IX.
Wie an dieser Tochter, so durfte Wilberforce aber auch an seinen übrigen Kindern hohe, heilige Vaterfreude erleben und die gottgesegneten Früchte einer Erziehung einernten, die von der größten Weisheit und Liebe geleitet war und besonders bei den höchsten, heiligsten Herzensangelegenheiten stets aus die größte Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit drang.
Er wollte nicht, daß seine Söhne in seine eigenen Fußstapfen treten und sich auch zu Männern des Parlaments heranbilden sollten. Er kannte dazu die Versuchlichkeit der öffentlichen Thätigkeit und die Gefahren, welche dieselben für das innere Leben hat, viel zu gut aus eigener Erfahrung. Vielmehr war es sein inniger Wunsch, daß sich seine Söhne, soweit sie sich dazu eigneten, dem Dienste der Kirche widmeten, und er durfte auch die große Freudeerleben, daß sie diesen heiligen Beruf mit innerer Zustimmung und voller Herzensfreudigkeit ergriffen.
Wie sehr er darauf bedacht war, daß ihnen die rechte innere Weihe für diesen Beruf zu teil werde, daß sie vor allem rechte Männer des Gebets würden, wie er selbst zu seinem eigenen täglich verspürten Segen durch Gottes Gnade einer geworden war, mag folgende Stelle aus einem Briefe an einen seiner Söhne zeigen, der in Cambridge seinen Studien oblag:
»O mein teuerster Sohn,« schreibt er, »was gäbe ich darum, Dich als ein Licht in der Welt zu sehen! Der Gedanke daran lockt mir Thränen in die Augen und macht mich fast unfähig, fortzuschreiben. Mein teuerster Sohn, stecke dein Ziel hoch, strebe danach, ein Christ zu werden im vollsten Sinne des Wortes! Wie wenig weißt Du, zu welchem Dienste Dich Gott berufen kann! Die Jünglinge unserer Tage sind nicht in Gefahr, dem Feuer und Schwerte ausgesetzt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden; aber die Folge dieser Sicherheit ist, daß sie sich auch nicht auf die mildere Form der Verfolgung vorbereiten, welche zu erdulden sie vielleicht berufen werden. Aber alles ist möglich durch's Gebet, möchte ich sagen, und warum auch nicht? Denn daß es allmächtig ist, liegt in der gnädigen Ordnung Gottes, des Gottes voll Liebe und Treue. O darum bete, bete, bete, mein teuerster Sohn. Aber bedenke auch wohl, daß Du Deinen inneren Zustand nicht nach Deinem Gebete beurteilen darfst, sondern nach dessen Wirkung auf Deinen Charakter, Dein Gemüt und Deinen Wandel!«
Gott schenkte Wilberforce das große Glück und die hohe Freude, daß sein zweiter und dritter Sohn sich zu ernsten, tüchtigen Geistlichen entwickelten und es wurdeihm vergönnt, sie beide noch vor seinem Tode in Amt und Würden zu sehen und mit eigenen Augen wahrzunehmen, daß sie ihr heiliges Amt ganz in dem Geiste führten, wie er es für nötig hielt, und mit der Treue und Gewissenhaftigkeit, für die sie in ihrem Vater das beste, leuchtendste Vorbild hatten. Der eine von ihnen wurde Vikar in East Forleigh in der GrafschaftKent, der andere Rektor in Brighstone auf der Insel Wight. Für diejenigen Leser, welche mit den kirchlichen Verhältnissen in England weniger vertraut sind, sei dazu bemerkt, daß das Amt eines Vikars ebenso wie das eines Rektors ziemlich gleichbedeutend mit dem Amte unserer Pfarrer ist, nur mit dem Unterschiede, daß der Rektor seine eigene Gemeinde hat, während der Vikar eine der vielen Pfarreien, die den hohen englischen Geistlichen übertragen zu werden pflegen, verwaltet, jedoch ebenfalls ganz selbstständig.
Seinen ältesten Sohn mußte Wilberforce sich der Landwirtschaft widmen lassen; denn seine schwächliche Gesundheit, besonders eine schwache Brust machten ihn für das Pfarramt untüchtig. Dagegen trat der jüngste wieder in die Fußstapfen seiner beiden vor ihm stehenden Brüder, und auch ihn durfte Wilberforce, ehedenn er starb, auf dem besten Wege sehen, ein treuer Diener der Kirche zu werden.
