18Von Taberg nach Huskvarna

Freitag, 15. April

Der Junge wachte fast die ganze Nacht hindurch, aber gegen Morgen schlief er ein, und da träumte er von seinem Vater und seiner Mutter. Er konnte sie kaum wieder erkennen, denn sie hatten beide graues Haar bekommen, und ihre Gesichter waren alt und runzlig geworden. Er fragte sie, woher das komme, und sie sagten, sie seien so gealtert, weil sie so bittres Heimweh nach ihm gehabt hätten. Dies rührte ihn, aber es verwunderte ihn auch, denn er hatte immer geglaubt, sie würden sich nur freuen, ihn los zu sein.

Als der Junge erwachte, war es Morgen und helles schönes Wetter draußen. Zuerst aß er selbst ein Stück Brot, das er in der Stube fand, dann gab er der Kuh und den Gänsen ihr Morgenfutter, zuletzt machte er die Stalltür auf und sagte zu der Kuh, sie solle sich nach dem nächsten Hof begeben. Wenn sie allein daherkomme, würden die Nachbarn schon erraten, wie es bei ihrer Hausmutter stehe. Sie würden dann herbeieilen, um nach ihr zu sehen, da würden sie den Leichnam finden und ihn begraben.

Kaum hatte die kleine Gesellschaft sich in die Lüfte erhoben, als sie auch schon einen hohen Berg mit fast senkrechten Wänden und einem flachen Gipfel sahen. Das mußte der Taberg sein. Und richtig, auf dem Berggipfel standen Akka, Yksi und Kaksi, Kolme und Neljä, Viisi und Kuusi, sowie die sechs jungen Gänse, und alle warteten auf die drei Ankömmlinge. Das war eine Freude, als sie sahen, daß es dem Gänserich und Daunenfein gelungen war, Däumling zu finden! Es erhob sich ein Geschnatter und Flügelschlagen und Hin- und Herfragen, das gar nicht beschrieben werden kann.

Der Taberg ist ziemlich hoch hinauf mit Wald bestanden, aber oben auf dem Gipfel ist er ganz kahl, und von da aus kann man nach allen Seiten hin weitumherschauen. Gegen Osten, Süden und Westen bietet sich dem Auge fast nichts dar, als ein armes bergiges Hochland mit dunklen Tannenwäldern, braunen Mooren, eisbedeckten Seen und blauenden Bergrücken. Unwillkürlich dachte der Junge, jene Sage über die Erschaffung von Småland müsse doch wohl wahr sein. Wer dieses Land geschaffen, habe sich nicht viele Mühe gegeben, sondern nur flüchtig drauf los gearbeitet. Als der Junge aber nach Norden schaute, da sah er etwas ganz andres. Hier sah das Land aus, als sei es mit der größten Liebe und Fürsorge geschaffen worden. Hier sah der Junge lauter schöne Berge, sanfte Täler, durch die sich Bäche schlängelten bis hin zu dem großen Wetternsee, der eisfrei und hell glänzend dalag und leuchtete, als sei er nicht mit Wasser, sondern mit blauem Licht gefüllt.

Ja, der Wettern war es, der gegen Norden alles so schön machte! Es sah gerade aus, als steige aus dem See ein blauer Schimmer auf, der sich über die Landschaft ausbreitete. Gehölze und Hügel und die Dächer und Türme der Stadt Jönköping lagen von einem blauen Schein umflossen da, den das Auge mit Wohlgefallen betrachtete. „Wenn es im Himmel Länder gibt,“ dachte der Junge, „dann sind sie wohl auch so blau wie dieses hier.“ Und es war ihm, als sei ihm eine Ahnung davon aufgegangen, wie es einst im Paradiese ausgesehen hatte.

Als die Gänse etwas später am Tage ihre Reise fortsetzten, flogen sie dem blauen Tale zu. Sie waren alle in bester Laune, schrieen und lärmten derart, daß alle, die nur Ohren zu hören hatten, auf sie aufmerksam werden mußten.

Dies war nun aber auch der erste so recht schöne Frühlingstag, den sie in diesem Landesteil erlebten. Bis dahin hatte der Frühling seine Arbeit unter Wind und Regen ausgeführt, und als es nun ganz schnell wunderschönes Wetter geworden war, überkam die Menschen drunten auf der Erde eine wahre Sehnsucht nach Sonnenwärme und nach grünen Wäldern, und sie konnten es kaum bei ihrer täglichen Arbeit aushalten. Als jetzt die Wildgänse frei und lustig hoch über ihnen dahinflogen, hielten alle ohne Ausnahme in ihrer Arbeit inne und schauten ihnen nach.

Die ersten, die an diesem Tage die Wildgänse erblickten, waren die Taberger Bergwerkleute, die damit beschäftigt waren, das Erz an der Oberfläche des Berges herauszubrechen. Als die Arbeiter die Wildgänse vernahmen, hörten sie auf, an ihren Sprenglöchern zu bohren, und einer von ihnen rief den Vögeln zu: „Wohin geht die Reise? Wohin geht die Reise?“

Die Gänse verstanden nicht, was er sagte; aber der Junge beugte sich über den Gänserücken vor und antwortete an ihrer Statt: „Dahin, wo es weder Pickel noch Hämmer gibt!“

Als die Grubenarbeiter diese Worte hörten, glaubten sie, ihre eigne Sehnsucht habe das Gänsegeschnatter wie menschliche Worte in ihren Ohren erklingen lassen. „Nehmt uns mit! Nehmt uns mit!“ riefen die Arbeiter.

„Heuer nicht!“ schrie der Junge. „Heuer nicht!“

Die Wildgänse flogen den Tabergfluß entlang nach dem Munksee, und immer noch verführten sie dasselbe Gelärm und Getue. Hier auf dem schmalenLandstreifen zwischen dem Munksee und dem Wettern liegt Jönköping mit seinen großen Fabriken. Zuerst flogen die Gänse über die große Papierfabrik am Munksee hin. Die Mittagspause war eben zu Ende, und große Arbeiterscharen strömten dem Tor der Fabrik zu. Als sie die Wildgänse hörten, blieben sie einen Augenblick horchend stehen. „Wohin geht die Reise? Wohin geht die Reise?“ rief einer von den Arbeitern den Gänsen zu.

Die Wildgänse verstanden nicht, was er sagte, aber an ihrer Statt antwortete der Junge: „Dahin, wo es weder Maschinen noch Dampfkessel gibt!“

Die Arbeiter hörten diese Antwort, aber auch sie glaubten, ihre eigne Sehnsucht lasse ihnen das Gänsegeschnatter wie menschliche Worte erklingen. „Nehmt uns mit! Nehmt uns mit!“ rief eine ganze Menge Arbeiter miteinander.

„Heuer nicht! Heuer nicht!“ entgegnete der Junge.

