VIII.
Wilberforce durfte jetzt, wo nur noch Spanien und Portugal an dem Sklavenhandel festhielten, ohne sich aber voraussichtlich noch lange dem Drucke der öffentlichenMeinung entziehen zu können, in bezug auf seine große, heilige Sache hell und freudig in die Zukunft blicken. Aber um so trüber und trauriger gestaltete sich für ihn persönlich die Gegenwart.
Schon am 15. Januar 1815 nämlich war sein treuer Mitarbeiter und Freund Henry Thornton gestorben, von welchem er selbst bezeugt, daß derselbe einer seiner ältesten, genauesten, innigsten und wertvollsten Freunde gewesen sei, und dessen Verlust ihm um so schwerer fiel, weil er in christlicher Beziehung auf völlig gleichem Boden mit ihm gestanden hatte und so ein Austausch der Herzen über die höchsten, heiligsten Dinge und Fragen des Lebens zwischen ihnen möglich gewesen war.
Bald nach demselben starben ihm noch zwei andere Freunde, die seinem Herzen ebenfalls nahe gestanden hatten, sodaß er an Hannah More schrieb: »Wie ergreifend! Wir schauen uns alle unwillkürlich um und fragen mit forschendem Blicke: Wer ist wohl der nächste, Herr? O möchten diese Warnungen die gehörigen Folgen haben, daß sie uns für die Vorladung bereit machen!«
Und wenn auch nichtderso dochdie»nächste« ließ nicht lange auf sich warten; denn schon am 13. Oktober folgte die Witwe von Henry Thornton ihrem Gatten nach mit einem Tode, der für den an ihr Sterbebett berufenen Wilberforce im höchsten Grade erbaulich wurde. Als er am Morgen ihres Todestages in die Versammlung einer Hülfs-Bibelgesellschaft ging, konnte er es nicht lassen, dort von dem tiefen Eindrucke, welchen die Sterbende auf ihn gemacht hatte, beredtes Zeugnis zu geben.
»Ich komme jetzt eben,« sagte er, »von einem Auftritte, wo der Wert des Buches, dessen Verbreitung der Gegenstand Ihrer Thätigkeit ist, sich klar entfaltet hat. Ichdarf das Zeugnis nicht vorenthalten, welches hier von der heilenden und siegreichen Wirksamkeit der vom Geiste Gottes eingegebenen Schrift sich zeigte. Ich komme aus einem Zimmer, in welchem eine Witwe, umgeben von ihren nun bald völlig verwaisten Kindern, befähigt ist, dem letzten Feinde ruhig ins Auge zu sehen. Sie selbst besitzt einen Frieden, welchen nichts trüben kann, da er die Gabe Gottes ist. Ihre Kinder sind in gewissem Grade im stande, das Vorgefühl der Hoffnung ihrer Verherrlichung zu hegen. Es ist ein Auftritt, welchem man beigewohnt haben muß, um den vollen Eindruck im Herzen zu erforschen: ein Bewußtsein der Zufriedenheit und des Glücks in den Augenblicken des tiefsten äußeren Mangels und Kummers, eine Erhebung über die Leiden und Anfechtungen dieses vergänglichen Lebens. – Laßt mich fragen: ist dieser Trost in Traurigkeit, diese Hoffnung im Tode etwa ein Familiengeheimnis, von dem die Menschen im allgemeinen ausgeschlossen sind? Nein, es ist das, was das Wort Gottes allen bietet, welche es ergreifen wollen. Wie konnte ich daher umhin, zu kommen und Ihnen Glück zu wünschen, daß es ihnen gestattet ist, die geehrten Werkzeuge des Allmächtigen zur Verbreitung einer solchen Herzstärkung in einer sterblichen Welt zu sein? Wie konnte ich umhin, mich zu freuen, daß es mir vergönnt ist, mich mit Ihnen zu vereinigen in den Bemühungen, durch welche diese unvergänglichen Segnungen in Umlauf gesetzt werden?«
Aber es waren nicht blos diese rasch hinter einander folgenden Todesfälle, wodurch ein trüber, trauriger Schatten in das Leben unseres Wilberforce fiel, sondern auch ein recht betrübendes persönliches Erlebnis.
