Helmut kam gut aus mit Frau Anne Ledderhose. Sie war eine frische lustige Frau. Wenn sie des Sonntags zum Kirchgang angekleidet war, sah sie aus wie eine feine Dame. Am Alltag trug sie derbe Waschkleider, stand des Morgens um drei Uhr vor dem Kuhstall, das Melken zu beaufsichtigen, stapfte hochgeschürzt, in Transtiefeln, mit dem alten Lodenmantel ihres Mannes angetan, über die aufgeweichten Frühlingsäcker und fuhr den ganzen Tag lang unermüdet wie eine Lokomotive unter Volldampf durch Haus und Hof, um überall nach dem Rechten zu sehen. Die Mägde, alte und junge, hatten mächtigen Respekt vor ihr. Die gefangenen Russen, die zur Männerarbeit auf dem Hofe waren, und viel lieber träumend in der Sonne lagen als pflügten oder säten, die sperrten Mund und Nase auf, wenn Frau Anne sie derb an der Schulter packte und deutsch auf sie einschalt. Verstanden sie die Worte auch nicht, den Ton der hellen Stimme begriffen sie ganz gut. Willig ließen sich die sechs Mann abends um acht Uhr von ihr in den Schuppen einschließen, wo ihr Nachtlager war. »Ich habe doch die Verantwortung für die Kerls«, pflegte sie zu sagen, »es soll mir niemand nachreden, daß Frau Anne Ledderhose einen hätte entwischen lassen!«
Eines Morgens weigerte sich einer der Gefangenen, zur Arbeitanzutreten. Brummig erklärte er, mal ausschlafen zu müssen! »Laßt ihn nur schlafen«, sagte Frau Anne und ein kleiner pfiffiger Zug spielte um die Winkel ihres roten Mundes. Als die Kameraden mit ihren Näpfen mittags in der Küche vor dem großen Kessel antraten, aus dem Frau Anne auszuteilen pflegte, sah sie den Langschläfer groß an und schüttelte den Kopf. Drauf nahm sie ihn beim Ärmel und führte den Riesenkerl unter allgemeinem Gelächter zum Schuppen zurück, wies auf seine Matratze und sagte: »Schlafen – nicht essen! Arbeiten – gut essen! Verstanden?« – Na, er hatte verstanden, der Rußki. Am nächsten Morgen stand er brav mit den andern beim Rübenstecken. –
Sonst wurde nicht geknausert mit dem Essen auf dem wohlhäbigen Bauernhof. Von Kriegsnot merkte man im Frühling 1915 noch nichts. In die fett mit Leber- oder Blutwurst belegten Butterbrote biß auch Helmut mit Vergnügen.
Die Näpfe der russischen Arbeiter faßten ein Liter zusammengekochtes Essen. Aber damit hatten die Fresser oft nicht genug. Es war, als müßten sie sich hier für die Not und Entbehrung eines ganzen Lebens schadlos halten. Besonders das Faultier, der verschlafene Riese, aß für zwei. »Ich möchte nur wissen, wann der mal von selber aufhören würde«, sagte Frau Anne lachend, und es reizte sie, den Versuch zu machen. Als es einst Kohlrüben mit Schweinefleisch gab, ein Gericht, für das er eine besondere Vorliebe hatte, durfte er kommen und sich seinen Napf füllen lassen, so oft er wollte. Mit einem spitzbübisch freundlichen Gesicht schwang Frau Ledderhose ihre Kelle und fragte immer wieder aufmunternd: »Noch mehr?«
So vertilgte er denn nach und nach fünf Liter Kohlrüben undSchweinefleisch mit den dazugehörigen Kartoffeln. Was nur auf dem Hofe Beine hatte und einen Mund zum Lachen, kam angelaufen: Mädchen, Kinder, der halbblinde Schafhirte und das gichtgekrümmte Mütterchen, die Frau Annes Kindermuhme gewesen war, sie alle betrachteten staunend die Meisterleistung.
Als die fünf Liter verzehrt waren, klopfte sich der Riese wohlgefällig den Bauch, schmunzelte über sein ganzes gutmütiges Gesicht, wischte sich mit dem Handrücken das Fett aus den Mundwinkeln und küßte Frau Anne ehrfurchtsvoll dankbar den Rocksaum. So spaßige Dinge passierten oft in Jarmlitz. Helmut wäre am liebsten ganz und gar dort geblieben. Des Abends erzählte er denn auch die Geschichte von dem Neger bei ihnen in Waldecke, der sich nichts Schöneres wußte als einen Brei von altem Zeitungspapier, das er sich mit Wasser sorgfältig verrührte und mit Wohlgefallen verspeiste. Die Kinder brüllten vor Lachen und Frau Anne bog sich. Helmut hatte überhaupt ein dankbares Publikum für seine Erzählungen aus Brasilien. In den Augen der Ledderhoseschen Kinder war er ein anstaunenswerter, fremdländischer Abenteurer, das behagte ihm nicht wenig. Als er eines Abends, während sie vor der Haustür saßen, behauptete, auf seinem Schulweg im Walde sechs Leoparden begegnet zu sein, von denen er vier Stück niedergeknallt habe, so daß die übrigen voller Schrecken davongetrabt seien, meinte Frau Anne gemütlich: Es bleibe nichts anderes übrig, er müsse durchaus Förster werden! Er könne ja schon beinahe aufschneiden wie der alte Jäger am Stammtisch im Adler.
Helmut lachte, aber er wurde doch ein bißchen rot. Frau Ledderhose erlaubte sich auch, seine Leistungen zuweilen ungenügend zufinden, und ihm das derb zu sagen. Er war zur Hilfe auf dem Hof, mußte Zäune ausbessern, den Hühnerstall in Ordnung bringen, mit ihr gemeinsam den Garten bestellen. Sie verstand die Leute zur Arbeit anzuhalten, – keine Minute durfte jemand in ihrer Gegenwart müßig bleiben. Auf dem großen Hof blitzte alles vor Sauberkeit. Die Kühe in den Ställen lagen auf reinlicher Streu, selbst die Gänge zwischen den Schweinetrögen mußten am Sonnabend gescheuert werden. Die Wintersaaten standen frischgrün auf den Feldern, die Obstbäume waren regelrecht beschnitten und im Garten neben Kohl und Rüben der Flor der Sommerblumen auf den Rabatten nicht vergessen. Wie im tiefsten Frieden blühte und gedieh hier alles unter der Hut der tapferen Frauen, während die Männer draußen an der Front des Vaterlandes Ehre verteidigten und mancher schon als ein Held gefallen war.
»Im Winter«, erzählte Frau Anne Helmut, »da war's schlimm mit dem Lichtmangel. Kein Petroleum aufzutreiben, von vier Uhr an saßen wir Frauen im Finstern und konnten nichts mehr tun! Wir haben Kienspäne angezündet und dabei gestrickt, wie zu Urgroßvaters Zeiten!« – Sie schüttelte sich. »So im Dunkeln kriechen die Sorgen eklig an einen heran. Ich habe die Tagelöhnersfrauen zu mir geholt, ein ordentliches Feuer im Ofen, Kaffee gekocht und Geschichten erzählt! So ging die Zeit, bis wir in die Klappe krochen! Jetzt gebe ich das Geld her, das mir einen Pelz schaffen sollte, und lasse elektrisches Licht legen zum nächsten Winter! Der Mensch muß sich zu helfen wissen.«
Helmut betete Frau Ledderhose an, sie erschien ihm als die schönste und klügste Frau, der er jemals begegnet war. Ja, er versuchte sogar ein Gedicht an sie zu machen. Das begann:
Soviel er auch nachgrübelte, die Fortsetzung fiel ihm niemals ein, und so blieb es bei diesem einen schönen Verse.
Trotzdem es ihm in Jarmlitz so gut gefiel, vergaß er doch in keinem Augenblick den tiefsten Zweck seines Aufenthaltes hier.
»Geldgierig ist der Bengel, da ist schon das Ende von weg«, scherzte Frau Anne. »Jeden kleinen Extradienst läßt er sich auch extra zahlen! Sag' nur, was willst du eigentlich mit dem vielen Gelde anfangen? Ich hoffe, wenn du nach Berlin kommst, gehst du gleich zu Wertheim und kaufst mir ein feines Geschenk! Eine echt silberne Handtasche oder Uhrkette erwarte ich mindestens!«
Helmut wurde rot und schwieg verlegen. Als die Osterferien zu Ende gingen, sorgte Frau Anne für ein tüchtiges Futterpaket, allerlei Gutes für die Mutter war auch darin. Die ganze Familie brachte Helmut zur Bahn. Alle hatten ihn liebgewonnen, die Kinder hingen rechts und links an seinen Armen und konnten sich kaum von ihm trennen.
Am übernächsten Tage empfing Frau Anne Ledderhose einen Brief von Helmut. Sie erwartete, er würde ihr seine glückliche Ankunft in Berlin melden, doch das Schreiben enthielt nur folgende Worte:
Liebe Frau Ledderhose!Wenn Sie Ihren Mann in Berlin besuchen, so gehen Sie bitte zu meiner Mutter und sprechen ihr Mut ein. Alles wirdgut werden. Ich fahre nach Rußland, an die Front, um meinen Vater zu suchen. Mit herzlichen GrüßenIhrHelmut Kärn.
Liebe Frau Ledderhose!
Wenn Sie Ihren Mann in Berlin besuchen, so gehen Sie bitte zu meiner Mutter und sprechen ihr Mut ein. Alles wirdgut werden. Ich fahre nach Rußland, an die Front, um meinen Vater zu suchen. Mit herzlichen Grüßen
IhrHelmut Kärn.
