II.

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William Wilberforce– so heißt der Ehrenmann, um den es sich handelt – wurde geboren am 24. August des Jahres 1759 zu Hull in der Grafschaft York, und zwar als der einzige Sohn unter vier Kindern, von denen zwei Schwestern schon in früher Kindheit wieder verstarben. Sein Vater Robert Wilberforce leitete seine Abkunft von einer alten, vornehmen Familie her, die lange Zeit hindurch im östlichen Teile der Grafschaft York ein ausgedehntes Stammgut besessen habe, war aber jedenfalls ein nach unseren Begriffen reicher, nach englischen Begriffen wohlhabender Mann. In Gemeinschaft mit seinem Vater, der bis in sein Alter hinein das entscheidende Familienhaupt geblieben zu sein scheint, betrieb er ein ausgedehntes Handelsgeschäft und verwaltete den großen Landbesitz, den die Familie hatte.

Der kleine William kam als feines, krausgliedriges Kind zur Welt und hat die Körperschwachheit, mit welcher er ins Leben eintrat, bis zu seinem Lebensende nicht völlig zu überwinden vermocht. Aber wer ihm in die hellen, geistvollen Augen sah, konnte ihm schon an der Wiege prophezeien, daß einmal etwas Rechtes aus ihm werden würde. Zum Knabenalter herangewachsen, entwickelte er trotz seines schwächlichen Körpers eine ungemeine Lebhaftigkeit und ein reiches, tiefes Gemütsleben, das ihn schnell zum Lieblingaller machte. Außergewöhnlich frühe entfaltete er eine große Redefertigkeit, wie sie Kindern seines Alters in der Regel nicht eigen ist und erinnert damit an das allbekannte Sprüchlein: Was ein Dörnchen werden will, spitzt sich bei Zeiten.

Noch ehe er das zehnte Lebensjahr erreicht hatte, verlor er seinen Vater, und da die Mutter sich wohl selbst nicht für fähig hielt, den lebhaften Knaben richtig zu erziehen, wurde er zu einem Oheim von väterlicher Seite gebracht, der mit ihm denselben Namen hatte, vielleicht also sein Pate war.

Hier im Hause des Oheims fand er denn, was ihm weder die Schule zu Hull, die er bis jetzt besucht hatte, noch auch das Elternhaus gegeben: einen echt christlichen, frommen Geist. Die Tante gehörte der Sekte der Methodisten an, und wie sie selbst eine warme, aufrichtige Liebe zu Gottes Wort und eine tiefe Erkenntnis seiner heiligen Wahrheiten besaß, so suchte sie beides auch dem jungen Neffen einzupflanzen. Schien doch dessen reiches, tiefes Gemüt so recht dazu geeignet, die göttliche Wahrheit freudig in sich aufzunehmen und nachhaltig in sich wirken zu lassen. Was die eigne Mutter, die erst spät zum lebendigen Christentum kam, an dem sinnigen Knaben versäumt hatte, suchte die Tante desto eifriger nachzuholen und gewann durch die liebreiche Art ihrer erziehlichen Einwirkung einen nachhaltigen Einfluß auf Williams Gemüt.

Allein das still ernste, fromme Wesen, welches dadurch bei dem Knaben einkehrte und sich bei seinen gelegentlichen Besuchen im Elternhause deutlich genug kundgab, war keineswegs weder nach dem Sinn der Mutter noch des Großvaters, der ebensowenig wie diese für ein ernstes Christentum viel übrig hatte. Man befürchtete, die frommeTante werde den Jungen ganz zu ihrem Methodismus und zu dessen Weltflüchtigkeit herüberziehen, und ihn dadurch zu der hohen, glänzenden Lebensstellung untüchtig machen, zu der ihn seine reichen Geistesgaben einmal führen zu müssen schienen.

William wurde deshalb schon wieder 1771 nach Hull ins Elternhaus zurückgerufen und sowohl die Mutter wie der Großvater boten alles auf, die frommen Eindrücke wieder zu verwischen, die er bei der Tante empfangen hatte. Der Großvater drohte ihm sogar damit, ihn enterben zu wollen, wenn er das häßliche methodistische Wesen nicht ablege. Da die Mutter ein reiches geselliges Leben liebte und das Haus selten von Gästen leer war, so konnte es kaum ausbleiben, daß der lebhafte zwölfjährige Knabe seine bisherigen Lebensgewohnheiten bald vergaß und mehr und mehr an den Zerstreuungen und Genüssen eines weltlichen geselligen Lebens Geschmack gewann. Die eifrige Beschäftigung mit dem Worte Gottes, die ihm die Tante beim Abschied noch besonders auf das Gewissen gebunden hatte, nahm von Tag zu Tag mehr bei ihm ab, und bald ergötzten ihn die weltlichen Dichter Englands, die man ihm geflissentlich in die Hände spielte, mehr als die einfachen kunstlosen Worte des heiligen Buches.