Im Parlamente wurde nämlich ein Gesetzesvorschlag eingebracht, wonach von dem in England eingeführten Getreideein Zoll erhoben werden sollte, die sogenannte »Kornbill«. Begreiflicherweise war dies keine erwünschte Maßregel für alle, die Brot kaufen mußten, weil dasselbe dadurch notwendig verteuert werden mußte, allein es war eine Maßregel, die sich zum Schutze der inländischen Ackerbauer als unbedingt nötig erwies. Wilberforce prüfte gewissenhaft und sorgfältig die Sachlage und trug, als er sich von der Notwendigkeit des Kornzolles überzeugt hatte, durchaus kein Bedenken, der Kornbill seine Unterstützung zu teil werden zu lassen.
Da wandte sich trotz seiner sonstigen allgemeinen Beliebtheit der Unwille des Volkes gegen ihn, und zwar in solchem Maße, daß er es für angezeigt hielt, eine Schutzwache von 6 Mann in sein Haus zu nehmen, um sich vor einem zu befürchtenden Sturme des Volkes auf dasselbe zu schützen. Auch er mußte es also erfahren, welch ein wetterwendisches Ding die Volksgunst sei und wie wenig es dieselbe verdiene, daß man begehrlich nach ihr hasche, ihr zu liebe vielleicht gar gegen die Stimme seines Gewissens handele.
So wenig ihn aber die Gunst oder Ungunst des Volkes in seinem Verhalten irgendwie beeinflussen konnte, so wenig machte er sich auch aus den Gunstbezeugungen, die ihm von seiten des Hofes zukamen, als dieser in Brighton seinen Aufenthalt nahm, wo sich Wilberforce jetzt eben mit seiner Familie aufhielt. Der Prinz-Regent lud ihn zu wiederholten Besuchen ein und überhäufte ihn mit Artigkeiten. Er trug sogar selbst Sorge dafür, daß, wenn Wilberforce die Einladung zu Tische angenommen hatte, nur solche Personen in seine Nähe gesetzt wurden, von denen er keine Kränkung in seinen religiösen Anschauungen und Gefühlen zu befürchten hatte.
Als ihn sein Schwager Stephen wegen dieser ihm erwiesenen Artigkeiten neckte und meinte, er würde am Ende doch noch »Peer«, d. h. Mitglied des Oberhauses, werden, antwortete er, da dürfe man unbesorgt sein, er werde als William Wilberforce leben und sterben; denn er sehe immer mehr, daß die Großen in der Welt am meisten zu bemitleiden seien und er danke deshalb stets seinem Gotte, daß er ihn in eine Stellung geführt habe, welche für seine Kinder nicht die großen oder wohl noch größere Versuchungen und Gefahren herbeiführen würde, die er selbst zu bestehen habe.
Auch gab es für diese Gunstbezeugungen des Hofes bald wieder ein heilsames Gegengewicht in seinem Leben, das ihn, wenn er sich ja hochmütigen Regungen hätte hingeben wollen und können, alsbald wieder niederziehen und demütig machen mußte.
