Sie wußte so wenig vom Wesen des Mannes, daß sie keinen Begriff davon hatte, wie der erste und alleinige Besitz eines schönen jungen Weibes auch für einen nicht Liebenden voll Reiz sein kann.
Sie würde sich nicht im mindesten gewundert haben, wenn Wynfried als ihr anspruchsloser Freund neben ihr dahingelebt hätte, ohne jemals ihre Schlafzimmertür zu öffnen.
Sie ertrug die letzte, geheimste Gemeinsamkeit der Ehe, das Anrecht des Mannes an ihren körperlichen Besitz mit einer tapferen Selbstverständlichkeit, die ihr geadelt wurde durch den Gedanken an alles, was sie in diese Ehe hineingezwungen.
Aber schon nach einigen Wochen fing sie an, das, was ihr ein peinliches Rätsel gewesen war, als tiefe Weisheit der Natur anzustaunen.
Klara wußte: sie würde im Frühling Mutter werden.
Und nun dachte sie immer und immer: dann komme doch noch die große Liebe.
In den Wundern der Mutterschaft mußte sie ihr erblühen, für den Vater ihres Kindes.
Sie bemühte sich, wie sie hier saß und voll Andacht an die Zukunft dachte und an all das Glück, das dann vielleicht über sie käme, immer dringlicher, sich ihres Mannes angenehme Eigenschaften zu vergegenwärtigen.
Er war ritterlich. Das erleichterte alles.
Klara hatte wohl eine sorgenvolle Ahnung davon, daß ihre Gespräche nicht so eigentlich seine Interessen trafen.
Von seinem früheren Leben erzählte er sehr wenig. Höchstens einmal, wenn Klara davon sprach, wie herrlich es in Tirol gewesen sei, wohin sie ihre Hochzeitsreise gemacht hatten, und wie schön es werden würde, wenn sie nach und nach mehr von der Welt kennen lerne. Denn Vater sagte: er bestehe darauf, daß die Kinder jedes Jahr eine große Reise machen sollten. Dann beschrieb Wynfried Paris oder London oder die Plätze, wo er Wintersport getrieben, und den Nil, auf dem er mit »Freunden« eine mehrwöchentliche Reise in einer Dahabije gemacht habe. Aber von den »Freunden« sprach er nicht genauer. Und wenn Klara einmal fragte, so lehnte er mit einem Lächeln ab und sagte: in sein jetziges Leben paßten die nicht mehr. Und der bittere Zug erschien in seinem Mundwinkel, der in ihr dies etwas kindliche und etwas törichte rührende Mitleid auslöste, das unerfahrene Frauen haben können, wenn sie sich denken: ein Mann leidet, weil ein Weib ihn verriet.
Ein herdenmäßiges Gemeinsamkeitsgefühl regte sich dann ziemlich stark, wenn auch unbewußt in ihr: der Hang des Weibes, zu trösten und das gut zu machen, was eine Geschlechtsgenossin verbrach.
Klara war klug, war vielleicht bestimmt, sich zu einembedeutenden Menschen zu entwickeln. Aber ihre Phantasie war nicht genährt durch Wissen vom wirklichen Kampf zwischen Mann und Weib. Und von den Dunkelheiten auf diesem Gebiet wußte sie gar nichts.
So wirkten diese Schleier, die er um sein Vorleben zu hüllen wußte, nur interessant, und es war, als sehe man unter ihnen undeutlich Gluten schimmern und wilde Szenen von Zorn und Klage.
Das gab seiner Person einen Schimmer von Poesie und Romantik.
Sehr gefiel ihr vom ersten Augenblick an seine Haltung in der Hauptsache. – Die »Hauptsache« war für Klara ja nicht ihre Ehe und seine Stellung zu ihr selbst, sondern seine Beziehung zum Werk.
Sie war dabei gewesen, wie Wynfried mit dem Generaldirektor Thürauf zum erstenmal über künftige Tätigkeit sprach. Klara hatte einen fast etwas furchtsamen Respekt vor Thürauf, und sie war recht unruhig gewesen, wie diese Aussprache verlaufen werde. Man konnte dem schlanken, noch merkwürdig jugendlich wirkenden Mann mit den immer beherrschten Zügen und den klaren, scharf blickenden Augen eigentlich nie anmerken, in was für einer Stimmung er war. Der Geheimrat sagte von ihm, sein Generaldirektor sei der objektivste Mensch, den er kenne. – Nun, kaltes Blut und fester Blick war wohl für seine Aufgaben nötig. Was gehörte dazu, solchem Mann zu sagen: »Ich werde fortan mit dir arbeiten – als künftiger Besitzer – als Teilhaber.« Aber Wynfried hatte den Geschmack, das nicht zu sagen.
Er streckte dem Mitarbeiter seines Vaters die Hand entgegen und sagte, mit mehr Lebhaftigkeit als sonst: »Ich bitte Sie, mir zu helfen. Es wird viel kosten, bis ich mich eingearbeitet habe. Ohne Sie, Ihren Rat, Ihre Offenheit,Ihre Warnungen kann ich’s nie! Und vor allen Dingen: stehen Sie mir bei, daß ich mir keine Blößen gebe – vor den Abteilungsvorständen. Sie wissen wohl, das kann man auf zweierlei Art – nicht nur durch Hineinsprechen, was man denn vielleicht nicht recht zu begründen versteht – auch durch Zurückhaltung kann man’s, die schon von fern nach Unsicherheit aussieht.«
Soweit Klara sich schon traute, Männer wie den Generaldirektor zu beurteilen, schien ihr, daß ihm das wohlgefallen habe.
Jedenfalls war das Verhältnis das beste, und da die ersten Monate doch die schwersten waren, durfte man hoffen, es bleibe gut.
Natürlich waren Wynfrieds Stimmungen sehr ungleich.
Von seinen Knabentagen an hatte niemand und nichts ihn zur Regelmäßigkeit gezwungen. Er hatte auch nicht die gesunde Schulung der Militärzeit durchgemacht. Um irgend einer Kleinigkeit willen war er davon freigekommen, als Einjähriger zu dienen. Das Wort »Pflicht« klang nur ganz von fern an seine Ohren – wie es so viele Worte tun, die doch Unentrinnbarkeiten benennen, aber mit denen man sich erst in unbestimmter Zukunft näher zu befassen hat.
Es gab Tage, wo er es einfach nicht über sich gewann, ins Büro zu gehen, sich auf dem Hüttenwerk auch nur zu zeigen.
Und da Klara nicht in die unleidliche Rolle der schulmeisternden und antreibenden Frau fallen wollte, waren ihr solche Tage schwer. Dann brütete er vor sich hin. Zuweilen ritt er stundenlang und kam erschöpft heim. Er war unfreundlich, und alles schien ihn zu langweilen.
Ihr gutes Glück hatte Klara geleitet, daß sie ihre Sorgedann verbarg und mit keiner Frage, keiner Bemerkung zeigte, wie bekümmerlich oder wie auffallend sie sein Verhalten finde. Sie blieb freundlich und schien nichts Besonderes zu bemerken.
»Verzeih,« sagte er das eine und andere Mal dann von selbst, »ich bin heute unleidlich ...«
Nach solchen Tagen voll Unruhe und Verstimmung kam meist ein Anfall von Eifer – von erhöhter Liebenswürdigkeit.
Dann erzählte er bei Tisch, offensichtlich seiner Frau zu gefallen, von den Ereignissen drüben auf dem Werk: er hatte den ganzen Morgen in der Einkaufsabteilung gearbeitet. Gerade traf der Dampfer »Severin« wieder aus Spanien ein, hatte aus Katalonien eine Ladung Roteisenstein geholt – was für ’n humorvoller, frischer Mann der Kap’tän Fehrs. – Oder: ein neuer Dampfer sei seit kurzem bestellt, er lag schon auf den Hellingen, und sobald die Lübecker Schiffswerft ihn von Stapel laufen lassen konnte, mußte Klara ihn taufen – »Klara Lohmann« sollte er heißen und nicht anders. Ein andermal: er hatte an der Beratung teilgenommen, zu welcher sich der Generaldirektor, der Chemiker Doktor Thomas und der Ingenieur Dröscher um den Stuhl des alten Herrn versammelt gehabt. Es handelte sich darum, daß aus der Schlacke die Kalkteile herausgeschieden werden sollten, um zur Zementfabrikation verwendet zu werden. Und er, Wynfried, hatte auch seine Meinung sagen sollen, denn er habe doch als Volontär auf dem Hüttenwerk Häphestos im Rheinland gearbeitet, wo man bekanntlich den Kalkgehalt der Schlacke so verwerte. Er berichtete ganz ehrlich, daß er seinem Vater und den Herren offen habe eingestehen müssen, daß er während seiner Zeit auf Häphestos nicht das allergeringste Interesse für diese Dinge gehabt habe.
Da war Klara ganz erschreckt gewesen.
»Was sagte Vater?« fragte sie rasch. »Es war ihm sicher peinlich, daß du solche Antwort geben mußtest. Was hast du denn getan damals auf Häphestos?«
»Vater schwieg,« antwortete er nur.
»Bist du auf Häphestos nicht nach und nach in allen Abteilungen beschäftigt worden?« fragte sie und sah ihn in lebhaftem Interesse an.
