9

Am anderen Ufer, in der friedlichen kleinen Stadt, saßen der Hauptmann von Likowski und sein Oberleutnant und Freund, der Freiherr von Marning, noch spät zusammen. Die Fenster waren geöffnet, und der schwebende Rauch aus des Hauptmanns Zigarren zog um die Lampe und dann in feinen Streifen hinaus ins Dunkel der Nacht.

Marning hatte das schlichte Abendbrot des älteren Kameraden geteilt. Dann saßen sie und nahmen eine strategische Aufgabe durch, die Likowski sich ausgedacht hatte. In der lebhaftesten Meinungsverschiedenheit stritten sie hin und her. Aber nun war es für heute genug. Morgen früh vier Uhr begann eine große Marschübung. – Also: gute Nacht –

»Ich danke Ihnen, daß ich heute abend bei Ihnen sein konnte,« sagte Marning, während er seinen Säbel umschnallte.

»Na ja, und ich dank’ Ihnen, daß Sie sich bei mir einluden. Sagen Sie mal, Marning, was ist das, daß wir uns um Vorwände bemühen, Herrn Wynfried Severins Aufforderungen auszuweichen? Und obenein mit Zurhilfenahme von Verschleierungen und Vorspiegelungen. Er muß meinen, nach der Art unserer Absage, daß bei mir ’n großer Kommispekko für Unbeweibte stattfindet. Und wir haben bloß friedlich zu zweien fachgesimpelt– leider Gottes tun wir ja immer nur was Friedliches.«

»Ich weiß auch nicht, was es ist,« sprach Marning.

»Schade! Ist ja übrigens nicht auf unserer Höhe! Nach Vorgefühlen gehen! Denn was anderes als dies unbestimmte ›Wir mögen ihn nu mal nich‹ können wir doch nich vorbringen. Er ist ein liebenswürdiger Wirt. Er soll sich zum fixen Geschäftsmann entwickeln. Wir sehen ihn nur in ritterlicher Art mit Vater und Frau verkehren. Daß er acht Jahre lang ’n Lebejüngling war – nu – über so was wächst ja Gras – – Und dennoch: nee – ich kann nu mal kein Herz zu ihm fassen – ich trau’ ihm nich – – Er ist mir auch zu schön.«

Marning hätte kaum etwas antworten mögen und können. – Und ihm wurde auch jede Antwort abgeschnitten. – Ein Knall – dunkel und groß – von dem Nachklang krachender Geräusche begleitet, zerriß die Nachtluft in Stücke.

Sie sahen sich an – erschreckt nachhorchend – ein paar Augenblicke.

Was war das? Wo war das gewesen? In der Stuhrschen Fabrik? In welcher anderen der vielen industriellen Anlagen hüben und drüben am Fluß? Oder gar auf »Severin Lohmann«?

Likowski riß die Tür zu seinem nach hinten hinaus gelegenen Schlafzimmer auf und stürzte ans Fenster. Von dort, über das Stalldach hinweg, konnte er das Hochofenwerk sehen. Stand es nicht wie immer, lichtumstrahlt, von beschienenem Gewölk umzogen, als helldunkles Bild wunderbar vor dem schwarzen Nachthimmel?

Nein, nicht wie immer – da stiegen weiße Wolken – kochte Dampf auf.

»Ein Unglück. Rasch, Marning – den zweiten Zug alarmieren – der dritte soll sich bereit halten ...«

Der Ruf: »Vollert – Vollert!« donnerte durch das Haus. Der Bursche polterte aber schon gerade die Holztreppe von seiner Dachkammer herab.

Sie griffen nach ihren Mützen und liefen.

Unten streckte sich ein altes, graues Frauenköpfchen aus der Türspalte, und man sah eine weißbekleidete Schulter.

Aber da war nun keine Zeit zu neugierigen und erörternden Gesprächen.

»Ich glaube nicht,« sagte Marning im Laufen, »daß sie uns drüben brauchen. – Die abgelöste Belegschaft tritt ja ein – wenn wirklich was los ist – aber immerzu –«

»Nun – anbieten müssen wir’s –«

Sie rannten fast Hornmarck um, den der Knall vom Schreibtisch aufgeschreckt hatte, wo er seine Gefühlszweifel in Verse goß und sich mit Edith und Finchen in leidenschaftlichen Strophen auseinandersetzte.

»Sie – Hornmarck – den zweiten Zug alarmieren – der dritte soll sich bereit halten. – Laufschritt zur Fähre – drüben ebenso nach ›Severin Lohmann‹ – immer zwei Gruppen auf einmal übersetzen lassen. – Die beiden Mann der letzten Rotte hüben und drüben postieren – zum Nachrichtendienst. – – Wir laufen voraus ...«

Likowski und Marning eilten die schräge Straße hinab, die zur Fähre führte. Das Leben, das schon schlafen gegangen war, erwachte wieder. Einzelne Männer erschienen in den Türen. Aber sie sagten, es sei wohl nichts Besonderes. Da war auch der Fährmann, in Pantoffeln und nur in Hosen und dem blauen Hemd.

Aber da half ihm nun nichts: Likowski hätte ihn mitgeschleppt, wäre er selbst noch kümmerlicher bekleidet gewesen.Und Sörensens mürrischer Einwand: »Herrjes – in Büxen?« half ihm nicht.

»Wat – Büxen! Is ja Sommertid – man to – man to!«

Sie standen voll Ungeduld im großen, schweren Kahn, während die eiserne Kette klirrte. Nun warf Sörensen sie hinein, daß es krachte, und fuhr los.

Über den Fluß, der von schwarzblanker Tinte schien, schaukelten sie. Der dunkle Himmel der Sommernacht spannte sich in unermeßlicher Weite. Alle Ferne war in Finsternis versunken. Aber die Nähe zeigte ihr Bild in großen Zügen. Das Lichtgeflimmer des Hochofenwerks spiegelte sich in der Flut; vor dem mächtigen Hintergrund quoll weißer Dampf in die Höhe.

Sie schwiegen.

Nun waren sie drüben. Sie hatten schon während der Überfahrt gesehen: weder die »Klara« noch das Motorboot lagen an ihren Bojen. Also das junge Paar war von der Segelpartie noch nicht zurück.

»Gottlob!« dachte Stephan. – So brauchte er der Einen nicht zu begegnen, die er mied, wenn er es ohne Aufsehen konnte.

Sie nahmen immer zwei Stufen auf einmal. In den Hainbuchenhecken, die die Treppe begleiteten, raschelte ein wenig Wind. Da, vor ihnen, lag nun das Herrenhaus. Ganz wenig Fenster zeigten sich erhellt. Vorbei – im Laufschritt. – Aber wie denn? Vor dem Gitter, das Park und Vorgarten von der Straße schied, stand der Fahrstuhl. Der alte Herr saß darin – neben ihm stand Leupold Wache.

»Herr Geheimrat!« rief Likowski perplex.

Das mächtige Haupt mit den blitzenden Augen wandte sich um und ihm zu. Er hatte in die Richtunggestarrt, wo der Palisadenzaun um »Severin Lohmann« begann.

