»Mein teures Kind!Es ist mir seit Ihrer frühen Jugend eine liebe Angewohnheit gewesen, Sie so zu nennen. Aber nun könnte wohl aus der Angewohnheit ein Recht werden, wenn Sie die Frage bejahen, die mein Sohn heute nachmittag an Sie richten wird. Er hat mir die Erlaubnis gegeben, Sie, meine liebe Klara, darauf vorzubereiten, daß er zu Ihnen kommen wird. Heute, weil es Mittwoch ist, brauchen Sie nicht zum zweitenmal zur Schule. Wynfried darf also darauf rechnen, Sie zu Hause zu finden.Ich selbst habe Ihnen, ehe Wynfried Sie spricht, noch etwas zu sagen, und das ist, noch mehr als der Wunsch Sie vorzubereiten, der Grund, weshalb ich schreibe.Nur ein ganz kurzes Wort! Dieses: daß DankbarkeitSie nicht bestimmen darf, sich für Wynfried zu entscheiden! Ganz gewiß erraten Sie mit Ihrem Herzen, daß es für mich eine große Freude sein würde, Sie als Tochter umarmen zu können. Und Sie rufen sich vielleicht ins Gedächtnis in dieser Stunde, daß ich es war, der die bitterste Not des Lebens von Ihnen und Ihrer Mutter ablenken durfte ...Mein teures Kind, Sie wissen es: ich habe Ihre Mutter geliebt! Ich durfte sie nicht besitzen und sie nicht die Meine nennen. Wenn Liebe so um ihr heiligstes Recht betrogen wird, bleibt ihr nur eine Art von Linderung und Erlösung: für den geliebten Menschen und das, was ihm teuer ist, ein wenig sorgen zu dürfen. Das war das bescheidene stille Glück, das ich mir gönnen konnte.Sehen Sie es so, und Sie sehen es richtig. Und dann verstehen Sie auch: Sie stehen nicht in meiner Schuld!Wo das Wort Liebe ausgesprochen wird, löscht es alle anderen Worte aus.Glauben Sie das einem alten Mann, dessen Leben rauh war und voll Haß. Und dem es vielleicht niemand zutraut, daß er immer tief in seinem Gemüt einen großen Schmerz, einen sehr glücklichen Schmerz mit sich herumtrug.Selbst wenn Sie sich gegen meine Hoffnungen entscheiden – nichts, gar nichts kann mich hindern, zu bleibenIhr väterlicher FreundSeverin Lohmann.«
»Mein teures Kind!
Es ist mir seit Ihrer frühen Jugend eine liebe Angewohnheit gewesen, Sie so zu nennen. Aber nun könnte wohl aus der Angewohnheit ein Recht werden, wenn Sie die Frage bejahen, die mein Sohn heute nachmittag an Sie richten wird. Er hat mir die Erlaubnis gegeben, Sie, meine liebe Klara, darauf vorzubereiten, daß er zu Ihnen kommen wird. Heute, weil es Mittwoch ist, brauchen Sie nicht zum zweitenmal zur Schule. Wynfried darf also darauf rechnen, Sie zu Hause zu finden.
Ich selbst habe Ihnen, ehe Wynfried Sie spricht, noch etwas zu sagen, und das ist, noch mehr als der Wunsch Sie vorzubereiten, der Grund, weshalb ich schreibe.
Nur ein ganz kurzes Wort! Dieses: daß DankbarkeitSie nicht bestimmen darf, sich für Wynfried zu entscheiden! Ganz gewiß erraten Sie mit Ihrem Herzen, daß es für mich eine große Freude sein würde, Sie als Tochter umarmen zu können. Und Sie rufen sich vielleicht ins Gedächtnis in dieser Stunde, daß ich es war, der die bitterste Not des Lebens von Ihnen und Ihrer Mutter ablenken durfte ...
Mein teures Kind, Sie wissen es: ich habe Ihre Mutter geliebt! Ich durfte sie nicht besitzen und sie nicht die Meine nennen. Wenn Liebe so um ihr heiligstes Recht betrogen wird, bleibt ihr nur eine Art von Linderung und Erlösung: für den geliebten Menschen und das, was ihm teuer ist, ein wenig sorgen zu dürfen. Das war das bescheidene stille Glück, das ich mir gönnen konnte.
Sehen Sie es so, und Sie sehen es richtig. Und dann verstehen Sie auch: Sie stehen nicht in meiner Schuld!
Wo das Wort Liebe ausgesprochen wird, löscht es alle anderen Worte aus.
Glauben Sie das einem alten Mann, dessen Leben rauh war und voll Haß. Und dem es vielleicht niemand zutraut, daß er immer tief in seinem Gemüt einen großen Schmerz, einen sehr glücklichen Schmerz mit sich herumtrug.
Selbst wenn Sie sich gegen meine Hoffnungen entscheiden – nichts, gar nichts kann mich hindern, zu bleiben
Ihr väterlicher Freund
Severin Lohmann.«
Er war sehr bewegt, und als ihm das Wort von dem glücklichen Schmerz in die Feder kam, feuchtete sich sein Auge.
Er dachte: sind nicht vielleicht unsere Schmerzen mehr unser köstlicher Besitz als unser Glück?
Seine Zuversicht war groß. Er bezweifelte im Grunde nicht, daß Klara seinen Sohn mit Freuden annehmen werde. Sie war seit jenem Sonntag so verändert! In ihrer Stimme bebte ein Nebenklang mit – sie war wie von zärtlicher Ergebenheit gefärbt und umschmeichelte den Hörer wie Liebkosung. Ihr Wesen zeigte eine neue Art von Demut und Hingebung – ihre Hand schien noch pflegsamer, leiser geworden, und der gemessene Ernst, der ihr schon im Schatten ihrer Kindheit angeflogen war, wich einer Weichheit, die sich in Blick und Bewegung deutlich verriet.
Gerade von dem Tag an, wo sie seinen Sohn kennen gelernt hatte.
Und obschon der alte Herr sich ganz gewiß nicht für einen Frauenkenner hielt, glaubte er doch so viel von einem Mädchenherzen vermuten zu dürfen, daß es in aufwallendem Gefühl dem Vater sich nähere, – weil es dem Sohn aus holder Scheu sich nicht verraten wolle ... Welche Glückseligkeit dieser Gedanke! Und er sah auch so viel Gerechtigkeit darin, wenn Tochter und Sohn zweier Entsagenden sich finden würden.
Wie machte dieser Wahn ihm auch den Weg zum Sohne leicht!
Er hatte keine Achtung vor ihm haben können. Und das zu verbergen, war seiner Natur in all ihrer Wahrhaftigkeit und Offenheit sehr schwer gewesen, obschon er begriff, daß seine Verachtung den Sohn vollends zerstören mußte.
Nun fühlte er: wenn dieses Mädchen ihn lieben konnte oder im Begriff war, ihn lieben zu lernen, dann gab es noch Werte in seinem Sohn. –
Sein Verkehr mit ihm wurde milder und gleichmäßiger.
Und als Wynfried ihm gestern erklärt hatte, daß er bereit sei, um Klara zu werben, hielt er lange stumm die Handdes Sohnes in der seinen. Wynfried sagte, daß der Wunsch des Vaters und die Leere und Zwecklosigkeit seines Lebens ihn bestimme; die Liebe freilich, die ein Mädchen zu erwarten pflege und die es verlangen könne, die könne er nicht vorheucheln. Sie sei ihm sympathisch. Das sei alles.
»Darüber sprecht euch nur unter vier Augen aus,« hatte der Vater geantwortet. »Wenn nur einer liebt, ist es genug. Denn das weckt auch nach und nach die Liebe des anderen. Und sie liebt dich. Sie ist auf das rührendste verändert, seit du hier bist.«
Das glaubte Wynfried. Er war es so gewohnt, daß die Frauen ihn liebten. Aber er hatte keine, auch nicht die leiseste Regung von Eitelkeit dabei, er stand so unberührbar fern von diesen Dingen – sein Herz war tot.
Und nun war dieser vorbereitende Brief geschrieben. Leupold sollte ihn in das Schulhaus tragen, genau um zwölf Uhr sollte er ihn, nach der letzten Unterrichtsstunde, überreichen ... Dann las sie ihn, kehrte heim – konnte in Ruhe nachdenken – sich vielleicht, wenn sie wollte, mit der Pflegemutter aussprechen – war gefaßt und klar in ihrem Entschluß, wenn Wynfried um drei hinüberführe. Wohldurchdacht war alles.
Jetzt freilich hatte die Uhr von der Zimmertiefe her noch nicht acht Schläge herklingen lassen. –
Und die, an die der wichtige Brief gerichtet war, verließ erst gerade ihre Wohnung, um ihrem Beruf nachzugehen.
Klara erschrak beinahe vor dem Wetter. Oft war’s ja draußen viel erträglicher, als es von drinnen schien. Heute zeigte es sich umgekehrt. Die schönen Frühlingstage hatten die Haut schon an Wärme und Sonne gewöhnt. Nun schlug der unnatürlich kalte Regen ihr ins Gesicht. Der Schirm nützte wenig. Aber Klara war wettersicherangezogen. Auf dem braunen Haar saß eine Art Sportmütze von pastellblauer Wolle. Und ihre Gestalt war ganz und gar in einen dunklen Regenpaletot eingeknöpft.