Dann flogen die Gänse über die großen Zündholzfabriken hin. Groß wie eine Festung erheben sie sich am Ufer des Wettern, und ihre hohen Schornsteine ragen bis zum Himmel auf. Kein Mensch war auf den Höfen zu sehen, aber in einem großen Saal saßen junge Fabrikmädchen und füllten die Zündhölzer in Schachteln. Bei dem schönen Wetter hatten sie ein Fenster geöffnet, und das Rufen der Wildgänse drang zu ihnen herein. Das dem Fenster zunächst sitzende Mädchen beugte sich mit ihrer Zündholzschachtel in der Hand zum Fenster hinaus und rief: „Wohin geht die Reise? Wohin geht die Reise?“

„In ein Land, wo man weder Licht noch Zündhölzer braucht!“ antwortete der Junge.

Das Mädchen meinte freilich, was sie höre, sei nur Gänsegeschnatter, aber ein paar Worte schienen ihr doch klar geworden zu sein, und sie rief als Antwort: „Nehmt mich mit! Nehmt mich mit!“

„Heuer nicht!“ entgegnete der Junge. „Heuer nicht!“

Östlich von den Fabriken liegt Jönköping auf dem herrlichsten Platz, den eine Stadt nur einnehmen kann. Der schmale Wettersee hat auf seiner östlichen und westlichen Seite hohe, steile aus Sand gebildete Ufer, aber gegen Süden sind die Sandmauern eingestürzt, wie um Platz für ein großes Tor zu schaffen, durch das man zum See gelangen kann. Und mitten in dem Tor, mit Bergen rechts und Bergen links, dem Munksee hinter sich und dem Wettersee vor sich, liegt Jönköping.

Die Gänse flogen über die lange, schmale Stadt hin und vollführten auch hier noch immer denselben Lärm wie draußen auf dem Lande. Aber in der Stadt gab lange niemand acht auf sie. Es war nicht zu erwarten, daß die Stadtbewohner auf der Straße stehen bleiben und die Wildgänse anrufen würden. Jetzt flogen diese über der Anlage hin, wo die Büste des Dichters Viktor Rydberg aufgestellt ist. In der Anlage war es still und menschenleer, keine Spaziergänger waren unter den hohen Bäumen zu sehen. Aber plötzlich drang eine kraftvolle Stimme zu den Wildgänsen herauf: „Wohin geht die Reise? Wohin geht die Reise?“

„In das Land, wo es weder Straßen noch Plätze gibt!“ schrie der Junge.

„Nehmt mich mit!“ rief die starke Stimme. Sie klang so kräftig, als ob sie aus einem ehernen Halse käme.

„Heuer nicht! Heuer nicht!“ entgegnete der Junge.

Die Gänse flogen weiter, dem Ufer des Wettern entlang; und nach einer Weile kamen sie an das Sannaer Krankenheim. Einige von den Kranken standen auf einer Veranda, um sich an der Frühlingsluft zu erfreuen, da hörten sie das Gänsegeschnatter. „Wohin geht die Reise? Wohin geht die Reise?“ fragte einer der Kranken mit schwacher kaum vernehmlicher Stimme.

„In ein Land, wo es weder Kummer noch Krankheit gibt!“ antwortete der Junge.

„Nehmt uns mit!“ sagten die Kranken.

„Heuer nicht! Heuer nicht!“ lautete die Antwort.

Als die Schar noch ein Stück weiter geflogen war, kamen sie nach Huskvarna. Dieser Ort liegt in einem Tal; steile, schön geformte Berge stehen rings umher, und in langen, schmalen Wasserfällen kommt ein Bach die Anhöhe herabgerauscht. Große Werkstätten und Fabriken liegen am Fuß der Berge, im Tal breiten sich die von kleinen Gärten umgebenen Arbeiterwohnungen aus, und mitten im Tal erhebt sich ein Schulhaus. In dem Augenblick, wo die Wildgänse vorüberflogen, läutete eine Glocke, und eine Menge Kinder strömte aus der Schule heraus. Es waren ihrer so viele, daß sie den ganzen Schulhof füllten. „Wohin geht die Reise? Wohin geht die Reise?“ riefen die Kinder, als sie die Wildgänse hörten.

„Dahin, wo es weder Bücher noch Aufgaben gibt!“ rief der Junge.

„O, nehmt uns mit! Nehmt uns mit!“ schrien die Kinder.

„Heuer nicht, aber nächstes Jahr!“ erwiderte der Junge. „Heuer nicht, aber nächstes Jahr!“

Am Ostufer des Wettern liegt Omberg, östlich von Omberg liegt Dagsmosse, östlich von Dagsmosse liegt der See Tåkern, und rings um den Tåkern breitet sich die große gleichmäßige Ostgötaebene aus.

Der Tåkern ist ein recht großer See, und in alten Zeiten scheint er noch größer gewesen zu sein. Aber dann meinten die Menschen, er bedecke einen gar zu großen Teil der fruchtbaren Ebene, und sie versuchten das Wasser abzulassen, um den Grund des Sees umzupflügen und Getreide darein zu säen. Es gelang ihnen jedoch nicht, den ganzen See trocken zu legen, wie es wohl ihre Absicht gewesen war; und so bedeckt er noch immer eine große Fläche. Aber seit der See zum erstenmal abgelassen wurde, ist das Wasser an keiner Stelle mehr als einen Meter tief. Die Ufer sind moorig und schlickrig geworden, und auf dem See draußen ragen überall kleine sumpfige Holme über dem Wasser auf.

Doch es gibt jemand, der gern mit den Füßen im Wasser steht, wenn nur sein Körper und Kopf in der Luft sind. Das ist das Schilf, und nirgends gedeiht es besser als an den langgestreckten, seichten Ufern des Tåkern und rings um die kleinen Sumpfholme herum. Ja, es gedeiht da so ausgezeichnet, daß es mehr als mannshoch wird und so dicht wächst, daß sich ein Boot mit knapper Not hindurchzwängen kann. Das Röhricht bildet einen breiten grünen Gürtel um den ganzen See herum, der dadurch nur an ein paar Stellen, wo die Menschen Luft geschafft haben, zugänglich ist.

Aber wenn das Schilf die Menschen vom See ausschließt, so verleiht es dagegen vielen andern Geschöpfen Schutz und Schirm. In dem Schilf selbst gibt es viele Teiche und Kanäle mit grünen stillstehenden Gewässern, wo Wasserlinsen undLaichkraut gedeihen, und wo Mückenlarven, Fischbrut und Kaulquappen in unermeßlichen Mengen ausgebrütet werden. An den Ufern dieser kleinen Teiche und Kanäle gibt es auch eine Menge wohlversteckter Plätze, wo die Seevögel ihre Eier ausbrüten und ihre Jungen füttern können, ohne von Feinden bedroht oder von Nahrungssorgen geplagt zu sein.

