8

Ein Leutnant saß an dem Rain,Er sammelte VergißnichtmeinUnd fügte sie zum Kranze;Wie rührend war das Ganze.

Ein Leutnant saß an dem Rain,Er sammelte VergißnichtmeinUnd fügte sie zum Kranze;Wie rührend war das Ganze.

Und denn los und davon. – Sie wissen, ich kann reiten! Papa, als Karikatur eines Sportsman, ängstlich hinterher.«

Sie freute sich noch über ihr tolles Davonstieben.

»Und wen haben Sie zum Nachfolger Hornmarcks in Ihren Diensten ernannt?« fragte er.

»Der Posten ist vakant. Ich habe keine Eile. Muß fortan auch wählerisch sein. Vorigen Sommer galt man noch nicht für voll. Das ist nun anders. Als Papas Einzige weiß ich, daß ich ihm nur einen SchwiegersohnI abringen darf. – Er macht Ansprüche! Wo seine Fabriksich in so enormem Aufschwung befindet ...« sprach sie in lässiger Prahlerei.

Wynfried wußte, daß das Gegenteil der Fall sei. Und wahrscheinlich wußte sie selbst es auch.

Sie räkelte ihren schlanken Körper auf all den Kissen ganz zurück und faltete ihre Hände über ihrem Hinterkopf, wo von der weißen Linie des Scheitels die roten Haare straff nach vorn zu den Zöpfen hingenommen waren.

»Ja,« meinte sie im gemütlichen Ton – aber um ihren großen Mund ging ein besonderes Lächeln. »Der eine, der mich vielleicht hätte reizen können – der ist jahors de concours...«

Und ihre Augen sprühten Funken – zu ihm hinüber. – Daß sie ihn meinte, war zu fühlen.

Er sah sie an, lächelnd – vielsagend – sie konnte nach Belieben alle Huldigungen daraus lesen, die ihr Bedürfnis waren.

Und eigentlich regte sich in ihm die Begier, diesem lüsternen Mädchen, das mit all seiner Häßlichkeit höchst lockend war, einen ausführlichen Kuß auf den animalischen Mund zu pressen. – Aber das ging natürlich nicht an ...

Sie machte ihm aber Spaß – in ihrem Gemisch von praktischem Verstand und keckster Herausforderung.

Seine Stellung zur Frau war nun einmal so. Er mochte mit pikanten Worten umworben werden; es unterhielt ihn, wenn sich ein weibliches Wesen um ihn bemühte. Das war ihm ein Bedürfnis geworden, von seinen Anfängen her, wo er als schöner, reicher Jüngling in allzufröhliche Kreise geraten war.

Von Klara durfte er natürlich solch Umwerben und irgend ein kokettes Spiel im Wechsel von Lockungen und Versagen nicht erwarten.

In der Ehe war überhaupt alles anders. »Ehe« –die hatte so wenig mit dem übrigen Mannesempfinden zu tun wie etwa die Arbeit auf dem Werk.

Eine Sache gänzlich für sich – –

Und nach all dem bekömmlichen Gleichmaß seines letzten Lebensjahres fühlte er immer öfter so etwas wie eine leise Sehnsucht nach stärkerer Bewegung in sich aufsteigen ...

Die Stille zwischen den beiden wurde ein wenig schwül. Zum Glück zerriß der Pfiff des Motorboots sie.

Es lenkte, mit der geschleppten Jacht hinter sich, aus der durch die roten und schwarzen Duc d’Alben bezeichneten Fahrstraße ein wenig in das Wyk hinein und ließ unaufhörlich gelle Pfiffe in die Sommerluft hineinsausen. Sie sollten der Herrin des weißen Schlößchens, das aus dem Grün des hohen Ufers lachend herausschaute, melden: Die »Klara« ist zur Stelle und erwartet ihre Gäste.

»Ach – wie pünktlich!« rief Edith, »sehen Sie – die Baronin muß schon im Bootshaus gewartet haben.«

Vom Ufer unterhalb Schloß Lammen löste sich ein Ruderboot. Mit starken Schlägen trieb es der als Theatermatrose gekleidete Knecht in rascher Fahrt heran.

Edith, die genau wußte, daß sie das Feuerwerk ihrer kecken Blicke und Reden nur unter vier Augen gegen eine Männerbrust abbrennen konnte, fand für ihr Bedürfnis, sich geistig zu betätigen, nun ein unverfängliches Ziel.

Sie fand üppige Frauen gräßlich und nannte alle, die über eine gewisse Schmächtigkeit hinaus rundere Linien zeigten, sofort »dick«.

»Passen Sie auf! Es ist kein kleiner Anblick. – Agathe Hegemeister im Futteral eines Sportkleides – sie hat keine Ahnung von ihrer Fülle. Keine Spur von Selbstkritik.«

»Da bin ich nun anderer Ansicht,« sagte Wynfried eifrig. »Baronin Agathe ist von allen Damen unseres Kreises am ausgesuchtesten und kleidsamsten angezogen.Und ihre leise Fülle ist wundervoll – noch nicht mal Rubens ...«

»Ja,« sprach Edith geringschätzig, »Männer haben eben einen total anderen Geschmack als wir ...«

Agathe schwang im herannahenden Boot einen weißen Chiffonschleier.

Richtig: Agathe Hegemeister hatte ein weißes Leinenkleid an. Und was war denn das? Schwarze Knöpfe an der knappen Bluse? Edith sah nachher, zu ihrem verzehrenden Neid, daß es veilchenblaue, rundgeschliffene Amethyste waren, in Gold gefaßt, die als Knöpfe dienten. Und einen Matrosenhut – wie Edith gehofft hatte – trug sie auch nicht; der hätte auf der Fülle des schöngeordneten Blondhaares nur lächerlich wirken können, sondern einen sehr feinen florentiner Strohhut von äußerst kleidsamer Form, um den ein weißer Chiffonschleier geschlungen und links unterm Ohr in eine große Schleife gebunden war.

Wynfried dachte: entzückend. – Wie ein Mädchen. Und so weiblich weich in jedem Blick, jeder Bewegung.

Nun waren die Damen an Bord. Fräulein von Gerwald in Dunkelblau mit einem steifen, blanken, schwarzen Matrosenhut, den Edith wie eine Rarität unbefangen genau anstarrte.

»Was?« sagte Agathe, »meine liebe, süße Klara fährt nicht mit? Aber das verleidet mir ja den ganzen Tag! Und ich weiß nicht – paßt sich denn das überhaupt? – Ich allein mit dem Gatten einer anderen?«

»Erstens ist es der Ehemann Ihrer besten Freundin – und Klara läßt Sie vielmals grüßen. Zweitens haben Sie Ihre Ehrendame, unser allverehrtes Fräulein von Gerwald neben sich. Und drittens ist es wenig schmeichelhaft für mich, daß Ihnen ohne meine Frau der Tag verleidet ist,« sagte Wynfried.

Agathe sah ihre Gerwald an.

»Herr Lohmann hat Recht,« sprach sie in einem um Zustimmung bittenden Ton.

»Aber völlig!« versicherte Fräulein von Gerwald mit Nachdruck.

Bis Travemünde war es ja nicht mehr weit. Es kam auch kein gemütlicher Ton auf. Zwischen der blonden Frau und dem rothaarigen Mädchen herrschte eine versteckte Gereiztheit. Sie wußten selbst nicht, warum. Denn jede dachte in bezug auf die andere: sie kann ja doch nicht mit mir konkurrieren! Und Wynfried, der das durchschaute, hatte so viel Vergnügen daran, daß es ihm eigentlich leid tat, als Edith in Travemünde von Bord ging.

Sie wußte in ihre Abschiedsworte so viel zu legen, daß Agathe Hegemeister gar nicht anders denken konnte, als Wynfried und das abscheuliche Mädchen hätten zu Beginn der Fahrt eine ganz besonders schöne Stunde voll intimer Gespräche gehabt. Und das war Agathe doch ein leiser, schmerzlicher Stich. –

Edith, die nun ihren langen, hellblauseidenen, engen Mantel angezogen hatte, stand noch eine Weile auf der hohen Brücke, an deren Fuß sie abgesetzt worden war und zu der sie dann auf Treppen emporstieg. Sie winkte nicht und nickte auch nicht. Sie stand nur und sah ... Etwas großartig wirkte es ... Wynfried lüftete noch einmal seine weiße Mütze zu ihr hin.

»Nein, dies Mädchen!« sagte Agathe, »so mager und so häßlich. So eingebildet und dreist.«

»Keine Spur von Weiblichkeit,« erlaubte sich Fräulein von Gerwald hinzuzufügen.

»Naseweis ist sie schon,« gab Wynfried zu, »aber so intelligent und temperamentvoll, daß ihre Häßlichkeit zur Schönheit wird.«

»Ja,« meinte Agathe etwas gekränkt, »Männer haben eben einen ganz anderen Geschmack als wir.«

Nun hieß es erst einmal Tee trinken.

Unten in der Salonkajüte war alles vorbereitet. Auf den Tisch hatte der Kombüsenmaat schon den Teekessel gestellt, von dem die elektrische Schnur zum Steckkontakt ging. Die Jacht führte in einem Akkumulator elektrische Kräfte für die Beleuchtung und die Kombüse.