Je mehr Wilberforce die Schwächen des Alters bei sich eintreten sah – und sie traten bei seinem schwächlichen Körper ungewöhnlich frühe ein – desto mehr enthielt er sich längerer Reden im Parlamente, die er vielmehr seinen jüngeren Freunden überließ. Allein um so kräftiger und auf noch weitere Kreise wirkte er dafür durch Schriften, welche er verfaßte.
So gab er im Februar 1823 wieder eine Schrift überdie Sklavensache heraus, worin er, gestützt auf die reichen Erfahrungen eines fast 35jährigen Kampfes in dieser Sache, die grausame Behandlungsweise beleuchtete, welche die Neger noch immer in der Sklaverei zu erdulden hatten, aber auch zugleich schlagend nachwies, wie nötig es sei, für den religiösen Unterricht der Sklaven zu sorgen, ihnen zu einem gesicherten Familienleben zu verhelfen und so ihrer Freilassung vorzuarbeiten, die ja doch einmal kommen werde und müsse.
Der Erzbischof von Dublin war von dieser Schrift so begeistert, daß er ausdrücklich Wilberforce seinen Dank bezeugte und ihm sagte: »Dieser Zusatz zu den edlen Anstrengungen, welcheSiemit solcher Ausdauer für jenen so grausam behandelten Teil der gemeinsamen Kinder des Einen großen Vaters gemacht haben, wird von dem Segen begleitet sein, der solchen Arbeiten christlicher Liebe niemals ausbleibt.«
Ja ein westindischer Sklavenhalter fühlte sich beim Durchlesen der Schrift so ergriffen von ihrem Inhalte, daß er erklärte, wenn es auch sein ganzes Vermögen kosten sollte, dieses willig hingeben zu wollen, damit seine armen Neger nicht allein zur Freiheit der Europäer, sondern auch zur Freiheit der Christen gebracht würden.
Nachdem Wilberforce am 19. März 1823 eine aus der Sekte der Quäker hervorgegangene Bittschrift um Aufhebung des Sklavenhandels ins Parlament eingebracht und warm befürwortet hatte, schlug sein Freund Buxton, der jetzt die gemeinsame Sache im Parlamente führte, einen Beschluß vor, die Sklaverei überhaupt für unvereinbar mit dem Christentum, wie auch mit der englischen Verfassung zu erklären, ohne daß er jedoch die Annahme dieses Beschlusses durchsetzen konnte. Es war indessendamit der offene Kampf gegen die Sklaverei überhaupt und für die völlige Aufhebung derselben im Parlamente begonnen.
Als im weiteren Verlaufe des Jahres 1823 die Minister, um doch ihrerseits etwas zu thun und ihren guten Willen zu beweisen, das Los der Sklaven mildern zu helfen, das Verbot erließen, daß die Aufseher der Negersklaven in den westindischen Kolonien fortan die gewaltige Peitsche nicht mehr immer bei sich trügen, von der die Sklavenhalter behauptet hatten, daß sie nicht sowohl zu grausamen Züchtigungen gebraucht würde, als vielmehr nur das Zeichen sei, woran die Neger ihre Aufseher erkannten, war in den Kolonien wieder ein Sklavenaufstand ausgebrochen. Die Sklaven hatten nämlich von diesem Verbote gehört und warteten vergeblich darauf, daß es auch beachtet würde; denn die Regierungen der Kolonien wagten nicht, dasselbe zu veröffentlichen. Die Sklaven sahen nun natürlich ihre Herren, die Pflanzer als diejenigen an, welche die wohlmeinenden Absichten des englischen Ministeriums für sie hintertrieben, hatten auch wohl das Verbot der Peitsche, welche für sie das große Zeichen der Sklaverei war, irrtümlich so aufgefaßt, als ob damit die ganze Sklaverei verboten sei, und erhoben sich deshalb gegen die Pflanzer in einem Aufstande, worin etliche Weiße das Leben verloren.
Wilberforce, befürchtend, daß dadurch die Sklavensache wieder in Nachteil käme, konnte es sich trotz seiner Körperschwachheit nicht versagen, als Redner aufzutreten und tadelte das Verbot der Peitsche als eine unvorsichtige Maßregel, wodurch bei den gänzlich daraus unvorbereiteten Schwarzen unbegründete und zu weit gehende Hoffnungen erweckt worden seien, die fast mit Notwendigkeitzu dem Aufstande hätten führen müssen. Er erklärte alle halbe Maßregeln dieser Art für nutzlos, ja gefährlich und forderte das Parlament in der eindringlichsten Weise auf, schleunig und fest vorzugehen.