Frau Anne faßte sich bestürzt mit beiden Händen an den Kopf. Der unsinnige Junge! Wie kann er auch so etwas tun! Na – sie werden ihn schon baldigst wieder heimschicken! Jedenfalls muß ich nach Berlin fahren und mit der armen Mutter reden! Übrigens – vielleicht bringt der tolle Kerl es fertig, seinen Vorsatz auszuführen. Schneid und Energie genug hat er.
Als Frau Ledderhose bei den Großeltern und Helmuts Mutter eintraf, fand sie begreiflicherweise die ganze Familie in größter Aufregung. Helmut hatte auch der Mutter von seinen Absichten Nachricht gegeben, aber eben diese Absicht brachte ihren Jungen ja in die ernstesten Gefahren.
Der Großvater hatte sich sofort zur Polizei begeben und gefragt, was man tun könne, um des Knaben wieder habhaft zu werden. Der Beamte hatte lächelnd gemeint, solche Ausreißer gäbe es eine ganze Menge, meistens kämen sie nach ein paar Tagen, wenn der Hunger sie plagte, von selbst zu den heimatlichen Futternäpfen zurück. Man solle nur ruhig noch ein wenig warten, bevor man mit der amtlichen Nachforschung beginne, die doch immerhin nicht unerhebliche Kosten verursachen würde. Man wartete also ohne viel Hoffnung, denn es lag nicht in Helmuts Charakter, so bald einen seit langer Zeit gefaßten Plan aufzugeben. Hungern würde er nicht, denn er hatte außer seinem Gehalt von Frau Ledderhose, das noch durch einen harten Taler vermehrt wordenwar, sein zusammengespartes Taschengeld und das Weihnachtsgeschenk des Großvaters bei sich. Stehlen würde er sich's schon nicht lassen, dazu war er viel zu gewitzigt. Das Zureden der lebensfrischen Frau Ledderhose beruhigte Frau Kärn etwas. So viele Mütter mußten jetzt ihre Söhne in Gefahr und Tod hinausziehen lassen! Da wollte sie an Heldenhaftigkeit gewiß nicht zurückstehen.
Als nach mehreren Tagen Helmut nicht heimkehrte, begann die Polizei ihre Nachforschungen. Man sandte Telegramme und Bilder des Jungen an verschiedene Bahnhöfe und brachte auch bald in Erfahrung, daß ein junger Mensch, auf den die Beschreibung stimmte, am Abend des Tages, an dem Helmut von Jarmlitz nach Berlin zurückgekehrt war, ein Billett nach Königsberg gelöst hatte. Ein Bahnschaffner wollte ihn auch im Zuge gesehen haben, doch das lautete schon viel unbestimmter. Und dann verlor sich seine Spur gänzlich.
OST-PREUSSEN
Der Regen rauschte – so ein rechter, fruchtbarer Frühlingsregen, unter dem Saaten und Knospen sprießen, der aber auch die Landstraßen zu Brei verwandelt und dem Wanderer feuchtkalt durch alle Kleider dringt. Tief hingen die Wolken über der traurig verwüsteten Gegend, in der die Russen gehaust hatten. Wie ein zerbrochener Armstumpf ragte der seiner Spitze und seiner Glocken beraubte Kirchturm in die graue Luft. Öde starrten die leeren Fensterhöhlen aus den brandgeschwärzten Mauern des Schiffes der kleinen Kirche. Ringsumher Schutthaufen verbrannter, eingestürzter Häuser, in den Gärten Überreste von mutwillig zerbrochenem Hausgerät, Fetzen zerschlitzter Federbetten. Nur die steinernen Kamine der Herde ragten aus der Verwüstung empor. – Doch an allen Ecken und Enden waren schon Menschen an der Arbeit, um die liebe Heimat wieder zum Wohnsitz für die zurückgekehrten Besitzer herzurichten. Es wurde gegraben, Steine wurden geschleppt, Balken aufgerichtet. Finster blickten die Männer, vergrämt die hageren Frauen. Wieviel sie durch die Besetzung Ostpreußens durch die Feinde verloren, das konnten sie erst jetzt überschauen. All das schöne Vieh, das irgendwo in den Wäldern verhungert war oder von den Russen verzehrt!
Schwerfällig arbeitete sich durch die zerweichte, schlammige Landstraße wieder so ein Planwagen mit heimkehrenden Flüchtlingen heran. Was lag da alles beieinander unter dem Regendach. Säcke mit Wäsche und Kleidern, eine Kiste mit Saatkartoffeln, das Spinnrad der Mutter, das alte Gesangbuch der Großmutter, ein weißes Zicklein, das die Flucht wie den Aufenthalt in der Stadt vergnügt überstanden hatte und im Begriff war, sich zu einer stattlichen Ziege auszuwachsen. Zwischen ihren geretteten Sachen kauerten auf Kissen und Decken die Familienglieder, alt und jung. Endlich fand der Vater, der neben den Pferden herschritt, den Platz, auf dem sein Häuschen gestanden hatte. Es war nicht so leicht gewesen, denn das Dorf hatte durch den Brand und die Beschießung ein völlig verändertes Aussehen bekommen. Der Wagen hielt, einer nach dem anderen steckte den Kopf unter dernassen Leinewand hervor und begann, im triefenden Regen vom Wagen zu klettern. Da fand sich auch einer unter ihnen, der nicht zu der ostpreußischen Flüchtlingsfamilie gehörte. Das war Helmut Kärn. Bis hierher an die russische Grenze war er ohne viel Beschwerde gelangt.
Zwar hatte es ein paarmal unvorhergesehenen Aufenthalt gegeben, viel Militär war an ihm vorübergefahren, aber mit seinem Billett kam er sicher nach Königsberg. Schwierig wurde die Sache erst, als Helmut auf die Kleinbahnen geriet, die ihre Fahrpläne nicht mehr innehielten, auf denen man Zivilpersonen fast gar nicht mehr beförderte. Doch Helmut wußte sich immer irgendwie einzuschmuggeln. Bat er einen der Soldaten so recht flehentlich, ihn doch mitzunehmen, weil er seinen Vater in einem Lazarett an der russischen Grenze suchen müsse, so erlaubten ihm die gutmütigen Feldgrauen gewöhnlich, sich zwischen ihnen einzuquetschen, obwohl sie meistens schon so eng saßen, wie die Bücklinge in ihren Kisten.
Plötzlich hieß es, für die nächsten Tage sei der Bahnverkehr gänzlich gesperrt. Es mußte da oben, wo Hindenburg befehligte, etwas Neues im Werke sein! Desto heißer wurde Helmuts Verlangen, in die kriegerische Zone zu gelangen.
Er beschloß, zu Fuß weiter zu wandern, zumal er mit Erschrecken sah, wie schnell seine Barschaft sich verringerte.
In der Nacht schlief er in der Knechtekammer des Gasthauses in einer kleinen Ortschaft. Für das Unterkommen nahm die Wirtin ihm nur 50 Pfennige ab und die Flöhe bekam er umsonst – es waren nicht wenige! Denn auch hier hatten die Russen mit ihrem Schmutz gehaust. Von ihrem ersten und zweiten Einfallhörte er in der Gaststube, wo er eine Suppe verzehrte. Greuliche Geschichten! Es lief ihm kalt über den Rücken, wenn er sich vorstellte, daß das alles wirklich geschehen war und nicht nur so in Büchern stand. In der Wand der Gaststube steckten noch die Kugeln, und die Wirtin trug Trauer, denn ihren Mann hatten die russischen Soldaten auf dem Marktplatz erschossen, weil er sich geweigert hatte, ihnen sein gesamtes Eigentum auszuliefern. Auf dem Hofe von Frau Ledderhose hatte Helmut gar nicht so einen schrecklichen Begriff von ihnen bekommen. – Da waren sie einfach freundliche Menschen gewesen, die ihre Arbeit taten und des Abends vor ihrem Schuppen saßen und schöne traurige Lieder sangen. Seltsam doch, wie der Krieg die Menschen verändern mußte! Ob sein Vater wohl auch so von Grund aus verändert, so wild und grausam geworden war? Einen armen Kerl, der über die Zerstörung seines Eigentums verzweifelt war, so einfach niederzuknallen – nein, dessen war sein Vater nicht fähig. Das wußte Helmut felsenfest.
Mit solchen Gedanken trottete er im Regen die Landstraße entlang, erfüllt von all den neuen Eindrücken. Er begegnete schon mancherlei kriegerischen Vorbereitungen. Einmal einer langen Artilleriekolonne mit großmächtigen Geschützen, ein anderes Mal einem friedlichen Zug schwarz und weiß gefleckter Rinder, die indessen auch einem vaterländischen Zwecke dienten. Sie folgten dem Heere nur, um geschlachtet zu werden, dann als Gulasch die fahrbaren Feldküchen zu füllen und die Tapferen nach vollbrachter Pflicht zu stärken.
Immer Neues gab es zu sehen und zu hören. Helmut wurde das stundenlange Wandern nicht leid. Aber endlich wurde ernoch naß bis auf die Haut, und in seinen Schuhen gluckste das Wasser bei jedem Schritt. Als er am Nachmittag den Planwagen mit den heimkehrenden Flüchtlingen überholte, war er herzensfroh, als der Kätner ihn gutmütig aufforderte, mit unter den Plan zu kriechen. Da war's ganz behaglich, man saß dicht beisammen, einer wärmte den anderen, und man kam schneller vorwärts.
Aber dann war's doch schrecklich, das zerstörte Dorf zu sehen und den starren Schmerz der Leute, als sie vor dem Trümmerhaufen standen, der einst ihr schmuckes Häuschen gewesen.