Nicht allein, daß er von dem Ministerium im Stiche gelassen wurde, als er die sogenannte »Registerbill« wieder im Parlamente einbrachte, wonach die Zählung und namentliche Aufzeichnung der Sklaven, wie sie für die Insel Trinidad angeordnet worden war, und sich dort sowohl als ausführbar, als auch segensreich bewiesen hatte, für alle englischen Kolonieen in Westindien angeordnet werden sollte; nein auch die Gegner der Sklavensache regten sich wieder mit Macht, als sie inne wurden, welch' zarte Rücksichten das Ministerium damit auf die Selbstständigkeit der Regierungen in den Kolonieen nahm. Sie glaubten jetzt jedes weitere Fortschreiten des Sklavenfreundes in seinen Bestrebungen wirksam hindern zu können, und wählten dazu das verwerfliche Mittel, dessen Persönlichkeit anzutasten und nicht nur im Parlamente, sondern auch in Flugschriften, welche sie unter das Volk warfen, Wilberforceauf das schnödeste zu verdächtigen und zu verleumden. Man ging darin so weit, daß Wilberforce einmal mit bitterem Lächeln im Parlamente sagte: »Wenn alles, was mir meine Gegner vorwerfen, wahr wäre, so hätte ich schon vor 30 Jahren des Todes schuldig erklärt werden müssen.«
Es war jedoch nicht die Furcht vor diesen Verleumdungen, welche ihn abhielt, in der Sitzung des Parlamentes von 1816 die Registerbill wiederum einzubringen, sondern der erfreuliche Umstand, daß sich jetzt Spanien zur völligen Aufgebung seines Sklavenhandels zu entschließen schien und deshalb in Verhandlungen mit England eintrat, die durch das Einbringen der Registerbill hätten gestört werden können. Allerdings zogen sich diese Verhandlungen bis ins folgende Jahr hin, weil Spanien für die Aufgebung des Sklavenhandels eine hohe Entschädigungssumme forderte; aber sie kamen doch endlich zum erwünschten Austrage, nachdem man über eine Entschädigungssumme von 400,000 Pfund Sterling (= 8 Millionen Mark) übereingekommen war, welche England bezahlen sollte. Dagegen verpflichtete sich Spanien, bis zum Jahre 1820 den Sklavenhandel aufzugeben, hielt aber trotzdem nachher diesen Termin nicht ein, sondern erfüllte erst im Jahre 1822 sein Versprechen.
Als von der westindischen Insel Barbadoes Nachrichten über heftige Negeraufstände einliefen, die dort stattgefunden, war dies natürlich wieder eine willkommene Gelegenheit für die »Westindier,« Wilberforce wegen seiner Bemühungen für die Sklaven anzugreifen. Man gab die Grausamkeiten, welche sich die empörten Sklaven erlaubt hatten, diesen allein schuld, ohne anerkennen zu wollen, daß dieselben von seiten der Sklavenhalter durch ihre grausame,schonungslose Behandlung der Neger veranlaßt worden seien; man suchte daraus die Notwendigkeit zu beweisen, alle Bemühungen zu Gunsten der Neger aufzugeben, weil diese, wenn sie von solchen Bemühungen wieder hörten, dadurch zu immer neuen Empörungen und blutigen Befreiungsversuchen gereizt würden, und ebensowohl auch die andere Notwendigkeit, die widerwilligen Neger durch strengen und harten Druck niederzuhalten. Wilberforce mußte wieder seine ganze Beredsamkeit aufwenden, um seine Sache, sowie sich selbst und seine Grundsätze zu verteidigen. Er unterschrieb jedoch willig eine Adresse mit, die den Prinz-Regenten bitten sollte, seine ernste Mißbilligung der Vorgänge auf der westindischen Insel auszusprechen, aber auch den Regierungen der Kolonieen auf das Ernsteste geeignete Maßregeln zur Verbesserung der Lage der Neger zu empfehlen.
Im Oktober 1816 traf unsern Wilberforce der schwere Schlag, daß seine innig geliebte Schwester, die Gattin seines Freundes Stephen, verstarb, das letzte Glied seiner Familie, von welcher er nun noch allein übrig war. Wenn er ihr mit trauerndem Herzen nachrühmen konnte, daß er in ihr die zärtlichste Schwester verloren habe, von der er in Wahrheit sagen könne, daß es wohl nie auf Erden eine anhänglichere, edlere und treuere Freundin ihres Bruders gegeben habe, so konnte er sich ebensowohl zum Troste sagen, daß sie in wahrem Frieden mit ihrem Gotte und Heilande heimgegangen sei.
