begabung schließen – nicht nur von den Künsten, sondern auch von wissenschaftlichen und praktischen Berufen darf man das behaupten. Was meinen Sie?«
»Gewiß, Herr Geheimrat,« sprach Stephan offen, »ich fühle mich auf das stärkste, ja leidenschaftlich zu all den wunderbar großen Dingen hingezogen, wie ich sie auf ›Severin Lohmann‹ kennen lernen durfte. Wie sich da Wissenschaft, Wagemut, praktischer Erfindungsgeist vereinen, um die Elemente in den Dienst der Kultur zu zwingen, das ist herrlich. Und all die volkswirtschaftlichen Bedingtheiten eines solchen Werkes regen mich unablässig zum Nachdenken an. Man fühlt immerfort: alles ist lebendige Kraft. Und wie ungeheuer die Verantwortung, die Summe all dieser Kraft stets in rechter Balance der Bewegung zu erhalten!«
»Sie hätten keine Lust, trotz dieser starken Teilnahme von der Armee zur Industrie überzugehen?«
»Wenn ich in meinen Knabentagen, in der Zeit, wo man anfängt, über den Beruf nachzudenken, Gelegenheit gehabt hätte, in diese Welt des Feuers und Eisens hineinzusehen, so würde ich vielleicht meine Eltern gebeten haben: laßt mich Hüttenchemie studieren.«
Er setzte mit einem Lächeln voll Ergebenheit und Verzicht hinzu: »Aber ich bin im Kadettenhaus auferzogen,weil es das Billigste war; ich habe gar keine Gelegenheit gehabt, nachzudenken über Berufswahl, weil ich nie was anderes gewußt habe, als: Offizier werden. Und meine Eltern hätten mich auch gar nicht studieren lassen können.«
»Und jetzt?«
»Jetzt würde es auch schwer sein, den Rock auszuziehen, den ich liebe! Wenn es denn endlich losgeht, möchte ich nicht zu Hause bleiben.«
»Beides läßt sich verbinden. Sie brauchten keineswegs zur Landwehr überzutreten, sondern könnten, wenn Sie alljährlich eine längere Übung machen, als Reserveoffizier Ihrem Regiment im Frieden wie im Kriege angehörig bleiben.«
»Das weiß ich wohl, Herr Geheimrat. Aber ich weiß auch, daß die großen Unternehmer schwerlich ihre unteren Angestellten alljährlich so lange beurlauben. Und ich könnte doch vorderhand nur immer ein untergeordneter Angestellter werden, ohne Vorbildung wie ich bin – wenn ich mir’s auch zutraue, in die Aufgaben hineinzuwachsen.«
Der Geheimrat sah ihn nachdenklich an und erwog: wie gehe ich weiter? Denn er spürte, daß Marning gar nicht daran dachte, es handle sich um »Severin Lohmann«.
»Nun,« sprach er, »die Unternehmer denken verschieden. Und warum nicht gleich mit der nötigen Vorbildung hineinkommen? Ein Jahr auf der Hochschule in Charlottenburg Hüttenchemie studieren – sich dann noch ein halbes Jahr praktisch umtun – das wäre schon Vorbildung, die Sie natürlich nicht sofort für eine direktoriale Stellung reif machte, aber doch, bei Ihrer Intelligenz und Ihrem Pflichtgefühl, Ihrem Ehrgeiz, Sie von vornherein in die obere Laufbahn brächte.«
»Herr Geheimrat,« sagte Stephan mit ernstem, entschlossenem Ton, »ich habe mich durch ähnliche Erwägungenschon manchesmal in Versuchung gefühlt. Ich muß aber darauf verzichten, den verlockenden Weg zu beschreiten. Es wäre bei meiner überaus bescheidenen Vermögenslage ein Wagnis, das ich nicht unternehmen darf. Wenn ich für das Studium und eine kurze Volontärzeit von meinem sehr kleinen Erbteil das Erforderliche opfere, und ich finde nachher keine Stellung, so gerate ich in eine schwere Lage. Ich habe keine Beziehungen zum Hause Krupp oder anderen Häusern. Und wenn mir auch diese Unterredung den mutvollen Gedanken geben darf, daß ich auf Ihre Empfehlung würde rechnen können – eine Sicherheit wäre mir damit nicht gegeben. – Und so muß ich verzichten.«
Ganz langsam fragte der alte Herr und sah ihm gerade in die Augen: »Wie viel Zulage haben Sie?«
Und mit freiem Blick, stolz und einfach antwortete Stephan: »Sechzig Mark, Herr Geheimrat.«
»Schulden?«
»Nein, Herr Geheimrat. Auch keine Kleiderschulden. Ich habe von Anfang an beim Offiziersverein immer bar bezahlt und zwölf Prozent bekommen.«
Rührung zog durch das Gemüt des Alten und machte es weich. Und ein Hochgefühl wallte in ihm auf.
Ja, so gibt es Tausende – Tausende. – Mit einer knappen Zulage. – Großer Gott: zwei Mark für jeden Tag! Mit dem schmalen Sold vom Reiche schlagen sie sich durch. Entbehrung ist ihr Los. – Aber sie zu ertragen, ist ihr Stolz.
Arm! Mutig! Voll heiterer Kraft!
Das ist der deutsche Offizier im stillen Heldentum, das der Friede fordert.
Und es ist Gefahr, daß das Volk diese reine, straffe, aufrechte Gestalt nicht mehr richtig sieht.
Weil die Zeit nicht von ihr fordert, daß das Schwert erhoben werde.
Lastende Zeit ... Das ging so durch ihn hin.
Der junge Offizier fühlte die Güte des Blickes, der auf ihm ruhte – er ahnte, daß dies Schweigen erfüllt war von Achtung und Verstehen. – Und er wurde weich – sehr weich. – Er hätte am liebsten in kindlicher Verehrung die Hand des Alten geküßt.
Nun aber fuhr der aus seiner Rührung und seinen Gedanken auf.
Der Augenblick war da. Die Frage mußte getan werden.