»Na, nun nicht gejammert, das wird schon alles wieder werden«, sagte der Mann endlich und schlug sich bekräftigend mit der Faust in die linke Hand. »Das ganze Deutsche Reich wird uns helfen wieder hoch zu kommen, und der Kaiser hat's versprochen!« Damit holte er sich vom Wagen einen Spaten und fing gleich an aufzuräumen, um sich durch den Schutt den Weg in die noch stehengebliebenen Brandmauern zu bahnen. Der Stall war auch ziemlich unversehrt. Der ließ sich am ersten zu einem vorläufigen Obdach für die Nacht herrichten. Vater und Mutter, die Kinder, darunter ein Sohn in Helmuts Alter, alles arbeitete wacker daran, das Ställchen sauber zu bekommen. Da hatte man doch wenigstens ein Dach über dem Kopf. Ein paar Strohsäcke wurden vom Wagen geholt und die mitgeführten Betten und Decken darübergebreitet. Helmut machte sich nützlich, indem er unter dem vorspringenden Dach, an einer vor dem Regen geschützten Stelle, aus Steinen einen kleinen Herd baute und Feuer anzündete. Das hatte er oft auf Jagdausflügen mit dem Vater geübt. Die Frau kochte einen Brei, und obschon die ganze Familie aus einer Schüssel aß, schmeckte es doch allen prächtig. Der Mann dehnte sich und sagte zufrieden zu seiner Frau: »Was, meine trautste Marjell, wieder zu Haus – is doch besser, als die Füße unter fremder Leute Tisch zu stecken!« Und dann schnarchte er auch gleich schon friedlich, daß es klang, als arbeite eine große Säge sich durch eine gewaltige Eiche. –
Am nächsten Morgen wanderte Helmut weiter, diesmal bei hellem Frühlingssonnenschein; der trocknete seine nassen Schuhe schnell. Hinter ihm klang der Schlag der Äxte und der Ruf der Zimmerleute aus den Ruinen, in denen überall sich fleißige Menschen regten, die einander hilfreich waren, um neu aufzubauen, was der Krieg zerstört hatte. Schwer mochte es oft sein, in der verwüsteten Gegend seines Lebens Notdurft und Nahrung zu finden, mancher mochte bereuen, zu früh im Winter zurückgekehrt zu sein. Vor dem nächsten Dorfe traf Helmut auf eine Gruppe Kinder, die eifrig in dem Schlamm der aufgewühlten Gartenerde nach Kohlstrünken suchten und die halbfaulen, schmutzigen Reste gierig benagten. Er stand still und schaute sie an – so etwas von Hunger, wie sich auf den armen, blassen Gesichtlein ausprägte, hatte er sich nie träumen lassen! Barfuß waren sie, mit offenen Frostbeulen an den Füßen, und nur ein paar zerrissene Lumpen als Kleider am Körper.
Helmut warf seinen Rucksack von der Schulter. Er besaß noch belegte Butterstullen, mit denen er sich am Tage zuvor im Gasthof versorgt hatte, und einige harte Eier! Er dachte nicht mehr daran, daß dies für heute sein Mittagsmahl bilden sollte, sondern kramte die guten Dinge eilig hervor und hielt sie den Kindern entgegen.
Die starrten ihn einen Moment lang ganz dumm an, als könntensie das unerwartete Glück gar nicht fassen. Dann stürzten sie sich auf die Gabe, Helmut mußte noch energisch wehren, daß sie sich nicht darum prügelten. Schon waren Eier, Wurst und Brot in den eifrig kauenden Mündern verschwunden. Wahrhaftig, sie bettelten noch um mehr. Er ließ sie in seinen Rucksack schauen, um sie zu überzeugen, daß er nichts Eßbares mehr bei sich führte.
»Warum seid ihr nicht nach Berlin gekommen? Mein Großvater hätte besser für euch gesorgt«, sagte er. »Jeder, der kommt, kriegt Nachtlager und Speisemarken für die Volksküche!«
»Vater wollte nicht fort, Mutter hat ihn so gebeten! Er sagte, er wollte sterben, wo er gelebt hat«, antwortete das Älteste, ein verständiges Mädchen von etwa neun Jahren. »Wir haben uns nur im Walde versteckt, solange Russ' hier war, dann kamen wir gleich wieder. Aber kalt im Winter, schrecklich kalt!« »Das will ich wohl glauben, ihr armen Würmer«, sagte Helmut mitleidig und schenkte jedem noch zehn Pfennige. Sie zeigten ihm die Richtung des Weges und warnten ihn, er solle nicht durch den Wald gehen, dort hänge noch viel Stacheldraht zwischen den Büschen, und es gäbe dort auch tote Pferde, die röchen schlecht.
Am nächsten Tag kam Helmut ins Russische, oder vielmehr in das Gebiet, das vordem russisch gewesen, nun aber von unseren Truppen besetzt war. Jetzt begann erst die schwere Zeit. Er konnte sich nicht mehr mit den Einwohnern verständigen, die ihn mißtrauisch und feindlich betrachteten. Er verirrte sich und wußte nicht mehr aus noch ein, dazu knurrte ihm der Magen gewaltig, denn er hatte am Abend zuvor in einem furchtbar schmutzigen »Krug« am Waldesrand nur ein Glas Bier und ein Stück Brot erhalten. Lange Stunden irrte er im Walde umher. Er sah auchso eine arme Pferdeleiche im Drahtverhau hängen. Schwärme von Raben kreisten über ihr und bedeckten sie fast. Helmut hatte im Tropenwald und auf den Weiden in Brasilien oft gefallenes Vieh gesehen und immer auch die Aasvögel über ihrer Beute. Aber hier grauste es ihn mehr als je zuvor, er wußte selbst nicht warum. Der Gedanke, in diesem Wald übernachten zu müssen, erschien ihm plötzlich sehr schreckhaft. Noch in diesem Frühling mußten hier Kämpfe stattgefunden haben. Viele Bäume waren schwarzgesengte Stummel. Er traf auf tiefe Gräben, die an ihren Rändern zerbrochene Konservenbüchsen, Patronenhülsen, Kleiderfetzen aufwiesen zum Zeichen, daß sie für Freund oder Feind als Schützengräben gedient hatten. Kreuz und quer liefen die zerschossenen und zerrissenen Drahthindernisse durch das Unterholz, das sich mit lichtgrünem Blätterwerk zu bekleiden begann. Es war so still, als hätten selbst die Vögel vor Schrecken das Singen verlernt. Helmut ging schneller und schneller auf einem kräftig betretenen Pfad, der denn doch einmal irgendwo auf eine breitere Straße führen mußte. Zuletzt lief er und fühlte, wie die Schweißtropfen ihm über die Stirn rannen.
Da hielt er mit einemmal auf einer Lichtung inne. Ihr Boden war bedeckt mit zarten weißen Anemonen und lila Waldveilchen. Durch die spärlich belaubten hohen Buchen, an denen die hellgrünen Blättchen die goldigen Knospenhüllen noch nicht völlig abgestreift hatten, schien die Abendsonne und tauchte den einsamen Platz in einen sanften, hellen Glanz. Zwischen den Blumen lag eine Reihe kleiner Hügel, auf jedem war ein Holzkreuz befestigt, und graue Helme hingen über den Kreuzen.
Auf den Zehen trat Helmut näher und las die Inschriften derKreuze. Zuweilen waren es Namen und die Bezeichnung des Dienstgrades, z. B.: »Hier ruht in Gott unser guter Hauptmann Freiherr Egon von Falkenberg.« Zuweilen nur die kurzen Worte: Hier ruht ein deutscher Soldat. Das Datum war bei allen dasselbe.
Helmut nahm seine Mütze ab und faltete die Hände. Friedlich durften sie nun schlafen, die toten Helden unter Anemonen und Veilchen, im grünen Arm des Waldes!
Weihevolle Andacht und Verehrung erhob Helmut das Herz. Vor diesen Gräbern verging die sinnlose Angst, die ihn beim Anblick der Pferdeleiche gepackt hatte. Er richtete sich straff auf, seine Augen glänzten wieder hell und mutig. Es war, als steige aus dem Erdboden dieses stillen, goldumglänzten Waldwinkels eine wunderbare Kraft auf, die er mit tiefem Atemzuge trank, die ihn plötzlich mit einer großen Zuversicht begabte, daß er die Aufgabe, zu der er ausgezogen, auch erfüllen werde.
Mit scharfen Blicken musterte er den Stand der Sonne, prüfte mit emporgehobenem genäßten Finger die Windrichtung, betrachtete eingehend die verschiedenen begrasten Pfade, die auf der Lichtung zusammenführten und wählte nach kurzem Bedenken den, der am meisten Spuren aufwies, in der letzten Zeit von menschlichen Füßen betreten worden zu sein. Der führte ihn dann auch nach zwei Stunden strengen Marschierens aus dem Walde heraus auf eine breite Landstraße. Hier geriet er in ein mächtiges kriegerisches Treiben mitten hinein.
Im Dämmern der Frühlingsnacht zogen graue Truppenmassen singend dahin, große Lastautos und Planwagen folgten ihnen, Offiziere auf Pferden ritten an den Rändern der Chaussee, ungeheuereeisengraue Geschütze wurden von Autos oder von Reihen schwerer Gäule mit furchtbarem Gedröhn und Gerassel bewegt, während die Artilleristen, die sie zu bedienen hatten, fluchten und schimpften, weil sie nicht schnell genug vorwärtskamen.
Eine Weile schaute Helmut begeistert auf das belebte Nachtbild. Plötzlich fühlte er eine ungeheure Müdigkeit seine Glieder lähmen und seine Sinne verwirren. Fast wäre er stehend eingeschlafen. Er lief zurück zum Wald, kroch in ein Gebüsch, und während das Dröhnen und Rasseln, das Singen und der dumpfe Marschtritt der Bataillone fern und ferner verhallte, war er schon fest eingeschlafen.