Wilberforce hatte bisher immer nur auf Aufhebung des Sklavenhandels und bessere Behandlung der Sklaven, welche einmal das Joch der Knechtschaft trugen, hingewirkt, ohne noch die gänzliche Aufhebung der Sklaverei und völlige Freilassung aller Sklaven, die ihm doch alshöchstes Ziel vorschweben mußten, anders als in gelegentlichen Äußerungen bei Freunden angerührt zu haben. Allein es wurde ihm immer mehr zur Überzeugung, daß er nun auch thatsächlich auf dieses Ziel lossteuern müsse, wenn sein Werk kein halbes bleiben sollte. So lange es Sklaven gab, konnte auch der harte, grausame Geist nicht aussterben, mit dem man sich gegen ihre Aufstände glaubte wappnen zu müssen, und der jedes menschliche Mitgefühl mit den armen Schwarzen ersticken mußte.
Eine große Freude wurde ihm dadurch bereitet, daß sich im Jahre 1817 der Negerkönig Heinrich I. auf der Insel St. Domingo oder Haïti geradezu mit einer Bitte an ihn wandte, und es damit bewies, daß die Schwarzen seinen Eifer für ihr Wohl kannten und zu seiner Menschenliebe das vollste Zutrauen hatten.
Mit diesem Negerkönige verhielt es sich aber folgendermaßen. Von dem großen Sklavenaufstande auf St. Domingo im Jahre 1791, von welchem bereits Erwähnung gethan wurde, und bei dem sich Neger und Farbige zur Vertilgung aller Weißen auf der Insel vereinigt hatten, war das Ende gewesen, daß in der That sämtliche Weiße, soweit ihnen nicht die rechtzeitige Flucht gelang, schonungslos niedergemetzelt wurden. Der französische Nationalkonvent hatte darauf am 4. Februar 1794 den Negern und Farbigen in dem französischen Teile der Insel völlige Freiheit und völlig gleiche Rechte mit den Weißen bewilligt und sogar einen der hervorragendsten unter den aufständischen Negern, einen gewissen Toussaint L'Ouverture, zum Obergeneral aller französischen Truppen auf der Insel eingesetzt. Als nun die Spanier 1795 im Frieden von Basel ihre Besitzungen auf der Insel an die Franzosen abgetreten hatten, nachdem ihr Versuch fehlgeschlagenwar, gemeinsam mit den Engländern die mit den Franzosen verbündeten Neger zu besiegen, und auch die Engländer im Jahre 1797 die Insel ganz aufgegeben hatten, brachen die Neger in einem neuen Aufstande unter ihrem Führer Dessalines, auch die Herrschaft der Franzosen, so daß diese im November 1803 die Insel räumten. Jetzt warf sich Dessalines zum Herrscher der ganzen Insel auf, nahm den Titel: »Kaiser Jacob I.« an und führte ein rohes, grausames Regiment über Neger und Farbige. Aber schon nach einem Jahre wurde er in einer Empörung gegen ihn ermordet und nun brach die alte Eifersucht zwischen Negern und Farbigen wieder in hellen Flammen aus. Die Neger sammelten sich unter ihrem Generale Heinrich Christoph, die Farbigen unter dem Mulatten Pétion und teilten sich endlich friedlich in den Besitz der Insel. Die Farbigen gründeten unter Pétion eine Republik, die Neger unter Heinrich Christoph, welcher jedoch 1811 die Negerrepublik in eine erbliche Monarchie verwandelte und sich als König Heinrich I. die Krone aufsetzte. Obwohl als Sklave geboren, hatte er sich dennoch eine tüchtige geistige Bildung zu verschaffen gewußt und Erkenntnis genug gewonnen, um einzusehen, daß seine Herrschaft nur Bestand haben könne, wenn er sich bemühe, seine Schwarzen aus ihrer Rohheit und Unwissenheit herauszureißen.