Wie trübselig die Linden um die roten Kirchenmauern standen; aller Frühlingsglanz war aus ihren Wipfeln herausgespült. Die Blechrinnen, die am langen Dachsaum des Kirchenschiffes zu beiden Seiten hinzogen, waren so übervoll, daß allerwärts Tropfenfälle ihre Linien begleiteten; ihre Abflüsse, die grauen Drachenköpfe aus Zink, spieen einen dicken Strahl von Wasser hinab. Es rauschte und plätscherte überall. – Keine fröhliche Morgenfrühe. –
Klara bemerkte, daß der Hauptmann von Likowski mit einem Kameraden vor ihr herging – die Herren schienen ebenfalls den Weg zur Fähre hinab zu nehmen. Sie hatten hohe Stiefel an und braune Handschuhe. Ihre Mützen waren wie bestäubt von Regentropfen.
Den Hauptmann kannte sie sehr gut, wohnte er doch mit ihr unter einem Dach. Und die engen Verhältnisse sowie die übereifrige Dienstwilligkeit der alten Doktorin Lamprecht für ihren Mieter brachten es mit sich, daß Likowski oft im Erdgeschoß vorsprach.
Es hieß, er sei ganz wohlhabend. Aber er führte das einfache, regelmäßige Dasein des preußischen Offiziers, der sich für seine scharfe Arbeit frisch zu halten hat.
Er war ziemlich groß, etwas steif von Haltung, und in seinem rötlichen Gesicht stand der weißblonde Schnurrbart aufgebürstet über einem Mund mit vorstrebenden Lippen und entschlossenem Ausdruck. Auch seine hellblauen Augen blickten unternehmend. Haltung und Miene eines künftigen Divisionärs – zum mindesten! Doch neckten ihn die Kameraden mehr wohlwollend als spöttisch mit seinem Feldherrnwesen.
Richtig – die Herren blieben dicht vor ihr. Nun ging’s die Fahrstraße hinab. Sie war so steil, daß es dem Abwärtsschreitenden immer schien, als schubse ihn etwas vorwärts. Und ihr Pflaster war grob. Denn die Hufe der Pferde wären ohne den Halt, den ihnen die kräftigen Kopfsteine gaben, beim Hinauf- und Hinabfahren schwerer Lastwagen oft ausgeglitten. Die Straße mündete an der Anlegebrücke, die dem Ufer des Eisenhüttenwerkes schräg gegenüber in den Fluß hineingebaut war. Sie bezeichnete auch gewissermaßen einen Abschnitt in der Linie seines Laufes. Von seiner Quelle an war die liebliche Anmut wiesenreichen Binnenlandes seine Begleitung; dann zog er an der uralten Hansestadt vorbei und spiegelte deren rote Giebel und zahlreichen hohen Kirchtürme wider. Von da ab hatte Wasserbaukunst ihm viele Windungen abgeschnitten und ihm gerade Richtung aufgezwungen, ohne sein idyllisches Wesen merklich verändern zu können. Aber in dieser Gegend häufte die Industrie ihre grauen und toten Farben auf das Grün der Ufer. Und unmittelbar hinter dem Punkt, wo das Städtchen auf ragendem Ufer lag, weitete er sich zu einer gerundeten Bucht, die, östlich von größeren Waldungen begrenzt, schon durch den Geruch ihres Wassers die Nähe des Meeres ahnen ließ. Es war Salzatem darin. Im Volksmunde hieß der Fluß auch von da ab, wie ihn schon die alten Geschichtsbücher nannten: die Salzentrave.
Und die Navigationszeichen, die schweren Bündel der mächtigen eingerammten Stämme, der Duc d’Alben, wie auch die ziegelroten Markierungsstangen, die den Schiffen den Fahrweg durch das Wasser der Bucht zeigten, gab ihr einen großartigen, an die freie, weite See erinnernden Charakter.
Scharf wehte der Wind über die vom Regen bestricheneund gegen den Strom aufgewühlte Wasserfläche daher. Klara fühlte ihn im Gesicht, als strichen ihr kalte, nasse Hände über die Haut.
Vom Punkt aus, wo die Fahrstraße auf die Anlegebrücke stieß, mußte man noch ein Streckchen am Fuß des Abhangs, dicht am Wasser, uferaufwärts gehen, um an die kleine Fährstelle zu kommen. An ihr ragte ein geteerter Pfahl mit einer Glocke und einer weißen Inschrifttafel. Und hier mußte nun Klara auf den Hauptmann von Likowski und seinen Kameraden treffen.
Sie warteten; gerade kam der Fährmann heran und hielt mit starken Fäusten sich und damit den Kahn an der Eisenkette fest, die auf dem Brückchen aus einem Ringe heraus lief. Er stand ein wenig gebückt, sein Südwester war blank vom Regen, sein Rock von Wachsleinwand glänzte naß.
Der Hauptmann stieg zuerst ein – es bedurfte dazu nur des einen Schrittes hinab auf den flachen Boden des Kahnes. Er wollte Klara aufmerksam die Hand reichen. Aber sie, mit Büchern und Schirm beladen, tat schon selbständig diesen einen tüchtigen Schritt hinab. Ihr folgte der andere Offizier.
»Guten Morgen, Fräulein Hildebrandt.«
Klara nickte – sie schloß gerade ihren Schirm.
»Mit dem aufgespannten Schirm – im Winde – das ist mehr Hindernis als Schutz,« sagte sie.
»Immer tapfer in jedem Wetter in den Morgen hinaus!« sprach er wohlwollend.
»Man muß! Ich weiß auch längst, daß das sehr gesund ist. Sie können sich für Ihren Dienst ja auch nicht nur Schönwetter aussuchen,« meinte sie.
»Bitte –« sagte jetzt der Kamerad.
Und Herr von Likowski stellte vor: »Freiherr von Marning– Fräulein Hildebrandt ...«, und er setzte auch gleich erläuternd hinzu: »Das gnädige Fräulein ist die Pflegetochter meiner fürsorglichen Hauseigentümerin.«
Gerade schrie der schwedische Dampfer seinen Kameraden, die unter den Entladebrücken drüben ankerten, seinen klagenden Sirenengruß zu. Und der Fährmann wartete im Kahn. Es war geraten, den Dampfer erst vorbei zu lassen, denn die Fährstelle lag ja noch im schmalen Flußlauf.
Klara sah den Offizier mit unbefangener Freundlichkeit an. Und sie war sogleich eingenommen von diesem bartlosen Gesicht. Beinah erstaunt, als sei es ihr kein neues, fremdes! Den Farben nach war es das eines dunkelhaarigen. Die Züge hatten festen männlichen Schnitt. Die braunen Augen fielen besonders auf. Eine seltsam eindringliche Leuchtkraft war in ihnen; aber es waren doch keine Schwärmeraugen. Vielmehr hatte man sogleich das Gefühl, aus ihnen blicke ein sicherer Wille. Diese ganze Erscheinung gefiel ihr – sie wirkte auch förmlich kriegerisch, in dem feldmarschmäßigen, betropften Anzug, an dessen hohen Stiefeln schon die Spuren schlammiger Wege klebten.
So stand er vor ihr. –
Und das ganze, weite, vom Wetter umdüsterte Bild um ihn her war wie ein Rahmen – voll Bedeutung.
Der Nachen schaukelte mehr und mehr. Obgleich der Fährmann, gebückt, mit angespannten Muskeln, gewaltsam die eiserne Kette umklammert hielt. Strom und Wind zerrten am Fahrzeug. Und nun zog in vorsichtiger Ruhe der Dampfer vorbei, in der hier gebotenen, verminderten Geschwindigkeit.
Drüben rauchte und rumorte das Hochofenwerk; da und dort glühte feuriger Schein zwischen seinen Bauten.
Der ungeheure Himmelsraum war grau, und dunkle Wolken jagten in der Höhe.
»Gnädiges Fräulein haben keine Furcht, bei solchem Wetter sich übersetzen zu lassen?« fragte der Freiherr von Marning.
»Ich fahre oft bei viel größerem Unwetter. Drüben habe ich ein Amt. Ich bin Lehrerin. Unterrichte an der Schule von Severinshof. Wenn ich da wohnen wollte, müßte ich die alte Dame verlassen, bei der ich seit meinem zehnten Jahr lebe. Das täte ihr zu weh,« sagte Klara einfach.
Nun stieß der Kahn ab, und Likowski und Marning hielten sich lachend aneinander fest – denn beinahe hätten sie im ersten Anstoß das Gleichgewicht verloren.
Klara saß schon auf der umlaufenden Bank, und die Herren folgten ihrem Beispiel.
Schwer ging die Fahrt, und die vom Dampfer aufgewühlten Wasser wellten hoch.
Marning sah die schlanke Gestalt an, die sich da so sicher und ungezwungen ihm gegenüber hielt, als wiege man nicht im peitschenden Regen über einen Fluß, sondern säße irgendwo voll Behagen.
»Das ist viel gefordert von einer jungen Dame,« sprach er.
Likowski hatte ein unklares Gefühl, als müsse er das junge Mädchen in Marnings Augen gewissermaßen gesellschaftlich noch heben. Er erzählte: »Fräulein Hildebrandt ist nicht nur die Pflegetochter der Doktorin Lamprecht, sondern auch die des Geheimrats.«
Und Marning merkte auch unwillkürlich auf. Was mit dem Geheimrat zusammenhing, seine Gunst besaß, war allen Menschen der Gegend gleich interessanter.