In der Morgenfrühe erwachte Helmut, schaudernd in der Kühle und dem Tau der Frühlingsnacht. Er wärmte sich durch einen Dauerlauf am Rande der sonnigen Chaussee, auf der sich schon wieder ein reges kriegerisches Treiben entwickelte. Mörderisch hungrig war Helmut inzwischen geworden. Öfters mußte er stehenbleiben und sich zusammenkrümmen wie ein Regenwurm vor Schmerzen in seinem leeren Magen. Er dachte mit einem gewissen Stolz: Eklig ist's ja – aber Donnerschock – ich kann das doch eher aushalten wie die armen kleinen Mädchen in dem Krautgarten!
Endlich traf Helmut bei einem zerschossenen Gehöft eine Kompagnie, die auf dem gepflasterten Hof um eine Gulaschkanone lagerte und sich bei munterem Geplauder ihr Frühstück schmecken ließ. Der Duft des dampfenden Kaffees, des frischgebackenen Brotes stieg Helmut wie ein berauschender Wohlgeruch in die Nase. Er machte sich heran und fragte bescheiden, ob er wohl auch einen Bissen und einen Schluck haben könnte. Man forschte, woher er käme, denn hier sprach die Landbevölkerung nur Russisch oder Estnisch. Offenherzig berichtete er seine Absichten und Pläne. Die Soldaten lachten über seine Keckheit, einer holte ihm eine Schale Kaffee, ein anderer schenkte ihm ein tüchtiges Stück Kommisbrot.Als sie aufbrachen, zog er einfach mit ihnen. Freilich schnauzte ihn der Feldwebel einmal nicht wenig an – er solle machen, daß er heimkäme, er wäre ja noch nicht trocken hinter den Ohren und gehöre an Mutters Schürzenband. Der Junge ließ sich nicht anfechten und ging einfach zu einer anderen Kompagnie. Überall amüsierte man sich über den hellen klugen Bengel. – Er mußte von Brasilien und seinem dortigen Leben erzählen, der Deutsche hört nun einmal zu jeder Zeit gern von fremden Ländern und Sitten. Alle seine Abenteuer mit Schlangen, durchgehenden Pferden, Indianerüberfällen gab Helmut zum besten, und es ging hier wie schon in Jarmlitz und in Berlin im Realgymnasium, aus ganz einfachen Erlebnissen waren im Laufe der Zeit wildromantische Geschichten geworden, die mit der Wirklichkeit nur noch wenig Ähnlichkeit aufwiesen. In den Ruhestunden sang er brasilianische Lieder und tanzte komische Negertänze, kurz, Helmut bildete sich schnell zum Clown der Truppe aus und empfing von den gutmütigen Feldgrauen als Dank für seine Späße reichlich Liebesgaben in Gestalt von Wurstbrocken, Zigaretten und Schokolade.
So zog er zwei Tage lang mit der Kompagnie immer tiefer nach Rußland hinein, der Gegend zu, wo die großen heißen Kämpfe stattfanden. Er sah und hörte viel Neues, und der Mund stand auch nie stille mit Fragen nach den Einzelheiten der militärischen Ausbildung, nach Uniformen und Einrichtungen, nach der Art der Kämpfe, die dieser und jener schon miterlebt hatte. Die Soldaten gaben ihm auch bereitwillig Auskunft. Indessen sollte diese Neugier für Helmut höchst unangenehme Folgen haben.
In einer kleinen Ortschaft, wo Nachtquartier gehalten werdensollte, drängte sich ein russischer Hausierer zwischen die Soldaten und verkaufte Seife, Kerzen, Bleistifte. Besonders begehrt wurden die russischen Süßigkeiten, denn die Kehlen wurden trocken bei den langen Märschen. Der Hausierer machte ein gutes Geschäft, trotzdem er ein unangenehmer Geselle war mit seiner Zudringlichkeit, seinem schmutzigfettigen Pelz und dem dummverschmitzten Kalmückengesicht, mit den schiefstehenden Schlitzaugen. Helmut ließ sich mit ihm in eine längere Unterhaltung ein. Der Hausierer sprach recht gut Deutsch. Außerordentlich spannend erzählte er Helmut, wie er schon als Schüler wegen revolutionärer Gesinnung eingekerkert und nach Sibirien verbannt worden sei, wie es ihm dann unter schrecklichen Gefahren und Entbehrungen gelang zu entfliehen, wie er in England und der Schweiz gelebt habe und erst jetzt, nun es von den Deutschen erobert sei, den Teil seines Vaterlandes wiedersehen dürfe, in dem er ein glückliches Kind gewesen sei.
So unsympathisch Helmut der Mann auch war, wurde er doch gerührt durch die Erzählung all der Leiden, die ihm das Leben schon gebracht hatte. Nur war es ihm fatal, daß, während erauf einem kleinen Seitenweg des Städtchens zwischen Gärten in der milden Frühlingsdämmerung mit ihm auf und ab wandelte, der Russe ihm im Eifer des Erzählens zuweilen zärtlich um die Schultern faßte oder ihm liebevoll über den Arm strich. Auch die Anrede »Lieber Mensch Sie! Hören Sie doch!« mit der der Hausierer sehr freigebig war, schien Helmut etwas allzu vertraulich. Er wäre ihn schließlich gern losgeworden, wußte aber nicht, wie er das anstellen sollte. Ein Trupp von vier bis fünf Soldaten kam das Sträßchen herunter.
»Da sind sie ja – die beiden Burschen!« hörte er rufen, »nun mal schnell ran, Jungens, jetzt können sie uns nicht entwischen!«
Ehe Helmut noch recht wußte, wie ihm geschah, war er bei der Schulter gepackt und bekam, als er sich losreißen wollte, von dem jungen Kriegsfreiwilligen, der ihn hielt, eine Ohrfeige, daß ihm die Funken vor den Augen tanzten. »So«, sagte dieser böse, »das ist dafür, daß du uns so reingelegt hast mit deiner Vergnügtheit, Mensch – und machst dich dabei mit solchem Gesindel gemein! Pfui Teufel!«
»Ja, was ist denn nur los – erklären Sie mir blos in aller Welt ...?«
Inzwischen waren die übrigen Feldgrauen dem Russen nachgelaufen. Beim Anblick der auf sie zukommenden Soldaten, war der die Straße hinabgesprungen, so schnell ihn seine Beine trugen. Er kam nicht weit, beim Überklettern eines Gartenzaunes faßten sie ihn schon und banden ihm die Hände mit festen Hanfstricken auf den Rücken. Helmut geschah das gleiche, er mochte sich wehren, um sich schlagen, spucken und beißen soviel er konnte. Dabei hörte er aus dem Munde der Soldaten das schreckliche Wort:»Widerspenstiges Spionenschwein!« Helmut schrie, schluchzte und beteuerte seine Unschuld. Der Kriegsfreiwillige Möller, der bisher sein besonders guter Freund gewesen und ihn nun nur finster und verächtlich anschaute, sagte streng: »Schick' dich vernünftig in das Unvermeidliche. Der Oberst wird schon herausfinden, ob du unschuldig bist oder nicht! Verdächtig war den Kameraden dein Hin- und Herlaufen zwischen uns und dein ewiges Gefrage nach lauter Dingen, die dich nichts angehen! Ich bin immer für dich eingetreten! Und dann macht sich ein deutscher Junge mit so 'nem Lausekerl gemein! Pfui Teufel, pfui Teufel! – Na, jetzt gibt's erst einmal eine ordentliche Leibesuntersuchung – dabei wird sich ja ergeben, ob wir etwas Anstößiges finden!«
»Aber ich habe Ihnen doch meinen Paß gezeigt«, stotterte Helmut kleinlaut.
»Pässe – Pässe –!« sagte der junge Kriegsfreiwillige, »das wär' nicht der erste Paß, der gefälscht wäre!«
Helmut biß die Zähne aufeinander und reckte sich trotzig. Er wollte nicht den Anblick eines feigen Hundes bieten, mochte nun kommen, was da wolle! Der Hausierer heulte und winselte wie ein geschlagenes Tier, zwischen den Fäusten der zwei alten Landwehrmänner.
Furchtbar schamvoll war es für Helmut, zwischen den Gruppen der lagernden Soldaten auf dem Marktplatz hindurchgeführt zu werden. Die Hände auf den Rücken gebunden. Alle kannten sie ihn ja doch – reckten die Köpfe nach ihm, flüsterten und tuschelten erregt untereinander. Sie hielten ihn für einen Spion, der sein Vaterland verraten wollte – welch ein unerträglich abscheulicher Gedanke!
In einem stattlichen Hause, es mochte so etwas wie das Rathaus sein, trennte sich die Gruppe in zwei Teile. Helmut wurde in ein Bureauzimmer gebracht, wo er sich völlig entkleiden mußte. Der junge Möller, der schon die Gefreitenknöpfe trug, untersuchte seine Jacke, während zwei Männer sich mit der Wäsche und seiner Brieftasche befaßten. Jedes Zettelchen wurde dreimal umgewendet und durchstudiert. Allmählich begann Helmut sich zu fassen. Außer den Briefen seines Vaters, die er immer bei sich trug, dem Stundenplan des Gymnasiums, einer Rechnung mit der Unterschrift von Frau Anna Ledderhose, die er einmal in Jarmlitz aus dem Papierkorb entwendet hatte, und einem Samtband, das sie um den Hals getragen, enthielt die Brieftasche nur noch einen Zettel mit ein paar feinen Schulwitzen, über die er sich zwar ein bißchen schämte, aber die ihn doch unmöglich an den Galgen bringen konnten.
Da plötzlich hörte er einen dumpfen Ausruf des jungen Freiwilligen, der sich hinter seinem Rücken mit seiner Jacke zu schaffen machte. Die Soldaten traten zusammen – Helmut fuhr mit dem Kopf herum, und sah wie sein Freund aus dem Umschlag des Jackenärmels einige zusammengeknüllte Kügelchen von Seidenpapier zum Vorschein brachte.
– »Da haben wir's ja«, murrte er zwischen den Zähnen.