Schon im Jahre 1815 hatte er sich mit Wilberforce in Verbindung zu setzen gewußt und ihm erklärt, daß er in allen Stücken seinem Rate folgen wolle. Wilberforce hatte mit Erlaubnis der Regierung diese Verbindung gerne angenommen und gepflegt, weil der schwarze König versichert hatte, nicht blos die englische Sprache, sondern auch die evangelische Religion in seinem Königreiche einführenzu wollen. Wie ihm der Negerkönig sein Bildnis zugesandt hatte, so schickte Wilberforce als Gegengabe sein eigenes, sowie das seines ältesten Sohnes nach Domingo hinüber.
Jetzt im Jahre 1817 wandte sich König Heinrich I. wiederum an Wilberforce mit der Bitte, ihm einen englischen Erzieher für seinen Sohn, sowie 7 Lehrer für das Volk und 7 Professoren für eine zu errichtende Hochschule zu senden, auch englische Landleute zur Ansiedelung auf St. Domingo zu bewegen, indem er zugleich 6000 Pfund Sterling (120,000 M.) zur Bestreitung der Kosten beilegte.
Niemand wird bezweifeln, daß es für Wilberforce eine Gewissenssache wurde, dieser Bitte zu entsprechen, und mit der ängstlichsten Gewissenhaftigkeit die Leute auszuwählen, die er für die Verhältnisse in St. Domingo als die tüchtigsten und geeignetsten ansah. Allein es waren fruchtlose Bemühungen; denn im Jahre 1820 erschoß sich König Heinrich I. bei einem Aufstande, welcher sich gegen ihn wegen allzu strenge geübter Gerechtigkeit erhob, und die ganze Insel kam nun unter die Herrschaft eines Mulatten Boyer.
Wilberforce, der sich bei dem Kongresse zu Aachen im Jahre 1818, allerdings vergeblich, bemüht hatte, für seinen König Heinrich I. die Anerkennung der europäischen Mächte zu erlangen, betrauerte es tief, daß der für die Bildung seiner Schwarzen so eifrige Mann ein solches Ende nahm und machte sich sogar Vorwürfe darüber, daß er für dessen christliche Bildung nicht genug gethan und gebetet habe.
Auf dem Kongresse zu Aachen waren zwar die Bemühungen, die Wilberforce gemacht hatte, um zu erringen, daß von seiten der dort tagenden europäischen Mächte der Sklavenhandel, von dem er nur zu gut wußte, daß derselbenach wie vor weiter betrieben würde, nun in der That mit der Seeräuberei auf gleiche Linie gestellt würde, von keinem Erfolge gekrönt, aber die deshalb geführten Verhandlungen hatten doch das Gute gehabt, daß den Mächten einmal wieder die Scheußlichkeiten des Sklavenhandels recht in Erinnerung gebracht wurden. Wilberforce hatte sich noch einmal schriftlich an den Kaiser von Rußland gewendet, aber wie sehr auch dieser, wie sehr auch die englischen Bevollmächtigten bei dem Kongresse sich darum bemühten, es konnte weder hier in Aachen, noch auch auf dem 4 Jahre später stattfindenden Kongresse zu Verona die allgemeine Erklärung des Sklavenhandels für Seeraub erlangt werden.
Auch die »Registerbill«, obschon wiederholt von Wilberforce im Parlamente eingebracht und warm befürwortet, konnte nicht zur Annahme gelangen. Sie scheiterte stets an dem hitzigen Widerstande der »Westindier« und an ihrer steif festgehaltenen und deshalb von Vielen als richtig angesehenen Behauptung, daß die westindischen Kolonieen dadurch in ihrem Bestande gefährdet und dadurch auch England selbst schwer geschädigt werden würde. Die Verhandlungen darüber machten es aber allen Sklavenfreunden immer mehr zur unbestreitbaren Gewißheit, daß nur durch völlige Aufhebung der Sklaverei den entsetzlichen Grausamkeiten gegen die armen Neger ein Ende gemacht werden könne.