Es wohnt auch eine unglaubliche Menge Vögel in diesem Röhricht, und deren Zahl nimmt mit jedem Jahre zu, je mehr es bekannt wird, was für ein prächtiger Aufenthaltsort das ist. Die ersten, die sich am Tåkern niedergelassen haben, sind die Wildenten, die auch heute noch zu Tausenden da wohnen. Aber jetzt haben sie nicht mehr den ganzen See für sich allein, sie müssen ihn mit Schwänen, Tauchern, Bläßhühnern, Seetauchern, Löffelenten und vielen andern teilen.

Der Tåkern ist sicherlich der größte und ausgezeichnetste Vogelsee im ganzen Land, und die Vögel müssen sich glücklich preisen, so lange sie einen solchen Aufenthaltsort besitzen. Aber es ist ungewiß, wie lange sie die Herrschaft über die Röhrichtstrecken behalten dürfen, denn die Menschen können nicht vergessen, daß sich der See über eine bedeutende Strecke guten, fruchtbaren Landes erstreckt, und einmal übers andre taucht wieder der Vorschlag unter ihnen auf, den See trocken zu legen. Und wenn dieser Vorschlag verwirklicht würde, dann müßten die vielen tausend Vögel die Gegend verlassen.

Zu der Zeit, wo Nils Holgersson mit den Wildgänsen umherzog, wohnte am Tåkern ein Wildenterich namens Jarro. Er war noch jung und hatte erst einen Sommer, einen Herbst und einen Winter erlebt. Das war sein erster Frühling. Er war erst kürzlich von Nordafrika zurückgekehrt, und zwar sehr frühzeitig, denn als er am Tåkern anlangte, war dieser noch mit Eis bedeckt.

Eines Abends, als Jarro und die andern jungen Erpel sich damit vergnügten, in ununterbrochenem Flug über dem See hin und her zu fliegen, erklangen plötzlich ein paar Schüsse, und Jarro wurde in die Brust getroffen. Er glaubte, er müsse sterben; aber damit der Jäger, der auf ihn geschossen hatte, ihn nicht finden und verspeisen solle, flog er weiter, so lange er nur konnte. Er überlegte nicht, wohin er flog, sondern suchte nur das Weite. Als ihn dann die Kräfte verließen und seine Flugkraft erlahmte, befand er sich nicht mehr über dem See, sondern über einem der großen Bauernhöfe am Tåkernstrand, und zum Tode erschöpft, sank er gerade vor dem Eingang dieses Hofes zu Boden.

Kurz darauf ging ein junger Knecht über den Hof. Er sah Jarro und hob ihn auf. Aber Jarro, der nur noch in Frieden zu sterben wünschte, nahm seine letzten Kräfte zusammen und biß den Knecht derb in den Finger, damit er ihn loslasse.

Doch es gelang Jarro nicht, sich freizumachen; aber sein Angriff hatte doch etwas Gutes, denn der Knecht merkte, daß Jarro nicht tot war. Ganz behutsam trug er ihn ins Haus hinein und zeigte ihn der Hofbäuerin, einer jungen Frau mit einem freundlichen Gesicht. Sie nahm dem Knecht Jarro sogleich ab,streichelte ihm den Rücken und trocknete ihm das Blut ab, das zwischen dem Flaum an seinem Hals hervorsickerte. Dann betrachtete sie ihn sehr genau, und als sie sah, wie schön er war mit seinem dunkelgrünen glänzenden Kopf, seinem weißen Halsband, seinem braunroten Rücken und seinen blauen Flügeldecken, dachte sie schließlich, es wäre schade, wenn er sterben müßte. Rasch richtete sie einen Korb her und bettete Jarro darein.

Jarro hatte die ganze Zeit mit den Flügeln geschlagen und loszukommen versucht, als er aber merkte, daß die Menschen ihn nicht umbringen wollten, legte er sich mit einem Gefühl des Wohlbehagens in dem Korbe zurecht. Jetzt erst fühlte er, wie ermattet er von den Schmerzen und dem Blutverluste war. Die Hausfrau nahm den Korb auf, um ihn in eine Ecke am Herd zu tragen; aber ehe sie ihn niedersetzte, hatte Jarro schon die Augen geschlossen und war eingeschlafen.

Nach einer Weile erwachte Jarro dadurch, daß ihn jemand leise anstieß. Als er die Augen aufschlug, erschrak er so fürchterlich, daß ihm beinahe das Bewußtsein schwand. Jetzt war er verloren, denn vor ihm stand einer, der für ihn gefährlicher war als Menschen und Raubvögel. Niemand anders als Cäsar selbst, der langhaarige Hühnerhund, stand vor ihm und beroch ihn.

Welche geradezu erbarmungswürdige Angst hatte nicht Jarro im vorigen Sommer ausgestanden, so oft er, als ein kleines mit gelbem Flaum bedecktes Junges, den Ruf über das Röhricht hin ertönen hörte: „Cäsar kommt! Cäsar kommt!“ Und wenn er den braun- und weißgefleckten Hund mit dem zähnefletschenden Maul durch das Schilf waten sah, glaubte er den Tod selbst vor sich zu sehen. Er hatte immer gehofft, die Stunde werde er nie erleben müssen, wo Cäsar ihm Auge in Auge gegenüberstehe.

Und jetzt hatte er zu seinem Unglück gerade in den Hof hinabfallen müssen, wo Cäsar daheim war, denn dieser stand vor ihm! „Was bist du denn für einer?“ brummte Cäsar. „Wie bist du denn ins Haus hereingekommen? Bist du nicht drunten im Röhricht daheim?“

Nur mit knapper Not brachte Jarro die Worte heraus: „Sei mir nicht böse, Cäsar, daß ich ins Haus hereingekommen bin! Ich kann nichts dafür. Eine Kugel hat mich getroffen, und die Menschen selbst haben mich in diesen Korb gebettet.“

„So, so, die Menschen selbst haben dich in den Korb gelegt,“ sagte Cäsar. „Dann haben sie gewiß die Absicht, dich zu heilen, obgleich sie meiner Meinung nach klüger daran täten, dich zu verspeisen, solange du in ihrer Macht bist. Aber hier im Hause herrscht jedenfalls Burgfriede. Du brauchst nicht so angstvoll auszusehen, wir sind jetzt nicht auf dem Tåkern.“

Damit machte Cäsar kehrt und legte sich vor dem flammenden Herdfeuer zum Schlafen nieder. Sobald Jarro begriff, daß diese gräßliche Gefahr überstanden war, überfiel ihn die große Mattigkeit aufs neue, und er schlief wieder ein.

Als Jarro wieder erwachte, sah er ein Gefäß mit Grütze und Wasser neben sich stehen. Er fühlte sich zwar noch sehr krank, aber Hunger hatte ertrotzdem, und so begann er zu fressen. Als die Hausmutter sah, daß es ihm schmeckte, trat sie herzu, streichelte ihn und sah sehr vergnügt aus. Hierauf schlief Jarro abermals ein; mehrere Tage lang tat er nichts als essen und schlafen.