»Ich – nein – ich mußte damals oft in Paris sein – ein – Freund dort bedurfte meiner.«
Dann, in plötzlichem Entschluß, als sichere er ihren fragenden Blicken etwas zu, sprach er: »Alles läßt sich nachholen – Klara – du sollst noch Respekt vor mir bekommen.«
Und nach diesem Gespräch schien er eine Aufwallung von frischer Lebensfreude zu haben – war so liebevoll mit seiner Frau. Klara wurde von einem Gefühl der Beklommenheit ganz verwirrt – ja – so sah es aus, als fange er an, sie sehr, von ganzem Herzen zu lieben. Als sei sie ihm sein Halt, sein Stolz. Da spürte sie noch etwas ganz anderes als jenen Rausch, den sie nicht verstand und der ein Wunder war und ein Rätsel und vielleicht sehr abscheulich oder vielleicht ein großer Naturzweck – –
Ob sie wohl je dahin kommen würde, das wechselnde Wesen ihres Mannes zu verstehen? Und die tiefsten Gründe seiner Unausgeglichenheit aufzuspüren?
Unbegreiflich war ihr auch gewesen, in welcher Art er es aufnahm, daß ihre Zweisamkeit sich im Frühling zur Familie erweitern würde.
»Schon Vater werden? – Wie alt kommt man sich vor. – Ja, das ist dann wieder eine neue Lebensepoche – man wird immer mehr Philister ...«
Sie sah ihn an – starr – staunend – vor peinlicher Überraschung stumm. Doch ehe es dazu kam, daß diese ihre Überraschung sich in Schmerz auflösen konnte, erfaßte Wynfried schon ihre beiden Hände. Küßte ihr die Rechte – küßte ihr die Linke und sagte: »Welche erhebende Aussicht ...« Und ließ sie allein – als treibe ihn Verlegenheit fort.
Von da an kamen immer häufiger die Augenblicke, wo Klara sich fragen mußte: liebt er mich doch? Es machte sie glücklich und ängstlich zugleich – –
Und sie steigerte sich in die Hoffnung hinein: ich werde ihn auch lieben – einmal – dann ... ja dann ...
Es wurde sehr stark an die Tür geklopft. Das machte ihrem Nachsinnen ein Ende. Sie wußte, wer kam und wer so klopfen ließ. Sonst war ihr erster Weg jeden Morgen hinauf zu ihrem Schwiegervater, aber er hatte gestern gesagt: »Du sollst dir deinen Glückwunsch von mir nicht holen. Ich bring’ ihn dir. So viel Höflichkeit steckt doch noch in mir altem brüchigen Mann.«
Er machte sonst die Fahrt mit dem Lift, die ihm ärgerlich war, nur einmal am Tage, wenn er zum Essen herunterkam.
Nun schob Leupold den Fahrstuhl herein. Dieses Gefährt kleidete gewissermaßen den alten Herrn nicht so gut – im mächtigen Ledersessel thronte er. Hier sah man so deutlich, daß ein Gelähmter darin saß. Vielleicht hatte er selbst ein dunkles Gefühl davon, denn er konnte sich mit seinem Fahrstuhl nicht vertragen. Voll Ungeduld entdeckte er täglich neue Ärgernisse an seiner Konstruktion und bestritt, daß sie von der möglichsten Vollkommenheit sei.
Klara eilte ihm entgegen und umarmte ihn. Er war sehr in Anspruch genommen von dem Geschenk, das erbrachte. Leupold nahm es dem blonden Georg ab, der in militärischer Haltung dem Zuge folgte und einen Damenpelz über dem Arm trug. Eine förmliche Prozession, und die junge Frau lachte. Erst als der zweite Diener sich zurückgezogen hatte, hob der alte Herr ihr den Pelz entgegen, den man ihm auf die Knie gebreitet. Eine Mütze war auch dabei. –
»Ja, lach mich nur aus. Auf einmal soll man und will man galant sein. Hab’ seit vielen, vielen Jahren weder Ursache noch Gelegenheit gehabt, für junge Damen was einzukaufen.«
»O wie schön. – Prachtvoll, Vater – wie danke ich dir –« Und sie dachte: »Was soll ich nur damit?!«
»Hab’ Wynfried um Rat gefragt. Der versteht ja von Damentoiletten mehr als vorderhand vom Eisenguß –«
»Wynfried?« fragte sie.
Ihre erstaunte Frage war ihm unangenehm – er begriff: das war eine überflüssige Bemerkung gewesen ...
»Na – das kam mir vielleicht auch nur so vor – er war sehr erpicht darauf, daß ich dir was Statiöses schenke – Klara ist zu uninteressant angezogen ... sagte er.«
»Ich?« fragte sie wieder dazwischen; »kann man denn ›interessante‹ Kleider haben?«
»Muß man ja woll. Kind, ich meine, du bist immer gerade recht gekleidet,« sagte er mit Nachdruck. »Aber für Wynfrieds Geschmack muß es Nerz und Hermelin sein – sieh dir das mal an – Leupold, laß mich da – hol mich in einer Stunde wieder – du weißt, der Kommerzienrat Kreyser hat sich angemeldet. – Na, mein Kind, was staunst du denn den Pelz an –«
»Vater, mir ahnt, das ist was sehr Kostbares.«
»Ziemlich. Aber sieh mal: wenn Wynfried dich doch gern in solchem Dings sehen mag ...«
Klara dachte an ihre alte dicke Winterjacke und die pastellblaue Wollmütze.
Der bittende Ton des alten Herrn rührte sie. Mit Vorsicht breitete sie den Pelz auf den graublauen Sofa hin und sprach: »Wir müssen ihm schon den Gefallen tun – denn, nicht wahr, Vater? er tut sein Bestes, vor dir nach und nach zu bestehen.«
»Vor mir? Kind, vor dir! Du bist es und der Respekt vor dir, der ihn aufweckt! Man kann nicht alles auf einmal verlangen. Das Gleichmaß fehlt noch – noch die Ausdauer – aber es kommt! – Alle Begabungen sind da – Thürauf ist oft ganz glücklich. – Du kannst dir woll denken, daß Thürauf und ich unter vier Augen keine schönen Redensarten über wichtige Dinge machen, sondern klipp und klar Wahrheiten sagen. Ja, Klara – das bist allein du! Meine Hoffnungen erfüllen sich. Ich kann kein Dankeswort sagen ... Du weißt von selbst, was ich fühle ...«
Er sah sich um. Immer sprach dieser Raum zu ihm. Stimmen aus vergangenen, schweren und doch erhebend schönen Zeiten füllten ihn. Von der Wand sah das lieblich-ernste Angesicht der heiligen Toten ...
»Nicht nur dich hast du ins Haus gebracht – mit all dem Segen, der du uns bist – nein, auch diesen Tempel des Gedächtnisses – –«
Er sah nach der Uhr, wo in melancholischer Lebendigkeit die kleine gelbe Pendelscheibe zwischen den Alabastersäulen hin und her und her und hin ging – er sah den fiedelnden Amor an – –
»Klara,« sagte er, »wir machen ja nicht viel Worte zusammen, du und ich verstehen uns so. Aber heut ist so ’n Tag – dein erster Geburtstag als Frau Klara Lohmann – da muß ich dir doch mal aussprechen, wie glückliches mich macht, daß du den Namen trägst, den ich deiner Mutter nicht geben durfte. Und wie es mich mit der tiefsten Ruhe erfüllt, daß du meinem Einzigen hilfst, ein werktätiger Mann zu werden. Was er sonst ist oder wird, als dein Gatte, wie er dir deine Hingabe, deine Liebe lohnt – das macht zwischen euch zweien aus. Aber, gottlob – mir scheint, du bist glücklich! Anders zerfräß’ es mir auch das Herz. – Ich kann in Frieden weggehen – du weißt, wenn der Dunkle, der neben mir wartet, nochmal mit der Sense ausholt ...«
Klara bückte sich zu dem Sitzenden und umarmte ihn mit Leidenschaft.
»Nicht so – o nein, Vater – du bleibst noch Jahrzehnte bei uns –«
Er lächelte resigniert – aber doch in jener Resignation, die Starke sich selbst vorheucheln. Starke, die sich nicht vorstellen können, wie ihr Werk ohne sie sich ausnehmen wird.
»Um was ich dich damals bat, als du seine Braut geworden warst: hilf ihm ein Mann der Arbeit zu werden, denn seine Mutter hat ihn zu einem Luxusmenschen erzogen, und er kam nachher in üble Hände. – Ja, das hast du erfüllt. – Er wird einmal mein Werk als ein Berufener weiterführen. Das sehe ich schon. – Wie herrlich, diese Beruhigung. – Heut kommt Kreyser – ein alter Freund. – Weißt du, was er will? Mit mir die Umwandlung seiner Betriebe in eine Aktiengesellschaft beraten. – Wahrscheinlich werden wir uns so stark beteiligen, daß wir die Dinge da in die Hand bekommen. – Die Kreyserschen Fabriken sind schon seit vielen Jahren Abnehmer unseres Roheisens. – Kreyser hat kein Interesse mehr an seinem Werk. – Hatte einst auch gedacht: er arbeitet für Söhne. Und nun? Einer im Duell gefallen– üble Sache – man spricht besser nicht davon. Der andere, toll vor Lebensgier, hat sich irgendwo Tuberkeln geholt – fristet sich im Süden hin und soll nach Australien, was ja als das Heilkräftigste gilt. – Früher sagte Kreyser woll mal: Na, Sie haben ja auch Not mit dem Ihren! Nun wird er sehen: keine Not mehr – wachsende Zuversicht. – Höre, Klara, es ist dir doch angenehm? Ich muß ihn bitten, daß er zu Tisch bleibt. – Ihr habt so wie so Gäste?«
»Wynfried hat Agathe Hegemeister und zwei Herren von drüben zum Frühstück eingeladen – Likowski und seinen Oberleutnant,« sagte Klara zerstreut.