»Ja,« sagte er vor Zorn fast heiser, »angebunden. – Und dieser Kerl weigert sich, mich hinzufahren! – Mich zu verlassen! Mir meine Tochter zu holen – und das Schaf – der Georg, der findet sie nicht – –«

Leupold nahm den »Kerl« nicht übel. Er sagte nur kurz: »Wie kann und darf ich Herrn Geheimrat verlassen?«

»Ihre Tochter?« fragte Likowski. »Nicht mitgesegelt?!«

»Sie ist drüben – Georg läuft her und hin und kann sie nicht finden –«

»Was ist los? – Der zweite Zug meiner Kompanie kann bald zur Hilfe hier sein. – Soldaten können Sie haben, so viel da sind ...«

»Oh – unnötig!« wehrte der Geheimrat ab. »Ihre Soldaten können uns nichts nutzen – danke – danke – was los ist? Durchbruch! Ein Mann verunglückt. – Und Schaden – schwerer Schaden – Produktionsminderung auf zwei, drei Wochen – ich weiß noch nichts Genaues.«

Er sah den atemlosen Georg heranrasen – zum drittenmal.

»Welche sagen, die gnädige Frau sei bei dem Verunglückten – da darf ich nicht ’rein.«

»Marning,« flehte der alte Herr, »holen Sie mir meine Tochter ...«

Stephan salutierte gehorsam. – Er konnte nichts sagen. Er ging.

Likowski kam sich ein wenig blamiert vor. Tatkräftig hatte er Retter und Helfer aufgeboten, und nun waren sie nicht einmal gewünscht.

»Darf ich sofort telephonieren? Hornmarck rückt sonst mit den Leuten an – vielleicht halt’ ich sie noch auf –«

Der Geheimrat nickte, sah aber dem davonschreitendenMarning nach, während der Hauptmann, diensteifrig und strahlend von Georg, seinem früheren Burschen, gefolgt, ins Haus ging.

Stephan kam an das große Eingangstor, darüber auf breitem Blechband in schwarzen Buchstaben der wuchtige Name stand.

Er kannte hier alles genau – oft und oft war er hier umhergegangen – allein – mit dem Generaldirektor – mit einem der Ingenieure oder der Chemiker. Sein Interesse war unersättlich, sein Verständnis ein so rasches, als habe seine ganze Intelligenz sich von jeher darauf vorbereitet, diesen Stoff aufzunehmen. Wie es vielleicht immer ist, wenn Menschen von ihren überkommenen Bahnen aus plötzlich den Blick gewinnen auf ein Gebiet, dahin sie sich berufen gefühlt haben würden, wenn sie es gekannt hätten.

Heute aber war das Bild doch verändert. Nicht all der zischende Wasserdampf zog gleich frei hinauf zur Höhe – viel von diesem weißen Gewölk schlich sich um die Eisenträger, unter den Bahnen und Rohren, zwischen den Bauten hin. Der starke Feuerschein, vom beschädigten Ofen her, glänzte unheimlich über das Gelände hin.

Er wußte auch, wo die Rettungsstation war. Wenn die junge Frau dem Verunglückten beistand, mußte sie dort sein.

Vor der Tür traf er vier Männer. Sie warteten in bedrücktem Schweigen, mit finsteren Mienen. Das Mitleid fraß an ihnen und das Bewußtsein von der Bedrohlichkeit ihrer Arbeit.

»Wir sollen ihn ’rüber bringen,« sagten sie.

In der Kolonie Severinshof gab es doch das kleine Krankenhaus mit den vollkommenen Einrichtungen.

Stephan zauderte – durfte er eintreten? Er fühlte: ja! Nicht nur, weil die Bitte des alten Herrn ihn trieb.Er war Offizier. Es lag ihm im Blute, sich nach einem Gefallenen liebevoll umzutun.

Er öffnete die Tür.

Und er und die finster wartenden Männer sahen es alle: – Da drinnen kniete eine junge Frau und küßte die berußte, schmerzverzerrte Stirn des Verunglückten. – –

»So,« sagte Doktor Sylvester, »nu faßt an – aber leise, – leise – schwebt sozusagen – geht auf Eiern. – Schwester Ludmilla hat schon telephoniert – alles bereit drüben.«

Der Verunglückte schloß die Augen, sein Wimmern zitterte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor ...

Und wie die vier schwer tragenden Männer mit ihrer düsteren Last davonschritten, stand Klara und lehnte ihre Stirn gegen die zusammengepreßten Hände an der hellen Wand.

Draußen packte Doktor Sylvester, ehe er der Tragbahre folgte, den Arm Stephans.

Er raunte: »Ich will Ihnen mal was sagen – es gibt noch edle Frauen! – Und den Mann mach’ ich gesund – wenn Gott uns nich ganz verläßt – dem Tode aus ’m Rachen reiß’ ich ihn. – Ja ...«

Stephan trat über die Schwelle. Gefaßt und erhoben.

»Edle Frau,« dachte er – »edle Frau –«

Sie hörte ein Geräusch – sie hatte gedacht, sie sei nun allein. – Sie brauchte ein paar Minuten der Sammlung. Der Schreck, das Entsetzen – das Geheul des armen Menschen – und der betäubende Geruch – Jodoform – verbranntes Fleisch – furchtbar! – Sie war wie benommen. – Von der Nähe des Mannes hatte sie keine Ahnung. – Nun schreckte ein Schritt sie auf, der hinter ihr anhielt. Sie löste sich von der Wand, an der sie Halt gesucht. Sie wandte sich um, in einer müden Bewegung.

Und erschrak – und erglühte. –

Sie starrten einander an. – Auch er von ihrem Schreck ergriffen. – –

Sie faßten sich ... Mit all ihrer Kraft.

»Gnädige Frau,« sprach er sehr förmlich, »Ihr Herr Schwiegervater beauftragt mich, Sie heimzugeleiten.«

»Danke,« sagte sie mit kaum hörbarer Stimme – wie eine Zerstreute war sie, die nicht recht bei ihren Worten ist; »danke – ja – Vater –«

»Er war in großer Angst um Sie.«

»O – keine Ursache – gar keine ...«

Sie ging auf die Tür zu. Hielt sich am Pfosten. Raffte sich abermals auf und schritt hinaus. – Er folgte ihr. – Draußen waren ein paar Leute – sie wichen ehrerbietig zurück.

Und wie sie so dahinging, mit unsicheren Füßen, schwankend, im beschmutzten weißen Kleid, an dem kein Schmuck, kein Zierat auffiel – das Haar zerzaust – das Gesicht bleich, von der Erregung mit scharfen Linien durchzeichnet – da hätte man sie wohl eher für das Weib des Verunglückten halten können als für die Herrin dieses Werkes.

Und die von den Arbeitern, die sie sahen, fühlten es: der Schlag, der einen von den Ihren hingestreckt, der hatte auch diese junge Frau mitbetroffen.

Und deshalb sahen sie sie mit tiefen Blicken an ...

»Ich darf Ihnen meinen Arm geben,« sprach er. »Sie können ja kaum ...«

»Eine Minute ...« flüsterte Klara.

Nein, so nicht vor den Vater treten – er würde sich entsetzen. – Fassung – Haltung ...

»Eine Minute,« sagte sie noch einmal.

Und an seinem Arm ging sie ein paar Schritte in den Knickweg hinein, der auf die Straße mündete. –

Da, zwischen den ragenden Wänden der hohen Büsche, die ineinander verflochten, vom Gerank des Caprifoliums durchwirkt, auf den Erdwällen sich hinzogen – da war Ruhe. – Die Sommernacht wohnte hier – und die schwarzblaue Höhe droben über allem Irdischen tröstete. – Vom Werk her kam ein blasser Schein. – Sie konnten einander deutlich erkennen – jeden Zug der Angesichter.

Sie strich sich über die Augen – mit schwerer Hand.

Dann hob sie den Blick zu ihm ... Sie sahen sich an – lange.