»Ich bin wie alle alten Leute,« sprach er mit einem mühsamen Lächeln, »ich mache lange Vorreden. Ganz klipp und klar hätte ich gleich sagen sollen: wollen Sie nach den nötigen Vorbereitungen bei ›Severin Lohmann‹ eintreten?«
Stephan sprang auf. Er erblaßte so sehr, daß dem alten Mann, der ihn mit fast gieriger Wachsamkeit beobachtet hatte, das Herz rasend zu klopfen begann.
»Hier?« sprach er sofort – ließ keine, gar keine Pause aufkommen, »hier? – auf ›Severin Lohmann‹ sein? Hier? Jeden Tag – immer? – Nein. Nein! Ich – ich – danke gehorsamst, Herr Geheimrat. Ich muß ablehnen.«
Bei den letzten Worten spürte man es: er hatte sich gefaßt. Und er setzte sogleich hinzu: »Sowie Likowski wieder Dienst tun kann, komme ich um Versetzung ein. – Nur sein Unfall hat mich verhindert, es schon heute zu tun. Ich danke gehorsamst –«
Das mächtige Haupt neigte sich ein wenig, als sei es müde. Unter den starken, grauen Brauen her kamen die tiefen Blicke und schienen in die Stürme und Leiden des jungen Menschen hineinsehen zu wollen.
»Können Sie mir den Grund sagen, weshalb Sie nicht bei uns bleiben wollen, weder als Mitarbeiter noch in Ihrer Garnison? Wollen Sie es nicht einem alten Mann sagen, der Sie liebhat und der – der auch – ein – Mensch ist ... der gelitten hat –«
Diese zitternde Stimme – zum erstenmal klang sie ihm greisenhaft – erschütterte Stephan.
Und doch sprach er leise und fest: »Nein!«
Nichts als dies kurze, jede weitere Frage ablehnende »Nein!«
Der gramvoll forschende Blick aber ergriff ihn. – Er tat, wozu es ihn schon vor Minuten hatte hinreißen wollen – er neigte sich tief und küßte die Hand des alten Herrn.
Fast wollte seine Fassung zerbrechen – ein Übermaß von Empfindungen stürmte durch ihn hin. – Als bäte er mit diesem Handkuß: verzeih mir, daß ich deines Sohnes Frau liebe. – Als schwöre er: zwischen dieser edlen Frau und mir steht nicht der Schatten einer Schuld. – Als flehe er: versteh doch, daß ich gehen muß.
Dann richtete er sich auf – stand voll Haltung.
Er griff nach seiner Mütze und hielt sie in der Hand.
Noch ein paar Herzschläge lang sahen sie einander fest in die Augen! Höher hob Stephan den Kopf, und sein Blick schien zu leuchten, im Bewußtsein, daß er ihn so frei erheben könne.
Dann grüßte er militärisch und ging.
Als müsse dieses leise »Nein« das letzte Wort zwischen ihnen bleiben. – –
Und wenn tausend gesprochen worden wären, sie hätten dem alten Herrn nicht mehr offenbaren können als dies eine.
Nun hatte er keine Zweifel mehr.
Erschöpft legte er sich zurück und schloß die Augen.
»Wie sich alles wiederholt!« dachte der Greis.
Hatte das Schicksal so wenig Erfindungsgeist?
Warum mußte es diesen beiden herrlichen jungen Menschen dieselben Leiden aufbürden, die er und eine heilige Tote einst getragen?
Aber war denn an diesem Leid wirklich nur jene unbekannte Macht schuld, die man so unbestimmt und sich selbst entlastend gern »das Schicksal« nennt?
Waren es nicht vielmehr seine eigenen Hände gewesen, die alles so geschoben hatten? In herrischer Selbstsucht!
Voll harter Aufrichtigkeit gegen sich gestand er sich das ein!
Den Sohn hatte er retten wollen, sich selbst die holdeste Tochter gewinnen.
Er täuschte sich nur zu rasch und freudig vor, daß sie für seinen Sohn Neigung habe.
Er genoß es als Glück, ihr Sorglosigkeit und ansehnliche Stellung darbringen zu können.
Er glaubte der Geliebten noch über das Grab hinaus Treue zu beweisen, indem er ihre Tochter in sein Haus zwang.
Und nun wußte er: Klara konnte seinen Sohn nie geliebt haben – denn sie war nicht veränderlichen und leicht entflammten Herzens.
Er erkannte längst: von äußerem Glanz war sie so unabhängig, wie es ihre Mutter gewesen.
Und er fühlte, daß die teure Tote weinen würde über das Geschick der Tochter ...
Gut machen! Das war seine Pflicht! Aber wie denn? Noch einmal Schicksal spielen?
Klara sagen: wenn du einen anderen Mann liebst – sei frei!
Aber das war ja ganz unmöglich!
Er dachte an seinen Sohn – an den anderen Mann.
Die bitteren Vergleiche taten ihm nicht wohl! Er wußte klar: sein Sohn war von der Art seiner Mutter. Begabt, schön, beweglichen Verstandes – ohne Tiefe des Herzens und ohne Zuverlässigkeit. Genußfreudig.
Und er sah den anderen stolzen Mann vor sich, der still und aufrecht seinen entsagungsvollen Weg ging.
Ja – dieser wäre Klaras würdiger gewesen ...
Und wie verschwiegen und tapfer und schuldlos sie litten!
Wie er selbst einst gelitten ...
Seine heiße Liebe, die so ganz und gar mit der Liebe zu einer Toten verwoben war, daß sein Herz oft erzitterte, wie in Furcht vor seltsamen Geheimnissen – diese heiße, selbstsüchtige und dennoch zugleich über jedes Mannesgefühl hinaus in das rein Menschliche erhobene Liebe – sie wallte stürmisch auf. Sie wehrte sich dagegen, ohnmächtig zuzusehen, daß Klara sich in heimlichem Gram verzehre.