Aber trotzdem konnte der gute Same, den die fromme Tante in das kindliche Herz ausgestreut hatte, nicht ganz erstickt werden. Ein ernster Sinn, der durch das zerstreuende gesellschaftliche Leben wohl für Tage und Wochen in den Hintergrund geschoben werden konnte, aber dennoch sich immer wieder geltend machte, wenn in der häuslichen Geselligkeit größere Ruhepausen eintraten, blieb der unverlierbare Gewinn des Aufenthalts im Hause des Oheims. Und wenn derselbe auch an der Beschäftigung mit denweltlichen Dichtern, die für den Knaben einen hohen Reiz besaß, einen gefährlichen Feind hatte, so gewann doch William durch diese Beschäftigung die außergewöhnlich große Fertigkeit im mündlichen und schriftlichen Ausdrucke, welche ihm in seinem späteren Leben so sehr zu statten kam. Durfte er es doch wagen, schon als 15jähriger Knabe einen Aufsatz gegen den Sklavenhandel, dessen Gräuel schon jetzt sein mitleidiges Herz schaudern machten, an den Herausgeber einer öffentlichen Zeitschrift einzusenden, ohne daß derselbe als ein knabenhaftes Machwerk eine Zurückweisung erfahren hätte!

Schon mit 17 Jahren war der reichbegabte William in seinen Kenntnissen so weit gefördert, daß er für den Besuch des St. Johns College auf der Universität Cambridge für reif erachtet werden konnte und dasselbe auch wirklich bezog, um den Kreis seiner Kenntnisse noch mehr zu erweitern und sich jene allgemeine Geistesbildung zu erwerben, die zur Erlangung einer geachteten Lebensstellung unerläßlich war. Denn von einem besonderen Lebensberuf, zu dem er sich hätte vorbereiten müssen, war einstweilen keine Rede bei ihm.

Allein es sollte mit seinem Studieren vorläufig nicht viel werden. Denn kaum hatte er die Universität bezogen, so starben rasch hinter einander sowohl sein Großvater als auch sein Oheim. Als der einzige männliche Sproß der Familie erbte William nach dem englischen Gesetze das ganze väterliche und großväterliche Vermögen, und da der Oheim keine Kinder hatte, so fiel ihm auch dessen bedeutendes Vermögen zu. So saß denn der Jüngling plötzlich dem Überflusse im Schoß und sah sich all den mannigfaltigen Versuchungen ausgesetzt, welche derselbe im Gefolge hat.

Bald sammelten sich um den reichen Erben eine Schar leichtfertiger Gesellen, die ihm helfen wollten, seine Schätze in einem ausschweifenden Leben zu vergeuden und die sich so diese Schätze selbst zu nutze zu machen suchten. Allein wie sie sich auch an ihn drängten, es gelang ihnen nicht, ihn in den Kot ihrer gemeinen niedrigen Genüsse hineinzuziehen; der gute Geist, den ihm die fromme Tante eingeprägt hatte, verleugnete sich nicht, sondern wurde ihm Schirm und Schild, sodaß er sich schon nach kurzer Zeit mit Ekel von der schlechten Gesellschaft abwandte.

Er suchte besseren Umgang und fand ihn auch. Denn seine vortreffliche Unterhaltungsgabe, sein schlagfertiger, treffender Witz, sein schöner Gesang, seine allerdings nicht unbedenkliche Kunst, andere Menschen in ihrem Gebahren täuschend nachzuahmen, vor allen Dingen aber sein liebenswürdiges, gemütvolles Wesen: das waren lauter Vorzüge, die schnell einen weiten Kreis von Freunden um ihn sammelten und ihn zum geschätzten und geliebten Mittelpunkte desselben machten. Mit ernstem Studieren wurde es da freilich nicht viel, da William bei allen Vergnügungen seiner jugendlichen Freunde zugegen sein mußte und von ihnen, wenn er sich auch einmal zurückhalten wollte, mit freundlicher Gewaltsamkeit zur Teilnahme genötigt wurde.