Und langsam kam das Entsetzen über sie.

»Nein ...« stammelte das junge Weib – »nein ... nein!«

Und sie streckte ihre Hand abwehrend gegen ihn aus ...

Nicht wissen, was in der eigenen Seele gleich wahnwitzigem Glück, gleich rasender Verzweiflung aufging. – Nicht wissen, nicht hören, was die seine betäubte ...

Stark daran vorüber! –

»Eine Frage,« sprach er leise – kaum seiner Stimme mächtig – »eine Frage! – Ich gehe von hier – sobald ich kann – aber eine Wahrheit muß ich hören! – Sagen Sie es mir – geben Sie mir dies Wissen mit ... Warum haben Sie ihn geheiratet –«

Und sie fühlte: er war der einzige Mensch auf der Welt, der diese Frage an sie stellen durfte – er der einzige, dem sie Antwort geben mußte.

Sie faßte sich.

»Aus Dankbarkeit!« sprach sie klar. »Nicht weil der reiche Mann mir zehn Jahre lang Unterhalt und Bildung gab. – Nein. – Er hat mehr an uns getan. – Er hat meine Mutter geliebt – und vor ihrer Würde seine Leidenschaft bezwungen – mein Vater hat sein Vertrauen verraten – ihn um Hunderttausende geschädigt – sich erschossen.– Und er hat den Schimpf vom Grabe meines Vaters und die Schande vom Leben meiner Mutter ferngehalten ... Deshalb bin ich seines Sohnes Frau geworden ...«

Er hörte – und über sein bleiches Gesicht ging eine tiefe Bewegung.

»Edle Frau!« sagten seine Gedanken wieder, »edle Frau –« ein halbbewußtes Echo der Worte, die ein anderer gesprochen. – –

Nun konnte er gehen – hinaus in ein einsames Mannesleben voll Entsagungen.

Aber er nahm ein reines Bild mit.

Dennoch – er war ein Mensch – ein junger Mann – und die starke Liebe, die sein Herz erschütterte, rang um ein wenig Hoffnung ...

»Ehen lassen sich lösen –«

Vom Werk her kamen die tausend Stimmen der Arbeit. Sie vermengten sich zu einem dumpfen Getön – gedämpft, zuweilen fast sanft.

Die junge Frau horchte – hob ein wenig ihr Haupt – als wolle sie mit allen Sinnen diesen Klang aufnehmen. War es nicht, als sei es eigentlich die Stimme des alten Mannes, der sie liebte und ihr vertraute? Redete er ihr raunend zu: »Verlaß uns nicht mit deinem Herzen! Nicht mich, der dies Werk schuf, nicht deinen Sohn, der es einmal lenken soll« –? Zitterte in den brausenden Dämpfen ein Ruf mit, der an ihren Mut erging? Klang in all dem Krachen und Stoßen und Rasseln, das vereint und gemildert herüberkam, nicht ein stolzer Rhythmus? Umschmeichelte es sie nicht wie ein tröstliches Lied?

Sie erbebte. Und ihre Seele sagte den mahnenden Stimmen: ich höre – ich höre ...

Da sie schwieg, sprach er es noch einmal aus: »Ehen lassen sich lösen –«

»Die meine nicht und nie!« sprach Klara. – Und ihre Fassung wollte zerbrechen ...

»Ich wußte, was ich tat. – Liebe vielleicht kann enden. – Aber Pflicht nie – wenn sie allein der Inhalt einer Ehe war und ist – und – immer sein wird. – Und ich will eher sterben, als daß ich meinen Vater verließe und mein Kind ...«

Sie schluchzte auf ... Sie streckte ihm die Hand hin. –

Er begriff, es hieß: Lebewohl!

Er nahm die Hand und hielt sie lange.

So standen sie im Helldunkel der Sommernacht.

Und sie gaben einander durch diesen festen Händedruck den Mut und die Würde, in Reinheit zu entsagen.

Dann löste sie ihre Hand aus der seinen – schonend – leise.

Und er ging. – –

Einige Minuten später schritt Klara mit müden Füßen langsam die Straße dahin, zurück nach dem Hause.

Der Hauptmann von Likowski begegnete ihr. Er war erstaunt.

»Da schickt der Herr den Jochen hin,« zitierte er. »Wo ist der Marning, der Sie suchen soll? Und hier bin ich, der Sie und Marning holen soll. Der alte Herr is was nervös – o jeh. – Na und Sie, Frau Klara ...«

Er griff zu. Ihm schien denn doch, als sei sie zu unsicher auf den Füßen und gleiche einer Nachtwandlerin.

In seiner väterlichen Art legte er einfach ihren Arm in den seinen ... Sie konnte nur schweigen. –

»Wir haben den alten Herrn ins Haus gekriegt – ich hab’ einfach selbst den Stuhl geschoben. – Na, wenn er Sie nur erst mit heilen Gliedmaßen wiedersieht –«

Ja, da war er dann auch ruhig – er streichelte Klaras Hand und sah sie an und fand ihr Gesicht blaß und scharf. – Aber er schalt nicht. – Er dachte sich wohl, was ihr Gemüt erschüttert hatte. – Auch ihm, dem Manne, erbebte das Herz, wenn ein Arbeiter erschlagen ward von der Riesenfaust des Eisens und des Feuers.

»Mein Kind!« sagte er nur zärtlich, »mein Kind!«

Und dann fragte er noch: »Wird er leben bleiben?«

»Sylvester hofft es.«

»Ist es ein Verheirateter von Severinshof?«

Klara wußte es nicht.

Da mischte sich Leupold ein, der mit den Händen am Griff des Fahrstuhls bereit stand, um seinen Herrn in den Lift zu schieben.

»Nein. Georg hat gehört, er heißt Judereit und sei ein wilder Kerl –«

»Möchte er gerettet werden,« sprach der alte Herr leise vor sich hin.

Aber nun wollte er zur Ruhe. – Was? Gerade schlug die Uhr auf der Diele. – Einen Schlag? Dunkel und volltönig? Halb eins! Wo blieb nur Wynfried?

Likowski verabschiedete sich. Und er sagte, er müsse doch zunächst noch seinen verlorengegangenen Oberleutnant aufgabeln. Und wettete, daß der, wieder vom Werk hypnotisiert, sich nicht trennen könne. –

Wie sehnte die junge Frau sich nach Einsamkeit.

Und ganz merkwürdig ging es ihr kurz durch die Gedanken – wie ein Erstaunen: ich bin ja nie allein. – Ihr Eigenleben war wie erdrückt und verdrängt von dem Leben um sie herum ...

»Gute Nacht, Vater!«

Sie neigte sich zu ihm und küßte seine Stirn, wie jeden Abend.

In ihrem Zimmer hatte sie noch nicht begonnen, ihr Haar zu lösen, als es klopfte – sie erschrak. – Warum? Ihr Mann mußte doch endlich heimkommen.

»Darf ich dir noch Gute Nacht sagen, Klara?«

Und er trat ein.

»Agathe läßt dich vielmals grüßen. Es hat ihr sehr leid getan, daß du nicht mit kamst. Die Fahrt war herrlich. Nur zuletzt starke Flaute. So wurde es spät,« sprach er.

»Wie gut, daß ich hier blieb. Weißt du denn nicht ...?«

Sie beschäftigte sich vertieft mit einer Schatulle, die auf ihrer Kommode stand.