Eines Morgens aber fühlte er sich so gesund, daß er aus dem Korb herausstieg und auf dem Boden hinlief. Aber er war noch nicht weit gekommen, als er auch schon umfiel und nicht mehr aufstehen konnte. Da kam Cäsar herbei, öffnete sein großes Maul und packte ihn. Jarro glaubte natürlich, der Hund wolle ihn totbeißen; aber Cäsar trug ihn in seinen Korb zurück, ohne ihm etwas zuleide zu tun. Dadurch faßte Jarro großes Vertrauen zu Cäsar; ja, bei seinem nächsten Gehversuch ging er geradewegs zu dem Hunde hin und legte sich neben ihn. Von da an waren die beiden gute Freunde, und Jarro lag jeden Tag ganz ruhig schlafend zwischen Cäsars Pfoten.

Aber noch größere Hingabe als für Cäsar fühlte Jarro für die Hausfrau. Vor ihr fürchtete er sich auch nicht im geringsten, er rieb sogar seinen Kopf an ihrer Hand, so oft sie ihm sein Futter brachte. Wenn sie aus dem Zimmer ging, seufzte er schmerzlich, und wenn sie wieder eintrat, hieß er sie in seiner eignen Sprache willkommen.

Jarro vergaß vollständig, wie sehr er sich früher vor den Hunden und den Menschen gefürchtet hatte. Sie kamen ihm sanft und gut vor, er liebte sie und wünschte sehnlichst, gesund zu sein, um drunten am Tåkern den Wildenten erzählen zu können, daß ihre alten Feinde durchaus nicht gefährlich seien und sie sich ganz und gar nicht vor ihnen zu fürchten brauchten.

Jarro hatte herausgefunden, daß die Menschen hier in dem Hause und auch Cäsar vertrauenerweckende Augen hatten, in die hineinzuschauen einem wohl tat. Die einzige im Hause, deren Augen er nicht gern begegnete, war Klaurina, die Hauskatze. Sie tat ihm zwar nichts zuleide, aber er konnte nun einmal kein Vertrauen zu ihr fassen. Sie zankte sich auch immer mit ihm, weil er die Menschen lieb hatte. „Du meinst, sie sorgten für dich, weil sie dich lieb hätten,“ sagte Klaurina. „Warte nur, bis du ordentlich fett bist, dann drehen sie dir den Kragen um. Ich kenne sie, jawohl.“

Jarro hatte wie alle Vögel ein weiches, versöhnliches Herz, und wenn er die Katze so reden hörte, wurde er tief betrübt. Die Hausfrau sollte ihm den Kragen umdrehen wollen! Nein, das konnte er nicht von ihr glauben, ebensowenig als er so etwas von ihrem Söhnchen glauben würde, einem kleinen Jungen, der mit ihm schäkernd und plaudernd stundenlang neben seinem Korbe saß. Die beiden liebten ihn gewiß ebenso ehrlich wie er sie, dessen glaubte er sicher zu sein.

Eines Tages, als Jarro und Cäsar auf ihrem gewohnten Platze vor dem Herde lagen, saß Klaurina auf der Herdplatte und begann mit der Wildente zu zanken.

„Ich möchte wohl wissen, was ihr Wildenten im nächsten Jahre tun werdet, wenn der Tåkern trocken gelegt und in Äcker verwandelt wird?“ sagte die Katze.

„Was sagst du da, Klaurina?“ rief Jarro und sprang entsetzt auf.

„Jaso, Jarro, ich vergesse immer wieder, daß du die menschliche Sprache nicht so gut verstehst wie ich und Cäsar,“ erwiderte die Katze, „sonst wüßtest du doch, was die Männer, die gestern hier waren, gesprochen haben. Sie sagten, das Wasser des Tåkern solle abgelassen werden, und im nächsten Jahre werde der Grund des Sees beinahe so trocken sein wie ein Stubenboden. Deshalb möchte ich wissen, wohin ihr Wildenten euch dann begeben wollt?“

Als Jarro diese Rede hörte, geriet er in einen fürchterlichen Zorn. Wie eine Schlange zischend fuhr er die Katze an. „Du bist boshaft wie ein Bläßhuhn und willst mich nur gegen die Menschen aufhetzen. Ich glaube gar nicht, daß sie so etwas im Sinne haben, denn der See ist das Eigentum der Wildenten, und das müssen die Menschen doch wissen. Warum sollten sie so viele Vögel heimatlos und unglücklich machen wollen? Du hast gewiß das alles nur ausgeheckt, um mir Angst zu machen. Ich wollte, Gorgo, der Adler, würde dich zerfleischen, ja, ich wollte, die Hausfrau schnitte dir deinen Schnurrbart ab!“

Aber mit diesem Ausfall konnte Jarro die Katze nicht zum Schweigen bringen. „So, du meinst also, ich lüge?“ sagte sie. „Dann frage doch Cäsar. Er war gestern Abend auch hier in der Stube, und Cäsar lügt nie.“

„Cäsar,“ wendete sich Jarro an den Hund, „du verstehst die Sprache der Menschen viel besser als Klaurina. Sage, daß sie nicht recht verstanden hat! Bedenke doch, was geschehen würde, wenn die Menschen den Tåkern trocken legten und den Seegrund in Äcker verwandelten! Dann gäbe es doch für die erwachsenen Enten weder Wasserlinsen noch Laichkraut und für die jungen Entlein keine Fischbrut, keine Kaulquappen und keine Mückenlarven mehr. Dann würde auch das Röhricht verschwinden, wo die kleinen Entlein sich verstecken können, bis sie fliegen gelernt haben. Alle Enten müßten ja fortziehen und sich einen andern Aufenthalt suchen. Aber wo sollten sie einen solchen Zufluchtsort finden wie den Tåkern? Cäsar, sag, daß Klaurina nicht recht gehört hat!“

Cäsars Benehmen während dieser Anrede war im höchsten Grade sonderbar. Er war vorher hellwach gewesen; aber als Jarro sich an ihn wendete, gähnte er, legte seine lange Nase auf seine Vorderpfoten, und im nächsten Augenblick lag er im tiefsten Schlafe.

Mit einem durchtriebenen Lächeln sah die Katze auf Cäsar hinunter. „Ich glaube, Cäsar hat keine Lust, dir zu antworten,“ sagte sie zu Jarro. „Er ist gerade wie alle andern Hunde; sie wollen nie zugeben, daß die Menschen unrecht tun können. Aber du kannst dich auf mein Wort unbedingt verlassen. Und ich will dir auch sagen, warum die Menschen den See austrocknen wollen. Wenn ihr Wildenten die Herrschaft über den See noch hättet, würden sie ihn nicht ablassen, denn von euch haben sie doch noch einen gewissen Nutzen.