Aber tat sie denn das? Was wußte er von ihr? Von ihrem Herzen? Warum hatte sie seinen Sohn denn geheiratet? Er hatte es ihr doch damals ernst und stark geschrieben: nicht das geringste, was ich sorglich für dich tat, darf dich bestimmen? Und von all den schweren, häßlichen Dingen, die den Tod ihres Vaters umspielten, wußte sie doch nichts.
Was sollte er tun?
Ganz gewiß war sein Sohn nicht der ebenbürtige Gatte dieses jungen Weibes.
Aber er, der eigene Vater konnte ihm doch nicht die von der Seite fortreißen, die seine Helferin, sein edelster Besitz war? Wahrscheinlich hatte er keine volle Erkenntnis von dem Adel und der Würde seiner jungen Frau. Dennochaber – das hoffte der Vater so sehr von ganzem Herzen, daß er daran glaubte – dennoch stand sie ihm hoch, und er fühlte dankbar, wie ihre Reinheit und ihre Klugheit ihn aus dem elenden Lebensüberdruß herausgerettet, dem er verfallen gewesen.
Ihm war, als höre er ihn sagen: »meine famose, großartige Frau!«
Das klang immer so flach, so äußerlich – es hatte ihn schon oft verletzt.
In diesem Augenblick, als das so in sein Ohr zurückkam, fühlte er: von Wynfried war es ehrlich gemeint und eine starke Anerkennung.
Und dieses Gefühl war vielleicht das beste, was je in des Sohnes Herzen gelebt hatte.
Und der eigene Vater sollte ihm das zerstören?
Unmöglich.
Und das kleine Kind? Ihr und seines Sohnes Kind? Die Zukunft des Hauses! Sein Enkel – sein Stolz und Glück!
Unmöglich!
Das junge Weib – das Kind – das Werk – alleseineZukunft zusammengeschmiedet. – Unzertrennlich. –
Wie sollte sich das alles lösen?
Still lag sein Haupt gegen die Lehne gedrückt.
Zum erstenmal fühlte er sich müde – sein herrischer Wille – sein Zorn – sein Schmerz entglitt ihm gleichsam.
Ein leises Ahnen beschlich ihn, daß auch für die stärkste Lebensgier eines Tags die Wirrnisse des Daseins zu mühselig werden können. –
Und draußen surrte der Regen, emsig gießend, in unermüdlicher Betriebsamkeit, als wolle er alle Leidenschaft und alles Unglück nüchtern wegwaschen.
Mit der objektiven Bewunderung des vorbildlich glatten Schenkelbruchs hatte der Professor seinen Patienten nur bändigen wollen. Aber als der ungeduldige Likowski nach vierzehn Tagen einsah, daß die Sache keineswegs so einfach sei, daß die Heilung noch Wochen in Anspruch nehmen werde, verfiel er in einen schlimmen Gemütszustand. Da man ihn zuerst wohlmeinend getäuscht hatte, glaubte er nun auch der Versicherung nicht, daß alles wieder völlig gut werden würde und seine Dienstfähigkeit gewiß nicht in Gefahr sei.
Er sah sich schon lahmend und außer Dienst!
Was ihn bei diesem Gedanken befiel, war kein Gram mehr – es war Wut.
Monate der ungeheuerlichsten Anstrengungen und Leiden in einem Feldzuge würde er wahrscheinlich kaum gespürt haben, im Hochgefühl kriegerischer Pflichterfüllung. Aber hier so still liegen und sich gefaßt erweisen, dazu war er nicht der Mann.
Er erklärte das für Frauenzimmersache. Weiber, die hätten’s in den Nerven, daß sie zäh und ergeben dulden könnten – deren Nerven seien eben dehnbarer eingerichtet. Männernerven rissen gleich.
Und die Welt, die nächste um ihn, wie die große, weite draußen, war nicht in Zuständen, die ihn hätten angenehm zerstreuen können.
Das Wort »Krieg« zitterte durch Deutschland. Jetzt endlich glaubte man es ganz gewiß. Der Herbst würde die Völker gegeneinander werfen. – Es schien kein Zweifel mehr.
Jedermann nahm sich in acht, zu Likowski davon zu sprechen. Aber er las ja Zeitungen – immer mehr – Zeitungen aller Parteien. – Und er spürte, wie der Glaube an den Krieg da als Hoffnung, dort als Furcht durch die Druckzeilen bebte. Wie die einen in heißer Opferfreudigkeit erglühten – das sah er mit glückseligem Stolz. Wie die anderen feige nur an ihr bißchen gestörtes Wohlleben dachten, erkannte er mit Zähneknirschen. Es war ihm doch das brennendste Bedürfnis, davon zu sprechen. Und wenn seine Besucher nicht davon anfingen, war es sogleich sein Gespräch, seine Frage.
Thürauf kam. Er mußte bestätigen, daß das Ausland sich mit Bestellungen zurückhielt, daß wiederum einige Industrien des Inlandes überhetzt Rohmaterial brauchten. Die geschäftliche Lage war trübe und besonders von der Ungewißheit geschädigt. In industriellen Kreisen sagten die einen: Ginge es doch los, damit wir dann freie Bahn und neuen Aufschwung erleben, wenn’s überstanden ist! Die anderen: Alles ist nun in schönster Blüte, die Kinderjahre unserer Industrie sind überwunden, wir überflügeln die anderen Völker; und nun soll ein Krieg alles zerstören?
Herr von Pankow kam, und seine joviale Behäbigkeit erschien umflort von gedrückten Stimmungen. Was aus der Ernte werden sollte, wußte Gott allein bei diesem ewigen Regen. Und gerade jetzt war das schnelle und gute Hereinkommen der Ernte so dringlich nötig! Wußte man denn, ob einem nicht morgen die Pferde weggeholt würden?
Er war ja ganz damit zufrieden, obschon sein Einziger als blauer Husar mitmußte – stand in Wandsbek, RegimentKönigin der Niederlande – bloß erst die Ernte ’rein – dann war man hinterher auch leistungsfähiger.