»Fatal. Ja. Wir hörten schon in Travemünde von einem Malheur. – Durchbruch – na ja – ziemlich aufregende Geschichte. – Und in diesem Moment Produktionsverminderung, wo wir gerade mit Direktor Malzan morgen Lieferungen abzuschließen hofften –«

Wie merkwürdig – das Leben mit all seinem tausendfältigen Inhalt ging weiter – wie jeden Tag. – War es denn nicht ein neues und von Grund aus erschüttertes geworden, seit jenem letzten Blick und Händedruck?

Wynfried war unruhig – anders als sonst. Sie begann es zu spüren. Seine Worte liefen so – als flöhen sie am liebsten schnell an dem Schrecken der Dinge vorbei. Wie begreiflich war es ihr! Ein Menschenleben durch den Dienst auf dem Werk gefährdet. – Aber wie sonderbar – er wußte es doch wohl nicht – er sprach so unnötig lang und breit von dem Schaden, den sie hatten – erwog Zahlen – ging auf und ab in seinem weißseidenen Sportkostüm, daran nichts farbig war als der schwarz-weiß-rote Schlips des Kaiserlichen Jachtklubs.

»Es ist ein Mann sehr schwer verunglückt,« sagte sieund schloß den Deckel der Schatulle, darin sie nichts gesucht hatte, »das weißt du wohl noch nicht.«

»Doch, doch,« sprach er, »aber es ist zum Glück keiner vom alten Stamm – bloß Judereit – ein Wasserpolack – kenn’ den Kerl zufällig – war neulich dabei, als er von Thürauf in Person verdonnert wurde – war in wahnsinniger Verliebtheit zu dreist gegen ein Mädel von Severinshof geworden. – Der Vater hatte sich beschwert. – Der Judereit wollt’ sie zum Weib – sie will aber nicht. – Ja, die Leute haben auch ihre Romane.«

»So leidet er tausendfach,« sprach sie.

»Na nu – so schroff?«

»Verzeih. Ich bin zum Umfallen müde. – Und es war so aufregend ...«

»Also denn gute Nacht.«

Und er küßte ihr die Hand – sehr ritterlich – mit Allüren, als sei hier ein Salon, in dem sich eine feierliche Gesellschaft dränge. –

Als die junge Frau sich endlich in ihrem Bett ausstrecken konnte, war es ihr wie eine Beglückung.

Allein – feierliches Dunkel – kühles Leinen um die erschöpften Glieder.

Das tat wohl.

Und denken können – denken! ...

Aber ihre Gedanken zerrannen. – In eherner Gewißheit stand ihr Schicksal vor ihr.

Aber sie fühlte: es war nicht klein!

Ihr Dasein hingebend, hatte sie große Dankesschuld abtragen dürfen: Der herrliche Mann, nun ihr Vater, war beglückt – durch sie, durch seinen Enkel.

Dies Bewußtsein gab Halt und Frieden.

Ihrer Ehe fehlte die Liebe. Aber der Bund war ja nicht aus Liebe geschlossen. – Sein Inhalt hieß: sittlichePflichten, Wahrhaftigkeit – Treue – dieser Inhalt warunumstößlich! – Die Gründe, um derenwillen sie sich mit Wynfried verbunden, bestanden fort.

Sie dachte an den anderen Mann.

Nun wußte sie es. – Sie hatte ihn immer geliebt. – Von jenem ersten Tage an, da sie im Regen und Sturm zusammen übers Wasser fuhren.

All diese dumpfe Bedrängnis ihres Herzens, all diese geheime Angst – es war die Furcht vor dieser Liebe gewesen.

Einen Augenblick wünschte sie: hätte ich nie begriffen –!

Aber nein – nein – lieber leiden und kämpfen, als auf dies Wissen verzichten.

Sie sah ihn wieder vor sich, im Helldunkel der Sommernacht.

Nur seine Augen hatten gesprochen.

Und wie ihm seine Ehre und die ihre heilig war! – Sie fühlte es in beseligender Erschütterung.

Ihr Herz war erhoben in Dank und Glück.

Wie deutlich erlebte ihr Gedächtnis noch einmal das erste Begegnen.

Da fiel ihr etwas ein. – Sie drehte das Licht auf. – Sie glitt aus ihrem Bette. – Hinten, tief im Schubfach ihrer Kommode gab es ein weißes Paketchen – es umschloß eine blaue Mütze und eine beschriebene Karte. – Klara wußte nun, weshalb sie diese kleinen, geringen Dinge aufgehoben hatte. – Und weil sie es wußte, durfte sie sie nicht behalten.

Sie holte sie hervor – sie ging an den Kamin und knüllte Papier und die Wollhäkelei zusammen und warf sie auf den Rost – ganz hinten an die Rückwand des Feuerloches.

Da war auch noch die Karte – sein Name – wenige, förmliche Zeilen von seiner Hand.

Klara sah lange diesen teuren Namen an – las ihn – als enthielten diese Buchstaben die Geschichte seines Lebens, ihres Lebens und – ihrer Liebe.

Sie hob das Kärtchen – zauderte ein wenig – und leise, leise hauchte sie einen Kuß auf die Schrift.

Und zerriß das kleine Blatt –

Und gleich darauf loderte in der Tiefe des Kamins ein kurzes Feuer auf.

»Lebewohl!« dachte sie, »lebewohl!«

Wieder war Dunkelheit um sie. Und sie weinte in ihr Kissen hinein. – Weinte um einen ihr Toten, der ihr nicht gelebt hatte; um einen ihr Verlorenen, der ihr nie gehört.

Aber dennoch war sie zugleich erfüllt von einem tröstlichen Wissen.

Auch ein Schmerz, wenn keine Schuld ihn belastet, kann ein Glück sein.

Der Major im Stabe, der den beiden Kompanien zur Führung beigegeben war, hatte in sehr dringlichen Familienangelegenheiten zu ungewöhnlicher Zeit kurzen Urlaub erbitten müssen, und nun stand dem Hauptmann von Likowski als dem Rangältesten die Herrschaft zu über dies Bruchstückchen der gewaltigen Armee.

Es war Montag, und von Travemünde aus hatten die Jachten ihre Wettfahrt nach Warnemünde angetreten. Hafen und Meeresbucht lagen verlassen. Das rauschende Leben vom Sonntag, wo ein internationales Publikum sich in Travemünde gedrängt, schien verhallt. Auch Likowski hatte mit einem Kreis von Bekannten teilgenommen; nach einem am Strande und bei der Kurmusik verbummelten Nachmittag war auf der Kurhausterrasse ausführlich soupiert und getrunken worden. Lübecker Rotwein. Famos! Aber zwei Sorten Sekt – deutschen und französischen. Vom Übel! Denn das konnte Likowski merkwürdigerweise nie vertragen. Seine Magennerven wollten: entweder, oder!

Erst auf dem Marsch zur Felddienstübung wurde ihm wieder lichtvoller unterm Schädel.

Ein Gewitter war gegen Morgen am Himmel entlang gezogen. Aber das kam noch wieder. »Datt kann nich öber Water,« sagte der Fährmann Sörensen. Nach Westennicht über die Nordsee und nach Osten nicht über die Ostsee. Sörensen stellte es sich so vor, als irre Gewittergewölk pendelnd über Holstein zwischen zwei Meeren so lange hin und her, bis es sich irgendwie zur Höhe verkrümelte. Jedenfalls: Kühlung war nicht eingetreten.