Für Klaras Feingefühl hatte diese Erklärung aberirgend etwas Kleinliches, ihr nicht Zusagendes, und auch eigentlich zu Likowski nicht Passendes. Ganz abwehrend klang ihr Ton, als sie sofort eilig hinzufügte: »Ich schulde Herrn Geheimrat viel Dank, er ist sehr gütig. Pflegetochter – das ist zu viel gesagt.«
Und sie sprach gleich weiter und sah den Freiherrn gerade an. »Der Geheimrat kennt Sie. Er hat mir von Ihnen erzählt. Sie waren einigemal bei Verwandten von Ihnen zusammen zur Jagd eingeladen ...«
»Wie ist das viel, daß ein solcher Mann sich an den bescheidenen Leutnant erinnert. Ich kann Ihnen beipflichten: er ist sehr gütig – er war es zu mir und würdigte mich manchen Gespräches, das mir so lehrreich war. Nun ist das Jagen wohl für immer vorbei?«
»Oh,« sagte Klara gläubig, und ihre Augen bekamen feuchten Glanz, »ich hoffe, daß er noch einmal ganz der frühere wird – die linke Hand kann er schon wieder bewegen. Und das Bewußtsein war ja damals sofort wieder klar – das ist das große Glück ...«
»Pu–r–r–r,« machte Likowski mit den Lippen, um Nässe- und Kälteschauer auszudrücken. »Angelangt – na, nu hopp!«
Und mit einem Schritt stand er auf der Brücke unterhalb der Sandsteintreppe. Er nahm die Stufen hinauf mit einer strammen Gleichmäßigkeit des Schrittes. Hinter ihm folgten Klara und der Oberleutnant.
»Darf ich Sie bitten – Fräulein Hildebrandt? – nicht wahr? – Herrn Geheimrat Lohmann meine verehrungsvollsten Grüße und Wünsche auszurichten.«
»Gern. Er hat einmal ausdrücklich gesagt, wie es ihm leid sei, Sie noch nicht gesehen zu haben. Aber Gäste kann er noch nicht empfangen – darf noch nicht.«
Dann geleiteten die Herren, da sie vorerst den gleichenWeg hatten, Klara noch auf der Landstraße an den Anlagen vorbei. Sie sah zum Erker hinauf, der in der Mitte des ersten Stockwerks aus der Front des Herrenhauses hervorsprang. Und sie sah: da beugte sich das grauhaarige Haupt aus den Lehnen des mächtigen Stuhles heraus – so, als sei es vorwärts über ein Buch oder eine Schrift geneigt. Daß er nicht aufpaßte, um sie zu begrüßen, war ein selten vorkommendes, auffallendes Ereignis.
Da mußte er schon mit etwas sehr Wichtigem beschäftigt sein.
Likowski erzählte: seine Kerle unter der väterlichen Führung von »Baby« Hornmarck seien schon über die Hochbrücke marschiert, um sich im Grabenausheben und Schanzenaufwerfen zu üben. Er habe den Bauern Vietig bewogen, seine Brachkoppel dazu herzugeben.
Nun schritten sie an dem mit Eisenspitzen bewehrten Palisadenzaun des Werkes hin – nun kamen sie an den stattlichen Verwaltungsgebäuden vorbei, die mit ihren Fassaden den Zaun unterbrachen. Und da war das mächtige Tor, über dem auf breitem grauen Blechschild in schwarzen Lettern zu lesen stand: Eisenhütte Severin Lohmann.
Gerade stand der Portier vor seinem Häuschen, das sich drinnen an den Torpfosten drängte, und sah einen ausfahrenden Wagen untersuchend durch. Die schweren vlämischen Pferde standen halb schon zum Torbogen hinaus, und ihre Nüstern dampften.
Diesem Tore gegenüber mündete ein Landweg, von Knicken eingefaßt, in die Straße, die an Severinshof vorbei und weiter hinaus ging.
Und hier mußten die Herren sich verabschieden. Likowski konnte es nicht, ohne noch eine von seinen bitter-humoristischen Betrachtungen anzustellen.
»Wissen Sie, Fräulein Hildebrandt – im Grunde – nee wirklich – tun wir ja ziemlich was Ähnliches. Nämlich: vorbereiten! Sie schuften, um aus den rotznasigen Bengels unterrichtete, manierliche Jünglinge zu machen. Wir schuften, damit diese Jünglinge fixe Kerls werden, die nich mit der Wimper zucken, wenn’s endlich ans Dreinschlagen geht. Na, und danken tut uns das keiner – Ihnen nich – uns nich – is auch egal! In der stillen Schufterei is doch was drinn – das erhebt. – Na, also: empfehl’ mich gehorsamst ...«
Er verbeugte sich und legte die Finger an den Mützenrand. Und so tat auch Marning.
»Ja,« sagte Klara, »wenn man es so nehmen will –«
Sie neigte, ein wenig lächelnd, ihr Gesicht – das war ein abschiednehmender Gruß voll Anmut und doch voll Zurückhaltung.
Die beiden Herren stapften in den lehmigen Knickweg hinein. Das dicht verschrankte Gezweig und Gerank der Knicke, das Laub der Hainbuchen und der Schlehdorne, die kletternden Jelängerjelieberstengel, die grünen Zweige der wilden Rosen bildeten nasse Mauern. Und in den Spuren der Räder floß gelbes Wasser.
»Was für eine Stellung nimmt dies Fräulein Hildebrandt ein?« fragte Marning.
»Klara Hildebrandt? Stellung? Gar keine. Oder ’ne schiefe – man weiß nie recht. Wohin gehörtse nu eigentlich? Und haben tutse nischt. – Kann einen dauern. ’n MächenI a!Viele sagen: natürliche Tochter vom alten Lohmann. Aber meine olle Lamprecht sagt: Quatsch! Das Wurm sei an die zwei Jahr alt gewesen, als die Eltern es mit herbrachten und der Geheimrat ihre Mutter überhaupt erst kennen lernte.«
»Wenn sie die Tochter vom Geheimrat wäre, würdeer sie legitimieren und sie nicht so hart für ihr Brot arbeiten lassen,« meinte der Freiherr.
»Das erstere allemal – der ist nicht der Mann, was zu verstecken. Das zweite sagen Sie nich – vielleicht erst recht. Na – aber Fräulein Hildebrandt würd’ mich schön ’runterputzen, wenn sie wüßte, ich bedauerte sie. Wissen Sie, Marning – wenn ich mir das Heiraten nich abgeschworen hätte:diekönnt’ einen wankend machen. Mein Vermögen langt ja. Und n’ Dispens kriegte man woll durch den Geheimrat – der hat Beziehungen – Verbindungen bis ganz oben ruff ... Nee –«
»So ehefeindlich?« fragte der Kamerad lächelnd.
»Nich aus Weiberfeindschaft! Ih wo! Aber sehen Sie:malmuß es ja doch endlich losgehen – wir lassen uns ja rein auf der Nase ’rum spielen, daskannja nich dauern. Na, und denn will ich kein weinendes Weib und keine schreienden Kinder zurücklassen, und mein Herz soll keinen Zwiespalt haben.«
»Es gibt auch tapfere Frauen. Wir haben eben eine gesehen.«
»Ach Gott – das is ja nu ganz was anderes, untern bißchen mühseligen Umständen dem Broterwerb nachgehen als ’n geliebten Mann in ’n Krieg ziehen lassen. In der Liebe verändern sich die Weiber völlig.«
Marning dachte an das schöne, etwas strenge Gesicht unter den braunen Haaren, auf denen die pastellblaue Wollmütze saß. Er war sich nicht klar, woher der Ausdruck von Strenge kam. Plötzlich begriff er: diese seltsam geraden Brauen – die gaben diesen Zug.
Likowski sagte jetzt: »Hören Sie mal – Sie müssen aber Besuche machen. Wenn Sie sehr gesellig veranlagt sind, können Sie ’rauf nach Lübeck fahren. Da is viel los – gastfreie Menschen die ollen Hanseaten. – Ichkomm’ nich oft hin – unterhalt’ bloß kameradschaftliche Fühlung mit dem Regiment da – fahr’ kaum mal ins Theater. Das nimmt Zeit. Tags kann man nich zum Studieren kommen. Sie wissen ja: ich beschäftige mich immerlos mit Strategie, auch der älteren, hab’ mir grade Willisen und Jomini angeschafft – man lernt ja immer noch zu. Das kommt einem doch zustatten, wenn’s los geht. Und das tut es doch mal – muß es mal! ...«
»Nein,« sagte Marning. »Ich bin nicht übermäßig gesellig. Nur grade, was sein muß –«
»Na – freilich. Ganz abschließen kann man sich nich. Verkehr ist Pflicht. Man lernt auch hie und da. Bloß nich Kommiß werden! Mit Scheuklappen. Nee. Also denn hier ’rum. Allzuviel is es nich. Um Überblick zu geben: da is der Großindustrielle Stuhr – der mit der Sensenfabrik – entzückende Krabbe von Tochter – nächstes Jahr geht sie aus. Denn die paar Honoratioren – drüben der Generaldirektor Thürauf – wohnt dicht bei der Kolonie Severinshof – kluger Mann, feine, hübsche Frau – drei prosaische Töchter – semmelblond – gute Diners und gemütlich. Ein paar Güter. Vor allem Schloß Lammen! Gott, über die verwitwete Baronin Hegemeister reden sich die Leute ja auch die Zunge wund und fuselig: soll ’n dolles Mädchen gewesen sein – die Eltern, reiche Parvenüs, hatten alle Ursache, sich’s zwei Millionen kosten zu lassen, damit sie unter Dach und Fach kam. Der alte, verschuldete Hegemeister hatte keine Vorurteile, soll sich nich daran gestoßen haben, daß das Mächen schon ’n Hufeisen verloren hatte. – Wer weiß, ob’s wahr is. Kein Mensch kann’s jetzt anders sagen: einwandsfrei hält sie sich, die schöne Agathe. Sieht nur beste Gesellschaft bei sich. Auch der Geheimrat verkehrte bei ihr, mit Frau – und die Geheimrätin sei ’ne scharfe Dame gewesen, sagen alle –als ich herkam war sie schon dot. – Na, vielleicht möcht’ die schöne Agathe wieder heiraten, was ja an sich kein sündhafter Wunsch ist. Und auch kein unerfüllbarer. Vorausgesetzt, daß sie ihn nich auf meine Wenigkeit fixiert.«
Jetzt öffnete sich rechts im Erdwall, der die überregnete, dicht ineinanderverflochtene Mauer der frischgrünen Gebüsche trug, eine breite Einfahrt. Ihr primitives, niedriges Tor aus Latten war nach der Koppel zu zurückgeschlagen.