»Ist die pummelige Baronin dir wirklich so flink ’ne Busenfreundin geworden? Daß Wynfried gerade Likowski und Marning so heranzieht, freut mich. Beide haben meine starke Sympathie.«
»Ach – Agathe? – Sie kommt sehr oft – sie ist so wenig mit ihrem Leben zufrieden – ich glaube, sie hat sich nur an mich gehängt, um irgend etwas Neues zu haben.«
»Kind, du sprichst mit mir. Wo sind aber deine Gedanken? Anderswo!«
Klara lächelte.
»Es ist unheimlich, wie du mich kennst.«
»Wo also waren sie? Ich nehme an, daß du keine Heimlichkeiten vor mir hast,« sagte er scherzhaft.
»Doch! Ich habe sogar Wynfried gebeten, sie mir zu lassen – bis heute ...«
Sie kniete neben ihm nieder – wie das oft geschah – dem Gelähmten schien sie dann am nächsten, konnte am besten zu ihm emporsehen – oben in seinem Zimmer hatte sie ihr niedriges Stühlchen neben seinem Thron.
Sie faltete ihre Hände um seine Rechte. Die schlanken,weißen Finger preßten förmlich diese große Männerhand ...
»Vater,« sagte sie leise, »ich glaube, dein Haus wird weiterblühen. Und du mußt durchaus leben, damit du siehst, daß ich dein Enkelkind in deinem Sinne erziehe.«
»Klara? ...«
»Ja,« sprach sie, »im April.«
Sie hatte ihre Blicke zu ihm emporgewandt und schaute voll in das große Auge ...
Darin blitzte ein Strahl heißer Freude auf ... Und gleich wurden sie von feuchtem Glanz verschleiert ... Klara sah zum erstenmal eine Träne in diesen gebieterischen Augen. –
Sie schwiegen vollkommen. Es war eine feierliche Andacht zwischen ihnen, die keiner Worte bedurfte. Vergangenes und Zukünftiges zog durch die Gedanken des alten Mannes. In dieser ernsten, holden jungen Frau wurde ihm beides zur Gegenwart. Dafür dankte sein Herz ihr inbrünstig. Und er begriff es vollends, daß die Liebe zu ihr das Glück seines Alters war. –
Um halb eins fanden sich die Gäste zum festlichen Frühstück ein. Die Baronin Hegemeister kam ohne ihren Schatten. Gerwaldchen sei in Berlin, da feiere ihre alte Mutter in ihrer sogenannten Gartenwohnung drei Treppen hoch ihren Fünfundsiebenzigsten – ach, in so mageren Lebensumständen – Gerwaldchen habe mit einer Träne davon gesprochen, und so was könne man doch nicht mitansehen. – Und da habe sie ihr das Reisegeld geschenkt und sonst noch dies und das mitgegeben, so daß die alte Dame ein kleines Weilchen in Wohlleben sich guttun könne.
Das erzählte Agathe verschämt, weil sie halb und halb dachte, ihre Gutmütigkeit werde ausgenutzt, und sie doch nun einmal nicht anders konnte. Nein sagen konnte sienicht. Durchaus nicht. Am wenigsten auf Bitten, die man mehr erriet, als geradezu hörte. Und diese widerstandsunfähige Gutherzigkeit, so schuldbewußt gebeichtet, war sehr liebenswürdig.
Auch die Doktorin Lamprecht fehlte. Sie hatte einen furchtbaren Husten. Und Likowski berichtete, daß die alte Dame vor Ärger ganz krank sei, weil sie hier heute fehlen müsse, denn offenbar habe sie in irgend welchen ganz unlogischen Gedanken die Ansicht, sie gehöre verdienstvoll hierher.
Der alte Herr brachte den Kommerzienrat Kreyser mit und machte ihn bekannt. Da dieser Name einen hallenden Klang hatte für alle, die ungefähr von den »Kapitänen der Industrie« etwas wußten, nahm man die Vorstellung mit einem großen Respekt auf. Das bartlose, große, fleischige Gesicht des stämmigen Mannes zeigte eine Freundlichkeit, die nur wie ein allzu durchsichtiger Schleier über der schweren Stimmung lag, die ihn eigentlich beherrschte. Er saß neben der jungen Hausfrau, deren nächste Pflicht es nun war, sich diesem sehr wichtigen Geschäftsfreund des Werkes und persönlichen Freund ihres Schwiegervaters zu widmen. An ihrer anderen Seite hatte sie den alten Herrn, der in seinem Fahrstuhl stets, als an dem für ihn bequemsten Platz, zu Häupten des Tisches präsidierte.
Auf diese Weise war Klara fast wie von dem jugendlichen Teil des kleinen Kreises geschieden. Denn ihr Gegenüber, der Hauptmann von Likowski, gab sich immer väterlich und war heute in erbittertem und gespanntem Zustand. Er politisierte mit den beiden alten Herren und verschwor sich: »Ich politisiere nie! Ein Soldat hat zu schweigen, bereit zu sein und dreinzuschlagen, wenn’s befohlen wird. Aber man hat ja noch seinen gesunden Menschenverstand. Und der sagt mir denn doch: wirlassen uns ja rein alles gefallen ... Aber ich hoffe auf übernächstes Jahr ... Sie sollen mal sehen – das ist das Schicksalsjahr. – Dann geht’s los! – Nun, wir sind fertig! – Esmußmal kommen ...«
Klara mußte sich Mühe geben, zuzuhören. – In ihr war eine stille und doch eine so starke Freude gewesen, als wenn diese kleine Feier ihres Geburtstags ein Erlebnis werden würde. – So war ihr manchmal zumut, wenn Gäste kommen sollten. – Dieselben Gäste – aber immer kam eine Art von Trauer oder Schwere über sie, gleich einer grenzenlosen Enttäuschung.
Die blonde Baronin war desto munterer, und Klara sah, wie leicht und lebhaft sich ihr Mann in den neckischen Ton fand. Agathe konnte auf eine so durchsichtige und naive Weise klagen, um sich die Vorteile eines faustdicken Kompliments oder eines Versprechens zu gemeinsamen Vergnügungsfahrten zu erringen. Sie nahm es aber nicht im mindesten übel, wenn man sie mit ihrer Methode neckte. Klara glaubte auch zu beobachten, daß Stephan von Marning wenig sprach. – Sie wußte längst: Agathe hoffte auf ihn. Man hätte blind sein müssen, das nicht zu erkennen. Und sie fragte sich wieder: wird er sich herbeilassen ...?
Denn dies war das Merkwürdige an dem Fall, den alle Menschen dieses geselligen Kreises beobachteten: niemand sagte: »Welches Glück für den unbemittelten jungen Offizier,« sondern jeder fragte: »Ob er sie wohl nimmt?«
»Nein,« dachte Klara, »nein – das ist nicht die Frau, die ich ihm wünsche –«
Ihre Vorstellungskraft versagte, wenn sie sich diese beiden als Paar vorstellte.
Wynfried hatte einmal gesagt: ein schönes Paar – er groß, schlank, dunkel – sie so blond, üppig, ganz weiche Weiblichkeit und so entzückend gepflegt –
Da hatte Klara betroffen geschwiegen. Sah denn Wynfried nicht, daß das doch einfach unmöglich war ...
Der Kommerzienrat Kreyser war lange nicht hier gewesen; seither hatte sich der Betrieb um einen Hochofen vermehrt, auch war die Fabrikation von Ammoniak und Benzol als Nebenprodukten aufgenommen worden, und Kreyser sprach den Wunsch aus, nachher einen Rundgang machen zu dürfen. Marning hörte es und erbat die Erlaubnis, sich anzuschließen. Sogleich sagte Agathe, daß sie darauf seit langem erpicht sei, einmal das Werk sehen zu dürfen, sie habe es nur nicht sagen mögen. Also gleich nach dem Kaffee und der Zigarre. – Zum Genuß dieser ließen die beiden Damen die Herren eine halbe Stunde allein.
Agathe war sehr damit beschäftigt, ob ihr Haar auch noch ordentlich sitze und wie Klara die dunkelgrüne Toilette finde. Der Seidenstoff sei ihr ein wenig, ein Spürchen zu glänzend ausgefallen; für sie seien stumpfe Stoffe kleidsamer. Sie stand vor dem Spiegel und prüfte ihr Bild und war beinahe gerührt über all die Schönheit, der der eine immer noch widerstand ...
Plötzlich wallte ein schrecklicher Jammer in ihr auf, und sie warf sich Klara an den Hals – mit beiden runden Armen umschlang sie sie und preßte sie heftig an sich.
»Klara,« sagte sie, »liebste, beste Klara – schenken Sie mir das Du – laß uns Freundinnen sein – Du? nicht wahr. Du?!«
Klara war betroffen. Es lag nicht in ihrer Natur, sich so schnell an einen Menschen nahe anzuschließen. Und wenn ihr Agathe auch nicht unsympathisch war – wie konnte dies gutherzige Naturkind es irgend einem Menschen sein? – so schien ihr doch, als gebe die Gewährung des »Du« einem anderen Wesen ein überraschendes, ja geradezuunbequemes Anrecht auf ihre Nähe. Und ihr war, als möge sie lieber allein bleiben.