Aber jetzt haben ja die Taucher und die Bläßhühner und andre Vögel, die den Menschen nicht zur Nahrung dienen, beinahe das ganze Röhricht besetzt, und derentwegen meinen sie den See nicht beibehalten zu müssen.“

Jarro würdigte die Katze keiner Antwort mehr, aber er hob den Kopfund schrie Cäsar ins Ohr: „Cäsar! Cäsar! Auf dem Tåkern gibt es noch so viele Enten, daß sie die Luft wie mit Wolken erfüllen, das weißt du wohl! Darum sag, daß es nicht wahr ist! Nein, die Menschen können nicht im Sinn haben, uns heimatlos zu machen!“

Jetzt sprang Cäsar auf und fuhr so heftig auf Klaurina los, daß diese sich auf ein Wandbrett flüchten mußte. „Ich werde dich lehren, still zu sein, wenn ich schlafen will!“ donnerte er sie an. „Natürlich weiß ich, daß es sich darum handelt, den See in diesem Jahre abzulassen. Aber man hat ja schon so oft über diese Sache gesprochen, ohne daß sie je verwirklicht worden wäre. Und dieses Trockenlegen des Sees ist etwas, was ich durchaus nicht billige. Denn wie sollte es mit der Jagd gehen, wenn der Tåkern ausgetrocknet würde? Du bist ein Simpel, wenn du dich über so etwas freust. Was haben wir denn dann noch für ein Vergnügen, wenn es keine Vögel mehr auf dem Tåkern gibt?“

Sonntag, 17. April

Ein paar Tage später war Jarro fast hergestellt, und er konnte schon durchs ganze Zimmer fliegen. Er wurde denn auch von der Hausfrau gestreichelt, und der kleine Junge pflückte die ersten hervorsprießenden Grashälmchen für ihn. Während die Hausfrau ihn streichelte, dachte Jarro, obgleich er jetzt wieder so gesund war, daß er, sobald es ihm beliebte, an den Tåkern hätte hinabfliegen können, er wolle sich doch noch nicht von den Menschen trennen, ja, am liebsten möchte er sein ganzes Leben lang bei ihnen bleiben.

Aber eines Morgens in aller Frühe legte die Hausmutter eine Halfter oder Schlinge um Jarro, die ihn am Gebrauch seiner Flügel hinderte, und dann übergab sie ihn jenem Knecht, der ihn damals auf dem Hofe gefunden hatte. Der Knecht nahm ihn unter den Arm und ging mit ihm zum Tåkern hinunter.

Während Jarro krank lag, war das Eis geschmolzen. Das alte vertrocknete Röhricht vom vorigen Jahre stand noch an den Ufern und Holmen, aber alle Wasserpflanzen hatten in der Tiefe Schößlinge getrieben, und die grünen Spitzen reichten schon bis zur Oberfläche des Wassers. Und jetzt waren fast alle Zugvögel zurückgekehrt. Die gebogenen Schnäbel der Scharben sahen aus dem Schilf hervor, die Taucher schwammen mit einem neuen Halskragen umher, und die Bekassinen sammelten eifrig Stroh zu ihren Nestern.

Der Knecht bestieg einen Kahn, legte Jarro auf den Boden und begann in den See hinauszustechen. Jarro, der sich jetzt daran gewöhnt hatte, nur Gutes von den Menschen zu erwarten, sagte zu Cäsar, der auch dabei war, er sei dem Knecht sehr dankbar, daß er ihn auf den See hinausfahre. Aberder Knecht hätte ihn nicht so fest zu fesseln brauchen, denn er wolle den Menschen gar nicht entfliehen. Cäsar gab keine Antwort, er war an diesem Morgen äußerst wortkarg.

Das einzige, was Jarro ein wenig sonderbar vorkam, war, daß der Knecht seine Flinte mitgenommen hatte. Die guten Leute auf dem Hofe würden doch sicherlich keine Vögel schießen wollen. Und außerdem hatte ihm Cäsar gesagt, die Menschen gingen in dieser Jahreszeit nicht auf die Jagd. „Es ist Schonzeit,“ hatte er gesagt, „obgleich das für mich natürlich nicht gilt.“

Der Knecht ruderte zu einem der schilfumkränzten Sumpfholme hinüber. Hier stieg er aus, schichtete altes Röhricht zu einem großen Haufen zusammen und legte sich dahinter nieder. Die Schlinge um die Flügel und mit einer langen Schnur an das Boot angebunden, durfte Jarro umhergehen.

Plötzlich erblickte dieser einige von den jungen Wildenten, in deren Gesellschaft er früher um die Wette über den See hin und her geschwommen war. Sie waren weit entfernt, aber Jarro rief sie mit einigen lauten Rufen herbei. Sie gaben ihm Antwort, und eine große schöne Schar näherte sich ihm. Bevor sie noch herangekommen war, begann Jarro von seiner wunderbaren Errettung und von der Güte der Menschen zu berichten. Aber schon knallten zwei Schüsse hinter ihm. Drei Enten sanken tot ins Röhricht. Cäsar platschte hinaus und fing sie auf.

Da verstand Jarro – die Menschen hatten ihn gerettet, um ihn als Lockvogel zu gebrauchen. Und das war ihnen auch geglückt. Drei Enten hatten um seinetwillen sterben müssen.

Es war ihm, als müsse er vor Scham selbst sterben, ja, es war ihm, als ob ihn auch sein Freund Cäsar verächtlich ansehe; und als sie wieder in der Stube waren, wagte er nicht mehr, sich neben den Hund zu legen.

Am nächsten Morgen wurde Jarro abermals an den kleinen Holm gebracht. Auch diesmal gewahrte er bald einige Enten. Als er sie aber auf sich zufliegen sah, rief er ihnen zu: „Fort! Fort! Nehmt euch in acht! Fliegt wo anders hin! Hinter dem Schilfhaufen liegt ein Jäger im Hinterhalt! Ich bin nur ein Lockvogel!“ Und es gelang ihm wirklich, die Enten zu verhindern, in Schußweite heranzukommen.

Jarro hatte kaum Zeit, ein Grashälmchen zu verzehren, so eifrig war er auf der Wacht. Sobald sich ein Vogel näherte, schrie er ihm seinen Warnungsruf entgegen; er warnte sogar auch Taucher und Bläßhühner, obgleich er sie verabscheute, weil sie die Enten aus ihren besten Verstecken verdrängten. Aber seinetwegen sollte gewiß kein einziger Vogel ins Unglück geraten. Und dank Jarros Wachsamkeit mußte der Knecht heimkehren, ohne Gelegenheit zu einem einzigen Schuß bekommen zu haben.

Dessenungeachtet sah Cäsar weniger mißvergnügt aus als am Tage vorher; und als es Abend wurde, nahm er Jarro ins Maul, trug ihn zum Herd hin und ließ ihn zwischen seinen Vorderpfoten schlafen.

Aber Jarro fühlte sich nicht mehr behaglich in der Stube; er war tief unglücklich, und das Herz tat ihm weh bei dem Gedanken, daß die Menschen ihn nie lieb gehabt hätten. Wenn jetzt die Hausfrau oder der kleine Junge ihn streichelten, steckte er den Schnabel unter den Flügel und tat, als ob er schliefe.