Und Doktor Sylvester kam, und sein Mundwinkel, in dem der Schmiß von der Wange her endete, zog sich ganz besonders schief. Er sagte, daß er seit seinen Quartanertagen darauf gewartet habe, mitzugehen. Er war Stabsarzt der Reserve und hatte schon an einen alten Verwandten geschrieben, der sich gerade aus der Praxis zurückgezogen habe, aber bereit sei, ihn in Severinshof als Hüttenarzt zu ersetzen. Womit der Geheimrat sich einverstanden erklärte. Und er erzählte, daß der Geheimrat gesagt habe: ein Krieg sei für Deutschland ein Sprung ins Dunkle, man stehe vor Problemen, dergleichen die Welt noch nicht gesehen; denn daß ein Industriestaat ein Volksheer mobilisiere, sei ein in der Geschichte noch nicht dagewesener Fall. Aber die ethischen Eigenschaften unseres Volkes zeigten Erschlaffung, und nur in einem Kriege könnten sie ihre Kraft und Gewalt wieder erreichen. Es liege nun einmal in der deutschen Art: lange Zeitspannen der Sorglosigkeit und des Friedens vertrage sie nicht.
Und Edith Stuhr kam und saß frech und neugierig und vergnügt an seinem Bett – was die alte Doktorin Lamprecht unerhört fand – und erzählte, daß ihr Papa jammere: wenn Bedarf an Schwertern sei, frage man nicht nach Sensen.
Und die Kameraden kamen.
Diese jeden Tag. Und wenn sie nicht sprachen von dem einen, so sagte es Blick und Händedruck ...
Sein Vetter, der Kapitänleutnant schrieb: »Wenn es wird, muß es vor dem 14. September sein, denn nach dem Flottenmanöver entlassen wir stets unsere Reserven. – Marinereserven, einmal entlassen, können nicht so rasch wie das Landheer zur Waffe zurückberufen werden. Siezerstreuen sich, infolge ihres größtenteils seemännischen Berufes, bald über die Ozeane. Die brauchen oft Wochen, bis sie zurückkommen können. Mit eben frisch Eingestellten kann man aber unsere Schiffe nicht bedienen. Also: wenn unsere Reserven zurückbehalten werden, heißt das: Krieg in Sicht!«
Und der Hauptmann schwor wieder: »Ich schieß’ mich tot, wenn’s losgeht und ich bin ein Krüppel!«
Und das Allermerkwürdigste war, daß diese ganze Spannung, dies ungeheure Warten auf das gewaltige Wort in einem Hochsommer sich fiebrisch wach erhielt, dessen Glut und dessen Sonne von endlosem Regen aus der Luft gewaschen wurde. Die Natur überhitzte die Nerven gewiß nicht. Der graue Tageshimmel schüttete vom Morgen bis zum Abend, die schwarze Nacht vom Abend bis zur Frühe Wolkeninhalt hernieder. Gelassen und grau, von keinem Lichtstrahl kristallen durchblitzt sank der Regen herab.
Likowski verbohrte sich in den Wunsch: wenn bloß endlich mal Schönwetter würde!
Als sei damit dann viel geklärt.
Aber es wurde kein Schönwetter.
Die gute, flinke Alte hatte ihre Not mit ihrem Pflegling, und ihre ermahnenden Reden flossen ohne Unterlaß.
»Grad wie der Regen,« sagte Likowski einmal.
Aber sie steckte oft ihr graues Köpfchen mit dem spiegelglatten Flachskopf des Burschen zusammen, und sie kam mit Vollert, in höchst unmilitärischer Verwischung aller Subordinationsgrenzen, überein, daß man Herrn Hauptmann jetzt nie etwas übelnehmen müsse.
Sehr beleidigt war Likowski, daß von »drüben« – womit ein für allemal die Bewohner des Herrenhauses gemeint waren – niemand kam.
Der Geheimrat natürlich konnte nicht. Er schickte seinen Leupold mit erlesenen Früchten und köstlichen Bissen. Und hatte auch in einem eigenhändigen Brief sein Mitgefühl ausgedrückt.
Die Doktorin erinnerte daran, daß doch Herr Wynfried Severin schon einige Male vorgesprochen habe. Aber ihr Pflegling schien diese Besuche nicht zu rechnen. Er mochte nun mal den Mann nicht ... Er schalt: wo bliebe denn Frau Klara? Sie schickte Blumen. Aber sie kam nicht. Hatte er das um sie verdient? War er nicht ihr guter Freund gewesen, als sie noch Klara Hildebrandt und eine arme Lehrerin war? Hatte er sie nicht schon damals geachtet und verehrt, so daß er beinahe – aber natürlich nur »beinahe« – erwogen hätte ... Und wußte sie denn nicht, daß sie keinen ritterlicheren Freund hatte als ihn? Man erzählte, wie rührend sie sich des verbrannten Judereit annehme; Sylvester sprach sozusagen mit Andacht davon. Und ihn, ihren alten Freund und Hausgenossen, ließ sie ungetröstet daliegen? Als ob es nicht auch für ihn eine Wohltat wäre, ihr ernstes, edles Gesicht zu sehen und ihre sanfte Frauenwürde einmal an seinem Lager zu spüren.
Die alte Lamprecht war ganz hilflos und konnte wenig erwidern. Sie wunderte sich ja selbst. Sie nahm es auch für ihre Person etwas übel. Denn nun, da sie nicht mehr nach drüben zu ihren regelmäßigen Teebesuchen fahren konnte, mußte doch Klara einmal das Verlangen haben, ihre Pflegemutter wiederzusehen ...
Sogar Agathe Hegemeister besuchte den Hauptmann.
Der Besuch machte ihm anfangs Spaß. Die Baronin fuhr, natürlich mit ihrer Gerwald, im Auto vor. Das Geräusch des Regens war in der Luft, und von der Traufe, neben dem Fenster, rann ein Wasserstrahl und pladdertein gleichmäßiger Eile hinab auf das Straßenpflaster. Das einfache Zimmer, voll Karten an den Wänden und voll Zeitungshaufen und Schriftstücken auf dem Tisch, mit dem etwas schräg vornübergebeugten Spiegel über dem Waschtisch, gegenüber dem Fußende des Bettes – das war kein Schauplatz für die Eleganz, die hereinkam.