»Da wären wir. Und nu wollen wir mal sehen, wie unser ›Baby‹ die Leute angestellt hat – fixer kleiner Kerl, der Hornmarck – hat ’n Schneid – na, ein Trost – man erlebt immer noch famosen Nachwuchs. – Wir werden uns mal den Helden von Siebenzig ebenbürtig zeigen. – Haben Sie gelesen, Marning – die letzten Depeschen – höllisch brenzlich! Passen Sie auf – in diesem Sommer erleben wir’s ...«
Unterdessen begann Klara ihren Unterricht. Im freundlichen Schulhaus und seinen großen Zimmern, die durch beste Einrichtungen gelüftet und durch sehr große Fenster erhellt waren, konnte man fast das Wetter vergessen, obgleich der Regen eiligst an den Scheiben draußen niederrann, als sei es sein Geschäft, sie gründlich abzuspülen.
Die Kinderschar, Knaben und Mädchen, saßen in Reihen, und lauter aufmerksame Gesichter waren der jungen Lehrerin zugewandt, die neben einem großen farbigen Bild an der Wand stand. Das war eine topographische Karte, und Klara lehrte die Kinder die nächste Umgebung kennen und wußte durch allerlei historische Rückblicke, knapp und einfach vorgetragen, diese eingezeichneten Wälder, Felder und Dörfer zu beleben. Jedes einzelne Gewese war auf der Karte eingetragen. Und Klaras Augen sahen, wie infolge einer inneren Nötigung, immer wieder auf die Koppel des Bauern Vietig. Da übte jetzt die Kompaniedes Hauptmanns von Likowski Grabenausheben und Schanzenaufwerfen – und der Oberleutnant Freiherr von Marning war auch dabei. –
Plötzlich fiel es Klara ein: Stephan heißt er! Der Geheimrat nannte einmal den Namen.
Und ganz unwillig über diese Störung ihrer Gedanken wehrte sie das von sich: dieser Mann geht mich ja gar nichts an. –
Er sah sehr schön aus – männlich und vornehm, und Augen von seltener Ausdruckskraft hatte er auch. –
Aber wirklich – er ging sie nichts an. – Wie töricht, daß sie diese Augen so deutlich vor sich sah. – Und sie sammelte sich fest und klar auf ihren Vortrag und all die Fragen der aufmerksamen Kinder und überwand dieses unbegreifliche Zurückdenken an eine im Grunde so gleichgültige Begegnung. –
Die Stunde lief ab, und andere folgten ihr – noch drei – sie schwanden schnell dahin. Und als Klara, hinter dem Rücken der letzten sich hinausdrängenden Kinder, nach ihrem Mantel griff, der am Zeugreck im Flur, neben der Tür nach dem Spielplatz hing, kam Leupold und hatte einen Brief und sagte, auf Antwort solle er nicht warten. Sie warf den Mantel über den Arm und öffnete sofort den Brief.
Des Geheimrats eigene Handschrift! Konnte es etwas Wichtigeres geben! Vielleicht bat er sie, im Herrenhause zu essen – es war heute Mittwoch – –
Und sie las ...
Sie mußte sich an den Pfosten des breiten Zeugrecks lehnen – betäubt – fassungslos – –
Nun kamen ihre männlichen Kollegen – Herr Magers wollte, ehe er zu seiner Frau hinauf in das obere Stockwerk ging, ihr noch sagen, daß der kleine Rohrdantz wieder gelogen habe und daß sie doch einmal zu der Mutter desJungen gehen möge – aus Frauenmund Warnungen zu hören, käme die Mutter sicher leichter an. – Und Herr Kehl strich sich durch seine blonden Haare und wartete, bis der Vorgesetzte treppan gestiegen war, und sah Klara über den Rand seiner Stahlbrille weg unsicher und zärtlich an. Sogar die Kinder der oberen Klasse hatten es schon heraus: »Herr Kehl ist in Fräulein Hildebrandt verschossen.« Nun bat er, verlegen über diese seine Nebentätigkeit, von der er doch einen wunderbaren Umschwung seiner Existenz erwartete, ob er ihr das Manuskript einer schon dreimal von ihm umgearbeiteten Novelle geben dürfe, ihr Urteil sei ihm ihm –
»Morgen,« sagte Klara, »morgen –«
Und sie zerrte sich ihren Mantel um, drückte sich die Mütze auf den Kopf und lief hinaus.
»Fräulein Hildebrandt – Ihr Schirm!«
Sie hörte nicht – sie fühlte ihren Körper nicht – nicht Regen – nicht Sturm – Sie lief – und lief –
Sie dachte nicht, daß Vater oder Sohn sie von den Fenstern des Herrenhauses vielleicht sehen könnten.
Fort, nur fort – in die Einsamkeit. Nachdenken über das Ungeheure, das an sie herantrat.
Wynfried wollte kommen und um sie anhalten.
Die Frau eines Mannes sollte sie werden, den sie nicht liebte.
Was Reichtum – was Rang! »Ich liebe ihn nicht!« schrie alles in ihr.
Treppab, auf den Fluß zu ging es, wie auf der Flucht. Unten war kein Fährmann – drüben saß er, unterm Schirm hockend und das dampfende Essen aus dem Henkeltopf löffelnd, den seine verwachsene Tochter ihm gebracht. Ganz gnomenhaft sah das aus – wie ein Bild aus einem Märchenbuch.
Und der Wind brauste –
Klara kam ja zehn Minuten früher als sonst – sie läutete heftig, als sei Gefahr, an der Glocke. Blechern und doch schrill klang das dringliche Gebimmel hinüber ans andere Ufer, sich vom Chor des gleichmäßig rumorenden Lärms, der vom Hochofenwerk her scholl, als ängstliche Solostimme abhebend.
Es hieß warten. Und wie sie dastand, heftig atmend vom Lauf, von der unerhörten Erregung, ebbte ihr Blut langsam zurück.
Sie wurde bleich, sehr bleich.
Sie begriff, daß sie sich fassen, daß sie nachdenken mußte.
»Er liebt mich nicht!« Das wußte sie durch ihr Frauengefühl.
Sie hatte noch nicht geliebt. Frei und leicht schlug ihr Herz, von keinerlei Erfahrung und Enttäuschung beschwert. Und dennoch wußte sie! Aus jenem Gefühl heraus, das keines Wissens bedarf, um die tiefste Weisheit zu erkennen.
»Er liebt mich nicht!«
Weshalb wollte er sie denn zu seiner Frau machen?
»Sein Vater hat es gewünscht!«
Dies stand ihr über jedem Zweifel.
Und damit kamen ihre Gedanken in eine andere Richtung.
Ihr war, als frage eine zürnende Stimme sie: »Von opferfreudiger Begeisterung standest du wie in Flammen – dein Leben wolltest du hingeben, um ihm zu danken. – Und nun dein Leben wirklich gefordert wird, erschrickst du?«
Klara starrte wie hypnotisiert auf den Fährkahn, der vom jenseitigen Ufer her herangewiegt kam, von starkem Ruderschlag getrieben.
Die Stelle des Briefes stand ihr vor Augen: »Dankbarkeit darf Sie nicht bestimmen!«
Gewiß nicht – nicht für das, was er allein an ihr getan. Denn sie fühlte, daß dies eine heilige Wahrheit sei: daß es noch ein leises Glück bedeutete, für die Tochter der Geliebten sorgen zu können. Und sie begriff ahnungsvoll die Tiefe jener anderen Stelle: »Wo das Wort Liebe ausgesprochen wird, löscht es alle anderen Worte aus.«
»Was er an mir getan hat, war ihm Freude – das verstehe ich wohl – es muß ihm immer gewesen sein, als sähe meine Mutter ihn zärtlich an dabei – – Aber das andere! ...«
Der Treubruch, die Unlauterkeit ihres Vaters – die großen Summen, die er dem Werk entzogen – dieser schmachvolle Tod. – Und der grandiose Edelmut, der verzieh und alles verbergen half – damit über ihrer Mutter Leben nicht noch der Schimpf komme. –
»Er darf nie wissen, daß ich weiß ...«
Klara hatte versprochen, zu schweigen. Aber sie dachte: auch ohne das! Mein Wissen muß ich ihm verbergen – immer – wie er mir seine Großtaten verbarg. Es gibt eben Dinge, die so außerhalb des Lebens stehen, so hoch, daß es unkeusch ist, ihnen mit Worten zu danken.
»Nein,« sprach da wieder eine Stimme in ihr, »man dankt nicht mit Worten – aber mit der Tat! –«
»Fräulein,« sagte der Fährmann, als sie dann einsteigen konnte, »Sie haben Ihre Mütze verloren.«
»So?« antwortete sie mechanisch.
Stumm und als sei ihr ganzer Körper schwer von Blei und alles in ihr gekettet und unbeweglich, saß sie und wollte denken.
Ein qualvoller Druck legte sich über ihr Gemüt. Eine dumpfe Empfindung: das Schicksal hatte so viele gütige Gaben für sie gehabt – das Schicksal schenkt nicht, ohne eines Tages die Gegengabe zu fordern. –
Sie sagte sich: »Ich muß!«
Mit mühsamen Schritten stieg sie hinauf, schleppte sich durch die regennassen Straßen und kam nach Haus.