»Ich fürchte«, sagte er, »wenn die Neger an der Hülfe durch das englische Parlament verzweifeln, so werden sie ihre Sache in die eigene Hand nehmen und immer wieder aufs neue versuchen, ihre Befreiung auf gewaltsamem Wege selber herbeizuführen.«
Trotzdem, daß er sich durch diese Rede eine heftige Lungenentzündung zugezogen hatte, trat er doch, kaum genesen, noch einmal im Parlamente auf, um die Behauptung der Sklavenhalter zu entkräften, daß die Freilassung der Sklaven, die jetzt gefordert werde, für sie das unausbleibliche Verderben sein würde, und wiederholte die von ihm ausgesprochene Befürchtung, die soeben mit seinen eigenen Worten erwähnt wurde.
»Möge es Gott gefallen«, so schloß er, »meine Befürchtungen zu schanden zu machen und den Ausgang günstiger zu gestalten, als ich befürchte!«
Dies waren die letzten Worte, welche er im Parlamente über seine Sache redete, denn die eben erst überstandene Krankheit machte es ihm zur unbestreitbaren Gewißheit, daß er jetzt seine öffentliche Wirksamkeit als Parlamentsredner gänzlich aufgeben müsse. Als ihn auf einer kleinen Reise zum Besuche eines Freundes ein wiederholter Anfall der Lungenentzündung heimsuchte, verließ er London und zog sich auf einen stillen Landsitz zurück, um fortan seine noch übrige Lebenskraft ganz der Schriftstellerei und seiner Familie zu widmen.
Vergebens setzten ihm diejenigen seiner Freunde, welche seine persönlichen Verhältnisse nicht genug kannten, zu,diesen Schritt nicht zu thun; vergebens bot man ihm an, ihm zu einem Sitze im Oberhause zu verhelfen, um nur ihn und seine reiche Erfahrung in den Dingen des öffentlichen Lebens nicht ganz entbehren zu müssen: wie er es früher als heilige Pflicht erkannt hatte, seine ganze Kraft an die übernommene Thätigkeit zu setzen, so erkannte er es jetzt, wo diese Kraft in sichtlicher Abnahme begriffen war, ebensowohl als heilige Pflicht, zurückzutreten und jüngeren, rüstigeren Kräften das Feld zu räumen.
»Ich habe schon lange beabsichtigt«, schrieb er in sein Tagebuch am 1. Februar 1825, »mich zurückzuziehen, sobald die Zeit dieses Parlaments zu Ende wäre; daher ist nur zu überlegen, ob ich es jetzt thun soll, oder am Schlusse der nächsten Sitzung. Die Frage ist also, ob eine beschränkte Teilnahme an dieser Sitzung mir soviel Aussicht zur Wirksamkeit gibt, um mich zu einem Verbleiben im Parlamente bis zu dessen Ende zu berechtigen. Der Arzt scheint es nicht für notwendig zu halten, mir die Teilnahme gänzlich zu untersagen, aber er äußerte die Furcht, daß ich, wenn eine Krankheit eintreten sollte, nicht Kraft genug haben würde, sie zu überstehen. Hätte ich nun keine andere Bahn für meine Thätigkeit, so möchte es, oder vielmehr: würde es unrecht sein, es nicht auf die Gefahr ankommen zu lassen. Aber erstens hoffe ich, meine Feder mit Vorteil anwenden zu können, wenn ich mich in das Privatleben zurückgezogen habe, und zweitens ist mein Leben gerade jetzt von besonderem Werte für meine Familie. Alle meine Kinder stehen in solchen Lebensabschnitten und Verhältnissen, welche es dem Anscheine nach äußerst wünschenswert machen, daß ich ihnen noch erhalten werde. Man entbehrt mich jetzt nicht sehr im Parlamente; unsere Sache hat mächtige Verteidiger, welche ihre Stellungeneingenommen haben. Das Beispiel eines Mannes, welcher sich zurückzieht, wenn er fühlt, daß seine körperlichen und geistigen Kräfte schwächer werden, kann nützlich erscheinen. Das Publikum ist so sehr daran gewöhnt, Männer einen lang fortdauernden Sitz im Parlamente zur Erlangung eines höheren Ranges benützen zu sehen, daß ein entgegengesetztes Beispiel um so nötiger ist und von einem Solchen gezeigt werden muß, welcher bekennt, nach christlichen Grundsätzen zu handeln.«