Sehr hausfraulich goß Fräulein von Gerwald den Tee auf, und Agathe fand mit Rührung die Kuchen vor, die sie liebte. – Dafür hatte Klara gesorgt? Wie liebevoll dachte Klara immer nur an andere.

»Ja,« sagte Wynfried, »sie ist eine famose, großartige Frau – zu gut für mich.«

Als sie dann wieder hinaufkamen, war alles verändert. Fern schon schoß das Motorboot zurück in den Hafen von Travemünde, wo es warten sollte, bis die »Klara« wieder hereinkäme. Und sie selbst brauste nun in stolzer Fahrt über die Wogen dahin.

Großsegel und Schunersegel waren voll entfaltet, der Wind blähte sie prall auf. Er kam von Nordost, und so hieß es, um auf die Höhe von Fehmarn zu kommen, in langen Schlägen kreuzen. Die »Klara« sauste scheinbar geradeswegs auf die grünblaue, hügelige Waldküste des mecklenburgischen Ufers zu. Und im saphirblauen, wunderbar klaren Wasser glitt das Spiegelbild der weißen Jacht als Schatten mit.

Das war ein Tag, eine Weite, ein Bild lachenden Prangens.

Das Meer hatte all seine zornigen, mürrischen oder schläfrigen Stimmungen von sich abgeschüttelt und wogte in einer kraftvollen, fröhlichen Bewegung, sog das Blau des Himmels in sich ein und atmete köstliche Salzluft aus.Es war durchsichtig bis auf den Grund, und die runden, trüben Gallertscheiben der Quallen trieben kreisend einher.

Und die belebte Flut gab ihre schimmernde Oberfläche dem Vergnügen zum Tummelplatz. Segelboote aller Art kreuzten. Stolz und groß lag da die weiße »Hohenzollern«, und der Wind strich die Flaggen aus. Die Standarte des Kaisers wehte aber nicht. Denn Seine Majestät befand sich auf dem »Meteor«, der, mit von Kiel hersegelnd, an der Wettfahrt teilnahm. Grau und schlank und dennoch von einer gewissen kriegerischen Strenge umwittert, ankerte der »Sleipner« in der Nähe des Kaiserschiffes. Leise spielte sein Rauch aus seinem klobigen Schornstein in die Luft. Eben erst waren beide Fahrzeuge auf der Reede angekommen.

Eine Pinaß, der die Flagge der Kriegsmarine am Heck wehte, zerschnitt in eiligem Lauf die Wogen, daß sie ihr weißschäumend am Bug emporstiegen; und ihr Kielwasser quirlte hinter ihr drein; gleich einer Schlange lag die Spur auf der Flut. Sie nahm Richtung auf den Hafen.

Zwei Dampfer, schwarz von Menschen, umkreisten die »Hohenzollern« und den »Sleipner« im weiten Bogen; man hörte die metallischen Klänge einer patriotischen Musik von dort herschwirren.

Die Richtung aller Segler und aller Dampfer ward aber dann: Fehmarnwärts – entgegen den aufkommenden Jachten.

Und die Sonne umglutete, vom Winde gekühlt, all diese frohe Beweglichkeit, die aus den Wogen einen sicheren, ungefährlichen Estrich zu machen schien, auf dem man, anstatt mit Füßen, mit Schiffen dahingleiten konnte.

»O,« sagte Agathe wirklich begeistert, »wie schön, wie schön!«

Und in ehrlicher Klage bedauerte sie noch einmal, daß ihre geliebte Klara diese Stunden nicht miterlebe.

Das Wasser schwoll immer gegen den Bug – es war kein leises Gluckern und Raunen – es war ein seidiges, großes Rauschen. Wie besänftigte es die Gedanken – es war ein Versinken – in eine himmlische Art von Dummheit – als sei man nur noch ein träges Stück Menschentum und brauche nie mehr etwas anderes, als sich nur immerfort von der Sonne bescheinen zu lassen und dem endlosen Gerausche zuzuhören. Das leise Knarren der Masten war manchmal vernehmbar, wenn der Wind in die Segel bluffte.

Zuweilen ging eine kurze Unruhe über Deck. Die flinken Kerls in den roten Sweatern sprangen – der »Schiffer« am Steuer rief Kommandoworte – die gelblich weißen Segelfittiche schlenkerten einen Augenblick am Großmast und Fockmast, und dann fuhr wieder der Wind hinein und blähte sie auf. – Und nach dem Manöver des Umlegens schwebte dann immer wieder der Traum von Stille, den das Glurren der Wasser und das Flimmern der Sonne umspann, über der Jacht. So zog sie, umwogt und die Flut rasch durchschneidend, von hüben nach drüben. Die Bucht weitete sich, und im Maße, daß man mehr dem offenen Meer sich näherte, kreuzte man in kürzeren Schlägen.

Die Stunden flogen, und ihr Flügelschlag war so sanft, so unhörbar, daß niemand sich des Entgleitens der Zeit recht bewußt ward.

Sie mochten kaum sprechen.

Agathe empfand die Größe und Weite des Bildes und die Fülle von Lebensbetätigung in all dem Treiben. Daraus erwuchs ihr eine unbestimmte und schmerzliche Sehnsucht. Sie kam vom blauen Himmel vielleicht oder flüsterte zu ihr aus den ruhelosen Wogen herauf, oder die Sonneerhitzte ihr niemals kühles Blut noch mehr ... Sie kam sich wie von allem Glück verlassen, einsam und sehr bemitleidenswert vor. Ihr treues Fräulein von Gerwald, das ihr gar nicht mehr aus Liebedienerei, sondern aus völlig gelungenem Einleben heraus stets nach dem Munde sprach und ihre Stimmung immer erriet, sah bedeutungsvoll und innig zu ihr hinüber. Die Gerwald saß neben Wynfried.

Auch er war versonnen. Die wundervolle Frau ihm gegenüber war ihm ein höchst zusagender Anblick. Und immer, wenn er mit ihr zusammen war, weckte ihr feines, sehr liebkosendes Parfüm allerlei in ihm auf. – –

»Segel, Segel!« schrie Fräulein von Gerwald.

Am Horizont, im blauen Duft der Ferne zwischen Himmel und Meer sah man weiße Striche, die gar keinem Schiffskörper anzugehören schienen.

»›Meteor‹ und ›Germania‹,« sagte Wynfried.

»Bei dem Wind konnte man denken, daß sie schlank herauf kämen – stick Nordost. – Zurück werden wir auch in gerader Fahrt auf Travemünde zuhalten können.«

»O – schon zurück?«

»Erst wenn Sie wollen. – Für ein kleines Souper ist gesorgt. – Klara hat alles an Bord schaffen lassen. – Hummer – kaltes Geflügel – sonst noch dies und das. – Ich lasse nur in Notfällen vom Kombüsenmaat kochen.«

»Herrlich!« sagte Fräulein von Gerwald. Und Agathe bat: »Ja weit hinaus – bis ganz nach Fehmarn!«

»Mir ist’s recht.«

Die weißen Striche am Horizont wurden deutlicher und erwiesen sich bald als Segel – rasch, vom günstigen Winde getrieben kamen die großen Jachten herauf. Sie hatten alles Zeug gesetzt, und mit ihrer hohen Takelage lagen sie stark steuerbord geneigt. So brausten sie heran – kühn und stolz, an ihrem Bugspriet kochte das Meer.

Das war herrlich zu sehen. – Und die »Klara« tippte ihre Flaggen, um die Kaiserliche Jacht zu grüßen.

Immer mehr Segel wurden erkennbar. Ein Schwarm von Riesenschwimmvögeln schien sich aufgemacht zu haben und zog daher, durchschnitt spielend die blauen Fluten. Helle Lichter setzte die Sonne auf weiße Schiffskörper und Segel. Da und dort schwenkte von den Borden jemand eine Mütze – der »Klara« und ihrem Herrn zum Gruß, und Wynfried und die Damen grüßten wieder.

Möwen kreisten über diesem zerstreuten Geschwader von Rennjachten – kreischende Laute gellten herab, und der Flügelschlag blitzte vor dem blauen Hintergrund des Himmels.

Fülle des Lebens. – Fülle der Freude.

Und Agathe seufzte schwer.

»Nun?« fragte Wynfried.

»Ach,« sprach die blonde Frau klagend, »all diese Schönheit tut mir im Herzen weh.«

»Darf ich die Gründe einer so paradoxen Wirkung erfahren?«

»Von allem bin ich ausgeschlossen, weil ich allein stehe. Ich kann an gar nichts teilnehmen, weil ich keinen Mann neben mir habe. Denn meine Eltern wollen durchaus nicht, daß ich selbständig in solchen Sachen heraustrete. Reisen? Ja. Hier im Kreise, in der Heimat meines verstorbenen Gatten etwas Geselligkeit in meinem Hause haben? Ja. Aber darüber hinaus nichts. Und wenn Sie sich nicht meiner angenommen hätten, sähe ich wieder nichts mehr von den Travemünder Tagen als alle Zuschauer, die da am Strande herumlungern. – Nicht mal mit meinem Motorboot hätt’ ich mich herauswagen können – dazu ist es zu klein ...«

»Ihre Eltern sind merkwürdig streng.«

»Ja.« Agathe seufzte wieder. Sie wurde langsam rot. Sie schien sich ganz in peinliche Gedanken zu verlieren. Plötzlich fügte sie hinzu: »Und ich muß wohl artig sein. – Papa verwaltet auch mein Geld, soweit es nicht in Lammen steckt – und das ergibt dann wie von selbst eine Kontrolle. – Und dann – Sie wissen, es gibt so Eltern, vor denen man immer im Schock ist ...«

Das wußte Wynfried noch. Früher – da war er seinem Vater auch lieber in scheuer Ferne aus dem Weg gegangen.