Da war die Doktorin Lamprecht, mit vielen eiligen, unerschöpflichen Gesprächen und voll Ausrufen: wie sah Klara aus! Und ohne Schirm! Ohne Mütze! Und leichenblaß! Klara hatte Ausreden. –
Bei Tisch kehrten ihre Farben wieder. »Na gottlob!« sagte die alte Frau, von rasch emporgekommenen Sorgen ebenso flink befreit, und nötigte Klara noch mehr warme Suppe auf.
Sie verstand sich plötzlich selbst nicht – diese wahnwitzige Aufregung ... wie konnte sie das so umwerfen ...
Ihr wurde wohler; das Gefühl der Ohnmacht schwand. Sie konnte klar nachdenken und sich sogar beherrscht die Maske der Alltagsstimmung vornehmen, bis sie allein in ihrem Zimmer war.
Ihr Kleid war feucht. Sie wechselte es. Ihr Haar war zerzaust. Sie ordnete es.
Und sie dachte nun endlich auch an den Mann – stellte ihn förmlich vor sich hin.
Weshalb wollte er sie heiraten? Sein Vater war doch kein Tyrann, trotz seines Herrscherwesens. Wenn Wynfried seinem Wunsch ein kräftiges »Nein« entgegengesetzt hätte, würde dieser Wunsch verstummt sein.
Klara hatte eine dunkle Erkenntnis davon, daß Wynfried zu matt zu einem starken Nein sein mochte.
Vielleicht dachte er, wie sein Vater: daß eine Heirat nun für ihn Trost, Neuland, Lebenszweck bedeute.
Der alte Herr hatte in den letzten beiden Wochen wiederholt dergleichen ausgesprochen. Erst jetzt fiel es Klara auf, daß er sie immer voll Bedeutung dabei angesehen. Sie war so arglos gewesen. – Wie hatte sie eine soschwindelerregende Schicksalswendung für sich erahnen können!
Sie fragte sich, immer ruhiger werdend: »Ist er mir unangenehm?«
Nein! Gewiß nicht. Nichts an seiner Erscheinung konnte ästhetisch abstoßen. Sein Vater hatte manchmal grimmig gesagt: die Weiber sind zu toll hinter ihm hergewesen. Vielleicht war er sehr geliebt und umworben gewesen. –
Aber er hatte Schlimmes erfahren. Ein Weib, dem er jahrelang in rasender Leidenschaft angehangen, hatte ihn verraten.
Mehr wußte Klara nicht. Das stimmte sie vom ersten Augenblick an mitleidig – machte ihn ihr ein wenig interessant, wie es für jede Frau der Mann ist, von dem sie weiß: er hat geliebt und gelitten.
Vielleicht konnte sie seinem Leben wieder Frische und allmählich wieder Freudigkeit bringen. – Sie konnte das Ihre tun, in ihm die Liebe zum Werk, das Verständnis für seines Vaters Lebensarbeit zu erwecken – Sie sah wohl: noch war das alles tot in ihm. –
Welche Aufgabe!
Sie ahnte, was der alte Mann von ihr hoffte: sie sollte ihm den Sohn zuseinemSohn machen helfen. –
Am Fenster saß sie, draußen rann der Regen auf den Hof und schüttete Wasser auf den zu schlanken Lindenbaum mit dem schmalbrüstigen Wipfel. Ihre Hände hatte sie ums Knie gefaltet. Und sie erhob das Gesicht zum Bilde ihrer Mutter. Es war voll von wunderbarem Leben, denn ein großer Künstler hatte es damals gemalt, als Geld im Hause Hildebrandt keine Rolle spielte. Die ganze Persönlichkeit der Toten sprach aus diesem Bilde. Hell stand die Gestalt vor einem tiefgrünen Hintergrunde.Die edlen Züge zeigten den Ausdruck eines wehmütig lächelnden Ernstes.
Und Klara – sich an diese Züge mit förmlicher Inbrunst des Blickes hängend, fühlte wieder: »Ich muß!«
War es denn wirklich ein solches Opfer?
Klara hatte sich niemals in der himmelblauen Sentimentalität anderer Mädchen ausgedacht, wie »Er« aussehen müsse.
Und sich in Phantastereien nie verschworen, daß sie unter keinen Umständen einen anderen nähme als den, der einem Idealbilde gleiche. – Ihre Lage brachte es nicht mit sich, ans Heiraten zu denken. Sie war ganz arm. Sie lernte kaum Männer kennen, die ihr überhaupt auch nur flüchtig die Idee erwecken konnten: der paßte für mich. Weder ein Hauptmann von Likowski einerseits, noch ein Herr Kehl anderseits regten dergleichen bei ihr an – was bei allen obwaltenden Umständen ja auch auf der Hand lag ...
Und nun wollte ein Mann sie zu seiner Frau machen, der sie auf einen solchen Platz stellte – –
Was würde sie für einen Wirkungskreis bekommen!
Das große Haus mit seinem ganzen, auf reichliche Art eingewöhnten wirtschaftlichen Betrieb. Die Kolonie Severinshof – denn da gab es noch viel zu tun – gerade für eine Frau. In viele Familien ließ sich noch mehr Segen tragen, als die Wohlfahrtseinrichtungen möglich machten. Und diese selbst noch zu erweitern und zu verbessern, war auch eine schöne Aufgabe. In der sozialen Fürsorge kann eine Frau mit begabterem Blick das Nötige und vor allen Dingen das seelisch Feinere herausfinden, als es der wohlmeinendste Mann vermag. Ja, da könnte man schaffen, sich rühren, nützlich sein. – Und als Herrin! Mit großen Mitteln, und durch Einfluß auf den alten Herrn.
War es nicht ein Unrecht gegen viele, wenn sie es ausschlug, diese Aufgaben zu übernehmen? Sie wußte aus Erzählungen, daß Wynfrieds Mutter gar keine Teilnahme gehabt und gar nicht anerkannte, daß sie Pflichten habe.
Aber sie – oh, sie würde mit heißem Willen nach Pflichten suchen.
Ihr Herz klopfte rascher – eine stolze Vorfreude wallte in ihr auf.
Und dann vor allem: den großartigen alten Mann pflegen –
Wirklich seine Tochter sein! Damit zugleich auch dem Andenken ihrer heiligen Mutter leben – viel von dem erfüllen, was deren Liebe nie gedurft ...
War das nicht herrlicher Inhalt für ein Leben?
Man sagte: die Liebe kommt oder geht in der Ehe. Erst die Heirat ist der rechte Prüfstein für sie.
Klara dachte: vielleicht lerne ich ihn lieben, wenn er erst mein Mann ist ... Aber dieser Gedanke entglitt ihr – verschwamm in Träumereien. Es war, als mache ihr Seelenleben eine Pause – hülle sich in Dunkel – –
Sie fuhr zusammen – erwachte. Und wußte mit wunderbarer Klarheit: »Ich werde ihn niemals lieben ...«
Freundlich, herzlich, mit allen Vorsätzen, ihn zu verstehen – ja, so konnte sie ihn wohl lieb haben.
Aber nicht mit jener Liebe, die stark ist wie der Tod.
Vielleicht war es auch nicht dies Gewaltige, das für eine segensvolle, friedliche Ehe nottat.
Konnte nicht aus Freundschaft und dem heiligen Willen zu nützlicher Gemeinsamkeit auch ein Glück erwachsen?
Klara wußte, was das war: heiraten.
Ihr Mann hatte alles von ihr zu fordern. Sie durfte in einer Ehe, die sie mit Bewußtsein schloß, nichts verweigern ...
Und weiter wußte sie: gerade in dieser Ehe mußte unter allen Gelöbnissen das zur Treue am höchsten stehen!
Wie oft stürzen sich zwei zusammen in ein rasch verflackerndes Liebesfeuer und können sich nachher voreinander entschuldigen: wir ahnten nicht, daß es so rasch verglühen würde.
Hier war kein Wahn, keine Flamme.
Hier warteten nur sittliche Pflichten.
Klara stand auf. Ihr ganzes Wesen war voll von Entschlossenheit.
Sie begriff ihre erste sinnlose Erregung nicht mehr.
Dem alten Mann, dessen Tochter sie nun werden sollte, hatte sie in heißer Dankbarkeit ihr Leben opfern wollen. Sie war bereit – –
Die alte Vossen riß die Tür auf, und ihre breite Gestalt mit der blauen Aufwaschschürze vor der Leibesfülle blieb in der breiten Spalte. Ihr kupfriges Gesicht hatte einen hilflosen und wichtigen Ausdruck.
»Da is der junge Herr Lohmann ... mits Auto is er gekommen ...« sagte sie verdutzt.
»Bitte,« sagte Klara.
Wynfried kam auf sie zu und küßte ihr die Hand.
Er wurde rot – es schien, als übernehme ihn plötzlich eine Verlegenheit ohnegleichen. Mit einer laschen Gefügigkeit war er hergekommen. Alle Gespräche und die Gedanken waren Theorie gewesen. Jetzt überstürzte ihn die Wirklichkeit.
»Mein Vater hat Ihnen geschrieben?« begann er.
Klara fühlte eine wunderbare, liebevolle Ruhe in sich. Unbewußt etwas Mütterliches.
»Ja. Ich war sehr, sehr überrascht. Aber es war richtig und herzlich von Ihrem Vater, daß er mich vorbereitete.«
Sie schob an dem Tisch – als wolle sie das Sofa freimachen. – Tat, als sei dies ein alltäglicher Besuch – war fast unbefangen –
»Und auf welche Antwort darf ich gefaßt sein?« fragte er.
Klara sah ihn gerade an. Ihre grauen Augen waren so klar – so voll Güte.
»Sie haben mir nichts zu sagen?« fragte sie leise.