Vorläufig war jedoch für Wilberforce noch nicht daran zu denken, mit einem bestimmten dahin zielenden Antrage vor das Parlament zu treten. Die öffentliche Meinung in England war dafür noch nicht reif genug. Aber seine Papiere aus dieser Zeit geben Zeugnis davon, wie er sich fortwährend mit dem großen, edlen Gedanken beschäftigteund unablässig auf Maßregeln sann, wie vorläufig wenigstens das Elend der armen Schwarzen gelindert werden könne. Er mußte eben in seiner heiligen Sache wirken, so lange es Tag für ihn war, und die 60 Lebensjahre, die er nun schon auf dem Nacken trug, mußten ihm von Tag zu Tage mehr eine Mahnung daran werden, daß es für ihn nicht mehr weit bis zum Lebensabende und bis zu der Nacht sei, da niemand mehr wirken kann. Auch fühlte er, der eigentlich niemals recht gesund und kräftig gewesen war, deutlich, daß seine Lebenskraft sehr in der Abnahme begriffen sei, und daß er nicht mehr so wie früher in allen Angelegenheiten des Parlaments die ganze Arbeitskraft einsetzen könne und dürfe, wenn er für diejenige, welche ihm am meisten am Herzen lag, noch ein wenig Kraft behalten wolle.
Nur in Einer Angelegenheit, die mit seiner Sklavensache in keinem näheren Zusammenhange stand, konnte er es nicht lassen, wieder in die erste Reihe der Parlamentsredner einzutreten, weil sie ihm überaus wichtig erschien und im ganzen Lande große Aufregung verursachte.
Der Prinz-Regent, welcher für seinen dem völligen Wahnsinne anheimgefallenen und dazu noch erblindeten Vater Georg III. schon seit 1811 die Regierung führte, lebte mit seiner Gemahlin, einer braunschweigischen Prinzessin, in einer höchst unglücklichen Ehe, und es kam so weit, daß die Königin, die schon längst getrennt von ihrem Gemahle lebte, endlich die gänzliche gesetzliche Scheidung ihrer Ehe beantragte.
Wilberforce, dessen sittliches Gefühl sich dagegen sträubte, daß dem Volke von höchster Stelle aus solch ein böses Beispiel gegeben werden sollte und der, wenn die Scheidung der königlichen Ehe wirklich erfolgte, davon einen beklagenswertenNachteil für die öffentliche Sittlichkeit befürchtete, bot im Parlamente alles auf, die Scheidung zu verhindern. Er fragte nichts danach, daß er sich dadurch das Mißfallen der Königin zuzog. Allein die Hartnäckigkeit dieser ließ jeden Vergleich zwischen den beiden Gatten vergeblich erscheinen, und es wäre wohl sicher zum Vollzug der Scheidung gekommen, wenn nicht im August 1821 der Tod der Königin eingetreten wäre. Auch hierbei zeigte es sich wieder recht klar, wie Wilberforce weder nach rechts noch nach links sah, wenn ihm sein Weg durch eine klar erkannte Pflicht vorgezeichnet war. Denn nicht blos, daß er durch sein Auftreten im Parlamente bei der Ehescheidungs-Verhandlung die Gunst der Königin aufs Spiel setzte, nein er lief auch dadurch Gefahr, wieder in die Ungunst des Volkes zu geraten. Denn dieses stand in seiner großen Mehrzahl auf der Seite der Königin gegen den König, welcher sich durch sein zügelloses Leben, sowie auch durch seine Regierungsgrundsätze bei dem Volke äußerst mißliebig gemacht hatte und schon einmal von einem wütenden Volkshaufen thätlich angegriffen worden war.