Und er dachte besonders noch an das Elend der allerersten Zeit nach seiner Heimkehr – und wie nur die Scham und die Angst vor seines Vaters Kritik ihn vom Selbstmord abgehalten hatte.

Wie weit und unbegreiflich lag das zurück.

Frei war sein Gemüt dem Vater gegenüber und sein Umgang mit ihm erst von dem Tage an geworden, wo er ihm Klara als Tochter brachte.

Seltsam eigentlich: Vater liebte die Schwiegertochter mehr als den eigenen Sohn. Wynfried fühlte es genau.

Aber er war nicht eifersüchtig – gar nicht. Es freute ihn im Grunde. Undeutlich lag die Empfindung in ihm, als lenke das seinen Vater von ihm selbst mehr ab – als würde die vollste Liebe dieses gewaltigen Mannes, die völligste Aufmerksamkeit all seiner Gedanken, ganz allein auf ihn, den Sohn, gerichtet, allzu schwer wuchten – würde eine beständige Anforderung sein ... Und wie Aufsicht ... Nein, nein – alles war vortrefflich, wie es war. – Diese ganze häusliche Welt mit Vater, Frau und Kind gab solch ein Gefühl von Sicherheit und war im Grunde immer wie ein Zeugnis – es vernichtete die Vergangenheit. – An die dachte Wynfried jetzt in ruhiger Verachtung und voll Kritik. Er bildete sich ein, daß er heute das alles klügeranfangen und jedes Weib und jede Lage mehr beherrschen würde.

Weil Agathe keine Antwort bekam, fuhr sie klagend fort: »Davon, wie schwer es ist, als junge Frau so einsam dahinzuleben, davon macht sich niemand einen Begriff.«

»Sie sollten wieder heiraten,« riet Wynfried.

»Noch einmal verkauft werden!« rief sie voll Bitterkeit.

»Liebste Baronin – eine Frau wie Sie – so schön – verzeihen Sie, aber diese Ihre Worte geben mir die Pflicht, deutlich zu sprechen – so wundervoll schön – so ganz hingebende Weiblichkeit – so voller Herzensgüte – die muß und wird Liebe finden – keinen ›Käufer‹ – nein, einen leidenschaftlich liebenden Gatten.«

Agathe sah ihn mit ihren schwimmenden Blicken halb beseligt, halb bekümmert an.

»Wenn Sie so sprechen. – Und doch – glauben Sie mir – es scheint, mir ist die Gabe versagt, Herzen zu gewinnen.«

Sie drückte ihre Hand gegen die Augen. Sie wirkte nicht viel anders als ein Backfisch, der in unruhiger Überfülle unklar drängender Empfindungen mehr ausspricht, als geschmackvoll ist.

»Ja, die Weiber!« dachte Wynfried sehr angeregt. Die Siebzehnjährige vorhin hatte ihn von Geschäften und Zahlen und mit Bosheiten unterhalten, und diese reife Frau sprach wie ein sentimentales Mädel.

Aber ein so bekümmertes und verschmachtendes Frauenherz ganz ohne Trost zu lassen, wäre völlig gegen Wynfrieds Art gewesen.

Er nahm sacht die Hand, die weinende Augen verborgen hatte. Er dachte sich wohl, daß dies noch die allerletzten Tränen seien, die dem unerbittlichen Stephan nachflossen. Und er hatte längst herausgefühlt, daß bei Agathe in dieabschwindende Liebe sich schon eine neue Verliebtheit mischte – wie der Mond noch, immer mehr verblassend, am Himmel steht, wenn die Morgensonne sich strahlend erhebt.

Er hielt tröstend und innig ihre Hand zwischen seinen beiden.

Er sah ihr tief in die Augen, und seine Blicke sagten ihr, daß sie ganz gewiß die Gabe habe, Herzen zu gewinnen.

Es schien ja eigentlich kein Grund zum Erröten vorzuliegen. – Aber Agathe errötete doch – und ihr Atem fing an, rascher zu gehen.

»O,« rief Fräulein von Gerwald, »Fehmarn!«

Sie stand auf und stieg vom Sitzplatz aus die zwei Stufen empor auf Deck. Ihr Herz klopfte ... Dieser Blick zwischen den beiden ... Gottlob, daß da gerade Fehmarn war ...

Hingebreitet in den blauen Fluten lag die flache Insel, mit ihrem hellen Sandstrand, ihren goldgelben, reifenden Ährenfeldern und dem kleinen Städtchen Burg mit seinen dunklen Dächern unter und zwischen der Ehrwürde uralter Ulmen und behaglicher Obstbaumwipfel. So liebenswürdig pastoral tauchte der Kirchturm aus dem Gehäufe der Ortschaft auf.

Man war nah genug, alles zu erkennen, und doch noch so fern, daß jede etwa störende Kleinigkeit der Uferszenen verschwand. Ein Bild wie von kluger und sehr feiner Kunst hingemalt.

Und zur Rechten das weite, uferlose Meer, im letzten Glanz der Sonne, die hinter der Küste zur Linken unterging. Voraus öffnete sich der schmale Fehmarnsund.

Das alles war sehr schön, und Fräulein von Gerwald, die am Kajüteneingang lehnte und hinaussah, dachte immerfort, von schwersten Zweifeln geplagt, ob es nichtihre Pflicht sei, ihre Herrin darauf aufmerksam zu machen, oder ob sie klüger handle, sie ungestört mit Herrn Lohmann zu lassen. Und außerdem: war es nicht Zeit, zu Abend zu essen? – unten warteten Hummer! – Und war es nicht Zeit, umzukehren? Wann kam man nach Haus? Großer Gott – es konnte sehr spät werden. –

Agathe schien jetzt keine Neugierde auf Fehmarn und den reizvollen Anblick der korngelben Insel im Rahmen blauer Wogen zu haben.

»Sie sind immer wie ein wahrer Freund zu mir,« sagte sie halblaut, »dafür bin ich Ihnen so dankbar.«

»Ich wünschte nur, ich sähe eine Möglichkeit, Ihnen Ihr oft so schweres Gemüt zu erhellen.«

»Mag Klara es aber auch haben, wenn Sie so freundschaftlich um mich besorgt sind?« fragte Agathe bedenklich. Sie hatte doch Klara wirklich lieb – teils aus ihrem allgemeinen Bedürfnis zum Lieben, teils weil sie sie neidlos bewunderte – neidlos, aus dem unbewußten Gefühl heraus, daß Klara nichts daran lag, Gefallen zu erwecken.

»Ich bitte Sie!« sprach Wynfried sehr lebhaft. »Klara und einem Menschen etwas nicht gönnen: das gibt es gar nicht. Und noch dazu Ihnen – ihrer Freundin ...«

»Ja, sie ist so selbstlos und gütig,« seufzte Agathe.

»Eine famose, großartige Frau! Ich weiß nicht – Sie sind doch Freundinnen – hat sie sich je über unsere Ehe ausgesprochen?«

»Nie. Klara spricht nie von sich – sie ist so verschlossen. Ich bewundere es.«

Wynfried neigte sich noch näher herüber und sprach, beinahe flüsternd: »Sehen Sie, liebste Freundin – im tiefsten Vertrauen! Man muß meine Ehe mit Klara anders beurteilen – wie wohl sonst Ehen. Wir haben uns gewissermaßen meinem Vater zu Gefallen verheiratet.Wissen Sie – als ich heimkam – Gott, es sind schon dreizehn Monat seitdem, wie ist es möglich! Da hatte ich so viel Schweres durchgemacht – eine Frau hatte mich verraten ...«

Agathe preßte seine Hand.

»Sie! Verraten?! Das konnte ein Weib?«

Und er hörte wohl, daß sie es unfaßlich fände, ihn zu lassen, wenn man von ihm geliebt sei ...

Er erwiderte dankbar den Händedruck.