Eine Ablehnung schien unmöglich. Agathe erwartete eine solche auch keinen Augenblick, küßte Klara heftig ab und sagte: »Ich muß dir gleich was anvertrauen! Ichmuß. Sonst ersticke ich daran. Denke dir: ich liebe ihn! Rasend. Zum Sterben. Ich werde ... ja – ich mag nicht mehr leben – ich will nicht mehr leben, wenn er mich nicht liebt.«
Sie begann zu weinen.
»Ihn?« fragte Klara in dem schwachen Versuch, zu tun, als wisse sie nicht ...
»Gott – du fragst?! Wen denn als Stephan Marning – kann man anders? – Und ich warte und warte – im Sommer schien es – ich hoffte – damals im August. – Dann kam gleich das Manöver – dann hatte er vier Wochen Urlaub und war bei seinen Verwandten – damals dachte ich: er will erst seine Sippe fragen, fand’s natürlich – aber die haben ihm ganz, ganz gewiß nicht abgeraten – ich weiß es durch die Gerwald, die da Beziehungen hat – sein Onkel wünscht ja bloß, daß er reich heiratet. – Dann kam er wieder – ist seitdem noch nie allein auf Lammen gewesen – bringt immer Likowski mit – ach nein – umgekehrt: läßt sich von ihm mitnehmen – als wolle er ausweichen und doch nicht brechen ... Klara – ichmußdie Wahrheit wissen! ... Zeige mir gleich deine Freundschaft. – Weihe unser Bündnis ein, durch eine Tat – sprich mit ihm – klopfe auf den Busch – nein, frage geradezu – sage ihm, daß ich Selbstmord begehe, wenn er nicht ...«
Ihr Schluchzen nahm ihr die Fähigkeit, auch nur noch ein Wort herauszubringen. Klara schob sie förmlich bis zur Chaiselongue, die quer am Fußende von ihrem Bettstand. Da sank die vor Unglück zum Tode Bereite schwer auf all die Kissen herab und weinte wie ein Kind – vor Liebesverlangen.
»Ich kann nicht leben ohne ihn,« jammerte sie.
Und dann wieder: »Wenn ich nur wüßte, warum? Bin ich nicht ganz hübsch – ich hab’ Geld – ich lieb’ ihn – so hat noch nie ein Weib geliebt – so liebt ihn keine wieder – nein – ich will sterben ...«
Klara sah den Riß, der zwischen dem Gefühl dieser Frau und ihrem Gebaren mitten hindurchging, sehr wohl. Dennoch ergriff sie alles auf das heftigste.
Sie schritt auf und ab. Sie war sehr blaß. Diese Szene war ihr ganz und gar zuwider, obgleich ein starkes Mitleid ihr Herz klopfen machte ...
Das war Liebe! Die große Liebe, die lieber sterben als entsagen will – – –
Es mußte berauschend, vernichtend, herrlich sein, das fühlen zu können – –
»Aber solche Liebe laut einer Freundin zuschreien – o Gott – nein – das könnte ich nicht,« dachte sie.
Ihr schien, als nähmen so laute Klagen einer Leidenschaft Würde und Größe.
Und es wurde von ihr verlangt, daß sie – sie! – unkeusch zum Manne – zudiesemManne, als Vermittlerin davon sprechen sollte? Unmöglicher Gedanke ...
»Nein,« sprach sie, »das kann ich nicht. Das tue ich nicht. In diese heiligsten Dinge von Mensch zu Mensch sich einmischen? Mit Worten an Geheimnisse rühren, die zu zart sind, als daß man sie laut ausgesprochen haben möchte – nein, das kann ich nicht! Verzeih mir. Aber ich denke: was hülfe es auch. Wenn er dich liebt, bedarf es der Vermittlung nicht, und er wird schon eines Tags sprechen; – wenn er dich nicht liebt, ist es eine Demütigungfür dich, daß ich sprach – – O nein! – Du mußt die Haltung finden, gefaßt abzuwarten.«
»Du hast gut von Haltung reden,« sagte Agathe und drückte sich ihr geballtes Taschentuch gegen die Augen, behauchte es und tupfte wieder, »wenn man einen solchen Mann hat – der sich so auf Frauen versteht – ja – du kannst lachen –«
Ihr Jammer ward stiller. Die Furcht, verweint auszusehen, besiegte ihn für den Augenblick.
»Aber du gibst mir recht oft Gelegenheit ...«
»Gern. Ich will es wohl bei Wynfried anregen, daß er sich immer den Freiherrn von Marning einlädt, wenn du kommst. Und du wirst gewiß oft kommen ...«
»Das ist doch etwas!« seufzte Agathe, und ihr weiches Herz, das der Freude so bedürftig war, hoffte aufs neue.
Wieder stand sie vor dem Spiegel. Da waren nun die Tränenspuren auf der zarten Haut und ließen sich mit allem Tupfen doch nicht so rasch verjagen. Aber es kam wie eine Eingebung über die blonde Frau. Mochte er es nur sehen, daß sie in Tränen und Gram verging ...
Nun hatte sie große Eile, wieder zu den Herren zu kommen, die gewiß schon im Salon seien.
Sie trat ein. – Sie fühlte auf der Stelle: alle Herren sahen sie an und sahen, daß sie geweint hatte.
Ihre schwimmenden blauen Augen schmachteten und bettelten zu dem Geliebten hinüber, und in ihrem Gesicht stand beinah lesbar der Ausdruck: »Ja – sieh mich nur an! Um dich leide ich! Um dich – Grausamer ...«
Und Klara sah es wohl: über das Angesicht des Mannes flog ein leiser, vielleicht nur von ihr erratener Ausdruck von Pein – ihr kam auch vor, als werde seine Haltung noch stolzer ... Wie wunderlich wohl ihr das tat ...
Man wollte nun hinüber zu dem Werk gehen. Esgab ein Durcheinander. Da war Leupold, der seinen Herrn wieder nach oben transportieren wollte. Und es hieß, Klara müsse den neuen Pelz tragen – der Spender solle sie noch darin bewundern. Agathe bestand darauf in ihrer plötzlichen, erregten Lebhaftigkeit und Lustigkeit.
Ihr Mann selbst gab Klara den Pelz um. – Wie schwer ihr das kostbare Stück auf den Schultern lag – als fiele eine Last auf sie. Und da war auch die Mütze: er setzte sie ihr sorgsam auf, mit einem erstaunlich geschickten Handgriff gerade die kleidsamste Art des Sitzes treffend. – Und es schien, daß Wynfried von ihrem Aussehen entzückt sei – er lächelte zufrieden – nein, mehr: zärtlich!
Und Klara wurde rot. Sie wußte nicht warum – sie hätte es nicht zu sagen vermocht, keinem Menschen und nicht sich selbst.
Nun stand sie da, kostbar angetan, auf dem braunen Haar das breite Barett von Nerzpelz, daran ein Büschel von Hermelinschwänzen schwarz und weiß kokett über dem linken Ohr befestigt war ... Zu ihrem schönen Gesicht mit den geraden, strengen Brauen über den sprechenden Augen gab das einen merkwürdigen Glanz von Pracht und Würde. Sie schien nicht etwa in eine elegante Modedame verwandelt, sondern sogleich in eine Fürstin.
Und ihr fiel wieder ihre schwarze Winterjacke ein und die pastellblaue Wollmütze ...
Der Geheimrat sah seine Schwiegertochter prüfend an. Er lächelte wohlgefällig. Aber er sagte doch: »Schön! Sehr prachtvoll! Wynfrieds Geschmack. Aber – Klara – weißt du noch – deine pastellblaue Wollmütze? Damit mocht’ ich dich auch gern leiden ...«
Blitzschnell traf sich ihr Blick mit dem Stephans – und entwich ihm wieder ...
Ja, die arme kleine Wollmütze ... Und Klara hatteeine Erinnerung – sah sich deutlich, sehr deutlich, wie sie eilig und heimlich ein weißes Paketchen tief in das Schubfach ihrer Kommode hineinstopfte ...
»Aber wir wollen doch gehen,« sagte sie matt. Sie fühlte sich plötzlich so freudlos und wünschte, neben dem alten Mann bleiben zu können – da war ja ihr Platz – der sicherste und friedvollste, den es auf der Welt für sie gab ...
»Ja, vorwärts!« ermahnte Likowski. »Mir ist es eine Erhebung – immer, wenn ich da mal ’rumgehen darf ... Der Gott, der Eisen wachsen ließ – der wollte keine Knechte ... Eisen verführt mich mehr als die köstlichen Brillanten, mit denen unsere teure Baronin uns heute die Augen verblenden möchte.«
»Ihre nicht!« lachte Agathe.
Man brach auf. Alle nahmen vom Geheimrat Abschied, der noch Sorge trug, daß an Thürauf telephoniert werde. Der Generaldirektor werde Wert darauf legen, Kreyser die Honneurs des Werkes zu machen.
Man schritt in munteren Gesprächen die Straße entlang, und schon kam ihnen auch der Generaldirektor entgegen. Von dieser Begegnung an waren die beiden Herren für die übrige Gesellschaft verloren. Sie vertieften sich in fachmännische Gespräche und gingen weit voran.
Ihnen folgte Agathe zwischen Wynfried und dem Freiherrn von Marning, den sie mit einer Frage gleich an ihre Seite zu nötigen gewußt hatte.