»Das gehört mir nicht!« rief Helmut stürmisch.
»Kann jeder sagen«, wurde ihm geantwortet. Die Männer, mit Ausnahme eines stämmigen alten Landwehrmannes, der ihn im Auge behielt, traten am Fenster zusammen, glätteten vorsichtig die Papiere, beugten sich dicht darüber, einer zog eine Lupe hervor und prüfte sie, schüttelte darauf den Kopf, blickte ernst und traurigzu Helmut hinüber und sagte leise: »Es ist kein Zweifel möglich. Hätte es doch nie gedacht ... Machte solchen netten Eindruck!«
Helmut war zumut, als sollte ihm das Herz zerspringen vor Wut und Zorn. Das waren alles seine guten Freunde gewesen – und hielten ihn solcher Schlechtigkeit für fähig! Wollte er sich verteidigen, wollte er zu erklären versuchen, was ihm selbst unerklärlich erschien, so hieß es: »Halt's Maul! Vor dem Oberst magst du dich rechtfertigen!« Die Soldaten verließen ihn, nachdem Möller die geglätteten Seidenpapiere und Helmuts Brieftasche sorgfältig zu sich gesteckt hatte. Der schweigsame Landwehrmann mit dem zottigen Bart blieb in der Tür stehen. Es wurde dunkel in dem öden Bureauzimmer, wo der Staub auf den leeren Regalen und Tischen lag. Helmut saß auf einem Stuhl, malte mit dem Finger gedankenlos in dem Staub auf dem Tisch, bis er nichts mehr zu sehen vermochte. Er begann nachzudenken, wie die Seidenpapierkügelchen wohl in aller Welt in seinen Jackenärmel geraten sein mochten. Sie waren doch keine Läuse, daß sie kriechen, keine Flöhe, daß sie springen konnten!
Da kam's ihm plötzlich! »Lieber Mensch! lieber Mensch«, hatte der Russe gejammert, »hast du Mitleid, bist du edler Mensch!« Und hatte seine Schultern umfaßt, hatte seinen Arm gestreichelt! Ihm sicher bei dieser Gelegenheit die Kügelchen, die Gott weiß was für gefährliche Aufzeichnungen enthalten mochten, in den Jackenärmel geschoben, weil er sich irgendwie verraten wußte, oder weil er hoffte, ihn auf diese Weise zum Mitschuldigen zu machen! Teufel auch! Das war ja eine scheußliche Geschichte! Manche Erzählung von Spionen hatte Helmut in dieser Zeit gehört. Weder bei uns noch bei unseren Feinden machte man vielUmstände mit den Gesellen! Eine Schlinge um den Hals und an den nächsten Baum geknüpft, sobald der Kerl überführt war! War er denn nicht überführt? Hatte man nicht Aufzeichnungen bei ihm gefunden? Ein recht freundliches Schicksal, das ihn da erwartete....
Ein Frieren ging durch seinen Körper, ein Schwindelgefühl war in seinem Kopf. Der Knabe stützte beide Arme auf den Tisch und faßte die Stirn mit den Händen. Jetzt galt es, sich zusammennehmen, seine Gedanken klar behalten ... Ja – nun war er im Krieg, und Gefahren drohten von allen Seiten! Das hatte er ja zu erleben gewünscht! Von Heldentaten hatte er geträumt. Nur nicht so elend schmachvoll zugrunde gehen – nur das nicht!
Schritte dröhnten auf dem Korridor vorüber, jedesmal schrak Helmut auf und dachte, man würde ihn holen. Endlich öffnete sich die Tür, Gefreiter Möller trat ein und sagte kurz: »Komm jetzt, der Herr Oberst will dich vernehmen!«
Helmut folgte schweigend. Dicht bei ihm ging der Landwehrmann mit dem großen Bart. Auf dem Flur, der durch eine trübselige Öllampe erhellt wurde, führte man den Hausierer an ihnen vorüber. Den Kopf tief auf die Brust hängend, an allen Gliedern schlotternd, hin und her schwankend, ein Haufen menschliches Elend, so schlurfte er zwischen zwei Feldgrauen daher.
Der ist erledigt, dachte Helmut mit Grauen und Ekel. So sieht ein Mensch aus, der keine Hoffnung mehr hat.
– Nur nicht so armselig vor den Richter treten! Er ballte die Fäuste, drückte sich die Nägel tief ins Fleisch, reckte sich mit aller Gewalt zurecht.
In einem öden leeren Zimmer saß der Oberst mit vier Offizierenum einen Tisch, den Papiere und Karten bedeckten. Mehrere Kerzen in Flaschen gesteckt, beleuchteten die braunen energischen Gesichter der Herren. Der Oberst winkte Helmut nahe zu sich heran, so daß der Lichtschein hell über ihn fiel, während der Raum ringsumher sich im Dunkel verlor. Die blauen wie Stahl blitzenden Augen des Regimentskommandeurs blickten scharf auf den Jungen, während er Frage nach Frage an ihn richtete. Der neben ihm sitzende Offizier hatte Helmuts Brieftasche vor sich ausgebreitet und prüfte zuweilen, ob seine Angaben mit den Schriftstücken, die er darin gefunden hatte, übereinstimmten.
Vielerlei mußte er den Herren erzählen, und manches schien ihm wenig oder nichts mit der Spionensache zu tun zu haben. Indessen mußten die Herren ja wohl wissen, warum sie ihn das alles fragten. Von »Waldecke« mußte er berichten, wie das Haus dort eingerichtet gewesen sei, wo der Garten gelegen, wieviel Pferde und Kühe sein Vater besaß – dann Einzelheiten über die Reise und den Berliner Aufenthalt bei den Großeltern.
Helmut fühlte deutlich, daß es galt die Wahrheit, die reine schlichte Wahrheit zu sprechen; denn sein kindisches Protzentum, die phantastischen Flunkereien fielen vor den Augen und Ohren dieser ernsten Männer jämmerlich in sich zusammen.
Zuweilen hielt er inne und sagte bescheiden: ich muß mich erst besinnen – ich kann mich nicht gleich erinnern ..., dann nickte ihm der Oberst aufmunternd zu. So wurden seine Angaben im ganzen klar, einfach und übersichtlich.
»Du hast also aus Neugier diesen russischen Händler ausgefragt?« sagte der Oberst schließlich. »Er hat dir seine Lebensgeschichte erzählt, die wahrscheinlich erlogen war, und, wie duangibst, dich dabei umarmt und gestreichelt – nun das klingt ja ganz einleuchtend! Der Kerl war ein raffinierter Spion, der uns vielen Schaden zugefügt hat, und dem wir schon längst auf der Spur sind.... Er wußte wohl, was für ihn auf dem Spiel stand und versuchte sein armseliges Leben durch dich zu retten. – Ja, in solche Gefahren kommt man eben, wenn man sich vorwitzig an Orte begibt, wo man nicht hingehört, statt vernünftig in seine Schule zu gehen. Hoffentlich bewahrheiten sich deine Angaben – so lange bis wir Gewißheit haben, müssen wir dich noch in Gewahrsam halten.«
Helmut wurde in das Zimmer zurückgeführt, wo er vorher gesessen hatte. Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen, und eiserne Riegel davorgelegt. Auch die Tür wurde verschlossen. Hier hatte er nun die ganze lange Nacht zuzubringen. Aber neue Hoffnung stieg in ihm auf – der Oberst hatte zuletzt zwar ernst, doch nicht mehr so finster ausgeschaut wie zu Anfang des Verhörs, Helmut hatte sogar zu beobachten geglaubt, wie ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht gehuscht war.
Endlich ging dann auch diese lange Nacht zu Ende. Als kleine Sonnenblitze sich durch die Spalten in den Holzläden stahlen, drehte sich der Schlüssel im Schloß. Gefreiter Möller kam herein, stieß die Läden auf und lachte über sein ganzes rosenrotes junges Gesicht.
Fröhlich rief er: »Das Telegramm vom Polizeibureau in Berlin ist da und bestätigt deine Angaben über Familie und Herkunft!« Er streckte ihm die Hand entgegen. »Nun schlag ein und sei mir nicht böse wegen der Ohrfeige, die du in der Hitze des Gefechtes bekommen hast. Denk' es wäre ein feindlicherStreifschuß gewesen! Ich kann dir übrigens verraten, daß unser Herr Oberst das Telegramm noch mit dem Vermerk »dringlich« versehen hatte! Wir wollen dem armen Kerl doch die Stunden der Angst möglichst verkürzen, sagte er.«
Helmut hörte kaum auf die freundliche Erklärung.
»Ja – bin ich denn frei?« fragte er verwirrt.
»Natürlich bist du frei!« Da gab's einen wilden Jubelschrei, Helmut tanzte wie toll in dem staubigen Zimmer herum, ergriff zwei Stühle und schwenkte sie hoch in der Luft herum, vor Glück.
»Nun laß mal bitte meinen Schädel in Ruhe«, meinte Möller gemütlich. »Wasche dir unten am Brunnen Gesicht und Hände – du siehst aus, als hättest du fürs Vaterland ein paar russische Kamine ausgefegt! Aber fix! Der Herr Oberst will dich noch sprechen, ehe wir aufbrechen.«
Der Herr Oberst hatte sich sein Frühstück in einen benachbarten Garten bringen lassen. Er saß unter einem blühenden Birnbaum im Sonnenschein und strich sich behaglich eine Schnitte Brot mit Marmelade. Dabei plauderte er mit dem Oberstabsarzt, als Möller und Helmut vor ihm erschienen.