Agathe hatte draußen ihren Regenmantel abgenommen und in Vollerts große Hände gelegt, die aber erst einmal den seidigen, gleitenden Gummistoff fallen ließen, was die Damen in Heiterkeit versetzte.
»Wie kommt der Glanz in meine Hütte!« sagte Likowski und hatte sein Wohlgefallen an dem hellblauen, die üppige blonde Frau knapp umspannenden Schneiderkleid. Er dachte: selbst für mich ist es ihr der Mühe wert, sich schön zu machen – wie angenehm für unser Männerauge, daß es Frauen gibt, die das unschuldige Bedürfnis haben, uns sozusagen was vorzublühen!
Obgleich er ein fröhliches Gesicht in diesem Augenblick zeigte, war Agathe doch tief gerührt. Sie konnte nun einmal keinen Menschen leiden sehen, es tat ihr zu weh!
Ihre ganze Herzensgüte wallte auf, und Likowski sah wohl, daß es gar nichts Echteres geben konnte als dies Mitleid, mit dem Agathe seine Hand streichelte. In ihren blauen schwimmenden Augen sah man den feuchten Glanz einer Träne.
Sie konnte es kaum sagen,wiesie ihn beklage.
Die Damen nahmen Platz. Und Likowski unterhielt sich in guter Laune mit ihnen.
»Wie haben Sie es angefangen, liebste Baronin? Sie sind noch schöner geworden. Und ein wenig schlanker – ganz wenig – aber gerade sehr vorteilhaft so. – Ja und auch Fräulein von Gerwald strahlt? Den Damen bekommtder Sommer mit all dem Regen besser als mir – im Grunde verdank’ ich dem verfluchten Regen mein Malheur. Verehrte Freundin, wenn Sie morgen lesen: der Krieg ist erklärt, so kaufen sie gleich einen Trauerkranz für einen, der es nicht überleben wird, zu Haus bleiben zu müssen.«
»Ach,« sagte Agathe, »Wynfried meint, es wird nichts draus.«
Wynfried? Schlankweg Wynfried? Aber Likowski stutzte nur eine Sekunde. Agathe war eng befreundet mit Klara; warum sollte ihr der Name von Klaras Gatten nicht so vertraut und leicht auf den Lippen liegen? Es gab überhaupt in ihrem geselligen Kreis viele, die aus Gewohnheit sagten: »der Geheimrat« und »Wynfried Severin«, um Vater und Sohn bequem zu unterscheiden, und den Namen Lohmann wegließen.
»Wie geht’s denn Ihrer Freundin? Sie läßt sich bei mir nicht sehen. Sagen Sie ihr, daß es mich kränkt und schmerzt.«
»O – es geht ihr gut, höre ich.«
»Hören Sie? So was sieht man doch.«
»Ja denken Sie,« sagte Agathe, und ein leichtes Rot breitete sich über ihr Gesicht, »das ist schon einfach komisch! Seit Wochen verfehlen wir uns, mit tödlicher Sicherheit. Dreimal bin ich bei Klara gewesen und stets vergebens. Mal war sie zu Besorgungen nach Hamburg, einmal war sie mit ihrem Mann bei Stuhrs eingeladen, einmal lag sie mit Kopfschmerzen zu Bett. Und sie ihrerseits hat mich auch verfehlt. Die kleinen Essen, die der Geheimrat sonst gern mochte, sind seit Wochen nicht mehr gewesen ... er soll sich angegriffen fühlen. Mal war ich eingeladen, als ein paar Großindustrielle da waren. Schweden und Finnländer – ich kann nicht Schwedisch, und englisch zusprechen, ist mir verhaßt. Man hat mich in meiner Jugend zu viel damit geärgert. Neulich lud ich das Ehepaar ein – sie konnten nicht, weil der Geheimrat gerade Geburtstag hatte.«
»Das nennt man Pech!« gab Likowski zu.
Und ganz eilig und unaufgefordert versicherte Fräulein von Gerwald: »Es tut Frau Baronin wirklich sehr leid.«
Gerade hörte man auf der Straße ein dumpfes Dröhnen, und das hielt vor dem Hause an.
»Mehr Besuch!« sagte Agathe, »gewiß Stuhr.«
Aber es war nicht Ediths nervöser und sorgenvoller Vater, sondern Wynfried Severin kam herein. Schön, heiter, ein Mann von Lebensfreude wie umglänzt.
Und nach einer Minute schon hatte der Hauptmann das peinliche Gefühl: dies Zusammentreffen sei vielleicht kein Zufall. Agathe war unruhig wie ein Backfisch und kicherte und strahlte. Und Wynfried küßte ihr die Hand und fragte, wie den Damen der Ausflug neulich bekommen sei, und erzählte dem Hauptmann, daß er das Glück gehabt habe, die Damen in Hamburg zu treffen, gerade als er ins Hotel Atlantic ging, um dort zu speisen. Da habe er denn den Vorzug gehabt, mit ihnen essen zu dürfen. Und als sie aufbrachen, stießen sie in der Tür auf Stuhr. – Aber Likowski wisse wohl schon davon, Stuhr habe es sicher erzählt ...
»Nein,« sprach der Hauptmann kurz, »Stuhr ist kein Klatschweib.«
Mit wachsamen Augen und Ohren lag er da. Und er erkannte wohl, daß in Agathens schwimmenden Blicken der Glanz war, den die gierige Verliebtheit entzündet. Und er hörte wohl, daß in des Mannes Stimme ein Ton herrischer Vertrautheit mitschwang – dieser Paschaton, der gewisse Frauen entzückt.
Diese lachenden, sich und ihn neckenden Menschen, die etwas Festliches an sich hatten und doch voll unbegreiflicher Unruhe zu sein schienen – als könnten sie vor Heiterkeit mit keinem Gespräch zu Ende kommen und vor Nervosität nicht zwei Minuten still sitzen – sie verstimmten ihn tief.