»Wir werden nicht für ernsthaft genommen,« sagte Agathe. »Und ich brenne doch vor Lernbegier.«
»Ich erkläre Ihnen das alles auf populäre Art,« versprach Wynfried. »Seien Sie sicher, all die chemischen Formeln und Zahlen, in denen die zwei reden, hätten Sie doch nicht verstanden.«
»Es will absolut nicht in meinen Kopf, daß Sie was von solchen schrecklich wissenschaftlichen Sachen verstehen.«
»Hallo! Das ist aber stark ...«
»Na ja – gottlob – ich hab’ immer das Gefühl ... wie soll ich das sagen – na – als gäben Sie ein Gastspiel, wenn Sie arbeiten ... Doch noch mal ein Mann, der Sinn und Zeit für uns armen Frauen hätte! ... Denk’ ich so ... Aber nein. Selbst Ihnen kommt es bei, und Sie sklaven sich ab ...«
»Glauben Sie es mir – ich entdecke da ganz neue Genüsse. Man ist manchmal geradezu gepackt – sehr ähnlich wie beim Sport. Und man hat ein frisches Gefühl dabei – kommt sich als fixer Kerl vor.«
»Ach so – Sie wissen doch, wie’s heißt: Ich spürte das kleine, dumme Vergnügen, was abzumachen, was fertig zu kriegen.«
»Genau! Ja, so ist einem manchmal zumut –« gab Wynfried eifrig zu.
»Ohne dies Pläsier am Bewältigen geschähe vieles nicht,« sagte Stephan Marning, und er dachte: »Das heißt doch aus der Arbeit nur ein Spiel der Kräfte machen, ohne Erkenntnis ihres sittlichen Wertes.«
Er fragte sich – nicht zum erstenmal – was für eine Art von Mann denn wohl Lohmann der Sohn sei ...
Klara ging mit dem Hauptmann von Likowski, ihrem alten Freunde, hinterdrein. Sie schwiegen. Die junge Frau hörte zu. Sie hatte immer eine leise Verwunderung, wenn sie ihren Mann mit Agathe zusammen sah. Wie anders war dann sein ganzes Wesen. Selbst der Klang seiner Stimme schien heller. Und seine Rede schien so leicht, so nur obenhin – er ließ sich necken und neckte wieder. – Vielleicht nahm er Agathe nicht ernst. – Das war die einzige Erklärung, die sie sich zu geben wußte ...
Es kam ihr mühsam vor, daß sie jetzt mit Menschen zusammen sein müsse. Eine grenzenlose Traurigkeit drückte sie nieder. Sie mußte sich zusammennehmen, um nicht zu weinen – sie – die nicht weinerlich veranlagt war.
Sie seufzte nicht, sie atmete nicht schwer – und dennoch ging von ihrem Schweigen etwas aus, das den warmherzigen, treugesinnten Mann an ihrer Seite ahnen ließ, mit ihrer Stimmung sei es nicht in Ordnung.
»Sie fühlen sich von all den Geburtstagsfreuden erschöpft, gnädige Frau?« fragte er.
Klara fuhr auf.
»Ich? Nein –«
Und sie wußte, daß sie sich aufzuraffen hatte.
Da waren sie nun am Tor, über dem mit großen schwarzen Buchstaben auf grauem Schilde stand: Eisenhütte Severin Lohmann.
Und mit Rädern und Fußstapfen waren von drinnen her Kohlenspuren gekommen. Der sandige Grund der Erde war schon viele Schritte vor dem Tor geströmt von dunklen Tönen. Das wirkte, als fließe die Düsterheit des Bodens einem entgegen. Einem schwärzlichen Estrich glich er drinnen, in den zahllose Tritte die Kohlenteilchen und den Niederschlag des Rauches fest eingetreten hatten. Und der Dunst von Teer und Gasen durchbeizte dichter und spürbarer die Luft, als man das Tor nun passierte.
»Aufgepaßt!« mahnte Wynfried, denn Agathe stolperte über einen Schienenstrang. Und sie fiel schwer gegen Marning, so daß er sie halten mußte.
Sie hob den blauen, schwimmenden Blick zu ihm empor.
»Ich binwirklichgestolpert,« sagte sie – so wie sie als Kind vielleicht gesagt hatte: »ich habe wirklich nicht gelogen,« wenn man sie bezweifelte.
Er mußte doch, entwaffnet, lächeln.
Sie gingen an allerlei kleinen Gebäuden vorbei, bogen um ein retortenartiges Bauwerk, aus dessen Poren Teer zu schwitzen schien – Likowski sagte wenigstens, es komme ihm so vor. – Und dann standen sie vor einer Riesenwand, die sich aus hundertundfünfzig hart aneinandergepreßten Öfen zusammensetzte. Hoch über ihr zogen sich schwarze, gewaltige Rohre hin, andere kamen quer von weitem herab – mächtige Verbindungen waren diese, in denen stumm und selbsttätig und rastlos die gepulverten und gewaschenen Kohlen heranglitten, in die Öfen hineinsanken, um da in rasender Hitze zu Koks gebrannt zu werden; und Wege waren sie, in denen das noch ungereinigte Gas, aus den Gluten kommend, seinen flüchtigen Weg nahm zu den geheimnisvollen Werkstätten hin, wo ihm in wunderbaren Destillationen, Kühlungen und Prozessen seine Bestandteile an Benzol und Ammoniak entzogen wurden.
Vor dieser Wand von Öfen streckte sich eine erhöhte eiserne Plattform hin. Auf sie hinaus schob sich gerade jetzt der Inhalt eines. Eine der schmalen Türen öffnete sich. In höllischer Majestät bewegte sich ruhevoll ein fast weißglühendes Stück Mauer heraus. Und eine Gespensterhand drängte es weiter und weiter vor, eine gewaltige, schwarze, eiserne Hand, steif im Gelenk nach oben eingeknickt. Männer, mit Schläuchen bewehrt, warteten und sahen der sich langsam vorwärtsbewegenden Glutmauer entgegen. Nun stand sie. Und das an eine Hand erinnernde Eisenstück, das sie gehoben hatte, zog sich gelassen in die Tiefe des Ofens zurück, der seine Tür wieder schloß. Zugleich zischten aus den Schläuchen Wasserstrahlen und begossen das Ungetüm von Form gewordenem Feuer. Weißer Dampf quoll auf, wurde rasch ein graues, dann ein schwarzes Gewölk. Was glühende Mauer gewesen, lief dunkel an, ward schwarz und fiel nach zwei Minutenals Koks prasselnd auseinander, durchstochen und gestoßen von den langen Eisenstäben der verräucherten Arbeiter. Und es hatte etwas Phantastisches, zu denken, daß dieser Vorgang sich alle paar Minuten wiederholte und daß von diesen hundertundfünfzig schmalen Türen bald die eine, bald die andere sich öffne, um solche aufrechte Glutmauer in grandioser Sicherheit zu entlassen.
Vor dem Plateau standen Loren bereit, den Koks zu den Öfen zu bringen.
Und auf einem anderen Schienenstrang standen diese offenen, kastenartigen Eisenbahnwagen, voll von gleichmäßigen, länglichen Stücken, gleich großen Holzscheiten – nur daß sie grau waren und rauh ihre Oberfläche. Das seien »Gänze«, sagte Wynfried, das heißt: das Roheisen in der Form, wie das Werk es hauptsächlich produzierte.
Agathe hustete und ängstigte sich und hatte gedacht, alles könne auf sie herabfallen. Aber sie verriet nichts von ihrer Angst. Denn sie sah, daß der geliebte Mann dem Schauspiel mit leuchtenden Augen zusah. Sie konnte sich seinetwegen zu allerlei Heldentum zusammenfassen. – »Wenn ich liebe, kann ich alles!« dachte sie.
Wynfried erklärte. Er führte die Gesellschaft zu dem trichterförmigen Bassin, in das die kleinen Wagen der Drahtseilbahn, von den Ladebrücken kommend, die gepulverte Kohle hineinschütteten, während an der Wand dieses Bassins in stumpfer Unaufhörlichkeit ein Becherwerk das Kohlenpulver aufschöpfte und in die Rohre goß, die man oberhalb der Öfen gesehen.
Man kam an den Erzlagern vorbei, und gerade schwebten die Förderwagen einer nach dem anderen anmutig heran, kippten und warfen mit Gepolter grauen, schimmernden Magnetstein auf einen Hügel dieses Erzes. Nebeneinanderlagerten sie, die Berge von Erzen, die durch ihre Farben schon verrieten, daß sie verschieden an Gehalt waren. – Und es schien, als trage jedes den Charakter seiner Heimat, als sei sein Gewand kein Zufall. Sprach nicht der silbergraue Magneteisenstein von den stillen Himmeln und beschatteten Bergseen Schwedens? In starken satten Farben glühte noch im Roteisenstein ein Nachglanz der Wärme spanischen Bodens. Und aus den Tiefen lothringischer Gruben kam dieses braune Eisenerz. Wie wunderbar sprechend – weißlich, durstig-trocken lag der Kalkstein gehäuft, und man stellte sich die staubigen Wege Griechenlands vor, von wo er kam, und sah unwillkürlich die weißüberpuderten Zypressen an den dürren Rainen trauern. –
Über den Köpfen der Schauenden zogen sich die dunklen Eisenlinien der verschiedenen Drahtseilbahnen und Rohrleitungen hin. Wasser tropfte herab – irgend woher kam roter Feuerschein. Dort drüben stand, gleich einer dünnen Säule ein Rohr. Aus seinem Munde brannte frei eine Flammensäule von Gas. Der Wind fuhr hinein und zerfaserte sie zu Gebilden von unbeschreiblicher Feinheit, in ständig wechselndem Spiel. Ihr Geleucht im schon leise verblassenden Tageslicht war unruhig. Es wurde manchmal ganz von der Luft zerfetzt, und Flämmchen schwebten sekundenschnell zusammenhanglos und wurden sogleich wieder von der großen Flamme herangerissen.