In seinem häuslichen Leben erlitt jetzt Wilberforce einen empfindlichen Verlust durch den Tod seiner ältesten Tochter Barbara. Dieselbe war schon im Jahre vorher kurz nach der Verheiratung des ältesten Bruders und um eben die Zeit, da Isaak Milner starb, schwer erkrankt gewesen, hatte sich aber unter der sorgfältigen, zärtlichen Pflege, welche ihr Vater und Mutter bei Tag und Nacht selbst gewidmet hatten, wieder soweit erholt, daß man sie dem Leben gewonnen glauben durfte. Doch jetzt im Jahre 1821 trat ein Rückfall ein, welchem ihre geschwächten Kräfte nicht gewachsen waren. Der Tod knickte die liebliche Menschenblume,die sich im Lichte des wahren Christentums zu herrlicher Blüte entfaltet hatte.
»Ich werde nie«, so schrieb Wilberforce an einen Freund, »die Zärtlichkeit, den Glauben, die Liebe und die Andacht vergessen, mit welcher sie, nachdem sich auf ihren Wunsch alle Übrigen entfernt hatten, ihr letztes hörbares Gebet für sich und für uns sprach. Gehalten durch eine demütige Hoffnung auf die Gnade Gottes in ihrem Erlöser und Fürsprecher, war sie fähig, ihre Leiden mit Geduld und Ergebung zu tragen und eine Fassung zu bewahren, über welche sie sich selber wunderte. An dem Todestage selbst bat sie, man möge ihren Arzt fragen, ob noch Hoffnung auf Besserung sei, »aber wenn nicht«, fügte sie hinzu, »so ist alles gut«. – Sie starb wie jemand, der einschläft, kaum ein Laut, nicht der geringste Kampf. Ich bin in der Dankbarkeit gegen den Geber alles Guten fast verpflichtet, meine Freunde aufzufordern, daß sie sich mit mir als über ein Zeugnis der göttlichen Gnade freuen. Das Bewußtsein, daß es unserm Kinde wohl ist, ist für uns ein Stärkungsmittel von unschätzbarer Wirksamkeit.«
Die Gedanken und Gefühle, welche Wilberforce am Begräbnistage des geliebten Kindes seinem Tagebuche anvertraute, sind zu bezeichnend für sein inneres Leben, zu bezeichnend besonders für die innige Dankbarkeit gegen Gott, welche sein Herz erfüllte, als daß wir uns enthalten könnten, sie wenigstens teilweise hier mitzuteilen. Es war ein ungewöhnlich kalter Wintertag, an welchem das Begräbnis stattfand, und Wilberforce mußte sich, so schwer es ihm auch wurde, in Rücksicht auf seine schwache Gesundheit enthalten, den Sarg zum Grabe zu geleiten. Aber klagte und weinte er nur daheim? Nein, im Gegenteile.