Wenn er auch in seinem späteren Leben es oft bedauern mußte, seine Lernzeit mehr den Vergnügungen als den Studien gewidmet zu haben, und den eifrigsten Fleiß aufzuwenden genötigt war, um das in der Jugend Versäumte wieder nachzuholen, so fand er doch auch in dem Strudel der Geselligkeit, dem er sich überließ, manche wertvolle Bekanntschaft, die ihm sonst vielleicht entgangen wäre. So schloß er mit dem nachmals so berühmt gewordeneStaatsmann Pitt schon hier auf der Universität einen Freundschaftsbund, der nachher für das ganze Leben vorhielt und ihm nicht blos für das studentische Leben einen gewissen Halt gab und ihn den Ernst des Lebens nicht ganz vergessen ließ, sondern ihm auch für die Folgezeit von großem Vorteile war.

Wie wenig das freie lustige Studentenleben vermocht hatte, ihn völlig um den Lebensernst zu bringen, zu welchem durch den Einfluß der Tante ein so guter Grund gelegt worden war, zeigte sich auch bei seinem Abgange von der Universität. Da sollte er, um den Grad und Titel zu erlangen, der in der Regel den Abgehenden beigelegt wurde, die Glaubensartikel der englischen Staatskirche unterschreiben und sich durch seine Unterschrift zur Annahme derselben verpflichten. Aber weil es um seine genaue Bekanntschaft mit diesen Artikeln etwas bedenklich aussehen mochte, verbot es ihm seine Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit, dieselben so leichtfertig und gedankenlos zu unterschreiben. Er verweigerte deshalb seine Unterschrift und mußte sichs gefallen lassen, ohne einen Grad und Titel die Universität zu verlassen.

Am nächsten hätte es wohl jetzt für unsren Wilberforce gelegen, in das von seinem Vater und Großvater geführte Handelsgeschäft einzutreten, welches nach deren Tode ein Verwandter für seine Rechnung weiter geführt hatte. Nicht blos, daß ihm dadurch eine ruhige, bequeme Lebensaufgabe zu teil geworden wäre, nein es winkte ihm auch dabei eine behagliche und doch ehrenvolle Lebensstellung.

Aber sein lebhafter, strebsamer Geist konnte sich an einer solchen Aufgabe und Stellung nicht genügen lassen; es lockte ihn vielmehr, statt in die ruhige Stille des Privatlebens in die geräuschvolle Unruhe des öffentlichen Lebenseinzutreten. An diesem Entschlusse war ohne Zweifel der nahe Umgang mit seinem Universitätsfreund Pitt wesentlich schuld, der schon von Haus aus für den Staatsdienst und die Geschäfte des öffentlichen Lebens bestimmt gewesen war und dem es dann auch offenbar gelungen war, dafür dem Freunde Geschmack beizubringen.

Wilberforce löste das großväterliche Handelsgeschäft, das er nicht in seinem Namen fortführen lassen mochte, ganz auf und bewarb sich in seiner Vaterstadt Hull um die Ehre, deren Vertreter in dem Hause der Abgeordneten des Volkes, in dem sogenannten Parlamente zu werden. Um sich dazu tüchtig zu machen, nahm er, nachdem er sich zur Wahl angemeldet hatte, seinen Wohnsitz in London, und wohnte regelmäßig den Sitzungen des Parlaments bei, dessen Verhandlungen er mit der gespanntesten Aufmerksamkeit folgte. Daß er durch seinen Freund Pitt, mit welchem er dort wieder zusammentraf, nur noch in seinem Vorsatze befestigt wurde, die öffentliche Laufbahn eines Parlamentsmitgliedes zu betreten, ist leicht zu denken.

Aber hieß es nicht zuviel erwarten, wenn Wilberforce annahm, seine Mitbürger würden ihn, der jetzt erst 21 Jahre zählte, wirklich zu ihrem Vertreter im Parlament wählen? Das mochte er sich wohl manchmal selber fragen und konnte dann gewiß diese Frage im Blicke auf seine Jugend und Unerfahrenheit nicht anders als bejahen. Allein gleichwohl ging sein sehnlicher Wunsch in Erfüllung und im Jahre 1780 wurde er wirklich zum Parlamentsmitgliede für Hull erwählt.