»Und damals war ich so angeekelt vom Dasein, daß ich mich nicht viel wehrte, als Vater in einer raschen Heirat mit Klara für mich die einzige moralische Rettung sah. – Heut freilich – heut gelänge es Vater freilich nicht so leicht, mich einzufangen!« Er lachte leise auf – als spreche er von sehr drolligen, wenn auch höchst liebenswürdigen Geschichten. »Ja – und Klara – ich dachte erst, sie sei in mich verliebt – man neigt als etwas verwöhnter Mann zu arroganten Einbildungen. – Aber nein – Klara hat eigentlich nur so ’ne schwesterliche Hingebung für mich. – Geheiratet hat sie mich wegen Vater – etwas aus Dankbarkeit und besonders, weil sie ihn vergöttert.«

»O,« sagte Agathe, »das ist ja aber eigentlich tragisch – oder ... nein ... Ich wollte sagen – es hätte tragisch werden können ...«

»Keine Spur,« versicherte er mit Nachdruck. »Gerade diese schöne, ruhige Ehe voll Freundschaft gefällt uns beiden sehr gut – glauben Sie bitte nicht, daß ich es bereue. – Ich verdanke Klara viel. Wie klug hat sie das angefangen, meine Arbeitslust zu wecken ... Und ich habe sozusagen meine Jugend wiedergefunden ... Und dann: wie mein alter Herr nun glücklich ist! Er trägt sein Schicksal, gelähmt im Stuhl zu sitzen, in Frieden. – Wie hätt’ er sich sonst daran verzehrt ...«

»Das ist ja alles sehr schön,« sagte Agathe mit einem Male auf unbestimmte Art ernüchtert.

Aber dies flaue Gefühl wich rasch einer stürmischen Aufwallung. Denn Wynfried sah sie wieder mit vielsagendem Ausdruck an.

»Es beraubt also Klara in keiner Weise, wenn ich nicht blind für den holdesten, weiblichsten Zauber bin ...« sprach er leise und langsam.

Inzwischen hatten die Kämpfe in Fräulein von Gerwalds Brust zu einer Entscheidung gedrängt. Ihre Phantasie sah immer das leckere, von roter, steinharter Schale umpanzerte Hummerfleisch – und diese Zwangsvorstellung entschied.

Sie kam herbei, ein wenig schwankend und balancierend auf der schrägen Ebene des Decks der gerade sehr nach Backbord überliegenden Jacht.

»Es ist schon Abend!« sagte sie in dem erstauntesten Ton von der Welt, als falle ihr diese alltäglich wiederkehrende Tatsache zum ersten Male in ihrem Leben auf.

Agathe erwachte ...

»O – wann kommen wir heim? ...« rief sie geängstigt.

»Wann wir wollen!« beruhigte Wynfried; »ich habe zu Haus darauf vorbereitet, daß es spät in der Nacht werden kann ...«

»Liebste Baronin, Sie müßten aber jetzt etwas genießen,« ermahnte die Gerwald.

Man ging hinab. Vorher sprach Wynfried noch mit dem Schiffer. Der Wind flaute ab, blieb aber Nordnordost und verhieß glatte, wenngleich langsame Rückfahrt.

Dann aß man in einer unbegreiflich übermütigen Stimmung. Roter, schäumender Romané füllte dieGlasbecher. Das rosig verhüllte Licht gab eine Traumbeleuchtung. Aus vier Birnen kam es, die an den getäfelten Wänden, zwischen den Wandschränkchen, angebracht waren. Die Hummerschüssel stand auf Eis, und alle drei Tischgenossen griffen tüchtig zu.

Fräulein von Gerwald hob einmal ihr Glas mit dem prickelnden Burgunder gegen das von Wynfried. – Sogleich rief Agathe: »Wir wollen auf Klaras Wohl trinken!«

Und sie tranken auf die Gesundheit der jungen Frau. –

Die Gesellschafterin fühlte sich wieder einmal ganz beglückt – seit drei Jahren hatte all das Elend der Demütigungen und des ewigen Wechselns von Häuslichkeit zu Häuslichkeit ein Ende. – Rührung erfaßte sie, wenn sie bedachte, wie herrlich nun ihr Leben sei. Und in dieser Stunde war sie wie berauscht – nicht gerade vom leise und fein schäumenden Burgunder – nein, vielmehr noch von der Schwärmerei ihrer Herrin und von der Mannesschönheit Wynfrieds.

Agathe war vor Glückseligkeit wie benommen. – Ach, es lohnte sich ja doch noch, zu leben! – Und war es nicht, als ob Wynfried ein ganz anderes Wesen bekommen hätte – gleichsam als habe eine Zauberhand über sein Gesicht gestrichen und ihm einen neuen, fröhlich unternehmenden, sprühenden Ausdruck gegeben?

Ja – Wynfried fühlte sich wirklich wie verwandelt – nicht verwandelt – vielmehr wie ein Erwachender – wie ein Zurückgekehrter, der lange verbannt war – so dergleichen – er wußte selbst nicht, wie ihn das ankam. – Jedenfalls war es eine Gehobenheit. – Er war ganz durchrieselt von jenen köstlichen, gespannten Empfindungen, die Mann wie Weib in den Anfängen der Liebe überraschen. – Ach, was gab es denn Lebensvolleres als dies Vorahnenmöglicher Wonnen, dies sich Einanderentgegendrängen mit Blick und Lächeln und sinnschweren Worten. –

Und dann die Servietten hingeworfen und hinauf ...

Der Abend war gekommen; er hatte sanfte Töne über Himmel, Land und Meer gelegt – dunkelveilchenfarbene, ins Grau hinüberspielende.

Fräulein von Gerwald sagte mit etwas unklarer Stimme, sie wolle es recht mit Andacht genießen, und suchte sich vorn am Bug ein Plätzchen, da wo der Klüverbaum über Bord hinausragte wie ein Spieß ... Dort hockte sie nieder und fand Lehne und Halt.

Wynfried und Agathe setzten sich auf die Kissen des vertieften Sitzplatzes. Dicht nebeneinander – er nahm ihre Hand und küßte sie und legte sie ihr in den Schoß zurück.

»Solche Stunden,« sagte Agathe, »entschädigen für alles, was man gelitten hat.«

»Was haben Sie denn so schwer gelitten, teure Freundin?« sprach Wynfried. »Daß Ihre Ehe kein Vergnügen war, kann ich mir denken. Bitte, erzählen Sie nichts davon – mir ist, als würde ich zu zornig werden. – Es gibt nur eins: vergessen!«

Sie redeten sehr leise miteinander.

»Man kann nicht alles vergessen, es gibt das Wort vom Ewig-Gestrigen. Es ist wahr! Wenn immer wieder zu einem zurückkommt und sich immer neu straft, was man einmal verbrach ...«

»Verbrach?! Sie – Agathe. – Nein, Sie können keine Schuld auf sich geladen haben. – Sie, die Sie nicht imstande sind, einer Fliege weh zu tun.«

»Nein – keine Schuld. – Und doch – aus Unkenntnis – aus Neugier – aus einer schrecklichen Sehnsucht nach – ach, ich weiß selbst nicht, wonach – nach Liebe, odernach Glück – oder nach Geheimnis – ja, aus Unkenntnis kann man fehlen.«

»Nur das Gesetz ist so grausam, sie nicht als Entschuldigung anzunehmen. Erfahrene Herzen urteilen anders.«

»Dann haben meine Eltern keine erfahrenen Herzen, sie verzeihen mir nie, woran doch auch sie die Schuld trugen.«

»Wollen Sie mir nicht vertrauen – liebe Agathe. – Ich – verstehe alles –«

Er legte ganz sanft, und um sie zu ermutigen, den Arm um ihre Taille.

Und sie neigte den blonden Kopf näher zu ihm – stockend – in immer wachsender Leidenschaftlichkeit sprach sie von ihrer Jugend.

Immer dunkler ward die Sommernacht – die Flut glänzte in der Nähe schwarzblank und war in der Ferne ein Abgrund von Finsternis. Aus den Wogen kam eine gleichmäßige, an- und abschwellende Musik herauf – von der Jacht ging steuerbord ein kleines rotes Strahlenbündel hinaus und backbord ein grünes – die glitten als magischer Schein mit der Fahrt und schwebten über der Tiefe.

»Ich bin als einziges Kind immer sehr allein gewesen,« erzählte Agathe. »Und immer von zwei Gouvernanten bewacht – ich sollte Französisch und Englisch wie Deutsch können. Viel wollten meine Eltern mit mir. Hoch hinaus. – Mama ist eine Vereinsdame, gibt Geld mit vollen Händen, hat große Verbindungen – das war so ’ne Art Vorarbeit, begriff ich später – das sollte mir dann den Eintritt in die allererste Gesellschaft sichern. Und mal ’ne ganz, ganz große Partie! Hochadel oder allererste Finanzaristokratie. Papa wollte dergleichen haben für sein Geld, und Mama für all ihre Schufterei in denVereinen. Und deshalb wurde an mir herumerzogen – und gar keine lustige Kindheit hatt’ ich – und keine Freundin durft’ ich haben – damit nicht einmal unerwünschter Anhang da sei. – Mama sagte manchmal: bis man seine gesellschaftliche Position ganz fest begründet hat, ist es vorsichtiger, allein zu bleiben – man muß erst sehen, wohin man gelangen kann.«

»Eine kluge Dame Ihre Mama ...«

»Ja! Und solche Art Liebe und solche Art Voraussorgen war mir bloß erbitternd. Ich wollte lustig sein, eine Freundin zum Liebhaben wollte ich – und da waren nur die steifen Gouvernanten – und sie und ich, wir haßten uns.«

»Armes Kind!« sagte Wynfried leise, obschon er nur flüchtig zuhörte, sondern nachprüfend Agathens Parfüm aufatmete und dachte: ja, es istdasParfüm.