»Na, mein Junge«, begrüßte er diesen freundlich, »heut schaust du ja bedeutend frischer aus. Gestern war die Farbe doch etwas gelbgrün. War ja auch keine Kleinigkeit! Hast aber Haltung bewahrt! Hat mich gefreut. Gefreiter Möller hat dir schon mitgeteilt, daß du frei bist. Schwatz' ein anderes Mal in der Kriegszone nicht mit unbekannten Persönlichkeiten. Hier unser Herr Oberstabsarzt fährt in einer halben Stunde im Auto nach dem Lazarett von L. Dort wolltest du dich doch nach deinem Vater erkundigen. Er hat mir versprochen, dich mitzunehmen. Danngeht's aber mit dem ersten Verwundetentransport nach Berlin zurück, hörst du wohl! Schlachtenbummler deiner Art können wir hier draußen nicht gebrauchen! Sobald du in L. eintriffst, schreibst du an deine Frau Mutter, daß sie weiß, wo du Strolch geblieben bist! Hier hast du 'ne Feldpostkarte! Möller wird dafür sorgen, daß du was in den Magen kriegst. Na Schwarz, was gibt's denn Neues?«
Schon standen Ordonnanzen mit Meldungen bereit, ein Adjutant eilte im Sturmschritt auf den friedlichen Frühstücksplatz, der schlanke Oberst erhob sich, strich das graue Bärtchen und war bereit für tausend neue Pflichten.
Eine Stunde später sauste Helmut neben dem Oberstabsarzt durch das leicht gewellte Land, seinem Ziel entgegen.
»Ja, lieber Junge – da ist denn wohl weiter nichts zu machen«, sagte der Oberstabsarzt und legte Helmut die Hand auf die Schulter. »Wir haben uns überzeugt, daß dein Vater nicht mehr hier ist!« Helmut biß sich die Lippen und würgte an seiner Enttäuschung. »Warum hat Vater nur nie geschrieben?« murrte er traurig. »Weißt du, ob er's nicht tat? Bei dem schnellen Vorrücken unserer Truppen durch Kurland, bei den schweren Kämpfen, die sie in der letzten Zeit zu bestehen hatten – da vergeht den Mannschaften die Lust zum Schreiben. Sie sind auch oft zu weit ab vom Feldpostdienst! Es kann immerhin möglich sein, daß dein Vater in russische Gefangenschaft geriet ... So ging's mit meinem jüngsten Bruder – ein halbes Jahr lang haben wir ihn als tot betrauert – die Mutter hatte schon schwarze Kleidung angelegt – da kam plötzlich über Schweden eine Karte von ihm aus Sibirien.« »Also geh ich eben nach Sibirien«, sagte Helmut leise und störrisch. »Das wirst du nicht tun, denn das ist unmöglich.« »Warum?« fragte Helmut. »Die Russen werden dich kurzweg erschießen, sobald du ihnen in die Hand fällst! In drei bis vier Tagen geht ein Verwundetentransport von hier nach Berlin, dem werde ich dich mitgeben, wie es der Oberst wünschte. Dem langen Kerl, dem Lehmann, den du ja kennst, werde ich dich anvertrauen, damitdu nicht wieder auskneifst.« Helmut senkte den Kopf und schwieg. Er hatte nicht die Absicht zu gehorchen.
Der lange Lehmann, der beim Auszug so sicher geprahlt hatte, daß die Kugeln partout und partout keine Lust haben würden, ihn zu treffen – der hatte ihnen doch nicht aus dem Weg gehen können. Das abspringende Stück einer Granate war so unbarmherzig gewesen, ihm das rechte Bein abzureißen. Er fand sich auch in diesen Verlust mit gutem Humor. »Uf die Jerüster werd' ich nu woll nich mehr rumturnen können«, erzählte er Helmut, »aber nu werde ick mir uf die hohe Kunst verlejen, un feine Bilderkens malen, verstehste – so mit joldene Rahmens drum rum, wie die da drüben! Det jefällt mich ausnehmend.« Er zeigte auf die Ölgemälde, welche die mit meergrüner Seide bespannte Wand des Saales schmückten, in dem dieses Gespräch stattfand. Der vornehme Raum – ursprünglich der Tanzsaal eines baltischen Schlosses – diente jetzt als Aufenthaltsort für die genesenden Feldgrauen. Der lange Lehmann streckte sich behaglich auf der blumigen Seide eines goldenen Lehnsessels an dem Flackerfeuer des Kamins, über dem schwebende Engelsfiguren Rosengirlanden um einen mächtigen Spiegel schlangen. Die Schwester hatte ein wenig eingeheizt, denn es war kühl an diesem Frühlingsabend. Durch die feingeschwungenen Bogenfenster blickte man auf eine Marmorterrasse, an deren Rampe weiße Göttinnen in der Dämmerung der hohen Parkbäume träumten. Die Schwester in ihrem grauen Kleide mit dem weißen Häubchen verteilte aus der nebenan liegenden Bibliothek Bücher unter die Gruppen von Soldaten, die den Saal füllten, an geschnitzten Tischen schrieben, lasen, Karten spielten oder auf der Mundharmonika die Melodien bekannterVolkslieder bliesen. Die wertvollsten Stücke aus der kostbaren Einrichtung des alten Edelsitzes waren vom Oberstabsarzt in einen verschlossenen Raum gerettet; dort warteten sie der Rückkehr ihrer Besitzer. Was hingegen seine Verwundeten brauchen konnten, das mußte heran. Zu ihrer Bequemlichkeit und Stärkung war dem Oberstabsarzt nichts zu gut – wären es auch die edelsten Weine aus dem Keller oder die gemästeten Enten und Puten vom Hühnerhof – oder die seidenen Daunenkissen der Frau Gräfin!
Helmut glaubte, ein seltsames Märchen zu erleben, als in dem grünen Saal der elektrische Kronleuchter entzündet wurde und einer der feldgrauen Männer sich an den Flügel setzte, um eine Sonate von Beethoven zu spielen. Die Männer, deren Köpfe und Glieder noch weiße Gazeverbände trugen, horchten ergriffen auf die herrlichen Harmonien, aus Jubel und Klagen, die den Saiten entrauschten. Helmut gegenüber lächelte von der Wand das Bildnis eines jungen Mädchens in lichtblauem Gewande mit blonden Ringellöckchen an den feinen Schläfen, in den rosigen Händchen hielt sie eine weiße Taube. Nie glaubte er etwas Lieblicheres gesehen zu haben als dieses baltische Grafentöchterlein. Immer wieder mußte er den Blick zu dem süßen Gesicht emporheben. Ob sie noch irgendwo auf Erden zu finden sein mochte? Ach nein – ihr Kleid gehörte einer vergangenen Zeit an – gewiß ruhte sie längst in der Ahnengruft am Ende des Parkes hinter dem verrosteten Eisengitter ...
Der Soldat am Flügel hatte geendet. Ein dumpfes Grollen wurde in der Ferne hörbar, gleich einem aufsteigenden Gewitter, nur regelmäßig klangen die langhin rollenden Donner. »Die verdammtenRussen fangen schon wieder an zu bullern«, sagte der Musikant. »Nein – das sind unsere«, widersprach ein anderer. »Auf jeden Fall wird's woll morjen hier wieder voll werden.«
So geschah es denn auch. Am frühen Morgen ratterten die grauen Autos mit den roten Kreuzen in den Hof. Über die weißen Marmortreppen wurde Bahre nach Bahre in die Säle getragen. Arme Kerls wurden von Sanitätssoldaten herausgehoben, sie schleppten sich, von Staub und Blut bedeckt, kaum noch als Menschen kenntlich, zum Verbandsplatz im inneren Hof. Dort waltete der Oberstabsarzt mit seinen Assistenten. Die Schwestern, die Pfleger liefen hin und her, hatten alle Hände voll zu tun. Dieser Augenblick schien Helmut günstig zu einer Flucht. Niemand achtete seiner. Er lief hinaus durch das von Militär vollgepfropfte Dorf, die mit blühenden Apfelbäumen bestandene Chaussee entlang, auf der ihm immer neue Züge von Verwundeten begegneten. Eine namenlose Angst quälte ihn, seit er allen diesen Jammer sah. Das war nun wahrhaftig der Krieg – der grausenvolle Krieg! Aber gerade weil ihn das Entsetzen schüttelte, mußte er weiter, mitten hinein! Nur keine feige Flucht zurück unter Mutters schützende Flügel.
Nachdem sich Helmut noch zwei Tage lang, begleitet von dem immer gewaltiger dröhnenden Krachen der Geschütze, von Etappe zu Etappe durchgebettelt und durchgeschmuggelt hatte, traf er in der Morgenfrühe nach einer im Chausseegraben verbrachten, höchst ungemütlichen Nacht auf eine Reihe von Planwagen. Sie standen am Rande eines Birkenwäldchens. Bärtige Infanteristen waren beschäftigt, die Pferde zu füttern und aufzuzäumen. Ein helles Feuer flackerte, der Duft frisch aufgebrühten Kaffeesstieg dem ausgehungerten, frierenden Helmut lieblich in die Nase. Er machte sich eiligst herzu. Zerlumpt und schmutzig, mit durchlöcherten Schuhen hatte er allmählich völlig das Aussehen eines jungen Vagabunden.