Zeugt dies laut für die großen Hoffnungen, die seine Landsleute auf den jungen Mann setzten, so zeugt es hinwiederum auch dafür, wie wenig er sich der hohen, kaum erwarteten Ehre, die ihm durch seine Wahl zu teil gewordenwar, überhob und sich dadurch stolz und hochmütig machen ließ, daß er trotz seiner großen Redefertigkeit in der ersten Parlamentssitzung, die er mitmachte, seinen Mund nicht aufthat, sondern nur in aller Demut und Bescheidenheit auf die Reden anderer lauschte und außer den Sitzungen den größten Fleiß aufwandte, sich über jede Sache, die zur Verhandlung kam, vorher auf das genaueste und sorgfältigste zu unterrichten. Dabei kam ihm denn sein heller, klarer Geist trefflich zu statten und befähigte ihn, über jede vorkommende Sache eine feste durch keinen fremden Einfluß bestimmte Meinung zu gewinnen, und sich so die Selbstständigkeit in seinen Urteilen zu retten, die ihn sein ganzes Leben hindurch nicht verließ und die ihn, wenn sie ihn auch oft genug mit seinen besten Freunden in Widerspruch brachte, doch in keinen Widerstreit mit seinem eigenen Gewissen kommen ließ.

Und nur von seinem Gewissen sich leiten zu lassen, wurde jetzt, wo er unter dem Ernste des Lebens den leichten Jugendsinn mehr und mehr ablegen lernte, sein fester, unumstößlicher Grundsatz, von dem er sich gelobte, niemals auch nur einen Fingerbreit abzuweichen.

So war es denn auch vorzugsweise die Stimme seines Gewissens, welche ihn trieb, sofort, nachdem die Parlamentssitzung geendigt war, London zu verlassen und sich in die ländliche Stillezurückzuziehen. Denn je sorgfältiger er auf diese Stimme achtete, desto lauter rief ihm dieselbe zu, daß das geräuschvolle öffentliche Leben in der großen Stadt tausendfältige Versuchungen bereite, das innere geistliche Leben zu vernachlässigen und unter den unaufhörlichen Zerstreuungen des gesellschaftlichen Lebens einer unwürdigen, verderblichen inneren Zerfahrenheit zu verfallen. Und doch fing er jetzt, wie ein Brief an seineSchwester deutlich zeigt, an, einzusehen, daß das innere Leben nicht vernachlässigt werden dürfe, wenn man an wahrem Werte täglich zunehmen wolle, daß dasselbe aber nicht wachsen und gedeihen könne ohne ernste Sammlung des Herzens zu gewissenhafter Selbstbetrachtung.

So lockend es auch für Wilberforce sein mochte, mit seinem Freunde Pitt und den vielen anderen Männern des Parlaments, deren Wohlwollen er sich bereits durch seine liebenswürdige Persönlichkeit gewonnen hatte, zusammenzubleiben und in ihrem Kreise die Parlamentsferien angenehm zu verleben, er folgte doch der mahnenden Stimme seines Gewissens und entfloh den Zerstreuungen und Genüssen des Londoner Lebens.

An den Ufern des Winandersees in der Grafschaft Westmoreland mietete er sich einen schönen Landsitz und brachte dort in ungestörter Stille den Sommer zu, sich nur an den harmlosen Genüssen des Landlebens genügen lassend, für deren erfrischende Wirkung er einen starken Sinn und eine besondere Vorliebe hatte.

Äußerlich und innerlich gestärkt kehrte er zu Anfang des Winters nach London zurück, wohin ihn die beginnende Parlamentssitzung rief. In dieser seiner zweiten Sitzung überwand er aber die jugendliche Scheu, die ihn während der ersten hatte schweigen lassen, und trat zum erstenmale als öffentlicher Redner auf. Aber wie staunte alles den jungen Mann an, der so glänzend und schlagfertig zu reden wußte! Von allen Seiten wurde er nach seiner ersten Rede beglückwünscht und es fehlte nicht an solchen, die es als ganz zweifellos hinstellten, daß ein solcher Redner mit der Zeit zu der Würde eines Mitgliedes des Oberhauses erhoben werden müsse.

Allein der bescheidene Wilberforce geizte durchaus nichtnach solcher Ehre und Würde und wies lachend die Propheten zurück, die ihm eine so glänzende Zukunft verhießen. Er begehrte nichts weiter, als ein tüchtiger Vertreter seiner Wähler im Parlamente zu werden und verband sich sogar mit mehreren seiner Freunde im Unterhause dazu, niemals die Würde eines Mitglieds des Oberhauses, niemals auch eine Stelle oder ein Gehalt anzunehmen, um nicht die edle Unabhängigkeit und Selbständigkeit, die sie jetzt besaßen, zu verlieren. Er ist auch zeitlebens diesem Entschlusse treu geblieben.