Als Agathe gekommen war, hatte es ihm etwas Zerstreuung bedeutet. Als sie nun zu dritt gingen – nicht ohne daß Wynfried den Hauptmann laut beneidete um das Mitleid dieser holden Gönnerin – blieb er finster zurück.
Das hatte ihm nicht gefallen – nein – nein. –
Es müßte sich jemand finden, der Klara sagte: paß auf!
Aber so jemand findet sich nie. Aus Feigheit, aus der Gewohnheit, »konventionell« und »formell« sich zu betragen, mischt man sich nicht ein. Sagt einer Mutter nicht: Dein Sohn ist in moralischer Gefahr. Sagt einer Frau nicht: Gib acht auf deinen Mann. Sagt einem Manne nicht: deine Frau macht dich zum Gespött. – Zusehen ist schicklicher.
»Nun, ich werde dieser jemand sein – sobald ich Gelegenheit habe!« schloß er mit festem Vorsatz seine Betrachtungen.
Die Doktorin Lamprecht kam herein. Sie wollte ihre ausführliche Kritik des geräuschvollen Besuches vom Herzen heruntersprechen, und besonders hatte es ihr mißfallen, daß Wynfried mit den Damen davonfuhr und sein eigenes Auto wegschickte – »als wenn’s zum Jahrmarkt gegangen sei,« hatte sie das Betragen gefunden.
»Gottlob, daß es noch Menschen gibt, die sich der Zeit zum Trotz amüsieren können,« sagte Likowski abweisend.
Aber diesmal ließ sich die eifrige Alte nicht wegscheuchen. Sie mußte sprechen. Das war bei ihr auch eine Funktion, die sich nicht zurückhalten läßt.
»Liebster, bester Herr von Likowski,« raunte sie, »ich klatsche nie – aber was jetzt die Leute sagen, geht mir doch zu nahe.«
»Sie wissen, Lamprächtige – hab’ keine Spur von Neugier ...«
»Dies interessiert Sie auch. Es geht Klara an ... Man spricht davon, daß – daß Wynfried und die Hegemeister – wenn er verreist – verreist sie auch. – Und er ist manchmal allein auf Lammen – aber nicht mit seinem eigenen Auto sagen die Leute.«
»Sagen Sie den Leuten wieder, daß sie ihre Nase in ihre eigenen Angelegenheiten stecken sollen,« befahl Likowski.
Und die Alte dachte bekümmert, daß ein Hagestolz doch für gewisse Dinge kein Gefühl übrig habe. Diese Teilnahmslosigkeit – denn es ging doch Klaras Leben an – kränkte sie schwer.
Gegen Abend saß Marning am Bette des Freundes. Er fand ihn sehr erregt. Sollte man es nicht sein? grollte der Hauptmann. Morgen wurde der letzte Verband abgenommen. Die Massage und die Gehversuche würden beginnen – es war vom Professor das Wort »Wiesbaden« ausgesprochen. Und ganz gewiß – morgen würde es offenbar werden, davon war er überzeugt – sein linkes Bein sei mindestens eine Handbreit zu kurz. – Marning schwor ihm zum unendlichsten Male zu, daß es nur zwei Zentimeter seien, und daß der Professor gesagt habe: die glichen sich von selbst aus. Nicht einmal steifer oder nachschleifender würde es werden.
Aber das war es nicht allein – andere Dinge hatteLikowski gelesen: in England waren die Menschen wie verrückt: glaubten einen Zeppelin in nächtlicher Dunkelheit über London gesehen zu haben. Und in Frankreich – diese Empfindlichkeit, dieser anmaßende Ton ... Und die Wunder unserer Disziplin! Als ob es nicht den Männern an der Grenzwacht in allen Nerven zuckte.
»Sie haben noch mehr!« sagte ihm Marning auf den Kopf zu.
»O ja – ich merk’, Sie kennen mich – ja schmerzen tut’s mich – daß die junge Frau von drüben nicht kommt. – Und da wären so allerhand Gründe ... möcht’ mal mit ihr eins schwatzen – mal sehen, wie weit man mit dem Gespräch sich wagen kann ...«
Stephan saß schweigend und blaß.
»Und kurz und gut – sagen Sie’s ihr nur geradezu – es sei keine Sache, einen alten Freund in trüben Tagen zu vernachlässigen.«
Plötzlich fiel ihm was auf. Er wurde noch lebhafter: »Herrjes – wie ist mir denn? Sie sind ja wohl lange nicht mehr drüben gewesen?«
»Nein, lange nicht.«
»Aber jetzt gondeln Sie mal ’rüber und bestellen ihr ...«
»Gewiß, gern – gelegentlich,« sagte Stephan ausweichend. »Sie wissen doch: wir mögen den jungen Herrn Lohmann nicht. Und da der alte Herr jetzt nicht einlädt, komm’ ich nicht hinüber.«
Zu seiner Erleichterung ließ der Hauptmann das Gespräch völlig fallen – lag grübelnd, mit bösem Gesicht da.
Er dachte: »Wenn man doch die Wahrheit erfahren könnte! Ob Marning auch von dem Klatsch gehört hat? Deshalb nicht mehr ’rüberfährt?«
Fragen wollte er nicht. Das war so eine von den Sachen, die man nicht zart genug behandeln kann. –
Er fühlte. »Ich muß bald wieder auf dem Posten sein! In jeder Hinsicht – man ist doch kein Überzähliger! Gottlob nicht. Und könnt’ sein, daß da drüben die junge Frau auch mal ’n Freund braucht ...«
Vom nächsten Tage an schien er aber nur noch an sich zu denken. Erst natürlich wetterte er über die Maßen herum, daß sein Bein nicht bloß eine Handbreit, nein daß es um die Hälfte verkürzt sei und die Knochen wie von Glas. Zuzutreten schien ein Ansinnen, als solle er’s gleich noch mal brechen. Aber mit viel Geräusch und ungemeiner Energie kam er vorwärts. Er fing an, zu hoffen, zu glauben. –
Der furchtbare Regen, der tagaus, tagein herniedersickerte, hatte das rechtzeitige Abernten der Felder unmöglich gemacht. Die Manöver mußten teilweise verschoben und teilweise abgesagt werden. So behielt Likowski die Kameraden um sich. Der Major im Stabe, der die beiden Kompanien führte, ließ zum Ersatz ganz besonders große Marsch- und Felddienstübungen unternehmen, deren Anlage und Verlauf Likowski dann am Abend mit den ihn besuchenden Kameraden besprach.