»So wurde ich sechzehn Jahre. Und wir lebten immer da draußen, zwischen den Fabriken – das Haus war prachtvoll – aber doch in Berlin selbst hätte ich vielleicht mehr Freiheit gehabt – mehr Zerstreuung. Ich sah oft die Herren aus dem Bureau – sie begegneten mir und grüßten – wenn ich mit meinem Nero spielte – ja, ich hatte eigentlich bloß meinen Bernhardiner zum Vergnügen. Und die Ingenieure sah ich auch. Wenn ich Nero in die Spree hinausschwimmen ließ zum Baden – dann mußte ich hinter dem Hause entlang gehen, wo die Herren alle wohnten. Und da ...« sie stockte.

Wynfried fragte: »Und da?« und legte seinen Arm fester um die zitternde Frau ...

»Und da war einer – mit so blanken braunen Augen und einem schwarzen Schnurrbärtchen – so italienisch – bildete ich mir damals ein – Papa sagte später: wie ein Friseurgehilfe ... Ich weiß nicht, wie es kam – wirsahen uns immer so an, und dann, obgleich es dem armen Nero schlecht bekam, dann ging ich immer öfter, um ihn zu baden, und immer um die Zeit, wo ›er‹ an seinem Parterrefenster stand. – Und ich war mit einem Male glücklich und hatte fortwährend an etwas Schönes zu denken. Und dann – einen Tag – es war im Juni – da warf er ein Briefchen heraus, als ich vorbeikam, und drin stand, daß er mich wahnsinnig liebe und sterben werde, wenn er nicht einmal mit mir sprechen könne, und wo es wohl sein könne – und ich solle morgen, wenn ich mit dem Hunde vorbei komme, eine Antwort bringen – einen Zettel in sein Zimmer werfen, er wolle aus Vorsicht nicht am offenen Fenster sein ... Ja, so fing es an.«

Agathe weinte ein wenig. Sie schämte sich noch immer wieder. Und erinnerte sich doch auch zugleich der schaurig-süßen Ängste und Wonnen von damals.

»Wir trafen uns – hinter Zäunen – zwischen den Winkeln von Schuppen und Lagerhäusern – da war keine Poesie – kein Wald – kein Mondschein – keine Nachtigall – alles hatte gleich so was furchtbar Verzweifeltes. – Und er schwor, sich zu erschießen, wenn ich nicht die Seine werde.«

Agathe trocknete ihre Tränen. Stärker als Scham und Gram ward das heiße Erinnern.

»Dann verreisten die Eltern – ich blieb bei den Gouvernanten zu Haus – jede von ihnen hatte vierzehn Tage Urlaub, so daß vier Wochen lang nur eine Tyrannin mich bewachte. – Und Miß Brown war sehr leidend – benutzte diese Zeit ohne Kontrolle seitens der Herrin, um ganz früh schlafen zu gehen – es war ein so schwüler August. Ich starb vor Sehnsucht – litt – o – dachte zu verbrennen – und da geschah es. – Ich wußte ja nicht, was ich tat – ich war nur selig – selig ...«

Sie erschauerte. – Sie flüsterte weiter. – Und es war, als ob ihre raunende Stimme und das schmeichelnde Rauschen des Meeres Töne seien, die aus dem gleichen Urgrunde allen Lebens heraufkämen.

»Ich hab’ es nie begriffen – nie – daß das schlecht von mir gewesen sein sollte – so unmenschlich glückselig in Liebe zu sein –«

Sie schwiegen beide lange. – Und Agathens Kopf ruhte sich an seiner Schulter von vergangenen Leiden aus ... Endlich sprach sie weiter.

»Die Eltern kamen zurück. Irgend jemand glaubte sich verpflichtet, mit ihnen zu sprechen – denn die ganze Fabrik hatte es gewiß schon lange gemerkt – wie hätt’ ich daran denken können? – Und dann gab es einen Zustand – o Gott – ein Massenmörder kann nicht härter bestraft werden. – Hinrichtung ist ja milde dagegen. – Und Miß Brown flog hinaus – und ›er‹ schrieb kühn und stark an Papa, daß ich seine Braut sei und daß er mich heiraten wolle – und Papa und Mama schrien, darauf habe er nur spekuliert – Und ich sagte, seine Armut sei mir recht und ich wolle mit ihm hinausziehen und betteln. – Dafür hatte Papa nur ein schreckliches Gelächter. – Wiedergesehen hab’ ich ihn nie – nicht einmal Abschied nehmen durfte ich. – Und Papa schickte ihn mit viel Geld nach Amerika – da ist er verdorben und gestorben – das hat Papa erst nach vier, fünf Jahren gehört. – Damals gleich, als all diese Wut auf mich bei Papa und Mama war, wollte ich sterben. – Es ist schwer, zu sterben – man weiß nicht, wie man es machen soll –«

Sie seufzte.

»Ich war noch ganz gebrochen – dann kamen die Eltern und sagten, ich müsse den Baron Hegemeisterheiraten, es sei für mich das beste – das einzigste. Sie taten, als weise ganz Berlin mit Fingern auf mich – weil ich einen armen Angestellten sehr lieb gehabt hatte. – Und ich dachte: vielleicht ist die Ehe Freiheit. Sie war ja gewiß ein besseres Leben als das, was ich zu Haus gehabt hätte. – Obgleich ... Bis auf den heutigen Tag zürnen mir die Eltern und tun nur wegen der Welt, als sei alles in Ordnung. Und sie fragen die Gerwald aus, und die gute Gerwald sagt die Wahrheit und erzählt, wie trist ich eigentlich lebe.«

Agathe sprach nun mehr vor sich hin als zu ihm.

»Und um dieser jungen, törichten, heißen Liebe willen, soll mein ganzes Leben verpfuscht sein? O, ich weiß wohl – böse Menschen flüstern noch immer allerlei – und vielleicht hat einer, für den ich ein bißchen schwärmte, gedacht, als Offizier könne er das nicht. – Aber von wie vielen Frauen wird geflüstert ... Und weil ich aus lauter Einsamkeit und Unkenntnis und Sehnsucht einen Menschen mal ein wenig zu lieb gehabt habe – soll ich nie mehr – nie – nie mehr die Glückseligkeit erfahren – geliebt zu sein ...«

Da neigte sich das Gesicht des Mannes über das ihre.

Er flüsterte kein Wort des Trostes, des Werbens, der Verheißung –

Mit einer bezwingenden Selbstverständlichkeit suchten seine Lippen die ihren zu einem verzehrenden Kuß ...

Und am Klüverbaum hockte das alte Mädchen und starrte in die Nacht hinaus.

Alles in ihr war Aufruhr. Eigenes Wünschen und Entsagen glomm, wie Feuerreste unter Aschenhaufen, wenn er aufgestöbert wird, noch einmal auf. – Und sie fühlte auch: nun war die seit drei Jahren mit so vielEntschlossenheit und immer vergebens erwartete Stunde da, beide Augen zuzumachen.

Und aus der Sommernacht wehte so viel heran – fast wie Qual des Neides – Rührung, die der gutherzigsten aller Frauen ein wenig Glück gönnte – Sorge vor schrecklichen Kämpfen.

Es war aber schön, hier zu sitzen und zu wachen, und sie kam sich fast wie Brangäne vor.

Märchenhaft – wie so das Schiff durch die schwarzen Wasser dahinglitt – und im ewig gleichen Ton und Rhythmus besangen die Wogen leise den Zauber der Fahrt; dunkel die Ferne, hoch und voll schwarzer Majestät der Himmel.

Und nun tauchte der stolze Schiffsleib der ›Hohenzollern‹ auf, und aus ihren vielen, vielen Augen glänzte gelbes Licht. – Und drüben Travemünde-Strand – eine Reihe von Lichtperlen nur. – Und das Blinkfeuer des Leuchtturms, das zuckte und verschwand und wieder zuckte.

Und dann trat ein Mann an den Platz heran, wo Fräulein von Gerwald saß, und schreckte sie auf.

Der Mann hielt in seinen hocherhobenen Händen je eine Laterne. – Er schwenkte sie und wiederholte gewisse Bewegungen in mehrfacher Folge. – Er semaphorte der Lootsenstation zu, daß die »Klara« in den Hafen wolle, und die Station solle es dem Motorboot weitergeben, das im Hafen wartete ...

Große Unruhe entstand an Bord.

Die rotweißen Matrosen manöverierten, das Schunersegel rauschte herab, sank in sich zusammen und ward von raschen, vielen Händen zu einer Faltenrolle zusammengebunden. Das Großsegel schlänkerte gelöst. –

Und inmitten all der Unruhe stand mit einem Male der Herr der Jacht da und gab Befehle.

Fräulein von Gerwald suchte Agathe und fand sie wie verzaubert auf dem Sitzplatz – in seligem Lächeln sinnend.

Sie fiel dann ihrer Treuen um den Hals und sprach kein Wort. – Aber die Treue wußte – dies verband sie beide auf immer.

Nach einer weiteren halben Stunde war man im Hafen. Und dort wollte Wynfried mit den Damen auf das Motorboot übersiedeln. Die »Klara« sollte über Nacht in Travemünde bleiben. Mit dem flinken »Severin« dachte Wynfried erst die Damen an die Lammener Brücke zu bringen und dann nach Haus zu fahren. Es würde wohl lange nach Mitternacht werden ...