Als sein Freund Pitt im Jahre 1782 ins Ministerium kam, wahrte er selbst diesem gegenüber seine volle Unabhängigkeit, die sich durch keine Rücksichten beirren ließ. Er unterstützte ihn mit seinen Reden nur insoweit, als dessen Ansichten mit seinen eigenen völlig übereinstimmten; wo dies nicht der Fall war, wurde er ihm ein entschiedener Gegner trotz aller Freundschaft, die ihn mit ihm verband. Und für Pitt war dies kein Grund, den Freund fallen zu lassen. Im Gegenteile, er achtete Wilberforce deshalb um so höher und schloß sich ihm immer enger an. Fast täglich sahen sich die beiden Freunde und wurden sich nachgerade fast unentbehrlich, da sie beide in der von Witz und Laune gewürzten Unterhaltung, die sie mit einander führten, nach den anstrengenden Berufsarbeiten des Tages die beste Erfrischung fanden.

Auch wenn die Sitzungen des Parlaments zu Ende waren, trennten sie sich nicht immer, sondern vereinigten sich zu gemeinschaftlichen Reisen, oder Pitt überraschte den Freund auf seinem stillen Landsitz am Winandersee und blieb dort längere oder kürzere Zeit, einmal sogar ganze 4 Monate lang.

Da kamen denn auch wohl ernstere Unterhaltungenauf die Bahn, zu denen besonders Wilberforce jetzt mehr und mehr hinzuneigen begann, und infolge deren sich dann Pitt, der dem Christentum und der Religion überhaupt sehr kühl gegenüberstand, wohl überreden ließ, mit dem Freunde die Kirche zu besuchen.

Im Herbste des Jahres 1783 machten die beiden Freunde eine gemeinsame Reise nach Frankreich und suchten und fanden dort nicht blos Gelegenheit, mit den bedeutendsten Männern Frankreichs bekannt zu werden, sondern fanden auch Zutritt an den königlichen Hof. Ihr Aufenthalt dauerte jedoch nur 6 Wochen, weil sich für Pitt die Aussicht eröffnete, daheim das Haupt eines neuen Ministeriums zu werden, und er deshalb seine Rückkehr beschleunigen mußte. Wirklich wurde er auch gegen Ende des Jahres von dem Könige zu diesem hohen Posten berufen und hatte es seinem Freunde Wilberforce zu danken, daß die zahlreichen Gegner, die seine Wahl zu hintertreiben suchten, nichts ausrichten konnten.

Die meisten dieser Gegner gehörten nämlich der Grafschaft York an und waren Wilberforce zum größten Teile bekannt, sodaß er hoffen konnte, eine Einwirkung auf sie ausüben zu können. Er eilte deshalb sogleich in seine heimische Grafschaft und kam gerade zurecht, um einer Versammlung beiwohnen zu können, worin eine Bittschrift an den König gegen Pitt beschlossen werden sollte. Er ergriff darin das Wort und trat so feurig und kräftig für seinen Freund ein, daß alles dem gewaltigen Redner zujauchzte und selbst die erbittertsten Gegner Pitts nicht mehr wagten, gegen diesen den Mund aufzuthun.

Und was war der weitere Erfolg dieser Rede? Der einmütige Beschluß der Versammlung, den Redner als Vertreter der ganzen Grafschaft ins Parlament zu schicken,ein Beschluß, der denn auch trotz aller Anstrengungen einer Gegenpartei bei den nächsten Wahlen zur Ausführung gebracht wurde.

Damit hatte Wilberforce, der ja, um selbständig zu zu bleiben, weder ein Amt noch einen Sitz im Oberhause jemals annehmen wollte, die höchste Ehrenstufe erreicht, die bei solchem Vorsatze für ihn zugänglich war und war nun als Vertreter der größten Grafschaft Englands noch weit mehr als bisher im stande, seinem Freunde Pitt eine kräftige Unterstützung angedeihen zu lassen, wo er derselben benötigt war und wo es Wilberforce mit seiner gewissenhaften Überzeugung vereinigen konnte.

Im Herbste des Jahres 1784 machte Wilberforce in Gemeinschaft mit seiner Mutter und seiner Schwester eine Reise nach Nizza und Italien, die nach Gottes Rat für die Gestaltung seines inneren Lebens eine sehr bedeutungsvolle Wendung herbeiführen sollte.

Bisher hatte es nämlich Wilberforce trotz der Mahnungen seines Gewissens, trotz des je und dann mit Macht bei ihm hervorbrechenden Gefühles, daß es um sein inneres Leben nicht so stehe, wie es sollte, noch nicht über sich gewinnen können, mit seinem Christentum rechten vollen Ernst zu machen und ungescheut den Weg zu betreten, den ihn seine fromme Tante als den alleinigen Weg des Heils hatte kennen lehren. Das öffentliche Leben mit den großen Anforderungen, die es an sein Sinnen und Denken stellte, die Zerstreuungen des geselligen Lebens, denen er sich in London nicht entziehen konnte und mochte, hatten immer wieder die ernsten Vorsätze zu Schanden gemacht, die er wohl in seiner ländlichen Einsamkeit gefaßt hatte. Damit sollte es jetzt anders werden.