Schwer troffen Busch und Gräser von Perlen in kristallenem Glanz. Auf der Landstraße war jede flache Furche ein Kanälchen, jede kleine Vertiefung eine Lache geworden. Von kräuterigen und moosigen Dünsten war die feuchte Luft gesättigt, und im gebadeten Wald schien sie unbeweglich zu stehen. Am blauen Himmel trieben da und dort träge und trächtig dicke Wolken einher – weiß und grau. –

»Helm ab!« wurde kommandiert, als die Soldaten unter den Wipfeln der Hohenmeiler Tannen hinstapften. Sie sangen. Munter klang das Marschlied. – Nun lag die Felddienstübung schon hinter ihnen. Ehe die ermüdende Luft von der Mittagsonne durchschwelt wurde, würde man unter Dach und Fach sein.

Likowski, in Generalfeldmarschallhaltung, ritt gelassen vorne. Neben ihm der Oberleutnant, der heute auf dem Heimweg auch beritten war. Denn Likowski wollte seinen zweiten Gaul, eine Neuerwerbung, gern beobachten. Es war ein Stichelrappe, und er schien schon durch diese seine Eigenschaft durchaus unkleidsam für einen Kompaniechef. Bei den sonstigen vorzüglichen Qualitäten des Pferdes wollte nun Likowski einmal sehen, wie er wirke, ob es gehe, ob er ihn lieber gleich weiterverkaufen müsse.

Leutnant Hornmarck marschierte, den Säbel in der mit braunen Glacéhandschuhen bekleideten Hand, neben der Kompanie. Mechanisch – denn nun, da die Übung vorbei war, kamen seine geheimen Liebessorgen auf das dringlichste zurück. Und diese entnervende Gewitterluft im verregnetenWald machte es ihm zur Gewißheit, daß er an seiner Doppelliebe scheitern und weder Edith noch Finchen erringen werde! Aber das Drama würde durch höhere Gewalt bald ein Ende finden! Es gab Krieg! Diesmal sagte es nicht nur der Hauptmann, sondern ganz Deutschland fürchtete es. – Er hoffte dann wenigstens das eine, daß beide Mädchen zusammen um ihn weinen und sich im Andenken an seinen Heldentod versöhnen würden. –

»Ja,« sprach Likowski zu dem neben ihm Reitenden, »selbst der Geheimrat sagt, es wäre für die Industrie und den Handel zwar furchtbar – aber der ewige Druck wär’ auch schädigend. – Und dann besser endlich mal die Entscheidung. Nun, wir sind bereit! Wie der Kaiser befiehlt und das Volk will! Ich sage nicht: Siegen oder sterben. Ich sag’ nur: Siegen! Merken Sie wohl, wie mit einem Male das Volk sich wieder näher an uns ’ran fühlt? Wie es uns interessierter nachsieht? Wie alles vibriert? Man spürt’s an dem Landvolk hier herum. – Gestern in der Menge war’s zu merken. – Auf den Dampfern sind die Leute wie toll gewesen. – ›Deutschland, Deutschland über alles‹ haben sie gesungen, als die Schiffe um die ›Hohenzollern‹ kreisten. – Ein Jubel zum Kaiser empor! Er soll ganz erschüttert und blaß gewesen sein.«

»Es ist wohl kein Zweifel mehr,« gab Marning zu.

»Daß wir es nun endlich erleben!« sagte der Hauptmann bewegt. »Seit ich denken kann, hab’ ich davon geträumt. – Meine Mutter hat mir’s, ihrem Jüngsten, eingeimpft: ›Werde ein Held! Deines Vaters, meiner Ahnen würdig‹. – Mein Vater hatte das Eiserne erster – starb an den Folgen seiner Verwundung – hat aber doch noch nach dem Kriege, trotz Schmerzen und Beschwerden, zehn Jahr weiter dienen können. – Dann ging’s nicht mehr, und er siechte langsam hin. – Meine Mutter hat ihrenVater und drei ältere Brüder verloren Siebzig – sie war ’ne ganz junge Frau – ihr erster Junge war unterwegs. – Ja, wir wissen’s – das kostet unser Blut! Nun, wir sind Soldaten!«

Und ein ruhiger Stolz verschönte sein Gesicht.

»Was werden Sie sagen, Likowski, wenn ich nachher mich dienstlich bei Ihnen melde mit dem Wunsch, daß ich um meine Versetzung einkommen will?« sprach Stephan langsam. Er hatte Sonnabend und Sonntag hindurch diese Frage begrübelt.

Er wußte es wie jedermann es wußte und las: eine ungeheure Spannung lag über Europa, und die Völker standen Gewehr bei Fuß. In einem solchen Augenblick werden Versetzungen nicht nachgesucht – nicht leicht bewilligt. – Aber es mußte sein ...

Likowski war starr.

»Wa–as ...?«

»Ja, ich will dringlich um meine Versetzung bitten,« sprach Marning. Er war sehr entfärbt – graublaß flog ein Schein über sein bräunliches, verbranntes Gesicht.

»Ich versteh’ immer: ›Versetzung!‹« sprach der Hauptmann, blöd tuend.

»Bitte, Likowski – verzeihen Sie mir.«

»Mensch! Kam’rad! Marning! Freund! Nee – das is doch Unsinn. – Verset – – – Aber nee. – Wieso denn, warum denn? In dieser Zeit noch obenein!«

»Es wird mir schwer, Sie zu verlassen, unsere Kompanie. – Dies gesammelte Leben in Dienst und Natur und das gewaltige Werk und den bedeutenden alten Mann da drüben. – Verzeihen Sie mir. – Es muß sein. Ich will einen sofort anzutretenden Urlaub nachsuchen und würde dann, wenn inzwischen meine Versetzung genehmigt wird, nicht erst hierher zurückkommen.«

Seine Stimme klang gedämpft. Sie war von einer solchen Festigkeit durchgeistigt, daß der Hauptmann wohl spürte: es war Ernst. Aber so rasch wollte er sich nicht ergeben. Er hatte seinen Oberleutnant noch über das Kameradschaftliche hinaus liebgewonnen.

»Sehn Sie mal, Marning,« begann er, »alles Persönliche muß doch in solcher Zeit hintanstehen. Bedenken Sie: jeden Tag kann der Befehl zur Mobilmachung kommen.«

»Ich glaube nicht, daß es vor dem September was wird. – Sie meinten es doch neulich auch, in der Marine heiße es: im Herbst läge es günstiger für uns. Aber wenn auch – es ist doch für einen Soldaten gleich, wo und wann ihn der Ruf trifft – er hat zu folgen.«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf.

Diese Dringlichkeit, wegzukommen – nicht mal die Versetzung abwarten – gleich auf und davon in Urlaub. – Was war denn los? – Aber er fragte nicht. Er sprach nur: »Nee hörn Sie mal – das kann ich nich so gleich fassen. – Und dann: Ihr Regiment verlassen! Ihr liebes Regiment – in das Sie als junges Küken eingetreten sind. – Nee Marning –«

»Das läßt sich vielleicht vermeiden. Ich möchte nur die Garnison wechseln.«

»Sie waren so gern hier. Sind erst seit anderthalb Jahren – knapp! – wann war’s doch? Mai vor’m Jahr. – Und nu wieder weg! Auch ohne die gespannte Lage und die Aussicht, daß es bald losgeht: Sehn Sie mal, hier mit uns wird sich ja doch bald alles ändern. Die Einheit der Bataillone soll ja nicht mehr zerrissen sein – wir sind noch von den wenigen, die auf zwei Garnisonen verteilt stehen. Da hängen wichtige Änderungen in der Luft. Entweder kommen die zwei Kompanien aus Dassow zu uns oder wir werden dorthin verlegt –«

»Es muß sein!« sprach Marning mit schwerem Ernst.