In Travemünde am Ufer waren in dieser Festzeit noch Menschen – und zwei Schiffer riefen allerlei von der hohen Brücke herab ...

Was denn? Ja – ganz gewiß. – Der Schlepper ›Primus‹ hatte die Nachricht mitgebracht – gerade als er die Trave abwärts dampfte und schon eine gute Strecke an »Severin Lohmann« vorbei gewesen war, hatte er einen furchtbaren Knall von dorther gehört.

Wie von einer Explosion ...

Die junge Frau hatte den Besuch ihrer früheren Pflegemutter gehabt. In allem war die Doktorin Lamprecht ein eifriger Mensch, in Rede wie in Tat. Und so hielt sie auch mit einer gewissen pflichtvollen Emsigkeit darauf, Klaras Einladung zum Nachmittagstee zu folgen. Klara hatte gesagt: komm doch an schönen Sommertagen, so oft du willst, nachmittags herüber. Das war der alten raschen Dame zu unbestimmt gewesen, und sie setzte sich selbst im stillen den Dienstag und den Freitag zu den Gängen nach dem Herrenhaus von »Severin Lohmann« fest. Das hatte Klara natürlich bald gemerkt, und wenn sie einmal an einem dieser Wochentage verhindert war, telephonierte sie ab. Heute war die alte Frau eigentlich darauf gefaßt gewesen, daß man ihr abwinke. – Die jungen Eheleute wollten doch mit ihrer Jacht den Seglern entgegenfahren. – Likowski, der immer einen Augenblick vorsprach, erzählte von der erhaltenen Einladung, der er nicht folgen könne.

Als dann aber kein Abwinken erfolgte, stürzte sich die alte Frau mit ihrer vollen Lebhaftigkeit in Sorgen. War das Kind krank? Oder der Geheimrat? Darüber nachzudenken und sich mit jedermann, der ihr in den Wurf kam, eindringlich zu besprechen, war sehr unterhaltend. Zum Glück erwies sich alles als überflüssige Gedanken-und Zungengymnastik, denn sie fand Mutter und Kind in der völligsten Gesundheit vor, und der Geheimrat war nicht sichtbar. Er arbeitete oben mit seinem Sekretär. Das Kind hatte mittags viel geschrien und war ein wenig mit der Verdauung gestört gewesen – nun lag es prachtvoll anzusehen im offenen Wagen, und die Amme in der malerischen Tracht saß dabei und wehrte den Fliegen. Nicht weit davon hatten die beiden Damen Tee getrunken. Der Platz unter den alten Ulmen war angenehm, man hatte von da einen sehr malerischen Blick auf die Hochöfen, die wie in einem Ausschnitt, vor dem blauen Himmel, von grünen Zweigen umrahmt, ernst dastanden. Die Doktorin Lamprecht erzählte mit unermüdlich dahinrinnenden Worten von allem Kleinkram ihres engen Lebens.

Dann geleitete Klara die flinke kleine graue Alte hinab zur Fähre, wo es noch einen wortreichen Abschied gab, bis Sörensen, der Fährmann, ungeduldig fragte: »Wölt wi nu foahren, oder wölt wie nich foahren?«

Als Klara langsam treppan zwischen den Hainbuchenhecken zurückging, fühlte sie sich von einer unbegreiflichen Zuversicht und Heiterkeit erhoben. Woher ihr die kam – sie wußte es nicht. Das Grundlose ihrer wechselnden Stimmungen, das Gegenstandslose ihrer frohen Sehnsucht und jammervollen Zerdrücktheit, als läge alle Qual der Welt auf ihr – sie vermochte es nicht zu erklären. Alles, was sie konnte, war, eine äußerlich immer beherrschte Haltung zeigen.

Jetzt däuchte ihr, sie sei glücklich, daß das bißchen Unruhe des Kindes nicht die Vorbotin von ernstlichen Störungen gewesen sei. Sie machte sich Vorwürfe, ihren Mann nicht doch begleitet zu haben. Sie wollte ja all seine Interessen und Freuden teilen – das war ihrernster Vorsatz. Aber dieser freie, friedlich ungezwungene Nachmittag war so schön – fast, als sei es weniger – mühsam. –

Als sie sich dem Platze unter den Ulmen näherte, sah sie, daß die Amme fortgegangen war und daß anstatt ihrer Leupold Wache hielt. In seiner einfachen dunkelblauen Livree stand er da und beugte sich auf den Wagen hinab.

Klara schlich beinahe. Sie wollte ihn überrumpeln, und das gelang ihr auch. Er fuhr auf und wurde rot.

»Kathrin bat mich – ich sollte mal ein paar Minuten aufpassen. – Ich kam her, weil Herr Geheimrat bitten lassen, wenn es der gnädigen Frau recht sei, möchte das Abendessen erst um neun Uhr angesetzt werden.«

Da lag Severin der Kleine in seinem Wagen, luftig zugedeckt, die nackten Ärmchen frei – er fing nun schon an, mit der einen Hand nach der anderen zu greifen, ohne daß es ihm gelang – in diesem allerersten zweckvollen Spiel der Glieder. Er sah so gepflegt und lieblich aus, daß selbst ein unverständiger Beobachter wie der alternde Junggesell Leupold erkennen mußte, es sei ein köstliches Exemplar von einem Kinde.

Klara sah ihn an – irgend etwas in ihrem Blick forderte ihn auf, zu sprechen.

»Ich glaube,« sagte er verlegen, »der Kleine wird mal ganz und gar Herrn Geheimrat ähnlich ...«

Dann setzte er schnell hinzu und wurde wieder rot: »Es ist das schönste Kind, das ich je gesehen habe ...«

Und ging rasch davon. Klara lächelte. Sie fühlte: der eifersüchtige Mann hatte ihr nun endlich verziehen, daß sie die Schwiegertochter und bevorzugte Pflegerin seines Herrn geworden war. Severin der Kleine hatte ihn entwaffnet, und er war vielleicht von ähnlichem Stolz auf den Stammhalter erfüllt wie der Großvater selbst.

Ja, so kleine Händchen können viel.

»Vielleicht,« dachte Klara, von einer plötzlich aufwallenden Hoffnung ganz erregt, »vielleicht doch noch einmal die Herzen seiner Eltern recht zusammenfügen ...«

O Stunde des Glücks, wenn das geschähe! – Und warum nicht? Es gibt doch Gefühlswunder, Wandlungen – man las so viel Schönes davon. Und was die Poesie verherrlicht, muß sie doch im Leben gefunden haben. –

Um neun Uhr kam der alte Herr herunter und saß in seinem Fahrstuhl am Tische. Trotz des wundervollen Sommerabends blieben die Fenster geschlossen. Das Hereinschwirren von Insekten und ihr Tanz und oft genug ihr Tod im Licht war Klara immer widerwärtig. Der Geheimrat teilte ihren Ekel davor.

»Nun hast du heute gar nichts von dem Sommertag gehabt,« schalt Klara.

»Die Arbeit drängte. Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, die Denkschrift, die ich dem schwedischen Handelsminister zustellen lassen will, noch heute zu beenden. Morgen gibt es Störungen die Menge. Direktor Malzan von der Frankfurter Heizkessel- und Röhrenfabrik hat sich angesagt – eine Verbindung, die Wynfried anknüpfte. Die Fabrik will fortan ihr Rohmaterial von uns beziehen. Außerdem ist Mühlmann aus Harburg zu erwarten.«

»Ach der alte Herr, der immer denselben Spaß macht, indem er bedauert, daß er mir von den niedlichen Kleinigkeiten, die er fabriziert, keine Pröbchen zu Füßen legen könne.«

»Du solltest aber mal wirklich die Mühlmann-Werke mit Wynfried zusammen ansehen; wenn ihr mal in Hamburg seid, ist’s ja nur ein Katzensprung. Anker für Ozeandampfer und Krane und Ketten von kolossalischen Größen und Gewichten. – Ja, also Malzan und Mühlmann wohlsicher. Vielleicht noch zwei Geschäftsfreunde aus Rußland. Und möglicherweise der junge Marks. Die Reederei Marks in Stettin hat uns, aus einer Konkursmasse, billig einen Kohlendampfer angestellt. Wenn der Juniorchef selbst kommt, muß er zu Tisch gebeten werden. Aber du weißt: alles ist unsicher.«

Ja, das kannte Klara: an vielen Tagen der Woche Tischgäste: die, auf welche man sich vorbereitet hatte, kamen zu ganz anderen Tageszeiten und konnten nicht zum Speisen dableiben; ein andermal erwartete man niemanden, und eine Stunde vor Tisch hieß es plötzlich, es würden Gäste kommen. Oder man dachte an einen oder zwei Herren, und es wurden ihrer sechs.

Aber die Küche war darauf eingerichtet, und Frau Flüggen, die Herrenköchin, war eine Verbindung von rascher Entschlossenheit und Ruhe, die Klara heimlich bewunderte.

»Und da Thürauf verreist ist,« fuhr der alte Herr fort, »mag ich gern selbst alle sprechen und sehen. – Auf dem Werk macht Wynfried ja sowieso allein die Honneurs, wenn Thürauf fort ist.«

Klara legte ihrem Schwiegervater von dem leichten Ragout aus Kalbsmilchern und Zunge vor, das für ihn besonders bereitet war.