Er setzte sich aus Nervosität – unwillkürlich – legte den Hut auf den Tisch – strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn – wie sein Vater pflegte, wenn der sich fassen wollte ... Klara dachte es. Und diese kleine Bewegung war ihr deshalb seltsam wohltuend. Und immer ruhte ihr warmer, sicherer Blick auf seinen Zügen. Er begegnete diesem Blick.
Er begriff: ja – er mußte viel sagen – das hatte sie zu verlangen. Bitten. Zärtlichkeiten, schöne Worte. – Er konnte nicht. Alles in ihm wehrte sich.
»Sie erwarten nun mit Recht eine Liebeserklärung – es ist das, was der Augenblick mit sich bringen sollte. – Ich – – liebes Fräulein – Klara – ich habe ... Schweres liegt hinter mir – was soll ich sagen – wie Ihnen begründen ... Ich bitte Sie, meine Frau zu werden – ja, das tue ich aus vollster Sympathie, ich habe ...«
Er brach ab. Bitterkeit kam plötzlich in ihm hoch – vielleicht Zorn gegen seinen Vater, der es verstanden hatte, ihn herzuzwingen – in langsamer Überredung, in leidenschaftlichen Wünschen.
»Nein!« sprach Klara ihn unterbrechend. »Ich weiß ein wenig von Ihnen – Ihr Vater sagte es mir: Sie haben eine harte Erfahrung gemacht – – Nein. Ich erwarte keine Liebeserklärung. Sie haben gelitten und leiden vielleicht noch.«
Er öffnete die Lippen – wie vor Überraschung. Er tat einen tiefen Atemzug ...
»So darf ich wahr sein?«
»Kann es zwischen uns eine ernstere Pflicht geben als die Wahrheit?« fragte Klara entgegen.
Es war so viel Würde in ihrer Art, daß es ihm wohltat – o wie wohl!
»Ich komme zu Ihnen, weil mein Leben von entsetzlicher Leere ist, weil mein Vater glaubt, daß ich durch eine Ehe, durch eine Ehe mit Ihnen ein neues Dasein finden würde.«
Er dachte: »Nun sagt sie Nein!«
Er wußte nicht: war das Erleichterung oder tat sich die Leere nur noch trostloser auf?
»Und Sie selbst?« fragte Klara weiter. »Haben Sie selbst das Vertrauen, daß ich Ihnen helfen könne?«
Wie sie ihn immer ansah! So fest und klar, wie er noch keinen Blick in keinem Auge gesehen hatte. Das zwang ihn »Ja« zu sagen.
Irgend eine unklare Empfindung trieb ihn, sich zu erheben – er stand vor ihr, in der Haltung eines Respektvollen.
»Ja.« Und er glaubte an sein Ja.
»Ich danke Ihnen. Das ist viel. – Wie alles liegt, muß es mir – – genug sein,« sagte sie langsam.
»Sie willigen ein – liebe Klara?«
Er nahm etwas scheu ihre Rechte.
»Große Aufgaben liegen vor uns. Und ich darf Ihrem Vater nun wirklich Tochter sein. Sie fühlen wohl: er ist mir der teuerste, der wichtigste Mensch auf der Welt.«
Wynfried wollte fragen: so ist es seinetwegen?
Aber ein unbestimmtes Gefühl verschloß ihm den Mund.
Nicht fragen! Ob sie um des Vaters willen und aus Dankbarkeit so bereit war? – Ob sie ihn, wie sein Vater meinte, liebe? – Nicht fragen ...
Sie hatte von ihm keine Lüge verlangt – welche Erleichterung! Dafür war er ihr dankbar. Was er ihr brachte, wußte sie, ahnte sie. – Was sie ihm brachte, wollte er lieber nicht wissen.
Wenn sein Vater Recht hatte! Wenn sie ihn liebte! Gestern noch war es ihm gleichgültig oder gar lästig gewesen, das zu hören. Heute war der Gedanke, daß sie ihn liebe und er das nicht erwidern könne, beunruhigend, beschämend – Nein, nicht fragen – –
Nun nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände. Er dachte: ich muß sie doch küssen. Er wußte: diese Lippen waren unberührt. Das blitzte so durch ihn hin; eine flüchtige Aufwallung von etwas Reizvollem überkam ihn. Er küßte sie.
Klara nahm den kurzen Kuß mit verständiger Freundlichkeit an.
»Wir wollen recht und von ganzem Herzen versuchen, uns zu verstehen,« sagte sie warm.
Sie sprachen noch über allerlei äußere Fragen, und Wynfried nannte sie Du. Alles war plötzlich ganz einfach und so selbstverständlich. – Es tat ihm sehr wohl, ganz ohne Aufwand von erlogenen Worten und Gesten auszukommen.
Er wollte sie gleich mit zu seinem Vater nehmen. Der wartete voll Ungeduld.
»Nein,« sagte Klara, »wie werde ich so davonfahren! Zwölf Jahre hat die alte Frau treu und eifrig versucht, mütterlich für mich zu sein! Sie hat ein Recht darauf, daß ich mich in diesem Augenblick als Tochter betrage – ich möchte noch allein mit ihr sprechen.«
Das gefiel ihm. Er fühlte: sie hat Herzenstakt. Von ihrer sanften, ernsten und doch so unbegreiflich sichern Art wirkte etwas auf ihn herüber, das ihn beruhigte und zugleich zu einer gewissen Aufmerksamkeit zwang.
Dies war die erste Stunde ohne Qual und ohne Leere, die er seit vielen Monaten gehabt hatte.
Er reichte ihr die Hand zum Abschied. Irgend etwas trieb ihn, ihr besondere Wärme zu zeigen – aus Dankbarkeit, weil sie ebenkeinebesondere Wärme zu beanspruchen schien; deshalb nahm er ihre Hand zwischen seine beiden Hände.
Dabei schob sich die goldene Kette vor, die um sein linkes Handgelenk geschmiedet war ...
Klara sah sie – zufällig war sie ihr noch nicht aufgefallen – sie sah unwillkürlich genau hin.
Da zog er hastig die Hand zurück – es war ihm unangenehm, daß ihr sein Armband so offenbar auffiel.
»Also in einer Stunde.«
Klara stand und sah noch auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte.
»Es wird – es soll gut gehen!« sagte sie sich fest.
Nun also zur alten Frau – ihrer Überraschung, Rührung, Neugier, aber auch ihren verzeihlichen kleinen Naivitäten und ahnungslosen Plumpheiten standhalten ...
Die Tür von Klaras Zimmer nach den beiden Vorderzimmern war durch einen großen Schrank verstellt, um der für die Schulpflichten Arbeitenden mehr Ungestörtheit zu sichern. Klara mußte also über den Flur.
Da stieß sie auf einen fremden Offiziersburschen. Der riß die Mütze ab und sagte dienstbeflissen: »Dies soll ich hier abgeben – es ist wohl recht?«
Ein weißes Paketchen, mit der Aufschrift: »Fräulein Klara Hildebrandt, hier.«
Verwundert nahm sie es und trug es in ihr Zimmer. Ein unerklärliches Gefühl beriet sie – nötigte sie, in ihre Ungestörtheit zurückzukehren.
Sie öffnete.
Ihre pastellblaue, gehäkelte Wollmütze ...
Und dabei eine Visitenkarte. Unter dem Namen ein Strich, der ihn mit der Schrift auf der Rückseite der Karte verbinden sollte:
»Stephan Freiherr von Marning, Oberleutnant im Infanterieregiment Großherzog Paul, erlaubt sich, das Beifolgende, von ihm Gefundene, der Eigentümerin mit respektvollem Gruß zurückzustellen.«
Klara nahm die Mütze, die Visitenkarte – wickelte beides mit raschen, unsicheren Händen wieder fest, fest in das Papier – riß die Schublade ihrer Kommode auf und stopfte eiligst das weiße Bündelchen tief hinein ...
Ohne sich auch nur noch eine Sekunde aufzuhalten, lief sie nach vorn, fiel der alten Frau um den Hals und sagte: »Oh – höre ...«
Die Baronin Hegemeister auf Lammen gab Ende August und bevor die Offiziere ins Manöver und nach ihm teilweise auf Urlaub gingen, noch ein kleines Fest. Es sollte ländlich sein und auf den Genuß der schönen Natur gestellt.
Schöne Natur hatte man ja bis zum Verzweifeln genossen. Den ewig langen Sommer hindurch. Aber die Umstände ergaben es eben, daß man aus der Langenweile eine Poesie und aus dem Zwang eine Freiheit machte.
Auf ihre Bitte waren der Hauptmann von Likowski und der Oberleutnant von Marning schon zum Frühstück gekommen, um ihr beizustehen und die Einteilung der Stunden sowie die Tischordnung mit ihr durchzusprechen. Was sie alles sehr wohl allein hätte bestimmen können. Aber sie sei zu faul dazu, schrieb sie ihrem Freunde Likowski. Und dieser hatte unterwegs, als sie im Krümperwagen nach Lammen fuhren, gesagt: »Bloß Vorwand, uns länger und allein zu haben – das zielt auf Sie, Marning – man müßte ja Idiot sein, wenn man’s nicht merkte – da könnense nu Ihr Glück machen, wennse wolln.« Worauf Marning nur ein schwaches Lächeln hatte, sozusagen ein Gefälligkeitslächeln, um dem Sprechenden zu zeigen: ich habe zugehört.
Jetzt saßen sie zu viert um den Tisch, von dem die orangefarben und weiß gestreifte Markise den Mittagssonnenschein abhielt. Von der Terrasse sah man in die »schöne Natur« hinaus, an deren Herrlichkeit die arme Agathe beinahe einging. Denn leider war sie keine Wandeldekoration und stand ein für allemal fest. Höchstens, daß die Beleuchtung verschieden war – oft sogar zu rasch und unberechenbar verschieden. Wer wußte, ob sie sich nicht auch heute noch so zeigen werde, – denn das Gewölk, das da so hartnäckig tief am nordöstlichen Himmel stand? ...