Mehrere Tage hatte Jarro seine traurige Wacht gehalten, und man kannte ihn schon am ganzen Tåkern. Eines Morgens, als er wie gewöhnlich rief: „Nehmt euch in acht, ihr Vögel! Kommt mir nicht nahe! Ich bin nur ein Lockvogel!“ sah er auf einmal ein Tauchernest daherschwimmen. Dies war nun nichts besonders Merkwürdiges; es war ein Nest vom vorigen Jahre, und da die Tauchernester so gebaut sind, daß sie wie Boote auf dem Wasser schwimmen können, treibt häufig eines auf den See hinaus. Aber Jarro blieb doch stehen und betrachtete es, denn es schwamm geradeswegs auf den Holm zu, als ob es jemand über das Wasser steuere.

Als es näher kam, sah Jarro, daß ein kleiner Mensch, der kleinste, den er je gesehen hatte, in dem Nest saß und mit zwei Stäbchen ruderte. Und dieses Menschlein rief ihm zu: „Komm so nahe ans Wasser heran, als du kannst, Jarro, und halte dich zum Fliegen bereit! Du wirst bald befreit werden.“

Einige Augenblicke später lag das Nest am Land, aber der kleine Ruderer verließ es nicht, sondern saß ganz still zwischen Zweigen und Halmen verborgen. Jarro verhielt sich auch beinahe regungslos. Der Gedanke, frei zu werden und seinem Unglück entfliehen zu können, hatte ihn förmlich gelähmt.

Das nächste, was geschah, war, daß eine Schar Wildgänse daherflog. Da kam Jarro wieder zu sich, und er warnte sie mit lauten Rufen; aber dessenungeachtet flogen sie mehrere Male über dem Holm hin und her. Sie hielten sich so hoch in der Luft, daß sie außer Schußweite waren; aber der Knecht ließ sich trotzdem verleiten, ein paar Schüsse auf sie abzugeben. Kaum waren diese abgefeuert, als der kleine Knirps auf und ans Land sprang, ein kleines Messer aus der Scheide zog und mit einem raschen Schnitt Jarros Schlinge löste. „Flieg nun davon, Jarro, ehe der Knecht wieder geladen hat!“ rief er, während er selbst in das Nest zurücksprang und vom Lande abstieß. Der Jäger hatte die Augen auf die Gänse gerichtet und daher nicht gemerkt, daß Jarro befreit worden war. Aber Cäsar hatte besser acht gegeben, und gerade als Jarro die Flügel hob, stürzte er herbei und packte ihn im Nacken.

Jarro schrie zum Erbarmen, aber der Knirps, der ihn befreit hatte, sagte mit der größten Ruhe zu Cäsar: „Wenn deine Gesinnung so edel ist wie dein Aussehen, so kannst du nicht jemand bei einer so gemeinen Beschäftigung, ein Lockvogel zu sein, zurückhalten wollen.“

Als Cäsar diese Worte hörte, grinste er boshaft mit der Oberlippe, aber nach einem Augenblick ließ er Jarro los. „Flieg, Jarro!“ sagte er. „Du bist wirklich zu gut zu einem Lockvogel. Ich wollte dich auch nicht deshalb zurückhalten, sondern weil die Stube ohne dich so leer sein wird.“

Mittwoch, 20. April

In der Bauernstube war es wirklich sehr leer, als Jarro nicht mehr da war. Dem Hund und der Katze wurde die Zeit lang, weil sie sich nicht mehr miteinander über ihn streiten konnten, und die Hausfrau vermißte das fröhliche Geschnatter, das Jarro angestimmt hatte, so oft sie ins Zimmer trat. Am meisten Heimweh nach ihm hatte aber doch der kleine Junge Per Ola. Per Ola war erst drei Jahre alt und überdies das einzige Kind, und er hatte noch nie einen so guten Spielkameraden gehabt wie Jarro. Als man Per Ola sagte, Jarro sei zu den andern Enten auf den Tåkern zurückgekehrt, wollte er sich mit dieser Nachricht nicht zufrieden geben, sondern dachte immerfort darüber nach, wie er wohl den guten Jarro wieder bekommen könnte.

Per Ola hatte sehr oft mit Jarro geplaudert, während dieser in seinem Korb lag, und das Kind war fest überzeugt, daß ihn der Erpel immer verstanden habe. Er bat die Mutter, mit ihm an den See hinunterzugehen, denn er wolle Jarro aufsuchen und ihn überreden, wieder zu ihnen zu kommen. Die Mutter wollte davon nichts hören, aber deshalb gab Per Ola sein Vorhaben nicht auf.

Am Tag, nachdem Jarro verschwunden war, spielte Per Ola draußen im Garten. Wie gewöhnlich spielte er ganz allein; aber Cäsar lag auf der Treppe, und als die Mutter Per Ola herausgebracht hatte, hatte sie zu dem Hunde gesagt: „Gib auf Per Ola acht, Cäsar!“

Wenn nun alles wie sonst gewesen wäre, hätte Cäsar auch dem Befehl Folge geleistet. Per Ola wäre gut bewacht gewesen und keinerlei Gefahr gelaufen. Aber in diesen Tagen war Cäsar gar nicht er selbst. Er wußte, daß die Bauern, die um den Tåkern herum wohnten, wegen der Trockenlegung des Sees verhandelt hatten, und daß die Sache beinahe so gut wie beschlossen war. Die Enten müßten also fortziehen, und Cäsar würde nie mehr ehrlich und ordentlich Jagd auf sie machen können. Der Gedanke an dieses Unglück beschäftigte den Hund vollständig, und er dachte nicht mehr daran, über das Kind zu wachen.

Und Per Ola sah sich kaum allein auf dem Hof, als er auch schon die rechte Stunde gekommen glaubte, nach dem Tåkern zu gehen und mit Jarro zu reden. Er öffnete ein Pförtchen und schlug den schmalen Wiesenpfad zum See hinunter ein. Solange man ihn von daheim sehen konnte, ging er ganz langsam, aber dann begann er zu laufen. Er hatte große Angst, die Mutter oder sonst jemand würde ihm zurufen, er dürfe nicht an den See hinunter. Er wollte zwar nichts Böses tun, nur Jarro überreden, zurückzukehren, fühlte aber wohl, daß die andern sein Vorhaben nicht gebilligt hätten.

Als Per Ola den Strand erreicht hatte, rief er Jarro mehrere Male mit Namen. Dann wartete er lange, aber Jarro zeigte sich nicht. Per Ola sah allerdings verschiedene Vögel, die wie Wildenten aussahen; diese flogen aber an ihm vorbei, ohne sich um ihn zu kümmern, und daraus schloß Per Ola, daß keiner von ihnen der rechte sei.