»Oh!« sagte Agathe bewundernd, »wie in der Walküre.«
Klara begann allmählich zuzuhören, was ihr Mann sagte – wie er es sagte. Und sie wurde teilnehmender. Sie vermochte wohl zu beurteilen, daß er klar und sicher vortrug. – Daß Stephan Marning und Likowski voll Sammlung zuhörten und Fragen aufwarfen, war ihr eine lobende Kritik. Das tat ihr wohl – es kam ihr vor, alsweiche diese schwere Traurigkeit, dies lähmende Gefühl von Leere allmählich von ihr. Woher war es gekommen? Sie verstand es nicht. Sie hatte nur eine dumpfe, beängstigte Empfindung davon, daß es etwas Furchtbares, Bedrohliches sei.
Vom Wasser her kamen Windstöße, die Wolken jagten am Himmel; fern im bläulichen feinen Dunst des beginnenden Nebels stand am Horizont etwas Unbegreifliches. Eine lilarote Masse, die zu zerfließen schien, von blaugrauen Streifen quer überschnitten – kein Ball mehr – kein Rund – nein, ein ungeheuerlicher Feuerfleck, der schnell immer tiefer sank. Sonnenuntergang im Novemberabendnebel.
Überall auf dem Werk blitzten schon die Lichter auf. Denn hier gab es keine Dämmerung und keine Zwischenspiele. Hier gab es nur Tag. Den Tag der Sonne und den Tag der elektrischen Lichter – und immer den der Arbeit.
Wie liebte Klara diese Stunde, wo alles ringsum blau schien, im Kampf des natürlichen Lichtes mit dem künstlichen.
Nun hieß es: in eines der Maschinenhäuser! Denn, nicht wahr? Baronin Agathe mußte begreifen: all die zauberhafte selbsttätige Bewegung der Förderungen, die in der Luft zwischen Drahtseilen herumglitten; all dies Aufsaugen von Gas aus den Öfen in die Rohre und das Hinüberleiten des Gases in die Eisentürme, die »Winderhitzer« hießen und eigentlich nur übermenschlich große Blasebälge seien; all das Wasser, das in Unmengen aus der Trave heraufgepumpt werde; alles, alles – jeder Betrieb hier mußte von Maschinen getrieben werden.
Agathe sagte, das verstehe sie, und machte ein reizendes, wichtiges Gesicht.
Sie traten ein in einen Riesensaal, wo die wunderreichstenGeschöpfe aus Metall bebten und zitterten, klopften und schwangen.
»Hier ist es aber sauber!« rief Agathe beglückt aus. Der Belag des Estrichs von braungebrannten Ton war wie Porzellan so glatt und rein. Und Agathe litt, wenn sie nur auf einen unsauberen Boden treten mußte. Sie war so peinlich ...
»Ja,« sagte Wynfried, »ein Maschinenhaus ist immer wie ein Asyl der Sauberkeit mitten im Betriebe. – Maschinen sind wie schöne Frauen – sie wollen geputzt und – geschmiert werden, mit dem Öl der Schmeichelei ...«
Agathe schlug mit ihrem Muff nach ihm.
Aus dem glasierten Estrich erhoben sich seltsam gestaltete Formen, die ihre untere Hälfte in der Tiefe verbargen; gleich gerundeten dunklen Tierrücken, über die hellere Hautstreifen liefen, waren sie. Riesenräder, aufrecht, halb über, halb unter dem Boden, drehten sich rasend; immer wieder verschwanden Speichen und tauchten auf.
Einige Maschinen plauderten leise, wie Frauen tun, die das emsige Geräusch ihrer Stricknadeln mit endlos hinfließendem Geschwätz begleiten.
Andere klappten mit Eisenzähnen, wie Riesen im Märchen, die für ihre leeren Kiefer nach Nahrung schnappen.
Und wenn man dieser sinnvollen, glatten, nie rastenden Bewegung zusah, bekam man zuletzt das unheimliche Gefühl, zwischen lauter Lebewesen zu sein, die aus einer anderen Welt stammten, nur eine andere Körperlichkeit hatten als die Menschen dieser Erde – aber ein pulsierendes Dasein wie sie – –
»Wer ist der Erfinder all dieser Maschinen?« fragte Stephan.
»Keinen Schimmer!« sagte Wynfried achselzuckend. Und er wußte nur, daß die und jene Maschine aus der undder Fabrik aus Mühlheim-Ruhr stamme und daß die zwei da drüben aus dem Kreyser-Werk in Gelsenkirchen gekommen. – Der Ingenieur, der sie zuerst erfunden, die anderen, die sie vervollkommnet hätten, arbeiteten ja für das Werk, in dem sie engagiert waren – ihre Namen wußte man nicht.
»O,« sagte Likowski, »ist es tragisch? Ist es groß? Ungerecht? Wundervoll? Was wäre Deutschland, was die Kultur ohne all die stillen Helden der Arbeit, der täglichen, selbstlosen Hingabe an unsägliche Mühen. – Und kein Ruhm – kein Heldenlied preist ihre Namen ... Unsere auch nicht – wir arbeiten und schuften ohne zulänglichen Lohn, ohne Anerkennung, noch umfeindet – damit das hier geschützt ist – damit solche Dinge blühen – uns groß machen. – Ich hab’ so’n Gefühl: wir stehen ja Schulter an Schulter mit all diesem hier –«
Er drückte seinem lieben Kameraden und Freund die Hand. – Stephan gab stark, gleichsam tröstend, den Druck zurück. Er wußte ja, wie der Hauptmann sich quälte. –
Und er dachte: »Es gibt noch viel mehr stilles Heldentum – nicht nur das der Arbeit – auch das des Gefühls – schweigend sich bezwingen – ja – wer das muß ...«
Seine Gedanken verloren sich ins Unbestimmte.
Agathe fing an zu klagen: es werde ein bißchen mühsam. Sie hatte doch nur ganz dünne Schuhe an mit so hohen Hacken – es ging sich schlecht damit.
»Nur noch zu den Hochöfen,« sagte Klara, »das ist doch die Hauptsache.«
Sie gelangten an die erste der ragenden Burgen, die aus dem breiten Massiv, dem eigentlichen Herde, aufstiegen und deren mit gemischten Erzen und Kalk gefüllte Schachträume mit einem Panzer von Steinen und Eisen umgeben waren. Dieser hochgetürmte, nach oben zu sichverjüngende Umbau gab den ragenden Hochöfen den burgenartigen Charakter. Galerien liefen um diesen Panzer, in dem man fest vernietete Türen bemerkte. Und um den ganzen untern Körper des Ofens rannen mit Rauschen und Plätschern unaufhörlich kühlende Wasser.
Hinten an den Ofen stieß die Gießhalle; man mußte eine primitive Treppe emporsteigen. Agathe als Vorletzte, hinter ihr Wynfried.
Agathe fühlte sich elend vor Angst. So entsetzlich nah war man dem Ungetüm, in dem eine Höllenhitze von zweitausend Grad Celsius wütete! Sie konnte sich nichts bei dieser Zahl denken – das ging natürlich über menschliche Vorstellung. Es jagte aber doch eine Furcht ein, die halb interessant, halb schauerlich war.
»Kann das bersten?« fragte sie zu Wynfried zurück.
»Doch – es kommt vor – trotz des besten Materials, das für den Umbau verwendet wird. – Wenn es Verstopfungen im Nachsacken der Beschickung gibt. – Gase sich entwickeln –«
»O Gott!« sagte Agathe, raffte ihre Röcke noch höher und enger zusammen und blieb stehen. Der Mann hinter ihr sah die seidenen Strümpfe und die koketten Schuhe. Er faßte Agathe recht kräftig um die Taille, von hinten her, und schob sie so vorwärts, Stufe um Stufe. Und als sie oben angekommen waren, wandte sie sich etwas zu ihm, und sie lachten sich mit den Augen an, wie zwei tun, die es mit dem Wagnis und dem Verzeihen einer Dreistigkeit nicht schwer nehmen.
Oben traf die Gesellschaft auf Kreyser und Thürauf, und Agathe hatte das Bedürfnis, dem Generaldirektor sozusagen ein Kompliment über das Werk zu machen.
»Wie ist es malerisch!« schwärmte sie.
»Eine andere Art malerische Schönheit als ein See imMondschein zwischen Waldbergen,« sprach Stephan von Marning. »Wie viel mehr sagtdieseuns heutigen Menschen.«
»Ja, das ist die Romantik der Industrie,« bestätigte der Generaldirektor.
Aber er war auch umsichtig bedacht, die Gäste an sicheren Platz zu stellen, denn gleich sollte der Abstich beginnen. Er verwies sie auf einen balkonartigen Ausbau neben dem Ofenrund, von wo aus sie dann einen trefflichen Überblick hatten auf die schräge Ebene der Gießhalle, die eigentlich ein Schuppen ohne Wände war, deren Dach auf Pfeilern ruhte. Diese Ebene war mit Sand bedeckt, und in ihn hinein hatten die Arbeiter lauter kurze Rinnen getieft – die Formen für den Guß der »Gänze«. In unübersehbarer Zahl und Regelmäßigkeit zogen sie sich hin, in ihrer Mitte von einem Laufgraben durchfurcht, den entlang das fließende Eisen strömen sollte, um sich dann in all diese Rinnen zu verteilen.