»Du sprachst von einer Denkschrift?« fragte sie.

Er mochte es gern haben, wenn sie unterrichtet sein wollte. So lebendig hatte auch einst ihre Mutter an allem teilgenommen, was ihn beschäftigte. Seit die Tochter der Geliebten seine Tochter geworden war, verschwammen beider Gestalten für ihn auf das merkwürdigste in eins. Er konnte seine Empfindungen für die heilige Tote und diese ihn täglich mit Liebe umsorgende junge Frau nicht mehr auseinanderhalten. Und ihm war auch, als erkenneer jetzt erst den tiefsten Sinn des Schicksals, das ihn zum Entsagen gezwungen. Daß die Vergangenheit rein geblieben war, adelte ihm heute die zärtlichen Vatergefühle. Klara war ihm teurer, als eine Tochter aus eigenem Blute hätte sein können – jene verborgensten, geheimnisvollsten Verwandtschaften sprachen, die jenseits aller Erklärbarkeit liegen.

Wie genoß der alte Herr nach Tagen voll angestrengter Arbeit und in seinem brüchigen Zustand diese Stunden – auch ihm war’s im tiefsten Herzen uneingestanden recht, wenn Wynfried am Abendtisch fehlte. Er, der Vater, und sie, die junge Frau, waren sonst immer bemüht, daß Wynfried sich nur behaglich fühle ...

Er sprach zu der eifrig Hörenden.

»Weißt du, es ist auch eine Art Zeitkrankheit: dies Erwachen eines blinden Nationalismus überall – der so oft Forderungen erhebt, die dem eigentlichen volkswirtschaftlichen Interesse des Vaterlandes zuwiderlaufen. – In allen Ländern das gleiche. Nun gibt es in Schweden große Gruppen von Politikern, die es als eine Schädigung der wirtschaftlichen Zukunft ausschreien, wenn Schweden fortfahre, seine Eisenerze auszuführen. Und es wäre beinahe Selbstmord, wenn diese Ausfuhr je verboten werden sollte. Die Eisenerzlager sind ungeheuer groß. – Und Schweden ist so klein – es hat auch keine Kohlen – keine Arbeitskräfte – selbst wenn es all seine Erze selbst verhütten wollte und könnte, fehlte wieder die Feinindustrie, die den Hüttenwerken das Rohmaterial abzunehmen imstande wäre – und sie könnte auch niemals in einem Maße entstehen und sich entwickeln, um all dies gedachte Roheisen zu verarbeiten. – Deutschland ist der nächste, der gegebenste Abnehmer – es trägt für das Erz, das es empfängt, ein Riesenkapital über die Ostsee nach dembefreundeten Land. In Deutschland ist der Eisenverbrauch pro Kopf in den letzten dreißig Jahren um etwa neunzig Kilogramm gestiegen: von vierzig bis auf hundertunddreißig – stell dir das mal vor ...«

Nein, das konnte Klara sich natürlich nicht auf deutliche Art vorstellen, wie ein Mensch hundertdreißig Kilogramm Eisen verbrauchen soll. Sie lächelte glücklich, war voll Freude, daß der Vater immer in dem starken Bedürfnis, sich zu betätigen, geistig so frisch wie nur je sich zeigte, und sie scherzte ein wenig – denn das mochte er haben. Und sie sagte, daß diese Statistiken auch unfreiwilligen Humor besäßen; und Großvater solle es sich doch seinerseits einmal vorstellen, wie Severin der Kleine hundertdreißig Kilogramm Eisen verbrauche ... Er mußte lachen. Und sie lenkte durch wißbegierige Fragen ihn wieder auf seinen Vortrag zurück.

So saßen sie in Frieden, und Klara sprach endlich, etwa um elf Uhr, davon, ob man nicht ans Zubettgehen denken müsse.

»Wenn du sagst ›man‹, meinst du mich,« scherzte der Geheimrat.

»Eingestandenermaßen! Ich möchte noch aufbleiben – auf Wynfried warten – aber nur bis Mitternacht – später könnt’s ihm eher bedrückend als erfreuend sein.«

»Klug!« lobte er. »Und Wynfried hat es ja heute wirklich nicht in der Hand – wenn zum Beispiel Flaute eingetreten sein sollte ...«

Klara klingelte zweimal. Das hieß, daß Leupold kommen solle, um seinen Herrn hinaufzuschaffen, und daß Georg oben zur Stelle zu sein habe, um beim Zubettgehen zu helfen.

Sie geleitete den Fahrstuhl noch hinaus – der Lift mündete in der Nähe des Eßzimmers auf die Diele.

Diese war nur schwach erleuchtet. Die Glastür, durch die man in den Hauseingang kam, war geschlossen. Aber die breite Tür, die von der Diele aus auf eine Plattform mit Sitzgelegenheiten führte, stand weit geöffnet, und die Wärme des Sommerabends kam herein.

Der alte Herr atmete sie ein – sie tat ihm wohl.

»Ein paar Minuten,« sagte er, und Leupold fuhr seinen Herrn gehorsam auf die Plattform hinaus. Klara setzte sich auf den nächsten Stuhl, stützte den Ellbogen auf seine Lehne und schaute ruhevoll hinaus in das schwarze Dickicht des Parkes.

Dieser Abend hatte der jungen Frau wohlgetan. Sie fühlte: solange dieser große Mann lebte, war sie, als seine Tochter, reich. Wie mußte er immer und immer an sich gearbeitet haben, bis sein brausender Wille, sein überragender Verstand sich mit Güte und Gerechtigkeit gleich einer Gloriole umgab. Sie ahnte auch, daß er nicht nur aus Neigung zu dem Gesprächsstoff, sondern sehr zweckvoll sie ganz und gar mit dem Werk und seinen tausendfältigen Beziehungen vertraut machte. Sie legte es sich so aus: er wolle, daß sie ihrem Gatten immer mit Verständnis entgegenkommen und sein Interesse, falls es erlahme, neu beflügeln könne.

Man sah von dieser Plattform aus nichts vom Hochofenwerk. An das Rumoren des Betriebes waren ihrer aller Ohren so gewöhnt, daß sie es nicht mehr hörten. Ihnen schien Sommernachtstille entgegenzuströmen, und Friede und ein sanftes Dunkel füllte die Luft, als webe und schwebe in ihr der Geist lieblicher Schlafseligkeit. Alles zwang zum Schweigen. Und diesem beruhigenden Schweigen nachzuhängen, war schön.

So ließen sie die Minuten rinnen. – Da geschah etwas Furchtbares – grauenvoll Bedrohliches – sie zuckten zusammen –ein dunkler, runder Ton hatte die Luft zerrissen. – Die Gewalt der Erschütterung war so groß, daß ein Zittern durch die Nacht ging.

Der Schreck legte seine kalte Hand auf den Mund der jungen Frau, und sie konnte nicht einmal schreien – –

»Mein Gott!« stieß der alte Mann heraus. – Und er saß und war gefangen ...

Eine Explosion – irgend etwas war geschehen. – Ungewöhnliches – vielleicht Furchtbares.

Sie horchten unwillkürlich dem dunklen, knallenden Ton nach – ein, zwei Sekunden – unter der Wucht des Nachhalls, der ihnen im Ohr lag – in der Lähmung des Schreckens.

»Durchbruch?« sagte der alte Mann. – Als Frage klang das in die jetzt wieder stumm gewordene, dunkle Nacht hinein.

Und seine Hände auf den Lehnen seines Stuhles zitterten.

Nach dem Schreck kam der erste deutliche Gedanke: Leupold sollte hinüberlaufen und fragen. – Aber er hatte keine Zeit, das zu Worten zu formen.

Denn die junge Frau rannte fort – es trieb sie – rief sie.

»Klara!« aber der starke Ruf erreichte sie nicht mehr. Ihre weiße Gestalt war schon um die Hausecke verschwunden.

Und sie lief, wie sonst Knaben laufen, in rasender Eile, mit langen, federnden Schritten.

Sie sah vor sich das Werk – war nicht alles wie sonst? ... Die vielen kleinen Sonnen all der elektrischen Lichter standen als heller Kern in ihrer runden Strahlenglorie. Malerisch beschienen wälzte sich der Rauch von der Kokerei her langsam in schräger Lage über und durch alldas Eisengestänge der Drahtseilbahnen und Rohrleitungen, ehe er sich in die dunkle Luft hinauf verlor und von der Nacht aufgesogen ward. Als hellbeleuchtete Säulen erhoben sich unbeschädigt die Schornsteine. Die weit hinausragenden eisernen Linien der Ausladebrücken waren klar zu erkennen. Das ungeheure Geschöpf mechanischen Lebens, der Selbstgreifer, senkte sich von der ersten Brücke hinab in den Bauch eines Dampfers, um ihm Riesenhände voll gepulverter Kohle zu entreißen und oben in die Wagen zu entleeren.