Als Jarro sich nicht zeigte, dachte der kleine Junge, er könne Jarro gewiß leichter finden, wenn er sich auf den See hinaus begebe. Es lagen mehrere gute Boote am Ufer, aber die waren alle angebunden. Das einzige nicht festgemachte Boot war ein alter lecker Kahn, dessen sich niemand mehr bediente. Per Ola kletterte unter großer Anstrengung hinein, ohne sich darum zu kümmern, daß der ganze Boden mit Wasser bedeckt war. Die Ruder konnte der kleine Bursche natürlich nicht handhaben, dafür aber begann er in dem Boot zu schaukeln und es hin und her zu wiegen. Es wäre sicher keinem erwachsenen Menschen gelungen, einen Kahn auf diese Weise auf den Tåkern hinauszubringen, aber wenn hoher Wasserstand ist und das Unglück es will, haben kleine Kinder eine wunderbare Fähigkeit, aufs Wasser hinauszukommen; Per Ola trieb wirklich bald auf dem Tåkern umher und rief nach seinem geliebten Jarro.

Als der alte Kahn auf diese Weise auf dem See schaukelte, öffneten sich alle seine Ritzen noch weiter, und das Wasser strömte stärker herein. Darum kümmerte sich aber Per Ola nicht im geringsten. Er saß vorn auf dem kleinen Brett, rief jeden Vogel an, den er sah, und wunderte sich, warum Jarro nicht erscheine.

Schließlich aber nahm Jarro den Jungen wirklich wahr. Er hörte, wie Per Ola ihn mit dem Namen rief, den er bei den Menschen gehabt hatte, und daraus schloß er, daß sich der Junge auf den Tåkern hinausbegeben habe, um ihn zu suchen. Jarro freute sich unaussprechlich über diese Entdeckung; also liebte ihn einer von den Menschen doch aufrichtig! Schnell wie ein Pfeil schoß er zu Per Ola hinunter, setzte sich neben ihn und ließ sich von ihm liebkosen. Alle beide waren sehr glücklich über das Wiedersehen.

Aber plötzlich merkte Jarro, wie es mit dem Kahn stand. Er war schon halb voll Wasser, in kurzer Zeit mußte er untersinken. Jarro versuchte Per Ola klar zu machen, daß er, da er weder fliegen noch schwimmen könne, versuchen müsse, ans Land zu kommen. Aber das Kind verstand Jarro nicht. Da zögerte Jarro keinen Augenblick, sondern flog eilig davon, um Hilfe herbeizuschaffen.

Nach einer kleinen Weile kehrte Jarro zurück, und da trug er auf seinem Rücken einen kleinen Knirps, der viel kleiner als Per Ola war. Wenn er nicht gesprochen und sich bewegt hätte, würde ihn Per Ola für eine Puppe gehalten haben. Und dieser Knirps befahl Per Ola, sofort eine lange, dünne Stange zu ergreifen, die im Kahn lag, und zu versuchen, das Fahrzeug nach einem der kleinen Sumpfholme hinüberzustoßen. Per Ola gehorchte,und dann begannen die beiden mit vereinten Kräften den Kahn vorwärts zu treiben. Mit einigen Stößen erreichten sie wirklich einen kleinen, schilfumkränzten Holm; und als sie hier angekommen waren, wurde Per Ola befohlen, ans Land zu gehen. Und gerade in dem Augenblick, wo Per Ola den Fuß ans Land setzte, war der Kahn so mit Wasser gefüllt, daß er sank.

Als Per Ola dies sah, fühlte er ganz deutlich, daß Vater und Mutter sehr böse über ihn werden würden, und er hätte sicherlich geweint, wenn nicht seine Gedanken sogleich von etwas ganz anderm in Anspruch genommen worden wären. Plötzlich kam eine große Schar grauer Vögel dahergeflogen, die sich auf der Insel niederließ. Dann führte der kleine Knirps Per Ola zu den Vögeln hin und erzählte ihm, wie sie hießen und was sie sagten. Und das war so lustig, daß Per Ola alles andre vergaß.

Doch schnell flog Jarro nach dem Bauernhof, um Cäsar mitzuteilen, wo Per Ola sei. Cäsar folgte Jarro an das Ufer hinunter, und von da schwamm und watete er nach dem Sumpfholm hinüber. Dort saß Per Ola laut lachend und vor Freude jubelnd auf einem Haufen trocknen Schilfs, die Wildgänse und die Wildenten rings um ihn herum.

Cäsar blieb lange auf dem Holm, und zwar nicht allein Per Olas wegen. Zum erstenmal in seinem ganzen Leben war er mit den Vögeln des Tåkern in friedlichen Verkehr gekommen, und er verwunderte sich über deren Klugheit. Sie fragten ihn, ob das, was Jarro berichtet habe, wahr sei, daß nämlich der Tåkern wirklich ausgetrocknet werden solle?

„Es ist noch nicht entschieden,“ sagte Cäsar, „aber morgen wollen die Strandeigentümer sich versammeln, um einen endgültigen Entschluß zu fassen, und ich fürchte, diesmal wird der Vorschlag durchgehen. Es ist recht traurig für die Vögel, aber auch für mich ist es kein Spaß, ich verliere das beste Jagdgebiet, das ein Hund je gehabt hat.“

Die Vögel wurden über die Maßen betrübt, als sie Jarros Aussage durch Cäsar bekräftigen hörten. Die Nachricht lief von einem Röhricht zum andern über den ganzen See hin, und überall erhoben sich laute Klagerufe. Die stolzen Schwäne jammerten nicht weniger als die kleinen Rohrsänger, und die Enten und Bläßhühner, die einander sonst verabscheuen, waren ganz einig darüber, daß dies ein furchtbares Unglück sei.

Als Cäsar endlich aufbrach, um nach dem Hof zurückzukehren, sagte die alte Akka, die Anführerin der Wildgänse, zu ihm: „Für mich ist es einerlei, denn ich bin nur ein durchreisender Zugvogel, aber wenn du die Vögel wirklich hier am Tåkern behalten möchtest, dann müßtest du den Eltern nicht so bald mitteilen, wo das Kind zu finden sei.“

Cäsar starrte die Wildgans mit weitoffnen Augen an. „Du bist ganz gewiß eine wunderbare alte Gans,“ sagte er.

„Ach, mir ist schon manches vorgekommen in meinem Leben,“ sagte Akka, „und ich weiß, es wird uns allen weich ums Herz, wenn wir unsre Jungen verlieren sollen.“

„Ich werde deinen Rat befolgen,“ sagte Cäsar, „aber ihr steht mir dafür ein, daß Per Ola kein Leid geschieht.“

Indessen hatten die Leute auf dem Hofe Per Ola vermißt und nach ihm gesucht. Sie suchten in den Wirtschaftsgebäuden, sahen in den Brunnen hinunter und untersuchten den Keller. Dann suchten sie auf Wegen und Stegen, eilten auch auf den Nachbarhof, um zu hören, ob sich das Kind nicht dahin verirrt habe, und schließlich suchten sie ihn auch am Tåkern. Aber so viel sie auch suchten, Per Ola war nirgends zu entdecken.