Überall standen Leute bereit, Schaufeln und Stangen waren zurechtgelegt – wachsam hieß es den feurigen Fluß lenken und fördern, falls er sich irgendwo sollte stauen wollen.
Nun sammelten sich ihrer ein Dutzend und umklammerten – als seien sie die sieben Schwaben, die gemeinsam ihren Riesenspieß wagerecht durch die Lande schleppten – eine wuchtige Eisenstange. Und mit ihr gingen sie zum Stoß gegen das von gebranntem Ton luftdicht verschlossene Gießloch vor. Hallende Töne zitterten über das Rauschen der Wasser hin – wieder und wieder stießen die Männer mit den von nassen Tüchern umwickelten Händen den Eisenstab gegen den Verschluß – berannten die Festung des Feuers. – Und da krachte es – Funken schossen hervor – Garben von Sprühpünktchen – undweißgolden, von leichten Trübungen da und dort überhaucht, floß das glühende Eisen.
Düstere Glut warf einen rötlichen Schein in den Raum der Gießhalle, wo die sich bückenden und von Sandwall zu Sandwall hinübertretenden Gestalten der Arbeiter zu schwarzen Silhouetten wurden. Und in der schiefen Ebene füllte sich langsam Rinne um Rinne mit dem fließenden Eisen – das sah aus, als hätten sich lauter Goldstreifen hingelegt – eine Reihe von kurzen, blanken Linien auf dunklem Grunde.
Und vom Vorherde, unten am Ofen, floß auch schon die Schlacke ab – ein Brunnenstrahl von Feuer. In kurzem Bogen schoß er hernieder in das mit Wasser halbgefüllte Wagengefäß, das die Masse nachher zur Schlackenhalde rollen sollte.
Die Luft selbst schien wie verbrannt, trocken und voll Hitze war sie. – Rauch wölkte. – Die schwarzen Gestalten hantierten in Hast. – Draußen, zwischen dem Gestänge und Gedränge umqualmter Eisenlinien, sah man den blauen Abendhimmel.
Welch ein Stück Leben! Welche Welt voll Größe und erschütternder Schönheit!
Die junge Frau fühlte sich erhoben und befreit.
Was sind die Anwandlungen von Unklarheit und wunderlich quälender Unruhe? Was die unbedeutenden Rätselfragen in einem einzelnen, kleinen Menschenleben? Was vor dem Geist und der Tat, die die Natur bezwingen! –
Sie kam sich klein vor und in ihrer Kleinheit beruhigt.
Und zugleich war ihr, als sei sie mit all diesen Dingen unlöslich verbunden – als sei in dieser Welt der gewaltigen, machtvollen Arbeit ihre unverlierbare Heimat und Sicherheit– es würde, es sollte auch einst die Welt ihres Kindes werden ...
Ihre Seele ward wieder froh ...
Und irgend eine Empfindung nötigte sie, die dunklen Augen zu suchen, denen sie vorhin so unbegreiflich erschreckt ausgewichen war.
Vielleicht hatte der Mann die gleiche Empfindung. Denn wieder begegneten sich ihre Blicke.
Freudig und stolz sagten sich ihre Augen, daß ihre Seelen in der gleichen Andacht erhoben seien.
Das war ein Tag, eine Nacht gewesen! Der alte Herr hatte sie in seinem Sessel verbracht. Keine Bitten des treuen Leupold vermochten etwas. In dem greisen Riesen kochte die einstige Ungeduld. Er wünschte ein Gott zu sein, um der Natur befehlen zu können. Seine wartende Aufregung setzte sich in Zorn um – nicht gegen irgend einen Menschen – nein, in diesen unbestimmten Zorn über menschliche Ohnmacht. Und er mußte sich doch fassen. –
Sein Sohn war verreist. Unglücklicherweise! In diesen furchtbaren Stunden hätte er neben seiner Frau sein sollen. Das Schicksal gefiel sich wahrlich darin, Wynfried immer fern zu halten, wenn mit großen Mahnungen Tod oder Leben an dies Haus klopften ...
Damals freilich, als es schien, sein Vater werde erliegen, hielten ihn unwürdige Dinge ab, die ihn seiner Besinnung beraubt hatten.
Jetzt war es ein ernster, anständiger Grund, der ihn fortzwang.
Die Sitzung, in welcher die Kreyser-Werke definitiv in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden sollten, war auf den siebzehnten April anberaumt worden. Der Generaldirektor Thürauf hätte die Vertretung des Geheimrats übernehmen können – wie so oft, seit dieser anseinen Krankheitsthron angeschmiedet war. Aber es war seit Monaten bestimmt gewesen, daß bei dieser wichtigen Gelegenheit, die doch auch Wynfrieds Vermögen anging, der Sohn zum erstenmal als Teilhaber des Hauses Severin Lohmann draußen zwischen anderen Magnaten der Kohle und Kapitänen der Industrie für das Haus eintreten solle.
Der Geheimrat wußte ja auch: sein Sohn hatte sich erst Ansehen zu verschaffen – noch besaß er es kaum. Er mußte Vertrauen zu sich erwecken – wie sollte man es ihm schon schenken! Denn die Welt hatte wahrscheinlich mehr von dem früheren Lebejüngling gewußt als der Vater selbst. Es galt, sich einen neuen Ruf zu erobern. Das ist schwerer, als wenn man unbekannt und unbeschrien in einen Kreis tritt. Aber der Geheimrat wußte auch: die bloße Tatsache, daß er zu dieser Sitzung nicht Thürauf, sondern seinen Sohn entsandte, ließ die Herren aufmerken, erweckte die wohlwollendsten Gedanken.
Das alles hatte er oft mit Klara besprochen. Erst sollte die Sitzung Anfang März stattfinden, ward verschoben und dann zu einem Termin anberaumt, der einen Konflikt heraufbeschwor.
Es schien dem Geheimrat unmöglich, daß der junge Ehemann jetzt seine Frau verlasse. Andererseits schien es eine Unmöglichkeit, plötzlich anstatt Wynfrieds den Generaldirektor zu entsenden. Man würde denken, er habe im letzten Augenblick Wynfried doch nicht recht Vertrauen geschenkt.
Wynfried verhielt sich ziemlich passiv in der Frage. Die Geschichte interessierte ihn immerhin ein wenig. Außerdem: jedesmal wenn er hinaus konnte – wenn er nur im Abteil der Eisenbahn oder im Auto saß – nach Berlin – nach Hamburg – dann wachte etwas in ihm auf ... Als wenn er wieder jünger werde ... Als wennihm irgend was tröstend sage: na, die Welt wartet ja noch auf dich. –
Aber das mochte er nicht zeigen, besonders jetzt nicht. Denn seine Frau, diese großartige, famose Frau hatte doch am Ende Ansprüche zu erheben ...
Klara entschied. Wie konnte sie es anders als so, daß sie bat, Wynfried möge unbekümmert reisen. Niemand konnte wissen, ob das erwartete Ereignis denn auch gerade in den Tagen seiner Abwesenheit einträte. Und wie, wenn er umsonst die Teilnahme an der Sitzung aufgegeben hätte! ...
Sie war, wie immer, auch in dieser Frage ihrer Tat treu. Es hing so viel daran, daß Wynfried sich erprobte, in der Welt der großen Herren der Industrie sich Zutrauen erwarb.
Aber der Schnellzug, der ihren Mann nach Köln zur Vorbesprechung und Sitzung brachte, war vielleicht eben aus dem Bremer Bahnhof hinausgeglitten und raste auf die Heide zu, als Klara nach dem Arzt schicken mußte. Sie verbot eine Rückberufung und daß man Wynfried depeschiere.
Sie mochte es sich kaum in ihren Gedanken gestehen: es war ihr lieb, ihn fern zu wissen. – Sie mußte sich ganz mühsam immer wieder klar machen, wie wichtig doch das Ereignis auch für ihn sei. – Er hatte so wenig Teil daran genommen ... Das kann ein Mann vielleicht auch nicht ... Rücksichtsvoll war er immer – und manchmal so zärtlich, als seien sie wirklich miteinander in der großen Liebe verbunden, auf die Klara noch immer wartete. –
Solchen Tag und solche Nacht hatte das Haus noch nicht erlebt. Die Doktorin Lamprecht, die nicht vom Platze wich und einigemal von der zornigen Ungeduld des alten Herrn angefahren wurde – die wußte noch: alsWynfried das Licht der Welt erblickte, hatte der selige Lamprecht chloroformieren müssen, denn die gnädige Frau lehnte es ab, auch nur den leisesten Schmerz zu ertragen, wenn die Wissenschaft ihr den ersparen könne. So war die damals im Schlaf zur Mutterwürde gelangt.
Klara wollte bestehen, was die Natur von ihr verlangte. Es waren heilige Leiden. Sie mußten tapfer durchlitten werden. Und am siebzehnten April erhob sich aus feinstem Dunst ein Morgen voll erquickender Herbheit. Hyazinthenduft atmete von den Beeten vorm Hause auf. Der alte Herr hatte die Fenster seines Erkers öffnen lassen und belebte sich an dem zarten Frühlingszauber der Luft. Drüben überm weiten Gelände lag die Poesie der Frühe.
Gerade hinauf stieg aus den Schloten des Werkes der Rauch, wie ein Morgenopfer zur Unendlichkeit empordampft.