Wie man über die Wirksamkeit dachte, welche Wilberforce im Parlamente und auf das Parlament geübt hatte, mag folgende Stelle aus einem Freundesbriefe zeigen:
»Mit vielem Bedauern, obgleich, wie ich sagen kann, nicht mit großer Verwunderung höre ich von Ihrer Absicht, sich vom Parlamente zurückzuziehen. Es wird ein schmerzlicher Verlust für ihre zahlreichen Freunde und für den Staat sein, aber es ist wohl ein weiser Entschluß in Beziehung auf Sie selbst. Es muß Ihnen die Bemerkung sehr zur Zufriedenheit gereichen, daß der sittliche Ton des Unterhauses sowohl wie der Nation im allgemeinen viel höher ist, als daSiezuerst in das öffentliche Leben eintraten. Es kann kein Zweifel sein, daß Gott Sie zu dem geehrten Werkzeuge gemacht hat, viel zu dieser großen Verbesserung beizutragen. Es gibt, hoffe ich, einige viel versprechende junge Männer, die auftreten werden; aber ach! jetzt keinen, welcher Ihren Platz einnehmen könnte. Ich wollte es gäbe mehrere Elisas, auf welche Ihr Mandat fiele (NB. man vergleiche 2. Könige 2, 13–15). Das Gebet von Tausenden wird Ihnen in das Privatleben folgen, und das meinige wird fortwährend darauf gerichtet sein, daß Ihr wertvolles Leben bis zu den spätestenZeiträumen als ein Segen für Ihre Familie, für die Kirche Gottes und für die Welt möge erhalten bleiben!«
Wilberforce beschloß nun, London ganz zu verlassen und kaufte sich ein Gut, 10 Meilen nördlich von der Stadt, Highwood Hill genannt, um hier fortan in aller Stille und Ruhe bis an das Ende seiner Tage zu leben. Er hatte jedoch auch hier nicht in dem Maße, wie er es gehofft hatte, völlige Freiheit, über seine Zeit zu verfügen. Dazu gab es zu viele Freunde, von denen er sich nicht nicht ganz zurückziehen wollte, und die ihn, auch wenn er dies gewollt hätte, ihrerseits nicht losgelassen hätten, mit denen also ein fortgesetzter Briefwechsel unterhalten sein wollte; dazu gab es zu viele Gelegenheiten, mit Rat und That einzutreten, wo es sich um die Förderung des Reiches Gottes handelte, denen er sich nicht entziehen konnte und wollte.
So suchte er, als man in London eine Schule für höheren Unterricht der Handwerker, also etwa eine Schule nach Art unserer heutigen »Fortbildungsschulen«, einrichten wollte, seinen Einfluß dahin geltend zu machen, daß ja auch der Unterricht in der Religion in den Lehrplan aufgenommen würde, weil es unverantwortlich sei, daß man die Jugend in dieser höchsten und wichtigsten Sache ohne Unterricht lassen wolle.
Nicht minder bemühte er sich darum, daß an der Universität zu London, die jetzt neu gegründet werden sollte, ein besonderer Lehrstuhl für Vorlesungen über die Religion errichtet werde, welche jeder Student besuchen müsse, zog aber die Unterschrift seines Namens, welche er unter eine zu diesem Zwecke abgefaßte Bittschrift gesetzt hatte, wieder zurück, als man den Besuch der fraglichenVorlesungen in das Belieben jedes einzelnen Studenten setzen wollte.