Cäsar, der Hund, wußte recht gut, wen die Herrschaft suchte, aber er tat nichts, sie auf die richtige Spur zu leiten. Dagegen lag er ganz ruhig da, als ob ihn die Sache gar nichts anginge. „Es kann euch Menschen nichts schaden, wenn ihr einmal ein paar Stunden lang in Sorge seid,“ dachte er. „Per Ola geschieht da draußen nichts Böses, und den andern gönne ich es, wenn sie ordentlich Angst ausstehen.“

Später am Tage entdeckte man Per Olas Fußtapfen drunten am Bootschuppen. Und dann merkte man, daß der alte lecke Kahn nicht mehr am Ufer lag. Da begann man zu verstehen, was geschehen war.

Der Hausherr und die Knechte schoben sogleich die Boote ins Wasser und fuhren hinaus, den Jungen zu suchen. Bis spät am Abend fuhren sie auf dem Tåkern umher, ohne auch nur einen Schein von ihm zu entdecken. Da konnten sie sich nichts andres denken, als daß das alte Fahrzeug gesunken sei und das Kind nun tot auf dem Grunde des Sees liege.

Am Abend wanderte Per Olas Mutter ruhelos am Strande hin und her. Die andern waren alle überzeugt, daß Per Ola ertrunken sei, sie aber konnte es nicht glauben und suchte und suchte unaufhörlich. Sie suchte zwischen Schilf und Binsen, sie wanderte auf dem sumpfigen Strand umher, ohne zu beachten, wie tief ihre Füße einsanken und wie naß sie wurden. Sie war am Verzweifeln, und das Herz tat ihr unsäglich weh. Sie weinte nicht, aber sie rang die Hände und rief mit lauter, klagender Stimme nach ihrem Kind.

Rings herum hörte sie die Klagen der Schwäne und Enten und Brachschnepfen. Ihr war, als wanderten alle klagend und jammernd hinter ihr drein. „Sie haben gewiß einen Kummer, weil sie so jammern,“ dachte die Mutter. „Aber es sind ja nur Vögel,“ dachte sie weiter, „die haben sicherlich keinen Kummer.“

Aber wunderbar war es doch, daß die Vögel jetzt nach Sonnenuntergang noch nicht verstummt waren. Sie hörte, wie alle diese unzähligen Vogelscharen, die rings um den Tåkern wohnten, nacheinander ihre Klagerufe ertönen ließen. Mehrere liefen hinter ihr her, andre sausten auf raschen Flügeln an ihr vorüber, alle jammerten und klagten.

Und die Angst, die sie selbst quälte, öffnete ihr das Herz. Ihr war, als stehe sie allen den andern lebenden Wesen gar nicht mehr so fern, wie dies bei den Menschen sonst der Fall zu sein pflegt. Viel besser als je vorher verstandsie, wie es den Vögeln zumut sein müsse. Auch sie hatten ihre tägliche Sorge für Haus und Kind. Es war wohl gar kein so großer Unterschied zwischen den Vögeln und den Menschen, wie sie bisher geglaubt hatte.

Dann fiel ihr die Trockenlegung des Sees ein. Diese war schon so gut wie fest beschlossen. Ach und dadurch würden alle die Tausende von Schwänen, Enten und Tauchern ihre Heimat hier am Tåkern verlieren! „Das wird sehr traurig für sie sein,“ dachte sie. „Wo sollen sie später ihre Jungen aufziehen?“

Sie blieb stehen und überlegte. „Ja, es mag ja wohl ganz gut und vorteilhaft sein, einen See in Äcker und Wiesen zu verwandeln,“ dachte sie, „aber der See braucht ja nicht gerade der Tåkern zu sein, sondern ein andrer, der nicht so vielen Tausenden von Tieren zur Heimat dient.“

„Morgen soll die Trockenlegung endgültig beschlossen werden,“ dachte sie weiter. Und sie fragte sich, ob nicht am Ende Per Ola deshalb gerade an diesem Tage sich verlaufen habe? Ob es nicht am Ende Gottes Absicht sei, durch den Kummer ihr Herz zu rühren, damit es sich der Barmherzigkeit öffne, gerade heute, ehe es zu spät wäre, die schlechte Tat zu verhindern?

Rasch ging sie auf den Hof zurück und sprach mit ihrem Mann über das alles. Sie sprach von dem See und den Vögeln und sagte schließlich, sie glaube, Per Olas Tod sei eine Strafe, die Gott über sie verhängt habe. Und sie sah bald, daß ihr Mann derselben Ansicht war.

Sie besaßen schon vorher einen großen Hof, und wenn die Trockenlegung des Sees zustande kam, fiel ihnen ein sehr bedeutender Teil des Seegrundes zu, wodurch ihr Besitztum beinahe noch einmal so groß wurde. Deshalb waren sie auch eifriger für den Plan gewesen als irgend einer von den andern Strandbesitzern. Die andern hatten die Ausgaben gescheut und die Befürchtung ausgesprochen, die Trockenlegung werde am Ende ebensowenig gelingen wie das erste Mal. Per Olas Vater wußte, daß nur er sie schließlich zu dem Unternehmen bestimmt hatte. Er hatte seine ganze Überredungskunst angewendet, um seinem Sohn einen doppelt so großen Hof hinterlassen zu können, als er selbst einst von seinem Vater geerbt hatte.

Jetzt fragte er sich, ob es wohl eine Fügung Gottes sei, daß der Tåkern ihm seinen Sohn genommen habe, gerade am Tage, bevor der Kontrakt zur Trockenlegung unterschrieben werden sollte? Und seine Frau brauchte nicht mehr viel zu sagen. „Ja, ja, vielleicht will Gott nicht, daß wir in seine Ordnung eingreifen,“ sagte er. „Ich will morgen mit den andern sprechen, und ich glaube, wir werden alles beim Alten lassen.“

Während die Eheleute so miteinander sprachen, lag Cäsar vor dem Herd. Mit aufgehobenem Kopf hörte er genau zu. Als er seiner Sache sicher zu sein glaubte, stand er auf, ging zur Mutter hin, faßte sie am Rock und zog sie nach der Tür hin. „Aber Cäsar!“ sagte sie und wollte sich frei machen. „Weißt du, wo Per Ola ist?“ rief sie gleich darauf. Und Cäsar bellte lustig und sprangan der Tür hinauf. Die Mutter öffnete, Cäsar stürmte in großen Sätzen zum Tåkern hinunter, und ohne sich lange zu besinnen, lief die Mutter hinter ihm drein, so fest war sie überzeugt, daß Cäsar wußte, wo ihr Kind war. Kaum hatte sie den Strand erreicht, da drang auch schon das Weinen einer Kinderstimme vom See herüber an ihr Ohr.

Per Ola hatte mit Däumling und den Vögeln den vergnügtesten Tag seines Lebens verbracht, aber jetzt weinte er, weil er hungrig war und sich bei der Dunkelheit fürchtete. Ach, wie froh war er, als Vater und Mutter und Cäsar kamen, ihn zu holen!

Und bei schönem, hellem Mondschein, während die Vögel des Tåkern lustig um sie herumflatterten, fuhren sie zurück, heim nach dem Bauernhof.


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