Feierliche Würde war in diesem jungen Tag.
Da kam Leupold wieder einmal herein – bleich, verwacht auch er.
»Ich darf Herrn Geheimrat in den Fahrstuhl helfen?«
»Was soll das? – Was willst du mit mir ...«
»Die gnädige Frau lassen bitten ...« Und er hatte ein seltsam verstocktes Gesicht.
»Meine Tochter? ... Meine Tochter?« murmelte der alte Herr verstört ... irgend ein unbestimmter Schreck wollte ihn packen, obgleich man ihm wohl an die zwanzigmal zugeschworen hatte: es steht sehr gut – keine Sorge – nein gar keine. –
Er zitterte ...
Und Leupold dachte: er wird alt! Auch in ihm war Zorn. Solche Aufregungen waren nicht für seinen Herrn – und Nächte durchwachen, wenn man streng und vorsichtig nach Regeln zu leben hat, um überhaupt zu leben ...Alles verkehrt – dieser ganze Zustand jetzt, mit einer zweiten, jungen Wirtschaft unten im Haus ... Ehedem war alles im Gleichmaß hergegangen ...
Unter solchen Gedanken half er der mächtigen Gestalt in den Fahrstuhl und schob ihn rasch zum Lift.
Der alte Herr wagte nicht zu fragen. Wenn Leupold gewußt hätte, warum Klara nach ihm rief, würde er es gesagt haben ...
Unten riß schon der hellfarbige Georg mit dem gestriegelten Blondhaar und gewaschenem Gesicht die Tür des Lift auf.
Da war auch Dienerschaft am Wege zu Klaras Zimmer ... Das Küchenpersonal, die Stubenmädchen – fast als bildeten sie eine Gasse ... Und im großen Zimmer, wo das Bild der teuren Toten lieblich ernst von der Wand herabsah, standen wieder Menschen: die alte Lamprecht, klein, grau, gebückt und selig lächelnd; und mit verdienstvollem Gesicht der dunkelblonde Doktor Sylvester mit dem Kneifer vor den hellen Augen und dem Schmiß vom Mundwinkel bis zur Wangenhälfte, der ihm einen Ausdruck gab, als sei er immer voll Verachtung. Und noch zwei unbekannte Weibswesen.
Sie ließen ihn durch ihre Reihen fahren ... Und ihm wurde immer beklommener zumute ... Sein Herz klopfte.
Die Tür zum Schlafzimmer tat sich auf. –
Da lag, im feinen, hellen Licht der Frühe, bleich ein Haupt auf weißen Kissen ... Und da lag ein Bündel, auch weiß, und aus ihm sah ein dunkles Fellchen hervor, ein ganz kleines Stück nur ...
Leupold schob ihn an das Bett. –
Aus dem bleichen Gesicht auf dem Kissen leuchteten dunkle Augen in heißem Glanz höchsten Glücks ... und die geraden, strengen Brauen waren ein wenig zusammengerückt– als seien die Nerven nach dem Krampf der Schmerzen noch nicht ganz gelöst ...
Und die junge Frau hob mit schwachem Arm ein wenig das Bündel – und nun sah man: das Fellchen war dunkles Haar.
»Der kleine Severin Lohmann,« sagte sie.
Und ihre Stimme bebte vor Seligkeit ...
Er schluchzte auf. – Dem alten Mann, der stark geblieben war in jedem Kampf und in jeder Not, zerbrach die Fassung.
Und das kleine, dunkle Fellchen in den Kissen des Bündels war ihm der wunderbarste Anblick, den das Leben ihm gegönnt ...
Die große Männerhand streckte sich aus – tastete scheu nach diesem Köpfchen, von dem man so wenig sah. Und zog sich erschreckt zurück, als habe sie Heiligstes berührt – so überfein und unfaßlich zart war das, was seine Fingerspitzen verspürten.
Dann umgriff er der jungen Mutter Hand, hob sie zu sich heran – er mußte sich mühsam vorneigen, um sie mit seinen Lippen zu erreichen ... Und er küßte sie – immer wieder – von Dankgefühl übermannt – wortlos. –
Bis Doktor Sylvester mit einem von den fremden und in geplätteter Kleider- und Schürzensauberkeit knitternden Weibswesen hereinkam und Leupold kurzerhand den Fahrstuhl rückwärts und zum Zimmer hinauszog ...
Ja, das war ein Tag! Der Geheimrat wollte durchaus schlafen, denn nun lag ihm erst recht am Leben. Aber die Aufregung ließ ihn nicht dazu kommen. Und Doktor Sylvester tröstete Leupold: es schade nicht. Man wisse ja, wie Freude für den alten Herrn bekömmlich sei.
An den beiden Torpfeilern, rechts und links von der Inschrift »Eisenhütte Severin Lohmann«, wehten Flaggen;von den Häusern der Beamten und der Villa des Generaldirektors wallten die rot und weißen und die schwarz-weiß-roten Tuchstreifen, im frischen Wind zu schönen Wellenbewegungen immer wieder neu entfaltet.
Auf die Depesche nach Köln hin kamen drei Antworten. Wynfried sagte durch den Draht seiner Frau: »Freudig bewegt sende tausend Grüße und Wünsche, am zwanzigsten bin ich wieder dort. Innigst Wynfried.«
Und seinem Vater: »Mit dir stolz und froh. Bitte täglich zwei- oder dreimal um Telegramm über Befinden. Wynfried.«
»Gottlob,« dachte der Geheimrat, von einer beglückenden Ruhe ganz erfüllt, »nun liegt die Zukunft klar und sicher da.«
Das dritte Telegramm machte ihm Spaß. Mehr noch: er schmunzelte, und ein Ausdruck freudigen Stolzes ging über sein Gesicht.
»Es lebe der vierte Severin Lohmann. Möge er des Großvaters würdiger Enkel werden. Mutter und Kind wünschen wir alles Gute. Dem hochverehrten Großvater bringen wir Glückwünsche und Gruß.«
Diese Kundgebung war von elf Namen unterzeichnet, mit dem Kreysers an der Spitze. Und jeder hatte Klang, der über die Ozeane hallte. Großfürsten der Industrie und des Handels – sie nahmen freudig teil am Dasein des winzigen kleinen Kerlchens im weißen Bündel. Sie waren stolz, daß eine der Dynastien in ihren Reihen weiterblühen sollte ...
Das wollte der Geheimrat aufheben; wenn der Junge erst lesen konnte, sollte er selbst die Depesche sehen – sie sollte ihm einst sagen: Du bist in große Verantwortungen hinein geboren. Viele Augen sehen darauf, ob du ein tüchtiger Mann wirst ...
Alle, die sein Arm nur erreichen konnte, sollten Freude haben heute.
Er bat den Generaldirektor Thürauf, als der mit seiner Frau zum Gratulieren vor dem gewaltigen Ledersessel stand, daß die sofortige Verteilung einer großen Summe an die Arbeiterschaft bewerkstelligt werde. Über eine sehr erhebliche Stiftung nützlicher Art für die Kinder der Arbeiter wolle er noch mit seiner Schwiegertochter sich beraten und ihr die Freude gönnen, am Tauftage des Kindes der Arbeiterschaft davon Mitteilung zu machen. Die wunderhübsche dunkeläugige Frau Thürauf bat er, den Schulkindern eine festliche Nachmittagsbewirtung veranstalten zu lassen, und sie, die immer von der anmutigsten Gefälligkeit war, versprach, mit ihren drei Töchtern selbst Schokolade und Kuchen in befriedigenden Mengen anzubieten.
Likowski und Marning kamen, als die von den drüben garnisonierenden Herren dem Hause nächst Befreundeten, und der Geheimrat nahm ihren Besuch an. Er hatte ja ein unersättliches Bedürfnis, Klara zu preisen, seine eigene Freude auszusprechen. Sein ganzes Wesen war verwandelt. Er war nicht mehr der große Beherrscher, der den Kopf voll von Sorgen hat. Nur ein ganz einfach glücklicher Mann war er, voll Ehrerbietung vor der Würde einer jungen Frau, voll seligen Glückes, einen Enkel zu haben.
Als die beiden Herren fortgingen, sagte draußen Stephan Marning: »Ja, dies Kind hat sich eine bevorzugte Statt ausgesucht – solche Mutter – und solche Zukunft!«
Likowski verbreitete sich über Frau Klara Lohmann. Marning solle sich gefälligst erinnern, was er, der Hauptmann, schon für ein Urteil über Fräulein Klara Hildebrandtgehabt habe! Die Frage bleibe für ihn nur: Hatte der Gatte eine Ahnung, wer die Frau an seiner Seite sei?
Alles in Stephan wehrte sich dagegen, mit seinem Kameraden diese junge Frau und ihre Ehe zu besprechen. Er sagte nur: »O – man hat doch stets den Eindruck eines angenehmen Verhältnisses ...«
»Angenehm – angenehm!« schalt Likowski. »Den Kuckuck auch – soll er wohl gar unangenehm sein? Ich weiß nich – ich trau’ ihm nich – nee – wo das mal drinn steckt – so ’ne Männer sind gerade wie die Gäule früher von der Kavallerie, als die noch Signale blasen ließ – wenn ein ausrangierter noch nach Jahr und Tag wieder das Signal ›Marsch‹ hörte, brannte er durch ... Warten wir’s ab ...«
»Lieber Likowski – Sie sind ein Pessimist – in allen Dingen –« sprach er.