Mutter und Schwester brachten zwar in dieser Hinsichtkeine Änderung zuwege, da beide selber noch nicht weit mit ihrem Christentum vorangekommen waren und deshalb keinen anregenden Einfluß auf ihn ausüben konnten. Wohl aber geschah dies durch den Begleiter, den sich Wilberforce auf die italienische Reise mitnahm. Das war der nachmalige Professor an der Universität zu Cambridge Isaak Milner, ein wahrhaft frommer Mann, der freilich sein von jeder Einseitigkeit und Engherzigkeit freies Christentum nicht äußerlich zur Schau trug, sondern im Äußeren eher das Gepräge eines Weltmannes an sich hatte, aber doch von der Wahrheit und Göttlichkeit des Christentums nicht allein auf das Innigste überzeugt war, sondern auch schon etwas an seinem Herzen erfahren hatte. Ihn, der ein alter Freund seines Hauses war, hatte Wilberforce gebeten, die Reise nach Italien mitzumachen, und sollte nun die Gewährung dieser Bitte zu einer Quelle reichen Segens für sich werden sehen.

Schon vor der Abreise war es zwischen ihm und Milner zu einer sehr ernsten Unterredung gekommen, die für Wilberforce einen kräftigen Stachel in seinem Herzen zurückließ. Milner hatte nämlich einen Mann, von dem Wilberforce behauptete, daß er die Anforderungen an ein echt christliches Leben zu hoch spanne, mit großer Kraft und Wärme verteidigt und dadurch bewiesen, daß er dieselben Anforderungen an einen rechten Christen stelle. Da war denn in Wilberforce das Gewissen mit aller Macht rege geworden und hatte ihm bezeugt, daß er selbst noch weit davon entfernt sei, diesen Anforderungen zu genügen, und daß deshalb sein Christentum noch kein rechtes sei. Den Stachel, den dieses Zeugnis seines Gewissens bei ihm zurückließ, konnte er nicht wieder los werden und brachte sowohl auf der Reise selbst, wie auchwährend des mehrwöchentlichen Aufenthaltes in Nizza, in allen Gesprächen mit Milner die christlichen Wahrheiten und die christlichen Pflichten immer wieder zur Besprechung. Was die Belehrungen des frommen Milner dann bei ihm angeregt hatten, ein ernstes Verlangen, mit seinem Christentum endlich einmal wirklichen vollen Ernst zu machen, das wurde noch durch ein gutes Buch bestärkt, welches Wilberforce zu Nizza in die Hände fiel und welches den »Anfang und Fortgang der wahren Gottseligkeit« zum Gegenstande hatte.

Dieses Buch machte auf den angeregten Mann einen solchen Eindruck, daß er es fast nicht aus den Händen legte und als er anfangs des Jahres 1785 mit Milner nach England zurückreiste, während seine Mutter und seine Schwester noch in Nizza blieben, selbst während der Reise darin studierte und mit Milner das Gelesene besprach. Wie dieser ihm ernstlich anriet, machte er es sich nun zum heiligen Vorsatze, die Wahrheit des Gelesenen und Besprochenen selbst an der heiligen Schrift und ihren Aussprüchen zu prüfen und dem bisher nur zu sehr vernachlässigten heiligen Buche wieder die gebührende Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Über diesen Vorsatz kam er freilich vor der Hand noch nicht hinaus, denn bald hatten wieder die Parlamentsgeschäfte, sowie das zerstreuende Londoner Leben sein ganzes Sinnen und Denken, sowie seine ganze Zeit so in Anspruch genommen, daß es mit dem eifrigen Forschen im Worte Gottes nicht viel wurde.

Erst auf der zweiten Reise nach Italien, die er nach Beendigung der Parlamentssitzungen mit Milner antrat, um Mutter und Schwester von Genua abzuholen, wohin dieselben inzwischen übergesiedelt waren, kam es wirklichzu einem solchen ernsten, eifrigen Suchen in der Schrift. Wilberforce hatte ein neues Testament in der griechischen Grundsprache mitgenommen und las dasselbe unterwegs gemeinschaftlich mit seinem Begleiter. Und diesem wurde es nun gegeben, die Tiefen des Schriftwortes für Wilberforce so zu erschließen, daß die göttliche Wahrheit diesem zur festesten, innigsten Überzeugung wurde.