Es gab noch eine Unterbrechung, weil sich ein Knochensplitter zeigte, der erst herausheilen mußte. Aber dann konnte Likowski doch Marning vorrechnen: »Wenn Krieg kommt, kann ich’s wagen, mitzureiten. Bleibt Frieden, gehe ich Ende September nach Wiesbaden und erscheine hier nach sieben, acht Wochen als Jüngling und Schnelläufer wieder. Und dann kommen Sie um Ihre Versetzung ein – wenn Sie nicht anderen Sinnes geworden sind.«
Und an einem Tage, als der öde Regen durch stürmisches Unwetter eine Abwechslung erfuhr und anstattder zinnfarbenen Gleichmäßigkeit am Himmel wildes Gewölk schwarz und schwer sich dahinwälzte, kam endlich die junge Frau.
Sie hatte am Nachmittag vorher den Leutnant Hornmarck bei Thüraufs getroffen und zufällig erfahren, daß heute eine Übung stattfinden solle, von der die Kompanien erst gegen Abend zurückkehren würden. So war sie sicher, dem einen nicht zu begegnen, von dem ihr Herz Abschied genommen hatte ...
Likowski humpelte ihr am Stock drei Schritt entgegen. Er war ganz betroffen! Was hatte denn Klara angewandelt! War sie noch gewachsen? War man so des Anblicks von holder Schönheit entwöhnt, daß einem die bekannten Gesichter noch herrlicher als vordem erschienen?
Welch ein Lächeln voll Güte ... Und dennoch – irgend etwas Rührendes darin ...
Und wie sonderbar: sie machte gar kein Aufhebens davon, daß sie noch nicht hier gewesen sei – ging schweigend daran vorbei. Und da wußte er in zartem Verstehen: sie hat einen Grund gehabt. Also: Achtung davor, wenn man ihn auch nicht erfährt!
Sie saß neben ihm, und er nahm sich die Freiheit, ihre Hand lange in der seinen zu behalten und sie voll Ehrerbietung und zärtlich zu streicheln, als sei er ein guter alter Papa. Er fragte nach Severin dem Großen und Severin dem Kleinen.
Und Klara sagte, daß ihr Vater oft so still und in Nachdenken versunken sei; es schien, als ermatte seine Frische. Da sei es ihr lieb, daß ihr Mann die eigentlich für den Hochsommer mit ihr geplant gewesene Reise aufgegeben habe. Er hatte gleich von Warnemünde aus Anfang Juli seine Jacht nach der Elbmündung gehen lassen, wo er die Segelei großartiger und interessanterfinde; er fahre nun jede Woche zwei, drei Tage nach Hamburg, oder vielmehr nach Kuxhaven, und der Segelsport habe ihn mit Haut und Haar. Das sei mehr Erholung als eine Reise, sagte er. Und sie freue sich dessen für ihn. Nun könne sie ihren Vater recht pflegen. Was aber Severin den Kleinen anlange ... Ihr Angesicht schien wie verklärt!
»Er gedeiht! Sie glauben nicht, wie! Und lacht und strampelt! Und streckt die dicken Händchen nach seinem Großvater aus! Ja, der ist ein bißchen vernarrt und einseitig und sagt: Solchen Jungen hat’s noch nie gegeben – Wie eben Großväter sind ...«
»Und junge Mütter auch! Ich hab’ mich bisher als Barbar betragen gegen Severin den Kleinen. Babys sind wie Tierchen, aber wenn er nun Mensch wird – na, da will ich gut freund mit ihm werden, wenn ihm auch noch auf lange hinaus meine blanken Knöpfe anziehender erscheinen sollten als mein Charakter.«
Klara lachte. Wie wirkte sie glücklich in diesem Augenblick!
Nein, er konnte nicht fragen, warnen, andeuten. – Und doch riß es ihn zu mächtig in die Nähe dieser Sorge. Plötzlich fragte er: »Na, und die Baronin? Hängt sie Ihnen immer noch mit solcher Backfischschwärmerei an?«
»Ich weiß nicht,« sagte Klara unbefangen, »sie verfehlt mich beständig. Wär’s nicht die gutherzige Agathe, die wohl gegen keinen Menschen je feindselig sein kann, dächt’ ich: Absicht. Wynfried hat mehr Glück mit ihr – traf sie mal in Hamburg – fuhr mal, auf dem Wege nach Pankow, auf Lammen vor –«
»Unsere Tages- und Lebenseinteilung ist auch so verschieden,« setzte sie beschönigend hinzu. »Vormittags bin ich ganz gebunden, habe überhaupt viele Pflichten: Vater – das Kind. – Agathe hat keine.«
Wie schlicht immer ihr Wesen war. Bei aller Jugend voll Ruhe – wie bei einem Menschen, der seiner sicher ist.
Likowski, im Gemüt infolge der letzten Wochen ein wenig mürbe, war eigentlich ganz weich – so etwas wie Reue wollte ihn ankommen, daß er früher nicht doch ... Aber Unsinn – weg mit solchen Anwandlungen! Selbst eine Klara konnte ihn nicht wankend machen: weder Weib noch Kind sollten Anspruch an sein Leben haben – das gehörte einer großen Aufgabe allein! Eine Familie gründen – nein! Aber ihre Heiligkeit schützen – ja! Und er schwor Klara in seinem Herzen zu: wenn der Mann dich verrät, schieße ich ihn über den Haufen.