Nun schwieg der Hauptmann erst einmal und dachte nach. Es war zu natürlich, daß er seine Gedanken nach irgend welchen begreiflichen Gründen umherjagen ließ. Aber er fand nichts. Ein paar Minuten erwog er wohl: flieht er vor den zärtlichen, werbenden Blicken der molligen Baronin? Nein, vor so ’ner gurrenden Taube läuft doch ein Mann nicht weg! Auch fürs Abwinken findet ein zartfühlender Mann noch ritterliche Formen. Ganz abgesehen noch davon, daß Agathe, wie er manchmal gemerkt hatte, in der letzten Zeit recht dringlich mit Wynfried Severin kokettierte – offener, als es einem verheirateten Mann gegenüber schicklich schien.

Er mußte sich also sagen: wenn Stephan Marning einen solchen Entschluß gefaßt hatte und die Gründe dazu verschwieg, so lag Ernstes vor.

Vielleicht kamen da Dinge ins Spiel, die nichts mit den hiesigen Menschen und Verhältnissen zu tun hatten.

Also – wenn Marning schwieg, so hieß es für den Kameraden: diskrete Haltung! Achtung vor seinem Entschluß, der vielleicht ein schwerer war; keine zudringlichen Fragen.

»Was es auch ist, das Sie von hier forttreibt oder von anderswoher ruft: Sie sagen: esmußsein – da darf ich nur noch schweigen,« sprach er bekümmert.

Ihre Pferde schritten mit nickenden Köpfen ruhevoll. Munter klang hinter ihnen der Marschgesang der Soldaten. Der durchfeuchtete Wald stand regungslos in der schwülen Luft.

Stephan rang mit sich. Der kriegerische Mann an seiner Seite war ihm teuer geworden. Er wußte ja: der litt. Heldenblut kochte ungestüm in seinen Pulsen. Und er durfte nichts sein als ein stiller Vorbereiter, ein unermüdlicherErzieher! – Sollte er ihm nicht ein andeutendes Wort sagen – daß er sich in der Lage befinde, Tapferkeit durch Flucht zu beweisen – ja, es gibt auch solche Lagen – und auch sie fordern stillen Heldenmut. – Stephan fühlte: es war unmöglich! Jede, die fernste Andeutung mußte Likowski die Wahrheit erraten lassen. –

Unmöglich. –

Mit sachlichen und ruhigen Reden erwogen sie, ob wohl Aussicht sei, daß das Kabinett jetzt ein derartiges Gesuch genehmige. –

Nun zogen die Kompanien auf der Landstraße dahin, die als durchnäßtes Band zwischen begrasten Rainen und regelmäßig angepflanzten Bäumen dalag.

Zuweilen spritzte das Wasser unter den Pferdehufen auf. Und mit einem Male stockte das munter-gelassene Marschieren der langen Schlange von Soldaten. – Vorn das Pferd des Hauptmanns? Hatte eine Versenkung es verschlungen? Was war geschehen?

Die Landstraße schien ja stellenweise wie mit Spiegelscherben beworfen – so stark gleißten die stechenden Sonnenstrahlen auf den Wasserlachen und gefüllten Furchen. Und eine von diesen seichten breiten Lachen hatte unter ihrer blinkenden Fläche ein vertracktes, tiefes Loch verborgen gehalten. Da trat der Gaul hinein – es war ein ganz ungeahntes Niederbrechen, ein Sturz wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Und es riß den Reiter mit. Über den Kopf des Pferdes weg wurde er geschleudert. Im Husch des Geschehens hatte er noch seine Füße aus den Steigbügeln lösen wollen – nur dem Linken war’s gelungen.

Nun lag er in einer ganz verbogenen, unglückseligen Verschiebung der Gliedmaßen da.

Das war in der Zeitdauer von ein paar Herzschlägengeschehen. – Schon stürzte alles herzu. – Stephan schwang sich vom Pferde – kniete neben dem Hauptmann – wollte ihm aufhelfen. – Hornmarck griff zu – von der zweiten Kompanie kamen im Laufschritt die Offiziere – kräftige Fäuste brachten das Pferd in die Höhe – es war unbeschädigt.

Aber da lag Likowski, und sein frisches Gesicht war weiß, seine Lippen blau, und als er sich rühren wollte, seinen Körper den helfenden Händen entgegenbietend, da brach kalter Schweiß aus seinen Poren, und in einer kurzen Ohnmachtsanwandlung sank er zurück. – Die singenden Töne in seinen Ohren verstummten aber rasch wieder – er wußte, wo er war – was mit ihm war.

»Gebrochen!« stöhnte er. »Verflucht – schändlich ...«

Und er biß die Zähne zusammen.

Ja, da war kein Zweifel. Der Hauptmann hatte einen Bruch des Unterschenkels davongetragen.

Mit zornigem Mut ließ er das gleich feststellen. – Seine Lebensgeister waren alsbald in vollster Energie wach. Er übersah seine Lage.

»Und jetzt,« sagte er, »gerade jetzt! –«

Ein solcher seelischer Jammer bebte in seiner Stimme, daß es die Kameraden ergriff. Und Hornmarck, der noch eben über seinen eigenen Heldentod vorweg gerührt gewesen war und schon zwei weinende Mädchen im Geist untröstlich gesehen, erlaubte sich, zu beschwichtigen: »Ach, es geht schließlich doch nicht los!« Wofür er vom Hauptmann einen flammenden Blick des Zornes erhielt.

»Vorsichtig, Kinder!« mahnte er dann. »Faßt mich klug an – ich mein’: egal, wie weh es tut – ich mein’: vorsichtig – daß die Sache nicht schlimmer wird –«

Und dann richtete er sich an Marning.

»Mir ist so: das kann kein komplizierter Bruch sein – Und wenn’s ein simpler ist – was? Der heilt schnell?«

»In vier Wochen,« sagte Hornmarck in nicht umzubringender Naseweisheit, geradezu mütterlich.

Stephan fertigte eine Ordonnanz ab, sie sprengte auf dem zweiten Pferde Likowskis davon. Die Kompanien setzten ihren Marsch fort. Aber sie sangen nicht mehr. Bald war nur noch eine kleine Gruppe auf der Landstraße: der Hauptmann, mit einem zusammengelegten Soldatenrock als Kissen unterm Haupt – Stephan als Wache und Pfleger – ein paar Soldaten, davon der eine in Hemdärmeln. Und die Soldaten schwärmten aus, um von der Waldgrenze große Zweige zu holen, mit denen sie über dem Gestürzten ein kleines Kopfdach improvisieren wollten. Denn die Sonne brannte durch die feuchte Schwüle, und es war gerade, als ob die schweren Wolken am Himmel vorsichtig vermieden, die grelle Scheibe zu bedecken.

»Hier lieg’ ich nun, als die Karikatur eines Helden. Die ganze Szene Karikatur – sieht ’n bißchen nach Schlachtfeldgrenze aus – ist bloß ’ne Albernheit!«

Stephan hatte als Fahnenjunker einmal den linken Schulterknochen gebrochen, und er wußte: es tut verflucht weh! Auch ein Mann kann da wohl die Zähne zusammenbeißen. Aber er sah wohl, nach der allerersten kurzen Anwandlung, die ihn überrascht hatte wie ein Überfall aus dem Hinterhalt, war bei Likowski die Wut und der Hohn größer als aller Schmerz.