Das Schlößchen Lammen hatten Hegemeisters sich bald nach ihrer Heirat erbaut; gerade hier, auf der kleinen Klitsche, die als letzter Überrest großen Familienbesitzes verblieben war. Es gewährte dem Baron eine Art Genugtuung, an dieser selben Stelle nun als großer Herr zu leben, wo er vordem sich vor Gläubigern versteckt gehabt. Und er war zu sehr Realist, um den weiten Rundblick auf die Gegend, die einst zum großen Teil Hegemeisterscher Boden gewesen war, wehmütig zu finden.
Nun erhob sich, wo einst ein schlecht gehaltenes kleines Gutshaus gestanden, auf einem der höchsten Uferpunkte am Wyk, das weiße Schloß. Von seinen Fenstern sah man hinaus über das Wyk, dessen salzige Fluten nur durch eine flache, sandige Halbinsel von der offenen Meeresbucht geschieden waren. Als schmaler Landstrich lag die Halbinsel zwischen den Wassern. Nur an ihrer Spitze verbreitete sie sich erheblich, um Sportplätzen und einer kleinen, umgrünten Siedlung Raum zu gewähren. Über sie hinweg ging frei der Blick auf die Ostsee und die blaugrauen, erhöhten mecklenburgischen Waldufer, die drüben die Bucht eine Strecke einsäumten, bis dahin, wo Meer und Himmel ungestört aufeinanderzustoßen schienen.
Man konnte vielleicht glauben, der Fluß habe sich schon in den weiten Wassern des großen Wyk verloren; aber die Spitze der Halbinsel drängte seinen Lauf noch einmal zusammen, ehe er, an Travemünde vorbei, sich dann ins Meer ergoß.
Travemünde lag da wie ein holländisches Bild. Entzückend fein und lieblich an den Uferrand hingebaut und vom malerischen alten Kirchturm bevatert. Man sah, fern und klein, die gestutzten Linden, die mit Biedermeierwürde vor den Häuserfronten steif einherstanden; man sah die weißen, schmalen Leiber der Segeljachten im Fluß ankern und über den roten und schwarzen Navigationszeichen die silberhellen Möwen flattern. Blau war das Wasser, blau der Himmel – nur dies bedrohliche eine Gewölk da unten, in der Richtung, wo Fehmarn lag.
Es hatte sich gut speisen lassen im Schatten der gestreiften Leinwand, auf der Terrasse, die solchen Blick in die großartige, farbenprächtige und linienkühne Ferne freiließ. Und die Nähe gab ein Gefühl von Üppigkeit und Sommerhöhe.
Die Terrasse hatte kein Geländer. In kurzen Zwischenräumen standen an ihrem Rande weiße, viereckige Kübel mit gelb bemalten Faßbändern, darin dunkle ausländische Kugelgewächse grünten. Vor ihr breitete sich ein Blumengarten, in dem alles duftete und bunt sich aneinander drängte, was nur im Hochsommer blühen mag. Doch herrschten die Rosen vor, und Hochstämme edler Sorten zogen sich auch an allen Wegen entlang. Ein Rosenfreund war der verstorbene Baron gewesen, und sich in Züchtung verschiedener Arten als Gärtnerdilettant zu versuchen, seine Liebhaberei. Agathe hatte keine Liebhabereien – die machen immer Mühe und oft Ärger, sagte sie.
Nun war sie die alleinige Herrscherin in diesem Besitz.Sie klagte oft darüber, daß sie ihn als Last empfinde. Aber was sollte sie machen. Es war nun einmal viel von ihrem Gelde hineingesteckt worden; ihn zu verkaufen, hielt wohl schwer. Und in Berlin oder in einem Vorort zwischen Fabrikschloten und klappernden Maschinen lebten noch die Eltern – und die Eltern fanden durchaus, daß Agathe Lammen zu behalten habe, teils um Verlust zu vermeiden, teils weil es ihnen am passendsten schien.
Als sie das einmal dem Freiherrn von Marning erzählte, hatte er den Eindruck gehabt, daß die schöne Frau ein wenig in Schock vor ihren Eltern und nicht in sehr inniger Liebe mit ihnen verbunden sei.
Wenn man sie so ansah und beobachtete, war man sehr geneigt, die Schuld an einem etwaigen Mißverhältnisse den Eltern zuzuschreiben.
»Nicht wahr?« sagte Likowski einmal, »gänzlich blonde, mollige, fügsame Weiblichkeit – so eine von den heißen Trägen.«
Stephan Marning war sehr überrascht gewesen, als er die Baronin Agathe kennen lernte. Er hatte sich nach den Andeutungen ein temperamentvolles, rot- oder schwarzhaariges Wesen mit einem Stich ins Pikante oder gar Dämonische vorgestellt. Und er fand eine behagliche Blondine, die nur ein wenig mit dem zu stillen Lauf ihrer Tage unzufrieden schien, vielleicht aus dem gesunden Instinkt heraus, daß ihr Gefahr drohe, zu üppig und schläfrig dabei zu werden.
Er kam ganz gern hierher und wurde sehr oft eingeladen. Die Neckereien Likowskis hielt er für grundlos, nur eben der Neigung des Hauptmanns, zu hänseln, entsprungen. Der kameradschaftlich bequeme Ton war nun einmal Art der Frau. –
Das Frühstück war beendet, der Kaffee und die Zigarettenwurden am Tische genommen, denn nun fing ja das an, was Agathe die »Arbeit« nannte. Sie ließ abräumen – man war von zwei Bedienten umsorgt worden, die etwas zu aufdringlich hellblau und silbern glänzten. Vor ihr lagen nun weiße Kärtchen; ihre wunderhübschen, weichen Hände spielten damit, und die Brillanten an den Ringen blitzten. Die etwas volle, aber sehr wohlgewachsene Gestalt der noch jungen Frau war in ein höchst kunstreiches weißes Kleid gepreßt. Es hatte vorn einen sehr tiefen Ausschnitt; die feinen, dünnen Tüllfalten, die ihn straff umgaben, trafen unter einer vorgesteckten Rose zusammen, höchstens eine Hand breit oberhalb des Gürtels. Der Spitzenstoff, der Schultern und Oberarme bedeckte, war mit keinerlei verhüllendem Gewebe unterlegt. So zeigte Agathe mit reichlicher Unbefangenheit, daß sie eine prachtvolle weiße Haut und untadelige Formen habe. Merkwürdigerweise wirkte diese Enthüllung bei ihr wie etwas Selbstverständliches. Die Farben ihres Gesichts waren auffallend – rein der Teint, rosig die Wangen, fast wie bei einem Wachskopf. Sie war stolz auf diese Schönheit. Die Züge, so weich sie schienen, so unbeschrieben von Gedanken oder Leidenschaften, wirkten aber doch nicht tot. Der rote, schwellende Mund und die Augen konnten den erfahrenen Beobachter wohl beschäftigen. Sehr hellblau, groß und schwimmend waren die Augen. Und das blonde Haar, mehr matt als goldig in der Farbe, hatte eine erstaunliche und wohlgeordnete Fülle. –
Nun brachte der eine Silberblaue auch noch ein Tintenfaß. Agathe schob es der Dame hin, die ihr gegenüber saß.
»Liebstes Fräulein,« sagte sie bittend, »Sie schreiben die Namen auf die Karten?«
»Aber sehr gern.«
Fräulein von Gerwald tat alles »sehr gern«. War ja überhaupt froh, wenn sie einmal in Anspruch genommen wurde.
Ihre Überflüssigkeit hier war ihre ewige Angst. Zehn Jahre war sie von Stellung zu Stellung gestoßen worden, hatte oft genug keine gehabt. Alle Damen wollten immer so schrecklich viel, was man doch beim besten Willen nicht leisten konnte, weil man es nicht gelernt hatte und sich nicht aneignen konnte.
Diese ihre Dame wollte fast nie etwas. Brauchte sie nur, um Klagen, Fragen, Sehnsucht, Toilettensorgen laut vor ihr zu bedenken. Und als Schatten, den sie auf Reisen und bei der Geselligkeit im Hause neben sich haben mußte.
Und wie gut man hier aß und trank! Wie sorglos das Geld unterwegs und daheim ausgegeben wurde! Das tat wohl – an allem durfte man teilnehmen. Die Baronin schien es nicht übers Herz bringen zu können, einen Menschen zu demütigen. Fräulein von Gerwald schwärmte für ihre Herrin, sprach ihr immer nach dem Munde und war schon in den ersten Tagen entschlossen gewesen, sich hier zu behaupten, und sollte sie auch die Augen gefällig verschließen müssen ... Nun war sie schon zwei Jahre hier, aber es hatte sich niemals die Gelegenheit zum Blind- und Taubtun gezeigt. Was der sehr befestigten und nie bestürmten Moral des häßlichen alten Mädchens doch eine wohltuende Beruhigung war.
Nun saß sie mit der Feder in der Hand, das Gesicht von beflissener Aufmerksamkeit gespannt, um flink jeden Namen zu schreiben, der bei Feststellung der Tischordnung genannt werden würde.
»Mich muß natürlich Lohmann führen – er ist zum erstenmal hier,« sagte die Baronin Agathe. Sie lag bequem in dem Rohrsessel, dessen naturfarbenes Geflecht mitbuntseidenen Kissen fast verdeckt war. Und sie fragte: »Haben Sie das junge Ehepaar schon gesehen, Likowski? Sie wohnen ja doch bei der alten Lamprecht.«
»Doch. Die junge Frau; sie besucht treulichst ab und an die frühere Pflegemutter.«
»Sehr verändert?« fragte Agathe weiter.