So friedfertig, so voll Herzlichkeit war er, daß sie von diesen schweren Gedanken nichts ahnte.
Sie kamen auf Erinnerungen, und das Wort »Wissen Sie noch?« stand über ihren Gesprächen. Da lebte Vollerts Vorgänger wieder auf, Mau, der durchaus nicht begreifen konnte, daß es nicht heiße »djewoll, Herr Hauptmann«, und erst nach strengen Vermahnungen sich sein »to Bafehl« angewöhnte. Und die gute alte Lamprächtige nahmen sie ein wenig durch. Und es war so wunderbar sonnig im Zimmer, als schleppten draußen am Himmel nicht schwarze, zerrissene Wolkenfetzen auf den Horizont herab. Und Likowski sagte: »Wissen Sie noch: so ’n ähnliches Wetter war an jenem Morgen, als wir uns an der Fähre trafen. Ich denke noch manchmal daran: ich stellte Ihnen Marning vor; Sie hatten Ihre pastellblaue Wollmütze auf, die Ihnen entzückend, e–n–t–zückend stand; und keiner von uns hatte ’ne blasse Ahnung, daß Sie sich noch selbigen Tags mit Wynfried Severin verloben würden –«
»Ja« sprach Klara leise, »ich weiß es noch ...«
»Was mir Marning geworden ist! – Und vor allem in den letzten Wochen! Das ist ein Mensch! Eins a!Und er wird mir fehlen – will sich nu mal partout versetzen lassen – ist ja nur noch hier, weil er die Kompanie führen muß. Na, aber eh’ es so weit kommt, ziehn wir doch unter der gleichen Fahne ins Feld! Es wird Ernst! Und wenn’s den einen von uns trifft – schön wär’s, den letzten Blick in Freundesauge zu tun, von Freundeshand den letzten Druck zu spüren. – Aber wie Gott will ...«
Klara stand auf. Bleich und still. Sie ließ noch einmal ihre Hand dem treuen Mann. Er küßte sie – immer wieder.
»Aber Likowski!« sagte sie mit einem mühsamen Lächeln scheltend.
»Weiß selbst nicht – mir ist so wunderlich – grad als sollt’ ich Ihnen sagen: wenn Sie mal jemand brauchen – soweit mein Kaiser mich nicht braucht – allzeit Ihr treuer Freund. – Aber nicht wahr, dies ist kein Abschied? Wir sehen uns wieder?«
Verwundert und doch seltsam befangen, als wirke die kaum verborgene Erregung des Mannes auf sie hinüber, sprach sie: »Warum sollten wir uns nicht wiedersehen? Sie sind nun bald so weit, daß wir Ihnen das Auto schicken können. Vater freut sich schon auf Sie.«
Und dann nahmen die Tage einen so gespannten, nervösen Charakter an, daß alles Persönliche zurücktrat.
Jetzt, jetzt war es so weit. – Der September war da – ein Tag schlich vorbei – wieder einer – eine Woche. – Und die große Frage brannte in aller Herzen: Krieg? Krieg? Ja! Nein? Der eine Kamerad hatte dies aus Berlin gehört, der andere das. – Jede Nachricht widersprach der anderen.
Likowski fieberte vor Aufregung und übte Bewegungen und schrie nach der alten Frau, damit sie bestätigte: es sei schon fabelhaft viel besser. Er ordnete all seine Sachen und machte sein Testament. In Rücksicht auf denguten Vermögensstand seiner Verwandten vermachte er seinem Freunde, dem Oberleutnant Stephan Freiherrn von Marning, fünfundzwanzigtausend Mark.
Stephan war ruhig. Ernsten, gefaßten Blickes sah er dem Geschick entgegen. Auch er ersehnte den Krieg. Er hatte Humboldt gelesen, und dessen Ausspruch, daß der Krieg zur Erziehung der Völker notwendig sei, hatte ihn tief ergriffen. Die Geschichte lehrte ihn, daß Humboldt recht habe. Er hoffte: siegend zu sterben! Sein Leben hingeben zu dürfen für das Größte.
Er war bereit, es tapfer einsam zu tragen – auch ohne die eine, die er liebte. Aber wenn er es für das Vaterland einsetzen durfte, das würde wie Erlösung und Krönung sein. –
Und dann, dann dämmerte die Entscheidung herauf. Sie fuhr nicht wie ein Blitz hernieder, und die Lage wurde nicht jäh deutlich erhellt. Nein, auf die flammenden Herzen, die bebenden Nerven legte sich, gleich Ernüchterung, die Gewißheit: die Lageentspannte sich– wieder einmal! –
Die schweren Nebel sanken. Hunderttausende jubelten, daß sie wieder einen klaren Himmel über sich sahen. Aber Millionen fühlten, daß die Muttererde mit den Nebeln gärende Keime eingesogen habe.
Likowskis Vetter, der Kapitänleutnant, schrieb, was auch zugleich schon in den Zeitungen stand: die Reserven seien entlassen.
Friede –
Als Marning bei dem Freunde eintrat, fand er einen anderen, als er erwartet hatte.
Hochaufgerichtet, in fester Haltung hatte der Hauptmann am Fenster gestanden und in die sinkenden Tropfen gestarrt. Nun wandte er sich dem Freunde zu.
»Marning,« sprach er, »es scheint unser Los: wir sollen das Schwert in der Scheide behalten – vielleicht überhaupt so lange, wie wir den Rock noch tragen – wer weiß es. Eine andere Art von Tapferkeit wird von uns gefordert – die, die wir schon so lange üben. – Arbeiten wir weiter! Still. Zäh. Beißen wir die Zähne zusammen, wenn man uns schmäht, nicht mehr sieht, was wir tun – wozu wir da sind. –Ein Tag wird dennoch kommen, wo man erkennt: wir taten unsere Pflicht!Tun wir sie – stolz und schweigend. – Ich will nie mehr davon sprechen – nie mehr. – Aber denken wollen wir immer daran – denken!«
Die beiden Männer umarmten sich in heißen, stummen Gelöbnissen.