Begreiflicherweise aber war und blieb seine ganze, volle Teilnahme nach wie vor der Sklavensache zugewendet. Wenn es sich um diese handelte, ließ er sich sogar bewegen, in öffentlichen Versammlungen den Vorsitz zu führen, was er sonst überall ablehnte. Nur wollte er nichts von »Frauen-Vereinen« zur Unterdrückung der Sklaverei hören, wie man sie jetzt von verschiedenen Seiten her ins Leben zu rufen suchte. Sein klares, nüchternes Urteil entschied sich dafür, daß es der Frau zwar wohl anstehe, wenn sie im stillen für die gute Sache wirke, »aber«, so sagte er, »wenn Frauen öffentliche Versammlungen veranstalten, Schriften veröffentlichen, von Haus zu Haus gehen, um Bittschriften zustande zu bringen, so sind das Beschäftigungen, die mir unpassend erscheinen für den weiblichen Charakter, wie er uns in der heiligen Schrift gezeichnet worden ist.«
Trotz seiner 68 Jahre und seiner hinfälligen Gesundheit unternahm Wilberforce im Jahre 1827 eine längere Reise in das nördliche England, besonders durch die Grafschaft Yorkshire. Er wollte vor seinem Tode noch einmal die Gegend besuchen, welcher er seine beste Lebenszeit und -kraft gewidmet hatte und noch einmal den vielen Freunden, die er dort besaß, die Hand zum Abschiede drücken, auch wohl da und dort noch ein gutes heilsames Wort anbringen. Aber er fand von vielen seiner dortigen Freunde nur die Gräber und schrieb deshalb voll Wehmut an seine langjährige, nun 82 Jahre alte Freundin Hannah More: »Meine Freunde fallen täglich um mich her, die Begleiter meiner Jugend, damals weit stärker und weit gesunder als ich, sind fort, während ich nochbleibe. Was für eine Spanne Zeit uns auch übrig sein mag, möchten wir beide die noch kommenden Tage zur Vorbereitung auf den letzten verwenden.«
Und das that er seinerseits treulich während der Jahre, die er nun in Ruhe und Gleichförmigkeit auf seinem Highwood Hill verlebte. Nicht als ob er sich jetzt von allem geselligen Leben vollständig zurückgezogen und jenem trüben, finsteren Geiste gänzlicher Weltflucht sich überlassen hätte, den so viele fälschlich für die höchste Blüte des wahren Christentums ansehen, weil sie selber noch nichts wissen von wahrem Frieden und wahrer Freude im heiligen Geiste, die es möglich machen, das Apostelwort zu befolgen: seid allezeit fröhlich. Nein Wilberforce liebte auch jetzt noch ein heiteres, geselliges Leben und fand seine Freude daran, wußte aber freilich die geselligen Unterhaltungen auch so zu führen, daß sie für das innere Leben jedes Teilnehmers daran förderlich werden mußten, indem er aus den Erfahrungen seines reichen Lebens wie ein guter Haushalter altes und neues hervorbrachte. Übrigens war seine Zeiteinteilung eine durchaus geregelte und seine ganze Lebensweise eine durchaus einfache, seinen Jahren angemessene.
Bald nach 7 Uhr morgens pflegte er im Sommer wie im Winter aufzustehen, und dann über eine Stunde auf seinem Zimmer mit Selbstbetrachtung, Gebet und Lesen des göttlichen Wortes zuzubringen. Während er sich für den Tag ankleidete, ließ er sich vorlesen, um ja keine Zeit für den Geist unbenutzt zu lassen. Um halb 10 Uhr traf er mit den seinigen zur Familienandacht zusammen. Diese selber abzuhalten, ließ er sich nicht nehmen, auch wenn seine Gesundheit nicht die beste war. Er las dann einen Abschnitt aus der heiligen Schrift vor, gewöhnlich ausdem Neuen Testamente, erklärte ihn mit heiligem Ernste und mit Worten, die vom heiligen Geiste gelehrt waren, und schärfte ihn mit wunderbarer Beredtsamkeit ein.
Nach dieser Andacht, die etwa eine halbe Stunde dauerte, ging er, wenn es das Wetter irgendwie erlaubte, in den Garten, um sich an den Schönheiten der Natur zu erfreuen und sich die dafür so empfängliche Seele noch mehr zum Preise des Schöpfers stimmen zu lassen. Das Frühstück pflegte er auch jetzt spät einzunehmen, wie er sich schon längst gewöhnt hatte, um eine möglichst lange, ungestörte Arbeitszeit vor demselben zu haben. Aber desto länger verweilte er dann am Frühstückstische und ließ hier seine reiche, köstliche Gabe der Unterhaltung oft so in Fluß kommen, daß es 12 Uhr wurde, ehe er aufstand, besonders wenn er Besuch von lieben Freunden hatte, mit welchen er sich innerlich eins wußte und über die höchsten Lebensfragen frei und offen besprechen konnte.
Bis 3 Uhr Nachmittags zog er sich wieder zurück, um zu studieren oder Briefe zu schreiben, und erging sich dann bei gutem Wetter noch ein Stündchen im Garten, am liebsten in Gesellschaft mit seinen guten Freunden oder auch nur von seinem Vorleser, und, wenn er alleine war, gewöhnlich ein Liedchen vor sich hinsingend, das von der freudigen Stimmung seines Herzens Kunde gab.