»Ih wo. Keine Spur. Einfach und natürlich, wie sonst.«
»Aber glückstrahlend?«
Likowski erwog – prüfte nach – machte eine Kopfbewegung.
»Glückstrahlend? Das ist nu so ’n Wort. Nee. Klara Hildebrandt hat man nie angemerkt, ob ihr strahlend oder bekümmert zumute war. Immer beherrscht.«
»Sie wird schon glücklich sein, wie sollte sie nicht!« sagte Fräulein von Gerwald. »Eine Volksschullehrerin, die einen Millionär bekommt! Es ist beinahe phantastisch!« Und sie seufzte.
»Gott,« sprach Agathe, »sie hat sich verkauft! Es gibt ja viele Ehen, die ’n Handel sind – so ’rum oder so ’rum.« Und sie seufzte auch.
Alle wußten, sie dachte jetzt an ihre eigene Ehe.
»Die einen werden verkauft, die anderen verkaufen sich,« fügte sie ganz elegisch hinzu.
Stephan Marning dachte: »Ja ... verkauft – sie hat sich verkauft ...« Und er hatte ein Gefühl von Ablehnung, fast von Erbitterung.
Likowskis Ritterlichkeit wallte auf.
»Nein,« behauptete er, »was auch die Leute klatschen – der Vater soll ihn gezwungen haben, damit er in Ordnung käme – hätt’s zur Bedingung gemacht für Bezahlung der Schulden – soll Klara Hildebrandt eine Million geschenkt haben, damit sie den Sohn nimmt – Klara soll ihn hassen – der Wynfried soll ein ganz verbrauchter,verseuchter Mensch sein. – Ist ja alles Quatsch. Immer wird drauf losgered’t, ohne daß eine Seele genau die Motive kennt. Ich bind’ doch auch nich aller Welt auf die Nase, warum ich dies und das tue und lasse. Als ob der Geheimrat so ’n Schuft wäre und ein Mächen an einen verseuchten Mann verkuppelte! Als ob die Klara Hildebrandt ’n Mächen wäre, das sich so schlankweg kaufen läßt! Nee, so ’n simpler, ekelhafter Handel is das nu nich gewesen. An den Reichtum hat sie nich gedacht. Vom Geld ist bei der ganzen Verloberei nich ein Ton gesprochen, sagt die alte Lamprecht. Und sie sagt, vor der Klara müsse man den Hut abnehmen.«
»Sie haben da ja neulich gegessen,« fragte Agathe, »was für ’n Eindruck machte das Paar denn? Und die ganze Sache?«
Marning war es nicht angenehm, von diesem Mittag zu sprechen.
»Ich war der Gast des alten Herrn, der zu meinen Verwandten vieljährige, nahe Beziehungen hat; sie empfahlen mich sehr warm an ihn. Er war mehrere Monate zu leidend, mich einzuladen. Dann kam die Verlobung und die rasche Heirat – das war auch keine Zeit, in der man Gäste bittet. Kaum aber war das Ehepaar von der Hochzeitsreise zurück, da lud der Geheimrat mich am ersten Sonntag zu Tisch. Und weil der alte Herr und das junge Paar zusammen einen Hausstand führen, war das Essen gemeinschaftlich.«
Er machte eine ganz kurze Pause und fuhr dann in einem kühleren Ton fort: »Die überragende Persönlichkeit des Geheimrats nahm so völlig all mein Interesse in Anspruch, daß ich mit den jungen Herrschaften mich nicht eingehend genug unterhalten habe, um irgend ein Urteil abgeben zu können.«
»Ich hab’ immer das Gefühl, daß Sie zu schroff über dieses Paar denken,« meinte Likowski.
»Es geht mich so wenig an, daß ich gar nichts darüber denke,« sagte er kalt.
»Fabelhaft der alte Herr! Ist es wahr, daß er den Gebrauch der linken Hand wieder erlangt hat?«
»Ja. Nur das linke Bein ist noch sehr lahm. Aber sein Geist, seine Stimmung ist von einer Frische ...« erzählte Marning.
»Die Freude! Das Glück! Er soll seine Schwiegertochter vergöttern!«
»Ach, Likowski, Sie haben immer ’n Faible für das Mädchen gehabt,« neckte Agathe.
»Meine teuerste Freundin,« sprach er voll Haltung, »so ’n rauher Kriegsmann ich auch bin: für Frauenwürde und Tugend hab’ ich das Gefühl nich verloren. Und wenn’s, wie ichdringlichhoffe, demnächst endlich losgeht, sag’ ich nich nur: mit Gott für König und Vaterland, sondern auch: und zum Schutz der deutschen Frau.«
»Oh!« rief Fräulein von Gerwald, »wie herrlich empfunden! ...«
»Ich bin rasend gespannt auf Wynfried Lohmann,« sagte Agathe laut vor sich hin träumend. »Vor sechs Jahren hab’ ich ihn mal erlebt – sein Vater gab das erste große Diner nach dem Trauerjahr für die Frau – Wynfried war gerade zum Besuch – ich hatte ihn neben mir bei Tisch – Gott, wir waren beide noch so jung – die Jüngsten in der ganzen Gesellschaft – wir verstanden uns himmlisch. – Er war schön wie ’n junger Gott damals – hoch, schlank, blond – und so viel Verständnis für die Frau – ach, es war ein Abend ...«
Und in ihrer Stimme klang irgend etwas Schwüles mit – etwas Sehnsuchtsvolles. – In ihre Augen kamein feuchter Glanz – sie verlor sich in träumerische Gedanken.
»Auf diese Weise kommen wir mit unserer Festordnung nicht weiter,« erlaubte Marning sich zu sagen.
Agathe stand auf, reckte sich lässig – die ganze üppige Gestalt schien sich in wohligem Behagen zu dehnen ... Freilich trat dabei auch hervor, daß der Oberkörper eigentlich ein wenig zu groß sei ...
»Ach was,« sagte sie, »wir überlassen es Fräulein von Gerwald. Sie machen das – nicht wahr?«
»Aber sehr gerne!«
»Halten Sie nur fest: Herr Lohmann führt mich – alles andere ist weiter keine Etikettenfrage, alle Gäste kennen sich und passen zueinander.«
Die junge Frau Lohmann war im Augenblick ihrem Gedächtnis völlig entglitten.
»Ich ziehe mich zurück, meine Herren, um frisch zu sein zu dem Zauberfest. Tun Sie desgleichen – Sie wissen ja – das grüne Fremdenzimmer ... Um fünf Uhr Tee, allmähliche Anfahrt der Gäste – Begeisterung über die schöne Aussicht – Promenaden – Gruppenbildungen. Halb acht Diner. Nachher Mondscheinwasserfahrt. – ›Nur für Natur‹ ...« schloß sie, falsch singend und sich ein wenig im Walzertakt wiegend.
Likowski suchte das grüne Fremdenzimmer auf, denn er wußte: da stand auch ein Kistchen mit den schweren Importen, die die schöne Hausfrau in ihrer Gegenwart nicht geraucht haben mochte.
Fräulein von Gerwald, im soliden hell- und dunkelgestreiften grauen Seidenkleid, auf dessen undurchdringlich unterfüttertem Spitzeneinsatz sie eine Bernsteinbrosche trug, zog sich mit ihrem Material in einen kleinen Raum neben dem Eßsaal zurück. Durch die offene Tür sah siemanchmal sinnend zu, wie die Blausilbernen und zwei Mädchen, in hellen, knisternden Kattunkleidern, mit Tüllmützchen auf dem Kopf, die Tafel deckten. Und dann wieder paarte sie mit emsiger Feder Männlein und Weiblein zur Tischgenossenschaft. Der jungen Frau, geborenen Hildebrandt, gab sie den Freiherrn Stephan von Marning. Das kam ihr sehr angebracht vor. Vielleicht waren Likowski und Marning ja die einzigen Herren, die die junge Frau kannte oder genauer kannte. Es mußte für die arme kleine Person, der Fräulein von Gerwald vorweg rasendes Lampenfieber und heimliche gesellschaftliche Ungewandtheit zutraute, doch eine Erleichterung sein, sich auf einen Bekannten stützen zu können. Und Likowski – den teilte sie sich selbst zu. – Welch ein Mann! Einer von den wenigen wirklich noch edeldenkenden Männern ... Wie er mit blitzenden Augen von Frauenwürde und Tugend sprach! ... »Tugend« – das war für Fräulein von Gerwald: wenn man nie das Mindeste mit einem Mann zu tun gehabt hat. Sie durfte von sich sagen, daß sie eine Überfülle von Tugend besaß ... Und Likowski wußte das zu schätzen! Er war auch in finanzieller Hinsicht nicht gebunden. – Ach, man konnte nicht wissen. – Sie wollte ihm bei Tisch noch innig für seine ritterlichen Worte danken ...
Stephan Marning aber mochte sich nicht oben im Fremdenzimmer von Likowski einräuchern lassen. Er ging in den Garten. Der war stilisiert und ganz auf Blumenzucht und dekorative Wirkungen angelegt. Bänke und Sitzgelegenheiten waren der Anlage reichlich eingeordnet. An diesen Garten, der eine Fläche auf der Uferhöhe vor dem Schloß einnahm, grenzte eine schräg zum Wasser hinuntersteigende Baumpflanzung – eine Art Wäldchen, von Serpentinen- und Treppenwegen durchzogen. Untenwar ein geräumiges Bootshaus in das Wasser des Wyks hineingebaut. Da lagen ein Motorboot und ein großes Ruderboot. Zwei Leute hantierten darin herum und hängten Lampions an Drähte, die kunstreich vom Heck zum Bug und rund um die Schiffsränder gespannt waren.