Die Rückreise von Genua wurde durch die Schweiz gemacht, und Wilberforce lernte bei einem längeren Aufenthalte in Zürich den frommen Lavater kennen, dessen tief und fest gegründeter Schriftglaube, dessen durch die innigste Frömmigkeit geweihte Persönlichkeit einen unverwischbaren mächtigen Eindruck auf ihn machten und ihm recht lebendig unter die Augen stellten, wieviel ihm selber noch zu einem rechten Christen fehle.

Nichtsdestoweniger kam es aber bei Wilberforce noch nicht sogleich zu einem ernsten Versuche, solchem Vorbilde nachzueifern. Vielmehr ließ der sechswöchentliche Aufenthalt in dem Badeorte Spaa, welcher auf der Heimreise den Rhein hinab besucht wurde, noch nicht die mindeste Spur davon sehen, daß Wilberforce auch nur daran denke, den weltlichen Genüssen und Vergnügungen zu entsagen und den Weg eines ernsten, im Lichte des Wortes Gottes geführten Lebens zu betreten. Gleichwohl begann hier aber in ihm der innere Kampf zwischen seinem laut und immer lauter mahnenden christlichen Gewissen und den Neigungen seines natürlichen Menschen.

Der Gedanke, daß er plötzlich von der Welt abgerufen werden könne, ohne in rechter Weise für das Heil seiner Seele gesorgt zu haben, ergriff ihn mit Macht, das Bewußtsein, bisher von seinen Gaben und von seiner Zeit nicht den rechten gottgewollten Gebrauch gemacht zu haben,legte sich wie ein Zentnerstein auf seine Seele, und unter solchen beängstigenden Gedanken lernte er fühlen und ahnen, welch einen festen, starken Trost es gewähren müsse, wenn man die Verheißungen des Evangelii so recht voll und ganz mit dem Glauben ergriffen habe. Das trieb ihn denn zum Suchen in der Schrift und zum herzlichen Gebete um den wahren Glauben.

Vor seiner Reisegesellschaft verschloß er jedoch noch ganz den schweren Kampf, der in seinem Herzen begonnen hatte; er wollte ihn in der Kraft seines Gottes und Heilandes allein durchkämpfen, und sein demütiger, keuscher Sinn hielt ihn ab, davon den andern gegenüber etwas merken zu lassen. Nur dem Tagebuche, das er jetzt regelmäßig zu führen anfing und das für uns die reichste und klarste Quelle ist, die rechte Erkenntnis und das volle Verständnis seiner inneren, geistlichen Entwickelung daraus zu schöpfen, vertraute er an, was außer ihm und seinem Gotte niemand wissen sollte. Wir sehen daraus, welch eifriges Ringen seiner Seele er sichs kosten ließ, in Christo, dem Heilande, Friede zu finden, und wie er auch allmählich durch Gottes Gnade fand, was er suchte.

Besonders gesegnet wurde für ihn die freie Zeit, welche er nach seiner Heimkehr im November noch hatte, bis die neue Parlamentssitzung begann, die in den Februar des nächsten Jahres fiel und ihn natürlich wieder nötigte, in das unruhige öffentliche Leben zurückzukehren. Er brachte diese Zeit zu Wimbledon in der Nähe von London zu, wo er sich eine Wohnung mietete, die es ihm möglich machte, ohne allzugroße Unbequemlichkeit zu den Parlamentssitzungen zu fahren, und doch auch die Stille der Einsamkeit zu haben, so oft er sich deren bedürftig fühlte. Hier widmete er sich ganz dem Nachdenken über sich selbstund der ernstesten, eifrigsten Beschäftigung mit dem Worte Gottes und anderen religiösen Büchern.

Jetzt schwand auch allmählich die Scheu bei ihm, mit dem, was sein Herz erfüllte, an die Öffentlichkeit zu treten; er wurde ein eifriger Besucher der Kirche und richtete in seinem eigenen Hause einen regelmäßigen, täglichen Hausgottesdienst ein, dem alle seine Diener anwohnten und den er selbst leitete. Nur zum Tische des Herrn wagte er noch nicht zu gehen, weil er dazu noch zu unwürdig zu sein glaubte, und es noch nicht gelernt hatte, sich ganz und ohne Rückhalt der Gnade des Heilandes zu übergeben. Die Briefe an seine Schwester aus dieser Zeit sind voll von den herzlichsten Bitten, sich ernstlich der Beschäftigung mit dem Worte Gottes hinzugeben; es drängte ihn nun, wo er für sich selbst die Quelle des Heils und des Friedens gefunden hatte, zu derselben auch diejenigen hinzuweisen, die seinem Herzen nahestanden.