Beim Feuer saß ein seltsamer Mann. Riesengroß, breit und dick hatte er sich's im Sonnenschein bequem gemacht, die hohen braunen Stiefel, der Uniformrock lagen neben ihm, er saß im wollenen Hemd zu den feldgrauen Hosen, Strohschuhe an den Füßen, die Mütze rücküber auf dem blonden Schopf. Ein wallender, flammend roter Bart verbarg den unteren Teil des Gesichts, eine Hornbrille den oberen Teil, ein spitzes Näschen grüßte neckisch zwischen beiden hervor. In das linke Auge hatte er vor die Brille noch eine Lupe geklemmt. In seinen schönen weißen Händen hielt der wüste Waldmensch ein feines Scherchen und ein Stück schwarzes Papier, an dem er ganz versunken schnitzelte. Als die Soldaten den bettelnden Helmut vor ihn führten, hob er den Kopf, legte zuerst einmal das Geschnippsel zwischen zwei weiße Blätter einer Mappe, auf denen schon mehrere dieser phantastischen Gebilde lagen. Dann nahm er die Lupe aus dem Auge und betrachtete Helmut durch die Brillengläser mit einem so hellen scharfen Blick, daß er meinte, der sonderbare Mann müsse ihm bis ins Herz gucken. Er stotterte sein Sprüchlein von dem Vater, den er suchen wolle, und verwirrte sich dabei, denn es kam ihm plötzlich vor, er habe das Gesicht und den hellen Blick schon irgendwo gesehen. Der Mann schlug sich bei des Knaben Bericht laut aufs Knie und lachte. »Wahnsinnig! Ganz wahnsinnig schön!« schrie er entzückt: »Verrückter Lausejunge! Gefällt mir – gefällt mir sehr! Ich nehme dich mit zur Front! Übrigens kommst du mir bekannt vor –ich habe dich schon gesehen!« »Ich Sie auch – in Döberitz«, sagte Helmut. »Aber damals trugen Sie keinen Bart.« »Richtig, den hat mir der Krieg wachsen lassen! Der läßt viel wachsen, wenn er auch viel zerstört. – Höchst wunderlicher, unwahrscheinlicher Zustand.« Er drehte nachdenklich an seiner Haarsträhne über der Stirn. Helmut erinnerte sich jetzt ganz deutlich, gehört zu haben, daß der eigentümliche Mann ein bekannter Künstler sei. Wegen seiner großen Güte hieß er in der Kompagnie nur der »Onkel Jakobus« statt Unteroffizier Sieveking. Ja, hatte ihm denn der Vater nicht geschrieben, daß der ulkige »Onkel Jakobus« sich die Füße bei einem Patrouillengang schwer verletzt habe und nun Führer der Bagage geworden sei.... Da war er ja aber bei Vaters Kompagnie gewesen – dann konnte er ihm doch Bescheid geben ...! Und er konnte es. Die Bagagewagen, die er zu führen hatte, gehörten dem Regiment, bei dem Wilhelm Kärn stand, und er hatte den Auftrag, ihm in möglichster Eile zu folgen. Das Regiment, so erzählte der Onkel Jakobus dem begierig lauschenden Helmut, war bei den Kämpfen zur Eroberung Kurlands stark beteiligt gewesen und bei stürmischem Vormarsch Wochen-, ja monatelang von jeder Postverbindung abgeschnitten. So erklärte sich nun auch Vaters Verstummen. Es war dann in Reservestellung zurückgezogen, um neu ausgerüstet zu werden. Aber der Onkel Jakobus hatte in den letzten Tagen gehört, man habe Teile davon wieder in die Feuerlinie vorgeschoben. Das alles würden sie bald hören.
Inzwischen waren die Wagen angeschirrt worden. Unteroffizier Sieveking fuhr in seine Schaftstiefel und seinen Uniformrock. Los ging's. Unterwegs mußte ihm Helmut alles erzählen, waser seit seiner Abreise von Berlin erlebt hatte. Der geistreiche Künstler, der phantastische Zeichner, für den der Krieg immer noch ein ungeheures Erlebnis war, schaltete auch die Abenteuerfahrt dieses sehnsüchtigen, zerlumpten Knaben in das Bilderbuch merkwürdiger Szenen ein, das er in seiner Erinnerung mit sich trug. Er zeichnete seinen Kopf in das Skizzenbuch, in dem auch die schwarzen Schnippeleien lagen, die Helmut staunend betrachtete. Seltsame Blüten und Ranken, komische Viecher, wie es nirgends auf Erden gab, kuriose Gespenster mit den drolligsten Fratzen, Prinzessinnen in merkwürdigen Gewändern fanden sich da. »Du kennst doch die Märchen aus »Tausendundeine Nacht?« fragte Onkel Jakobus. »Siehst du, das alles hier soll mal fein gedruckt und zum Schmuck dieser köstlichen, göttlichschönen Geschichten verwandt werden. Das nennt man dann einen Prachtband. Die Frau Geheime Kommerzienrätin legt ihn auf die rote Damastdecke in ihrem Salon und erzählt allen Besuchern, wieviel er gekostet hat. Nu – wir haben's ja dazu!« »Das Buch sollte lieber nur eine Mark kosten, damit wir Jungens es kaufen könnten, wir hätten doch viel mehr Freude daran als die ollen dicken Damen!« rief Helmut. »Das sagst du wohl so in deiner kindlichen Unschuld«, antwortete Onkel Jakobus in einem weisen Ton und hob den Finger belehrend in die Höhe. »Mein Sohn, es ist auf dieser Welt einmal so eingerichtet, daß derjenige die schönen Dinge bekommt, der nichts mit ihnen anzufangen weiß, und der sich wirklich an ihnen freuen würde, der muß sie entbehren! Durch Entbehren aber wird die Seele veredelt!« Nie wußte Helmut, ob Herr Sieveking eine Sache ernst oder komisch meinte; er machte immer so ulkige Gesichter zu seinen Reden, daß Helmut sich hätte totlachen können. Siewurden beide während der Fahrt recht gute Freunde. Einmal faßte sich Helmut ein Herz und fragte den Onkel Jakobus, ob man auch ein Maler werden könne, ohne das Malen richtig gelernt zu haben. »Zuweilen ein besserer, als wenn man auf einer Schule war«, gab der zur Antwort. Helmut erzählte ihm von dem langen Lehmann, der mit seinem einen Bein nun nicht mehr auf die Jerüster steigen könnte und lieber »kleene Bilderkens« malen wollte. Unteroffizier Sieveking kannte den langen Lehmann auch und meinte: »Vielleicht kann er sich zum Holzschneider ausbilden lassen, dann kann er für mich arbeiten, d. h. wenn ich wirklich einmal unversehrt nach Hause komme und der unsäglich süße Zustand des Friedens eintritt!« Er ließ sich Lehmanns Adresse geben und wollte sich schon bei seinem nächsten Urlaub mit ihm in Verbindung setzen. Helmut freute sich von Herzen, dem armen Kerl am Ende zu einer schönen Zukunft verholfen zu haben. Die Zeit an Onkel Jakobus' Seite verging ihm wie im Fluge. Schnell kam der Abend, an dem sein freundlicher Beschützer ihn einer Patrouille mitgab, um ihn in das Quartier der 3. Kompagnie zu führen, wo er denn endlich seinen Vater finden sollte.
Die schweren Geschütze der russischen Flotte sandten von der grauen See aus in regelmäßigen Abständen ihre Granaten in den kleinen Badeort mit den netten bunten Holzhäuschen, die gespickt voll von deutschem Militär lagen. Schon war die Kirche in Trümmer geschossen, das Dach des Bahnhofs hing als morsches Sparrenwerk, gleich einer schiefen Mütze über dem Gebäude. In den Wartesälen drängten sich die Mannschaften, suchten auf Tischen und Stühlen, auf dem schmutzigen Fußboden einigen Schlaf zu gewinnen, während Waffen und Tornister in greifbarer Nähe lagen. Es war Befehl eingetroffen, den allzu gefährdeten Ort zu räumen und etwas westwärts hinter Wald und Düne geschütztere Quartiere zu beziehen.
Im Zimmer des Stationsvorstehers zwischen zerrissenen und verbrannten Telegraphen- und Telephonapparaten nahm Feldwebel Kärn die Order seines Hauptmanns für den nächsten Morgen entgegen. Der Hauptmann, ein wuchtiger, kraftvoller Herr, saß am Tisch vor einer ausgebreiteten Karte, auf die auch die beiden jungen Leutnants an seiner Seite aufmerksam schauten. »Also, meine Herren«, sagte Hauptmann Breuer, »um 2 Uhr diese Nacht gehen wir los! Hier durch den Wald. Vom Feinde haben unsere Kundschafter nichts bemerkt. Trotzdem kann in demGestrüpp des Unterholzes noch mancher versprengte Trupp stecken. Herr von Mansfeld und Feldwebel Kärn – Ihre Aufgabe wird es sein, dafür zu sorgen, daß wir nicht von hinten überfallen werden! Also auf alle Fälle: uns den Rücken decken! Dazu unterstelle ich Ihnen die Hälfte der dritten Kompagnie. Das Bataillon, das ich befehlige, geht zum Sturmangriff durch das flache Tälchen hier auf den kleinen Fluß und das Dorf an seinem Ufer los. Das Dorf muß morgen abend in unserem Besitz sein. Der Brückenkopf wird von den Russen noch ordentlich verteidigt werden – indessen – wir wollen uns auch nicht lumpen lassen!« Er stand schwerfällig auf – reckte und dehnte die mächtigen Glieder. »N' Abend, meine Herren! Wollen noch ein Nickerchen probieren. Na – was gibt's denn da wieder? Herein!« Man hatte geklopft. Die Tür öffnete sich, eine Ordonnanz trat ein, mit dem zerlumpten, von Staub und Schmutz bedeckten Helmut. »Vater! Vater!« schrie der Junge laut und stürzte auf den Feldwebel zu. Der stand vor Verblüffung starr. Als sein Sohn sich ihm um den Hals werfen wollte, packte er ihn rauh an der Schulter und schüttelte ihn. »Daß dich der Deibel frikassiere, Bengel«, stieß er heiser heraus. »Wo kommst du her? Was in aller Welt willst du hier?« Helmut stand tief erschrocken. »Ja, Vater – freust du dich denn nicht? Ich habe dich doch so lange gesucht! Wir – wir dachten, du wärest tot oder gefangen!« Inzwischen hatte die Ordonnanz Bericht erstattet und dem Hauptmann einen Brief des ihm befreundeten Unteroffiziers Sieveking übergeben, aus dem er die Vorgeschichte des überraschenden Auftritts erfuhr. Der Hauptmann schlug lachend mit der Faust auf den Tisch, seine kleinen munteren Äugelchen blinkten vor Vergnügen. »Also was sagen Sie, meine Herren– von Berlin hat der Junge den Weg hierher gefunden, in den höchsten Norden! Alle Achtung vor der Ausdauer! Kindings, Kindings – da muß ich nur heut nacht gleich noch 'ne Karte nach Hause schreiben, wo ich geblieben bin, sonst kommen mir meine beiden Jören am Ende auch nachgelaufen! Ja – aber Kärn – was machen wir nu mit Ihrem Sprößling?« »Zu Befehl, Herr Hauptmann«, sagte Kärn mit unsicherer Stimme, »ich bin sehr böse auf meinen Sohn. Er soll sofort umkehren und wieder zu seiner Mutter nach Hause, wo er hingehört!« Er fuhr sich mit der Hand an die Augen und rieb, als wäre ihm da ein Stäubchen hineingeflogen; niemand brauchte zu sehen, daß die Augen ihm plötzlich naß geworden waren. Helmut ließ den Kopf hängen. Er kam sich mit einemmal ganz dumm und kindisch vor. »Ja«, sagte der Hauptmann nachdenklich, »was machen wir nun mit dem Jüngling? Morgen früh wird der Ort hier geräumt, die Schiffsgeschütze zielen zu gut ... Unsere Leute ziehen nach Süden ab, den Russen nach. Hier kann er also nicht bleiben. Es hilft nichts – wir müssen ihn mitnehmen. Du hast Schwein, Kerlchen! Heut nacht gibt's einen Sturmangriff! Da siehst du mehr vom Krieg, als dir lieb sein wird. Von Mansfeld«, wandte er sich an den jungen schlanken Leutnant an seiner Seite, »falls dem Vater was Menschliches passiert, stelle ich den Jungen unter Ihren Schutz – soweit das eben möglich ist. Kärn – machen Sie kein so finsteres Gesicht, Sie sind unschuldig an der Geschichte – na, und der Junge hat's doch gut gemeint. Nochmal n' Abend allerseits!« Hauptmann Breuer nickte Helmut und seinem Vater freundlich zu und ging gewichtig auftretend, doch mit elastischem Gang, hinaus. Auch die beiden jungen Herren entfernten sich undließen den Vater mit seinem Sohne allein. Für Feldwebel Kärn schien Helmut nicht vorhanden zu sein. Er zog hinter einem Schrank ein Kissen hervor, aus dem das Roßhaar quoll, und holte eine Wolldecke.