»Ich sah den Sarg«, schreibt er. »Wie eitel derZierrat, wenn man daran denkt, in welchem Zustand der Erniedrigung sich der Körper befindet, der im Sarge liegt! Bald nachdem der Leichenwagen und unsere lieben Freunde fort waren, bin ich in mein kleines Zimmer gegangen, und hier beschäftige ich mich nun mit Schreiben und mit Gebet, indem ich Gott für seine wunderbare Güte gegen mich preise und meine äußerste Unwürdigkeit beklage. Denn wahrlich, blicke ich auf mein vergangenes Leben zurück und übersehe es; vergleiche ich besonders die zahlreichen, fast unzähligen Beweise von Gottes Freundlichkeit gegen mich damit, wie ich sie vergolten habe: so bin ich überwältigt und kann mit Wahrheit dem Zöllner nachsprechen: »Gott sei mir Sünder gnädig!« – Es ist eine besondere Güte gegen mich, und die fast einzigartigen Vorzüge, die ich genossen habe, was mich so mit Demütigung und Scham erfüllt. Meine Tage erscheinen wenig, wenn ich zurückschaue, aber sie sind eher alles andere gewesen, als böse. Ich bin in allerlei Weise gesegnet worden, und zwar auf bleibende Weise, besonders dadurch, daß ich ein heiteres Gemüt und so reichliche Glücksgüter empfing. – Ich bin so frühe für Hull ins Parlament gekommen, dann für Yorkshire sechsmal erwählt worden und hörte nur auf, für diese Grafschaft Parlamentsglied zu sein, weil ich selbst diese Stellung aufgab. Ich bin zum Werkzeuge erwählt worden, die Abschaffung des Sklavenhandels vorzubringen; ich habe mächtig der Sache des Christentums in Indien helfen können; ich bin nie in üblen Ruf gebracht, sondern immer bei allen öffentlichen Geschäften unterstützt worden. Ich entging der Lebensgefahr durch eine plötzliche Beihülfe der Vorsehung. Man hat mich nie beschimpft, weil ich mich weigerte, mich zu duellieren. – Ich habe mich so spät, 37 Jahre alt, verheiratetund doch eine der liebevollsten Frauen gefunden. Ich habe 6 Kinder gehabt, welche alle auf das äußerste an mir hangen. Obgleich uns unsere teure Barbara entrissen ist, so haben doch im ganzen wenige Menschen solchen Grund zur Dankbarkeit wegen der Kinder, die immer lauter Liebe gegen mich waren. – Kein Mensch hat wohl je so viele liebe Freunde gehabt; sie überwältigen mich ganz mit ihrer Güte und zeigen, daß es weise war, Freundschaften mit Männern meines Ranges zu pflegen, vor allem religiöse Menschen zu Freunden zu wählen. Die Großen und Edlen behandeln mich jetzt alle mit Achtung, weil sie sehen, daß ich unabhängig von ihnen bin, und einige, glaube ich, fühlen eine wahre Anhänglichkeit an mich. – Ferner habe ich Gaben genug, um mir Ansehen zu erwerben, wie durch die natürliche Gabe, öffentlich zu reden, obwohl mich mein Augenübel leider beim Studieren wie beim Schreiben hindert. – Ferner bin ich zu einem Werkzeuge gemacht worden, viel geistliches Gute durch mein Werk über das Christentum zu stiften. Wie viele haben mir mitgeteilt, es sei für sie das Mittel gewesen, daß sie sich Gott zugewendet haben!«
Aber wie weit entfernt ist Wilberforce von Stolz und Selbstüberhebung bei dieser Aufzählung der ihm verliehenen Gaben und der von ihm geübten Wirksamkeit! Wie sieht er vielmehr alles als Gnadengaben und Gnadenwirkungen von oben herab an und gibt in tiefster Demut dem Herrn allein die Ehre dafür!
»Und das alles,« so bekennt er, »dauert nun schon so lange, obgleich ich Gott so viele Ursache gegeben habe, es mir zu nehmen! Diese zu nennen, gehört nicht hierher, aber mein Herz weiß und fühlt sie und wird sie hoffentlich immer fühlen. Es ist aber eine große Gnade, daßGott mich befähigt hat, einen reinen gleichmäßigen äußeren Wandel zu führen, sodaß ich meinem christlichen Bekenntnisse niemals Schande gemacht habe. Lobe den Herrn, meine Seele! Und nun, Herr, will ich mich noch feierlicher und entschlossener Dir weihen, und wünsche, noch mehr, als ich es je gethan habe, meine Fähigkeiten zu Deiner Ehre und in Deinem Dienste anzuwenden.«
Gewiß eine eigentümliche Totenfeier am Begräbnistage eines lieben Kindes! Aber wer könnte zweifeln, daß es dadurch dem tiefbetrübten Vater möglich wurde, seinen großen menschlichen Schmerz unter die Füße zu treten und sich zu dem Worte Hiobs aufzuschwingen: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!?«