Nach der Hauptmahlzeit, welche nach englischer Sitte erst um 5 Uhr Nachmittags, aber nie später, stattfand, legte er sich auf anderthalb Stunden nieder, um für den Abend, welcher in England stets dem geselligen Leben, wenn auch nur im engen Kreise der Familie gewidmet wird, neue Kräfte zu sammeln. Zuweilen arbeitete er nach der Ruhe noch eine Zeit lang bis zur Abendandacht, welche ebenso wie die Morgenandacht gehalten wurde,häufiger aber begab er sich sogleich wieder in den Kreis der Familie, wo denn der Abend oft bis nach Mitternacht mit Vorlesen, Erzählen und Gespräch zugebracht wurde.
Die schönste Zeit im Jahre war die Weihnachtszeit, welche stets alle seine Kinder um ihn versammelte, und die er, sich ganz von der Arbeit losmachend, immer im Schoße seiner Familie verbrachte. Da konnte er mit seinen Kindern, solange sie noch klein waren, spielen wie ein Kind; aber er ließ es auch freilich nicht daran fehlen, den schon mehr erwachsenen Kindern ein Wegweiser zu dem zu werden, der da arm ward um unseretwillen, auf daß wir durch seine Armut reich würden.
Waren einmal in späteren Jahren zwischen seinen Kindern, wie das ja wohl nirgends ganz ausbleibt, Verstimmungen und Entfremdungen eingetreten, so wußte er dieselben mit lindem Wort und liebreicher väterlicher Mahnung, oder noch lieber, wenn das hinreichte, mit einem witzigen Scherze wegzuschaffen, und setzte darein einen hohen Wert der jährlichen, weihnachtlichen Familienzusammenkünfte, daß sie die gegenseitige Liebe und Anhänglichkeit zwischen Eltern und Kindern sowohl, wie zwischen den Geschwistern so lieblich förderten.
»Unsere lieben Kinder«, schreibt er einmal nach solch einem gesegneten Familienfeste, »leben in vieler Einigkeit. Was für Grund zur Dankbarkeit habe ich, wenn ich meine fünf Kinder, meine Schwiegertocher und meine beiden Enkel um den Tisch versammelt sehe! Lobe den Herrn, o meine Seele!«
Indessen blieben diese Jahre der Ruhe und des glücklichen Stilllebens in Highwood Hill nicht ohne jede Trübung; ja der Feierabend seines Lebens sollte für Wilberforce nicht ohne schwere Prüfungen verlaufen, damit erdas Sehnen nach der himmlischen Heimat immer völliger in sein Herz kommen lasse, wo kein Leid, kein Geschrei, keine Schmerzen mehr sein sollen.
In Highwood Hill selbst war keine Kirche, deren regelmäßiger Besuch doch für unsern Wilberforce ein wesentlicher Bestandteil seiner Sonntagsfeier war. Der Umstand, daß die nächste Kirche 3 Meilen weit entfernt war, würde ihn sicherlich vom Kaufe des Gutes abgehalten haben, wenn nicht der Bau einer neuen Kirche bereits so gut wie beschlossene Sache gewesen wäre. Um den Bau zu beschleunigen, erklärte sich Wilberforce gegen den Geistlichen des Kirchspiels sofort nach dem Antritte seines Gutes bereit, die Kosten des Baus teils aus eigenen, teils aus Mitteln, zu deren Hergabe er Freunde willig machen wolle, zu bestreiten. Um dem Geistlichen in allen Stücken entgegen zu kommen, ging er sogar auf dessen Wunsch ein, daß die neue Kirche nicht in Highwood Hill selbst, sondern eine halbe englische Meile entfernt in einem kleinen Weiler erbaut werden möge.
Gleichwohl aber trat der Geistliche aus irgend einem unbekannten Grunde gegen Wilberforce in Widerstreit und griff ihn öffentlich, sogar in seinen Predigten, als einen eigennützigen, selbstsüchtigen Menschen an, der nur seinen eigenen Vorteil, nicht aber das Wohl der Gemeinde im Auge habe. Und wirklich, der ehrwürdige, selbstverleugnungsvolle Greis sah sich jetzt in seinem 70ten Lebensjahre genötigt, gegen die wider ihn geschleuderten gehässigen Verleumdungen öffentlich sich zu verteidigen, und der Bau der Kirche verzögerte sich von Monat zu Monat.