»Wissen Sie,« fuhr er aufgeregt fort, »wenn’s nun losgeht und ich lieg’ da – ich schieß’ mir – bei Gott – ich schieß’ mir ’ne Kugel durch ’n Kopf!«

»Aber bitte! Lieber Likowski! Wenn es wirklich bald zur Mobilmachung kommt – dann folgen Sie uns in einigen Wochen nach –«

»In einigen Wochen?! In vierzehn Tagen will ich wieder zu Pferde sitzen. – Und wenn ihr mich ’raufheben und anschnallen müßt. – Die besten Chirurgen her. – Sylvester von drüben und unser Kommißäskulap – das ist mir nich genug – in Lübeck soll’s ja ’n großen Professor geben – her mit ihm.«

»Ich habe der Ordonnanz schon aus eigener Machtvollkommenheit Befehl gegeben, nach Lübeck zu telephonieren,« sagte Stephan, »beruhigen Sie sich doch bitte!«

»Ja, ja, ich will ruhig sein. Das ist vernünftiger! Aber wenn ich nicht in vierzehn Tagen wieder zu Pferde sitzen kann, erklär’ ich alle Ärzte für Charlatans.«

Stephan sah wohl: der Schmerz, der bezwungen werden sollte, setzte sich in Aufregung um. Es hieß beschwichtigen.

»Man leistet ja heute Fabelhaftes! Ich bin sicher, Sie können in vierzehn Tagen reiten – wenn vielleicht auch noch nicht allein aufsitzen.«

»Nicht wahr? Man leistet Fabelhaftes! Aber, Marning – Ihre Versetzung ... Ihr Urlaub ... Sie müssen nun doch die Kompanie führen – bis ich selbst wieder so weit bin!«

»Es versteht sich von selbst,« sprach Stephan mit fester Stimme, »daß ich keine Schritte tue, bevor Sie wieder dienstfähig sind.«

Sein Gesicht war verschlossen – sein Blick in die Ferne gerichtet – ernst und fest.

»Der hat was Schweres – was Großes,« dachte Likowski, »und macht es still mit sich ab.«

Wie schwer wohl! – Wenn’s nicht mal einer treuen Kameradenseele anvertraut werden durfte ...

Da er eine unwillkürliche Bewegung gemacht hatte, zerriß ein aufzuckender Schmerz seine Gedanken.

»Donnerwetter!« fluchte er. »Wo bleibt denn die Bande?«

»Es ist einfach unmöglich, daß schon Hilfe hier sein kann.«

»Und ich wälze mich im Dreck der Landstraße ...«

Die vier Soldaten versuchten vergebens, mit den belaubten Zweigen, die sie herbeigeschleppt hatten, einen Baldachin zu bauen. Die Landstraße war nur obenauf feucht – ihr festgestampfter Bau nicht erweicht, und man konnte unmöglich diese schwankenden, schief abgebrochenen Äste in den Boden stecken.

Nun versuchten die Leute dem Daliegenden die Fliegen ab- und Kühlung zuzuwedeln.

»Nee – nee, Kinder – das nu nich – hier is nich Finale erster Akt Lohengrin – setzt euch da hin – man immer mitten ’rin ins patschnasse Gras – vielleicht sind eure Sitzböden wasserdicht. – So – nu – Donnerwetter ...«

Die Soldaten grinsten und hockten sich am diesseitigen Rande des Chausseegrabens nieder. Stephan setzte sich auf den Meilenstein, der gerade dicht neben der Unglücksstelle stand. So warteten sie.

Aber Likowski war in dieser Lage nicht der Mann, still zu warten.

Er riß sich mit der Rechten das Taschentuch herab, das Stephan ihm über Kopf und Stirn gelegt, zum Schutz vor Sonne und Fliegen.

Wenn esdochnicht in vierzehn Tagen heilte! Und wenn noch in dieser Woche – in der nächsten vielleicht – die Mobilmachung begänne! Das machte ihn toll. –

»Auf eins bin ich gespannt: wird es eine Männerschlacht oder eine Maschinenschlacht werden?« sagte er.

»Ich glaube,« meinte Stephan, »daß man große Überraschungen erleben wird, und daß im letzten Grundejeder Krieg eine Männerschlacht sein muß und wird. – Die Seele wird irgendwie ihr Recht behalten – Mut, Tapferkeit, Besonnenheit. DerFuror teutonicus– ja mein Gott – ist ein Krieg denkbar, ohne daß all das aufflammt? Wir stehen vor Rätseln – ich will selbst zugeben: vor scheinbar unlöslichen. Und dennoch: im letzten Ende wird es nicht auf die Maschinen, sondern auf den Mann ankommen – auf Disziplin und Opfermut und wahnwitzige Tapferkeit. – Und es wird nicht daran fehlen –«

»Gott segne Sie, Kamerad, für diese Ansicht! – Es sind auch meine Gedanken. – Die geben den zähen Mut zur Arbeit –«

»Herr Hauptmann!« schrie einer von den Vieren am Grabenrand. Und die anderen drei schrien aufspringend dazu: »Sie kommen!«

In der Perspektive der Chaussee raste was heran – Der Lazarettwagen – der »Kommißäskulap« auf Likowskis Stichelrappen.

»Na gottlob!« sagte der Hauptmann. Und eigentlich erschien ihm dieser Augenblick schon als Beginn der Heilung.

In der Tat fingen ja jetzt erst die Schwierigkeiten an. Die provisorische Einschienung, der Rücktransport – das kostete Mühe und Zeit. Likowski bestand darauf, in seiner eigenen Wohnung zu liegen. Da war die alte Doktorin Lamprecht und klagte emsig treppab und treppauf und lief unnütz herum und brachte doch Herzlichkeit und Fürsorge mit sich. Und Likowski war ja an ihre Wieselart gewöhnt und kannte ihr ergebenes Altfrauengemüt.

Und dann kam der Professor aus Lübeck und nannte den Bruch bildschön und geradezu ideal, und Likowski lächelte bloß – wenn auch recht grimmig – zu denunvermeidlichen Schmerzen. Chloroform verbat er sich schroff. Endlich lag er dann geradezu hübsch anzusehen da – großartig eingeschient – getragen von dem Glauben, daß seine Knochen flink und glatt wieder zusammenwachsen würden – frisch, als sei überhaupt gar nichts passiert.

Und er neckte die strahlende kleine graue Alte.

»Nu mal aus Ihrem Mächenherzen keine Mördergrube gemacht, Lamprächtige! Na – was? So ganz tief inwendig freuen Sie sich doch, mich hier fest zu haben. So als Ihr kleines Kind! Aber das sag’ ich Ihnen gleich: es wird ’ne kurze Freude. Ich stelze Ihnen, im Notfall – Sie wissen in was für einem! – ganz einfach die Treppen ’runter und weg – so wie ich da bin! Das Wasserglas hält wie Eisen.«

Die Alte lächelte selig verlegen – und wehrte den schändlichen Verdacht, als freue sie sich, mit vielen Gesten und Worten ab.

Stephan sah: er konnte nun gehen. – Er kam erst gegen zwei Uhr zu seinem Essen. Seit dem Morgengrauen hatte er nichts genossen. – Aber darauf muß ein Soldatenmagen eingerichtet sein. Nervös überhungert? Das gab’s doch nicht! Und dennoch. Er schob, vielleicht aus solcher Empfindung heraus, den Teller bald von sich – er saß und starrte auf das Tischtuch nieder.

Ja, nun wurde alles anders ...

Sein Gemüt war schwer.