Große Überwindung kostete es ihn allerdings noch, auch seinen bisherigen Freunden kund werden zu lassen, welche innerliche Veränderung mit ihm vorgegangen war. Denn von den wenigsten derselben konnte er ein rechtes Verständnis für das, was sein Herz bewegte, erwarten, wohl aber desto mehr Spott und höhnisches Achselzucken. Allein die Erwägung, daß er ungestörter seinen Grundsätzen nach würde leben können, wenn er dieselben frei und rückhaltlos habe kund werden lassen, öffnete ihm den widerstrebenden Mund zum frischen, fröhlichen Bekenntnisse. Der gefürchtete Spott blieb nun freilich wohl aus, weil Wilberforce sich in zu hohem Maße die Achtung seiner Freunde erworben hatte, als daß man ihn hätte verspotten können; aber niemand begriff die mit dem Freunde vorgegangene Umwandlung. Man begriff amwenigsten bei ihm, der bisher als ein Muster von Sittenreinheit gegolten hatte, die demütigen Selbstanklagen wegen seiner Sünden; man schüttelte wohl im stillen den Kopf über ihn, ließ ihn aber sonst ruhig gehen und nahm am wenigsten von seiner Sinnesänderung Veranlassung, sich einmal auf den Zustand des eigenen Herzens zu besinnen.

Dies war auch bei seinem Freunde Pitt der Fall, der natürlich zu den Ersten gehörte, dem er sein Inneres erschloß. Stand auch der große Staatsmann dem wahren Christentum keineswegs feindlich gegenüber, sondern schätzte es hoch, wo es ihm als ein aufrichtiges, lebenskräftiges entgegentrat, er war doch von seinen staatsmännischen Geschäften und Sorgen zu sehr erfüllt, von seinen Arbeiten zu sehr in Anspruch genommen, als daß er sich durch die inständigen Bitten, womit ihn Wilberforce bestürmte, hätte bewegen lassen, auch für die Sorge um sein Seelenheil Zeit und Kraft zu erübrigen.

Je weniger Verständnis und Entgegenkommen aber Wilberforce bei seinen bisherigen Parlamentsfreunden fand, desto mehr neigten sich ihm die Herzen aller derer zu, die selber schon ernste Christen geworden waren, oder es doch werden wollten, und die natürlich den reich begabten, schon so angesehenen jungen Mann mit Freuden als einen der ihrigen begrüßten. Sie nahmen sich seiner in Liebe an, teilten ihm mit, was sie selbst schon an inneren geistlichen Erfahrungen gesammelt hatten, und bewahrten ihn dadurch vor den Verirrungen, in welche Neubekehrte so leicht geraten, wenn ihnen brüderliche Leitung und Handreichung mangelt. Besonders waren es ein hochgeachteter Geistlicher Namens Newton und ein alter Verwandter, John Thornton, deren herzlicher Teilnahme und liebevoller Leitung er sich zu erfreuen hatte und die ihmvor allen Dingen den guten Rat erteilten, vorsichtig zu sein im Anknüpfen neuer Bekanntschaften und Freundschaften und sich nicht zu leicht von den alten Freunden abzuwenden, sondern sich nur im Verkehre mit ihnen der sorgfältigsten Wachsamkeit zu befleißigen.

Das Letztere wurde Wilberforce nun freilich schwer genug, und er mußte sich oft von seinem Gewissen anklagen lassen; aber er kannte ja nun die Quelle, aus welcher er immer wieder Beruhigung und Trost schöpfen konnte, sowie auch immer neue und wachsende Kraft zum Wachen und Beten, und die immer reichlicher für ihn zu fließen begann, als er erst gelernt hatte, das Vertrauen auf eigenes Verdienst und eigene Würdigkeit aufzugeben, das ihn bisher von dem Genusse des heiligen Abendmahls ferne gehalten hatte.

Wir glaubten, ehe wir zur Schilderung der eigentlichen Lebensarbeit unseres Helden übergingen, zuerst, wie es im Vorstehenden versucht ist, seiner inneren Entwickelung etwas genauer nachgehen zu müssen. Denn wenn er nicht durch Gottes Gnade das geworden wäre, was wir bisher ihn haben werden sehen, ein entschiedener, glaubensfester und liebeseifriger Christ, so würde er sicher nicht der edle, mutige, aufopfernde Menschenfreund geworden sein, dessen Name nie vergessen werden wird und darf, wo diejenigen aufgezählt werden, die sich in besonderem Maße um die Menschheit verdient gemacht haben.


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