Klara umfaßte im Laufen dies ganze, ihr so vertraute Bild von Lichtern und Feuerscheinen und überhelltem Gewölk, senkrecht und wagerecht von schwarzen Linien und Gebäudesilhouetten durchschnitten. Wie ein Märchen aus Tausendundeine Nacht, aber gewaltiger und viel phantastischer, stand dies Wunder menschlicher Kraft vor dem schwarzen Himmel, inmitten der dunklen Landschaft.

Ein Blick – in solcher Angst – erfaßt in Sekundenschnelle viel – die nächste Sekunde änderte das Bild.

War dort nicht die Ordnung und das gewohnte Sichüberschneiden der Linien zerstört? Wo war der leiterartige Schrägaufzug, dieser feine, durchsichtige Bau von Eisenstäben, zwischen denen sonst die Förderwagen gleich kleinen Lasttieren hinaufkrochen, um oben in das Beschickungsloch der Hochöfen Erze, Kohlen und Kalkstein zu werfen? Starrten da nicht zerbrochene Rippen in die Luft? Aber noch ehe der Blick dies sicher erkennen konnte, geschah etwas Neues. – Dampf quoll auf, weißer, dickgeballter Dampf kochte in die Höhe und verhüllte alles.

Schon war die junge Frau am Tor – von Severinshof strömten Menschen heran. – Die Männer der abgelösten Belegschaft, die der Knall aus ihrer Ruhe riß – verängstete Frauen.

Der Torwächter gebot diesen Frauen ein Halt. – Aber wie durfte er es der Tochter und Gattin der Herren zurufen?

Klara stürzte vorwärts – sie die einzige Frau unter den Scharen von Männern.

Nun sah sie – da am ersten Hochofen sah sie es – in kurzen Sekunden, wenn der weiße Dampf zischend höher trieb. – Ergoß sich ein Lavastrom aus dem Bauche des Hochofens? Wo kam diese weißglühende, feurige Masse her, die alles Wasser, das gleich einem gläsernen, rinnenden Mantel die Burg der schmelzenden Erze umgab, zum Verdampfen brachte?

Das flüssige Eisen und die kochende Schlacke hatten ihren Panzer durchfressen.

Und indem sie sich, ihren Kerker zersprengend, hinausdrängen wollten, machten sie allen Gasen freie Bahn.

Mit einem Donnerknall war die glühende Luft entwichen, indem sie Steine und Eisen zerbrach – und die Masse geschmolzenen Metalls flutete ihr nach.

Es war ein ungeheuerliches Bild – wie dies Gedärm von fließendem Feuer nun fast ruhevoll herausquoll und sich über den Unterbau, den Herd ergoß.

Und eine unerhörte Aufregung zuckte durch die Menge.

Vor dem Höllenatem der Bruchstelle und ihren Entladungen, vor dem weißkochenden Dampf wich alles weit zurück. – Und doch hieß es eingreifen – größerem Unglück vorbeugen – von all den maschinellen Betrieben des Werkes Störungen abhalten – die vorbeiziehenden Bahnen und Rohre vor der Schmelzglut schützen – die fließende Lava aufhalten. Von der Gießhalle her mußte das Stichloch eingestoßen werden, um den Abfluß auf die sandige schiefe Ebene ihres Bodens zu lenken.

Tapfere Männer, Hände und Arme mit nassen Lappenumwunden, von Schläuchen mit Wasser begossen, drangen mit der Stoßstange vor – berannten das Stichloch – damit sein Tonverschluß zerbreche.

Einer der Ingenieure, die die Arbeit leiteten, näherte sich Klara. – Sie stand, leichenblaß, zitternd, erdrückt von der Majestät der Elemente, die sich der Menschenhand entwinden wollten.

»Gnädige Frau,« bat der Ingenieur höflich, und es hieß: »Gehen Sie.«

»Alle fort – Thürauf – mein Mann –« stammelte sie.

»Was zu tun ist, geschieht,« sagte er ruhig.

»Nein – ich bleibe ...« Sie stand ja sicher.

Dampf und Glut umhüllten das Bild und entschleierten es in jähem Wechsel, wie Wind, Hitze, Luftwirbel spielten.

Die hellen Töne der Eisenstange, die die Männer gegen das Stichloch trieben, klangen durch die Wirrnis.

Da ein Schrei und ein furchtbares Aufheulen.

Im gleichen Augenblick, da das Durchstoßen des Stichloches gelang, sackte von oben im Gehäuse des Ofens die ganze Beschickungssäule, diese schon halb durchschmolzene Masse von Erzen und Kohlen und Kalkstein nach, hinab in den entstandenen Hohlraum, und preßte so auf die herausquellenden Massen, daß sich aus dem Stichloch ein Katarakt, ein Springquell von fließendem Eisen ergoß und auf den Unterkörper des Vordermannes traf.

Das wahnsinnige Aufheulen ließ jeden erbeben, und da war wohl keiner, dem nicht ein Frösteln über die Haut lief und ein Gefühl von Übelkeit emporstieg.

Auch die junge Frau schrie auf – sie drängte sich durch die Männer – sie lief und lief und merkte kaum, daß ein paar Atemlose mit ihr fast Schritt hielten. Zwischen starren Eisenträgern und Mauern vorbei ging der Weg – durch Qualm und gasige Dünste – und da war das kleineRettungshaus. – Da war die Tragbahre – in Glasschränken alles, was einem Verunglückten wohltun kann.

Und da war auch schon Doktor Sylvester, der für alle Fälle herbeigeeilt kam, als er über den Knall erschrak.

Und zehn Minuten nachher lag auf der Tragbahre, die mitten auf dem braunblanken Tonestrich des kleinen Raumes stand, der Mann – gefallen auf dem Felde der Arbeit – ein stiller Held, der in ruhigem Mut sich dahin stellte, wo seine Pflicht ihm das Leben kosten konnte.

Sein Jammern erfüllte die Luft und machte der jungen Frau den Herzschlag fliegen.

Sie weinte und wußte nicht einmal, daß ihr die Tränen aus den Augen liefen und daß sie sich zuweilen mechanisch mit dem Handrücken abwischte, um klarer zu sehen.

Mit raschen, gehorsamen Händen folgte sie den Anweisungen Sylvesters – ihr Frauengefühl, die sanfte Sicherheit ihrer Bewegungen waren gute Dienerinnen. Und Sylvester, mit dem Schmiß über die Wange bis zum Mundwinkel hinein, sah verächtlicher und grollender aus als je – seine Stirn war gefaltet – seine Finger zart, wie die eines schonenden Weibes.

Und sie schnitten dem Verunglückten die Kleider vom Leibe, und von dem nackten berußten Körper stieg der furchtbare Geruch verbrannten Fleisches auf. –

Dann kniete Klara neben der Bahre – und als der Arzt begann, mit lindernden Mitteln, antiseptischen Watten und schleierdünnen Bandagen die Beine und Schenkel zu behandeln, umfaßten die beiden feinen Frauenhände manchmal die zwei krampfhaft geballten schwarzen Arbeiterfäuste.

Das heisere, brüllende Schreien des Mannes wurde matter – er mochte die Wohltat des Verbandes spüren – und vielleicht kam die Schwäche – jene Grenze deräußersten Leiden war erreicht, wo die Nerven schon leiseste Milderung erlösend empfinden.

Sein Blick – sein furchtbarer Blick voll Zorn und Wildheit – in dem noch die ungebrochene Wut der Schmerzen loderte, traf den Blick der jungen Frau.

Und es war, als sprächen sie zusammen.

Aus den dunklen Augen strahlte ein Mitleiden voll himmlischer Kraft.

Und diese junge, weiße Stirn war von einem ungeheuren Schmerz gefurcht.

Tief neigte sie sich zu ihm herab – als wolle sie ihre Seele der seinen nahe bringen.

Und ihre Seele wollte der seinen viel sagen.

Aber nicht einmal ihre Gedanken konnten sich zu Worten fassen – in dem Übermaß der durcheinanderflutenden Gefühle tauchten, gleich Bruchstücken, einzelne, deutlichere Empfindungen auf ...

»Ich leide mit dir – sieh – ich hab’ mich niemals über dich erhoben – hab’ nie hochgemut den Reichtum genossen – ich bin ein einfacher Mensch wie du – deine Schwester – verzeih mir – verzeih Gott – verzeih dem Leben – verzeih, daß du leidest – du sollst keine Sorgen haben – sei tapfer – bleib mutig –«

So stammelte ihr Denken. – Und sie hob mit aller Kraft ihre gefalteten Hände zum Arzt empor – ohne Worte flehte, fragte sie: er wird leben?

Und Sylvester verstand diese stumme, glühende Frage.

Er sprach fest: »Ich hoffe.«

Und sein Blick glitt ab, nicht weil er log – sondern weil die Inbrunst in diesen Augen, weil das heilige Mitleiden auf diesem Angesicht seine männliche Fassung fast zerbrach.

Und wieder neigte Klara sich über dieses düstere, halbzerstörte,ächzende Geschöpf. Mit leisen, liebevollsten Händen streichelte sie seine Schläfen – strich ihm das nasse Haar aus der Stirn.

Und wieder sprachen ihre Blicke zueinander – in schrecklicher Klage und in innigem Trost.

Da bückte sich die junge Frau noch tiefer und küßte die berußte, von wilden Schmerzen verzerrte Stirn.


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