Er konnte nicht fortgehen. Wie er es sich und einer heißgeliebten Frau schuldig war.

Und sie würde es hören! Sie würde sofort den Grund begreifen und daß seine Pflicht ihn hier noch hielt. – Aber er wußte von selbst: sie hatte das Vertrauen, daß er es doch verstehen werde, sie zu meiden!

Sie kannten sich ganz genau – ohne Worte. – Ihre Seelen sprachen zueinander – ein geheimnisvolles Begreifen war zwischen ihnen – übertrug sich von einem zum anderen.

Sie waren füreinander bestimmt gewesen.

Aber sie war nicht frei! Also fort aus ihren Wegen!

Dem Schicksal als Mann von Ehre begegnen.

Und die Frau ehren, die er liebte!

Sie stand so hoch, daß nicht einmal eine Versuchung sie beunruhigen durfte.

Fort aus ihren Wegen!

Er betete sie an in seinen schmerzlichen, heißen Gedanken, weil sie ihn fortgewiesen.

Ihr ängstliches, verzweifeltes »Nein – nein«, womit sie seinen Blicken abwehrte, hallte immer in ihm nach.

Wunderliches Erleben, das aus einem »Nein« mehr Segen und Beglückung strahlen ließ als aus jedem hingebenden Wort ...

Sie hatte gesagt, ihre Ehe sei unlöslich. Zwei lange Nächte voll Qual und Not grübelte er darüber nach.

Er mußte ihr Recht geben.

Keine Übereilung, kein Liebeswahn hatte sie in die Ehe hineingelockt.

Mit klarem Bewußtsein suchte sie in ihrer Ehe kein zärtliches Glück – sie gab ihr als Ersatz einen würdigen Inhalt, in sittlichem Pflichtgefühl.

Gerade diese Ehe, so geschlossen, mußte unzerbrechlich sein.

Und nichts durfte der teuren Frau die Erfüllung ihrer Pflicht erschweren! Seine Liebe durfte ihr keinen Kampf und keine Beunruhigung bringen. Er konnte sie ihr am größten dadurch beweisen, daß er still beiseite ging und fern und einsam litt.

Fort aus ihren Wegen ...

Er stand auf. Ging nach seiner Wohnung. – Er merkte unterwegs: es tropfte – jene großen, schweren Tropfen begannen herabzuspielen, die einen prasselnden Gewitterregen einzuleiten pflegen. – Und da fuhr auch ein Blitz nieder. – Der jähe Schein strich ihm förmlich über die Augen. Ein Schlag polterte nach, und dann stürzte der dicke Regen hinterdrein, daß die Luft wie von Kristallperlen durchsät war. Und nach fünf Minuten war auch das vorbei. – Wie ein ganz merkwürdiges, kurzes Aufpochen all der droben auf der Lauer liegenden Gewalten war das gewesen ...

In Stephans Zimmer brütete stumpfe Hitze. Voß hatte die Fenster geschlossen gehalten. Luft! – Fenster aufgestoßen! – Die Litewka her. – Eine halbe Stunde Ruhe. – Um vier wieder Dienst. –

Voß meldete: da liege ein Brief.

Stephan hatte ihn nicht bemerkt zwischen all den Büchern und Papieren auf dem Schreibtisch. Seine Gedanken waren nicht, wie die jener Menschen, die große Korrespondenz haben, zuerst auf den Posteingang gerichtet, wenn er heimkam.

Voß sagte: Georg, des Herrn Hauptmanns früherer Bursche, habe ihn gebracht.

Stephan sah schon – das waren die Schriftzüge des Geheimrats.

Sofort überfiel ihn Unruhe. Die bloße Ankunft eines Briefes von drüben bewies ja, daß die Fäden sich schwer zerreißen ließen – ja, daß sie gar nicht zerrissen werden konnten, ohne daß Aufsehen entstehe.

Er besah die Aufschrift. Schon in diesen großen, steilen Buchstaben spürte man die Herrscherhand, die sie hingesetzt:

»Stephan Freiherrn von Marning, Oberleutnant im Infanterieregiment Großherzog Paul.«

Und als er las, wuchs seine Unruhe.

»Lieber Marning! Ich möchte mit Ihnen sprechen. Für Sie vielleicht Wichtiges. Besuchen Sie mich heute gegen Abend. Wenn Sie zum Essen bleiben können, freut es uns. Welcher Plural aber nicht meinen Sohn miteinschließt. Er ist verreist. Telephonieren Sie, ob ich Sie erwarten darf. Freundschaftlich der Ihre Severin Lohmann.«

Es war ihm sogleich klar, daß er dieser geforderten Unterredung nicht aus dem Wege gehen könne. Und ebenso gewiß wußte er, daß es ihm unmöglich sein werde, mit diesen beiden Menschen im engsten Kreis traulich zusammen am Abendtisch zu sitzen. Sich bezwingen in Blick und Wort, steif, fremd tun – vor den durchdringenden Augen dieses Mannes! Das holde, sanfte Glück genießen, die geliebte Frau in ihrer töchterlichen Fürsorge um den Vater zu sehen. – Ihr Wesen war heiterer, offener, bezaubernder, wenn ihr Gatte nicht neben ihr stand – wenn all ihr Dasein nur dem hilfsbedürftigen alten Mann zu dienen schien. – Und sie! Würde sie das ertragen, ihm noch an ihrem Tische zu begegnen? – Nein!

Er ging hastig auf und ab und dachte nach. – Sein Dienst – der verunglückte Kamerad – dieser Ruf nach drüben ...

Voß wartete und stand in seinem weißgrauen Leinenanzug stramm.

Er war kein Genie im Telephonieren. Er hatte schon die fabelhaftesten Bestellungen und Auskünfte in die Welt hinausgesprochen.

Wie nun sein Oberleutnant stillstand und ihn ansah, verhedderten sich seine Gedanken schon vorweg, und er ahnte Trübes.

Aber in der Tat sah Stephan ihn gar nicht – er hatte diesen vertieften Blick, der in die Dinge sich hineinzubohren scheint, während er sie gar nicht bemerkt.

Plötzlich wußte er, wie er alles einrichten konnte. Mit rascher Hand ließ er den Bleistift über einen Zettel gleiten, und um jedem Irrtum vorzubeugen, mußte Voß den Inhalt laut vorlesen. Er tat es mit seiner nasalen, breiten, niedersächsischen Aussprache. Es berührte Stephan eigen, daß unfreiwillig humoristisch laut durchs Zimmer klang, was für ihn voll geheimer Aufregungen war.

»Leupold ans Telephon fordern. Bestellen: Oberleutnant von Marning lasse vielmals danken. Er werde sich erlauben, um sechs zu kommen. Zum Abendessen könne er nicht bleiben. Es sei dem Herrn Hauptmann ein Unfall zugestoßen und der Oberleutnant wolle den Abend bei ihm verbringen.«

Voß machte kehrt und marschierte zur Tür, als schwenke er in Reih und Glied im Zuge ab.

Lange noch stand Stephan in schwerem Nachdenken. Aber er war doch voll Ruhe.

Er wußte es: sie würde es verstehen, ihn nicht zu treffen, wenn er ihr Haus betrat.

Jede Begegnung wäre quälender Schmerz und eine Verhöhnung des Abschieds, den sie in schweigendem Verstehen voneinander genommen. –

Und dann mit einem Male kam die Frage: Was will der alte Herr mit mir? Wichtiges? Die Unsicherheit regte ihn doch auf.


Back to IndexNext