»Da, leg' dich hin und schlaf«, befahl er kurz. »Vater«, schluchzte Helmut auf, »warum bist du so böse auf mich! Sag' es doch nur!« »Ich habe dir die Mutter anvertraut, du hast mir dein Wort gegeben, für sie zu sorgen! Du hast dein Wort gebrochen, um Abenteuern nachzulaufen! Das tut ein deutscher Junge nicht! Ich schäme mich für dich! Jetzt muß es durchgeschafft werden. Leg' dich hin und schlaf, damit du nachher munter bist!« Schweigend folgte Helmut dem Befehl seines Vaters. Wie anders hatte er sich das Wiedersehen vorgestellt.... Kärn lag ohne Decke, in seinem Mantel, den Kopf der Wand zugekehrt, kein Wort wurde mehr zwischen den beiden gewechselt. Endlich mußte der todmüde Helmut doch eingeschlummert sein, denn aus tiefem Traum fuhr er auf, als sein Vater, schon in voller Sturmausrüstung, ihn weckte, ihm eine Tasse heißen Kaffee und ein Stück Brot vorhielt und ihn dann mit hinausnahm in die duftende Frühlingsnacht, in der die Kompagnien sich marschbereit formierten. Durch den Wald, der mit Unterholz dicht bestanden war, kamen sie ungehindert. Als sie das Gehölz durchquert hatten, dehnte sich vor ihnen im fahlen Dämmer eine flache Talmulde, an deren Ende die Dächer eines Dorfes, am Flusse hingelagert, sichtbar wurden. Dort stand der Feind, der die Ortschaft und den Brückenkopf besetzt hielt. Beides sollte ihm entrissen werden. In losen Linien schwärmten die Mannschaften aus – mit großen Sätzen sprangen sie vorwärts – ha – von drüben knattertenjetzt die Maschinengewehre – ins Heidekraut warfen sich die Feldgrauen, sprangen wieder auf – Dampf und Qualm wallte um sie her – in wilden Sprüngen ging's dem Kugelregen entgegen – ihr wildes Hurra tönte zu der am Waldrand stehenden Kompagnie zurück. »Donnerwetter, die finden einen harten Widerstand«, murmelte Leutnant Mansfeld, der aufmerksam durch sein Glas dem Kampf folgte. »Was meinen Sie, Kärn, ob wir's zwingen?« »Sicher, Herr Leutnant, sicher! Dort an der Brücke, da freilich – nein wahrhaftig, die Unserigen müssen zurück – ah – eine Finte von unserem Hauptmann, jetzt gehen sie mit verdoppelter Wucht los ...« »Vater«, rief Helmut, der neben den angestrengt den Kampf beobachtenden Führern der kleinen Schar seine Blicke nach allen Seiten schweifen ließ, »Vater, dort um die Waldecke kommt was – da bewegt sich's unter den Bäumen!« Sofort wendeten sich die Gläser der beiden Männer jener Seite zu. Im selben Augenblick kehrte eine Patrouille, die man ausgesandt hatte, in großen Sätzen zurück und meldete: »Hinter der Waldecke kommt ein Trupp Kosaken zu Pferd!« »Das wird brenzlich!« sagte Mansfeld. »Na wenigstens hat die Warterei ein Ende! Maschinengewehr richten! Die Kerle mit einem ordentlichen Hagel empfangen«, dröhnte sein Befehl. Prachtvoll in ihren hohen Pelzmützen kamen sie daher, die wilden Kerls, auf ihren kleinen Steppenpferden, ritten lässig unter den breitästigen Kiefern, den hellen Birken, förmlich vergoldet von der aufgehenden Sonne. Da begann das »Tack, tack, tack« der Maschinengewehre ... Der Führer bäumte sich auf seinem Pferde hoch empor und stürzte zur Seite herunter. Der zweite, der dritte gleichfalls, die anderen rissen die Gäule zurück unter die Bäume. Aber nun war's,als ob plötzlich der Wald lebendig wurde. Unter Efeu und Weißdorn, zwischen Tannen und Birkengestrüpp kroch's hervor von grauem Russenvolk, immer mehr, immer mehr in schrecklichen Massen. Nur auf die Ankunft der Kosaken hatten sie gewartet, das Häuflein der Deutschen zu überwältigen. Von allen Seiten schwirrten die Kugeln wie kleine, schrecklich fein und unheilvoll singende Vögelchen. Es gab ein furchtbares Handgemenge dort auf dem zerstampften Rasen. Da sah Helmut den Tod in der nächsten Nähe, und einen Augenblick faßte eine wahnsinnige wilde Angst sein Herz. Er packte seinen Vater am Rock und schrie verzweifelt: »Vater! Verzeih' mir nur noch! Verzeih' mir!« Kärn riß den Jungen eine Sekunde lang an sich, Helmut fühlte seines Vaters Herz in ruhigen tiefen Tönen schlagen. Das gab auch ihm wieder Mut. Er hörte ihn mit dröhnender Stimme seine Befehle rufen. Der junge Mansfeld lag blutüberströmt neben ihm am Boden. Und dann wußte Helmut nichts mehr, als daß zwei greuliche Kalmückengesichter immer näher auf ihn eindrangen. Er wehrte sich wütend gegen harte Arme, die nach ihm griffen, erhielt einen Faustschlag auf den Kopf und verlor die Besinnung. Ein Schütteln seines Körpers ließ ihn wieder wach werden. Der kleine Rest der Deutschen, der bei dem Überfall verschont geblieben, war von den Russen gefangen. Leicht hatten sie sich nicht ergeben. Viele Tote und Verwundete, Freunde und Feinde lagen unter den Bäumen, andere Deutsche verbanden sich notdürftig ihre Wunden. Eng zusammengetrieben, wurden sie zwischen einem Trupp berittener Kosaken abgeführt. Durch den schmalen, sich lang hinstreckenden Wald, über Sumpf und Heide ging's, immer im Trabe nach Osten davon. Wer von den Verwundeten im schnellenLauf nicht Schritt halten konnte, dem sauste die berüchtigte russische Knute um die Beine. Endlich nach etwa zwei Stunden machten die Kosaken halt, banden ihre Pferde an die Bäume und stellten Wachen aus. Die Gefangenen, achtzig an der Zahl, wurden in einen leeren Schuppen genötigt, dessen Tür mit Bohlen verschlossen und mit lauten Hammerschlägen vernagelt wurde. Draußen hörten sie bald ein Feuer prasseln, der gute Geruch von Speisen drang zu den armen hungrigen und erschöpften Feldgrauen. Niemand dachte daran, auch ihnen etwas zukommen zu lassen. Unter den Kosaken schien großes Vergnügen und mächtige Lust an dem gelungenen Überfall zu herrschen. Die Flaschen mit Branntwein kreisten von Mann zu Mann. Sie redeten und schwatzten laut, stritten und versöhnten sich, einen hörte man schluchzen wie ein kleines trauriges Kind, ein paar andere sangen die schönen schmerzlichen Volkslieder der Russen eines hinter dem anderen mit unendlichen Versen. Am Ende hörten die gefangenen Deutschen im Schuppen gar nichts mehr, denn in großer Erschöpfung durch die Aufregung des wilden Kampfes waren die meisten von ihnen auf dem harten Boden der leeren Scheuer fest eingeschlafen.
DIE FLUCHT