Tiefer und einschneidender in sein Schicksal wurde jedoch für Wilberforce ein anderes Erlebnis.
Wilberforce hatte sich, wie wir schon erwähnt haben,von jeher gewöhnt, sich nur als Gottes Haushalter über das ihm anvertraute irdische Gut zu betrachten und dasselbe deshalb in reichem, manchmal überreichem Maße zu Werken der Wohlthätigkeit verwandt. Er war der Ansicht, daß auch seinen Kindern mehr Segen für ihre Zukunft daraus erwachsen würde, als wenn er bemüht wäre, das Familienvermögen zu vermehren und tote Schätze zusammenzuhäufen.
Nun hatte er für seinen ältesten Sohn, der sich wegen seiner schwachen Gesundheit der Landwirtschaft gewidmet hatte, ein ansehnliches Gut kaufen lassen und sich dabei arglos in die Hände eines Unterhändlers gegeben, dem er volles Vertrauen glaubte schenken zu dürfen. Allein dieser ward zum Schelm an ihm, und brachte es durch seine Betrügereien und Kniffe dahin, daß Wilberforce einen sehr beträchtlichen Teil seines Vermögens verlor. Der Verlust war so bedeutend, daß er sich entschließen mußte, sein schönes Highwood Hill aufzugeben und seine ganze bisherige Lebensweise bedeutend einzuschränken.
Zwar erboten sich seine Freunde, als sie dies vernahmen, auf der Stelle ihm seinen Verlust zu ersetzen und selbst ein »Westindier«, der ihn trotz seiner Gegnerschaft in der Sklavensache persönlich hochachtete, machte ihm dahin zielende Anerbietungen; aber Wilberforce glaubte auf diese Anerbietungen, so wohl sie ihm auch innerlich thun mochten, nicht eingehen zu dürfen, sondern vielmehr seine Lebensweise nach seinen jetzigen Vermögensverhältnissen einrichten zu müssen.
Seine innere Heiterkeit blieb übrigens dabei ganz unangetastet, ja er pries die Vorsehung dafür, daß dieser Schlag nicht eher eingetreten sei, als jetzt, wo alle seineKinder soweit erzogen waren und größtenteils schon eine gesicherte Lebensstellung hatten.
Er beschloß, mit seiner Gattin abwechselnd, bei seinem zweiten und dritten Sohne, die ja beide schon im Amte standen, Wohnung und Aufenthalt zu nehmen, und, wenn er es auch bedauerte, seinen lieben Garten aufgeben zu müssen, sowie die Möglichkeit, werte Freunde unter seinem eigenen Dache zu beherbergen, so freute er sich doch andrerseits sehr, nun der zarten Liebeserweisungen kindlicher Anhänglichkeit und Dankbarkeit unausgesetzt genießen zu können. Als er sich von einem kleinen Unwohlsein wiedererholt hatte, sagte er: »Ich kann kaum begreifen, warum mein Leben so lange erhalten wird, es sei denn, damit ich beweisen kann, daß ein Mensch ebenso glücklich sein kann ohne als mit Vermögen.«
Das Scheiden von Highwood Hill wurde aber für Wilberforce noch durch einen harten Schlag erschwert, der ohne Zweifel die ihn am meisten erschütternde Heimsuchung seines Greisenalters war. Es starb ihm nämlich, als er sich eben von der lieblichen Stätte losgerissen hatte, welche der Ruheplatz für seine letzten Lebenstage hatte werden sollen, seine einzige noch übrige Tochter. Zwar konnte er auch von ihr mit innigem Danke gegen Gott »eine heilige, ruhige, demütige Zuversicht zu ihrem Heilande« rühmen, »mit der sie sich gleichsam auf den Arm ihres Erlösers lehnte«, aber es war doch für das Vaterherz etwas unsäglich Bitteres, noch einmal einem teuren Kinde in das frühe Grab sehen zu müssen, und in den trauten Kreis seiner Familie, worin er sich wohl fühlte, eine empfindliche Lücke gerissen zu sehen.
Wie rasch sich übrigens Wilberforce in das veränderte Leben eingewöhnte, und wie wohl es ihm dabei war, zeigt einBrief an seinen Freund und Schwager Stephen. »Wir befinden uns«, so schreibt er aus dem Pfarrhause des einen Sohnes, »hier jetzt ungefähr 6 Wochen. Wie viel mehr Ursache habe ich, mich zu freuen, als über einen Verlust zu klagen, der einen solchen Erfolg gehabt hat! Wir sind unter das Dach unserer teueren Kinder gekommen; wir sind Zeugen, wie sie ein großes häusliches Glück genießen und gewissenhaft die Pflichten des wichtigsten Berufes erfüllen.«
Die Gebrechen des Alters stellten sich bei Wilberforce, wie er öfters mit herzlichem Danke gegen Gott erwähnte, nur langsam ein und ohne die schmerzhaften Leiden, die sich so oft damit verbinden. Es war im wesentlichen nur ein größeres Bedürfnis von Ruhe, welches sie herbeiführten und dieses Bedürfnis konnte er sich in den stillen Pfarrhäusern seiner Söhne besser befriedigen, als es in Highwood Hill möglich gewesen wäre, dessen nähere Lage bei London auch häufigere Besuche seiner Freunde wie Solcher, die Rat bei ihm suchen wollten, gebracht haben würde. Aber, wie groß auch sein Ruhebedürfnis war, er vergaß es doch gänzlich und zeigte sich noch stets als einen sehr unterhaltenden Gesellschafter, wenn ihn Freunde besuchten, ja konnte noch in wahrhaft jugendliches Feuer geraten, wenn es galt, jemand, der ihn besuchte, auf das Eine, was not ist, hinzuweisen und ihn von den Irrtümern seines Weges zu überzeugen.
Ebenso wurde er stets tief ergriffen und zu feuriger Begeisterung entflammt, wenn auf die Sklavensache die Rede kam, und wenn es sich darum handelte, die Notwendigkeit der völligen Abschaffung der Sklaverei zu beweisen.
Als ein Bild von ihm gemalt werden sollte, und derMaler, der ihn nicht als den müden, altersschwachen Greis abkonterfeien wollte, als welcher er jetzt erschien, begehrte, man möge ihm irgend eine geistige Anregung zu verschaffen suchen, da genügte es, daß jemand die Bemerkung fallen ließ, nach den neuesten Nachrichten würden die Sklaven in Westindien jetzt doch weit besser als früher behandelt. Sofort regte sich da in Wilberforce der heilige Eifer, dies aus den neuesten Nachrichten, die er selber besaß, zu bestreiten und es entspann sich eine so belebte Unterhaltung, daß der Maler von ihm ein Bild gewann, wie er es haben wollte, und wie es auch sein mußte, um ihn in voller Lebenswahrheit darzustellen.
Als im April 1833 zu Maidstone, dem Hauptorte der Grafschaft Kent, in der er sich gerade jetzt bei seinem Sohne in East Farleigh befand, eine Versammlung gehalten wurde, worin eine Adresse gegen die Sklaverei beschlossen werden sollte, ließ sich Wilberforce, obwohl er seit zwei Jahren nicht mehr öffentlich gesprochen hatte, doch nicht zurückhalten, die Versammlung zu besuchen und nicht allein als der erste die zu stande gekommene Adresse zu unterschreiben, sondern auch, obwohl nur mit schwacher Stimme für die heilige Sache zu sprechen, deren begeisterter Vorkämpfer er so lange Jahre hindurch gewesen war. Und wie freute er sich mit einer heiligen Freude, zu spüren, daß die öffentliche Meinung auf dem Punkte angekommen sei, wohin sie zu führen die letzte Anstrengung seines öffentlichen Lebens gewesen war! Denn in der ganzen großen Versammlung war niemand, der daran gezweifelt hätte, es müsse auf eine vollständige Beseitigung aller Sklaverei gedrungen werden.
Wie gerne gab er seine Zustimmung dazu, daß selbst eine Entschädigung von 20 Millionen Pfund Sterling(= 400 Millionen Mark), welche an die Sklavenbesitzer sollte bezahlt werden, dem Lande aufgebürdet werde.
Wie zuversichtlich schrieb er am Anfange des neuen Jahres an einen alten Freund und Kampfgenossen: »Ich wünsche Ihnen Glück, in ein Jahr eingetreten zu sein, das sich, wie ich zuversichtlich hoffe, dadurch auszeichnen wird, daß Sie sehen, wie dem mit Fluch beladenen Sklavenhandel der letzte tötliche Schlag gegeben, und die Freilassung der westindischen Sklaven endlich zu stande gebracht wird!«